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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Viel ist über „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew gerätselt worden: Ist es ein politischer Film? Ein metaphysischer? Ein religiöser? In diesem Text nimmt der Regisseur sein eigenes Werk unter die Lupe, und es zeigt sich: Ihm selbst geht es vor allem um die Ethik, um den Wert des einzelnen Menschen. Es sei ein urtypisches russisches Elend, sagt er, die Persönlichkeit des Einzelnen zu verachten, und nichts sei schädlicher für eine Zivilisation. „Leviathan“ ist für ihn vor allem ein Hymnus an die eigentliche Heimat des Menschen – die Menschlichkeit.

    Der folgende Text stammt aus dem Februar dieses Jahres, als Leviathan gerade in Russland in die Kinos kam. Ich habe ihn damals nicht veröffentlicht, weil ich den Zuschauern die Gelegenheit geben wollte, sich eine eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Jetzt aber, nachträglich, nachdem öffentlich wie privat so viel gesagt wurde, habe ich mich gefragt, wie ich selbst als Zuschauer den Film gesehen hätte. Bekanntlich kann man jedes Werk unterschiedlich interpretieren, und da es in einem Kunstwerk viele Sinnströme gibt, ist es oft schwer, sie alle in einer einzigen Aussage zu fassen. Hier möchte ich deshalb nur auf ein Thema des Films eingehen – auf eines der Hauptthemen.

    Wenn man mit der Arbeit an einem Film beginnt, sucht man unwillkürlich nach Parallelen und Verbindungen des eigenen Stoffes zu den ewigen Motiven. So war es auch hier: Als mir die Idee kam, die Geschichte der Konfrontation eines Einzelnen mit dem herzlosen Moloch des Systems zu erzählen, musste ich sofort an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, die in ihrer Spannung der wahren Geschichte des Pechvogels Marvin John Heemeyer – einem Schweißer aus Colorado – sehr ähnelt. Heemeyers Revolte war die erste Inspiration für meinen Leviathan. Später kamen die Anspielungen auf das Buch Hiob hinzu.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Alle Sujets wiederholen sich im Laufe der Zeit. Wir hatten nicht die Absicht, Kleists Novelle oder die Parabel von Hiob zu illustrieren oder die Geschichte des amerikanischen Schweißers faktentreu nachzuerzählen. Wozu auch? Die erste Geschichte kann man in den Bibliotheken, die zweite in der Bibel und die dritte auf YouTube finden. Sie alle bildeten lediglich den Nährboden, eine Art metaphysischen Lehm, aus dem ein völlig neues, eigenständiges Werk modelliert wurde, dessen hauptsächliches Material jahrelang beobachtete Eigentümlichkeiten und Liebreize des russischen Lebens waren. Und sein Titel wurde Leviathan.

    Der Dorfpriester Wassili verweist den Zuschauer am Ende des zweiten Drittels des Films auf den Schluss des Buches Hiob, wo dem Gerechten der Herrgott erscheint. An dieser Stelle des Alten Testaments erwähnt Gott Leviathan – das schreckliche Seeungeheuer, das unverwundbar und, wie alles andere unter der Sonne auch, von Ihm, dem Herrgott, erschaffen ist. Doch allein die Parallele zu den Bildern des Alten Testaments hätte nicht ausgereicht für die Entscheidung, unserem Film einen solch ernsten Titel zu geben. Ein Seenungeheuer, ein Wal hat noch nichts  gemein mit der vom Menschen selbst erschaffenen Maschine der Gewalt. Die Verwendung des Namens Leviathan in einem solchen Kontext ist aber nicht mein Verdienst. Lange vor uns hat die Geschichte selbst die Parabel von Hiob unter die Lupe genommen und den Sinn der Zitate verdeutlicht: Ich meine das Traktat von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens.

    Der große Wal, das schreckliche Ungeheuer – das ist der Staat, ein Idol, das vom Menschen zu seiner eigenen Sicherheit geschaffen wurde, zur Rettung vor sich selbst. Der Staat ist laut Hobbes der ideale Ausweg aus dem Zustand vom „Krieg aller gegen alle“, in dem „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Um dieser Sackgasse zu entkommen, hat die Menschheit den Staat erfunden – eine politische Ordnung, die auf dem Gesellschaftsvertrag basiert. Der Souverän stellt seinen Untertanen verschiedene Machtinstitutionen zur Verfügung, die dem einfachen Bürger Sicherheit garantieren sollen. Polizei, Gericht, gesetzgebende Versammlungen, mit anderen Worten: An die Stelle vom „Krieg aller gegen alle“ tritt ein administrativ-bürokratisches System, das die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Eine Lösung des Problems? Ja. Aber um diese Sicherheit zu erlangen, muss der Mensch dem Souverän seine Freiheit abtreten.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Als ich Hobbes’ Ideen kennenlernte, fiel mir sofort die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Besonders in unserem Fall ist doch klar, dass der Untertan, der seine Freiheiten dem Staat abtritt, davon ausgeht, dass sich der Staat als Gegenleistung dazu verpflichtet, ihn zu verteidigen. Das sind aber nur vermeintliche Verpflichtungen und es ist nur eine Illusion von Sicherheit. Denn laut Hobbes schuldet der Souverän niemandem etwas. Tatsächlich befindet sich der Mensch also in einem System heuchlerischer Sklaverei, wo der „Krieg aller gegen alle“ noch schrecklichere Formen annimmt, weil er sich hinter dieser Heuchelei versteckt. Indem der Mensch seine Freiheit abtritt, unterschreibt er faktisch einen Vertrag mit dem Teufel. Für mich bedeutet Hobbes’ Leviathan genau das, und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Leben. Schrecklich ist weiterhin, dass Hobbes, dieser tiefgründige Analytiker der Struktur des Lebens, auch die Kirche als eine Form der Macht über die Menschen und als Stütze Leviathans sieht. In seinem Weltbild hätte Hobbes ihr aber lieber eine dem Souverän untergeordnete Rolle gegeben. Das wäre auch im Interesse der Kirche selbst. Es ist also kein Zufall, dass die Kirche dem Menschen vorschlägt, sich als Sklave sowohl Gottes als auch des Souveräns zu sehen und sich immer daran zu erinnern, welch bescheidenen Platz er in der Welt einnimmt und wie wenig individuelle Verantwortung er trägt.

    Hier stellt sich für den Menschen die fundamentale Glaubensfrage: Wer bin ich wirklich – ein Sklave Gottes oder Sein Sohn? Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Ein Sklave verkauft seine Freiheit für einen Teller Suppe aus Angst vor seinem Schicksal, Angst um seine Zukunft und um das Wohl seiner Kinder … Kurzum, egal womit er diese freiwillige Sklaverei rechtfertigt, wenn er sein Schicksal anderen anvertraut, muss ihm doch bewusst sein, dass er im Tausch für etwas Vermeintliches seine größte Gabe, sein wahres Eigentum – den freien Willen – aufgegeben hat.

    Und dann, als Antwort auf diesen Handel, kam der furchtlose und opferbereite Menschensohn in die Welt und bot den Menschen die Befreiung an. Man hat ihn gekreuzigt, sich dann nach und nach Seinen Sieg angeeignet und aus dessen Überresten neue Fesseln geschaffen. Aber diese Stimme lebt und spricht durch Jahrhunderte zu uns. „Ihr seid meine Brüder“, sagt Er uns durch seine Apostel. Und wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist und wir Seine Brüder sind, dann sind auch wir zwangsläufig Söhne Gottes.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Ich finde es schade, dass die Politik und die zeitweilige Veränderung des geistigen Klimas in unserem Lande viele Zuschauer daran hindern, diesen einfachen Gedanken zu hören: Mit meinem Film trete ich für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit ein. Keine großen Worte – ob Vaterland, Gott oder Gesetz – geben uns das Recht, das Leben eines anderen Menschen zu vernichten. Die Respektlosigkeit dem Menschen und dem Eigenwert seiner Persönlichkeit gegenüber ist ein urtypisches russisches Elend, das bereits seit vielen Jahrhunderten andauert und unser Leben noch lange beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich so lange, bis wir begreifen, dass diese sklavische Eigenschaft – die Persönlichkeit des anderen zu verachten – schädlich für jede Zivilisation ist. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, jeden Tag neu wählen zu müssen, in wessen Königreich wir gehören und wessen Söhne wir sind – die Gottes oder die Leviathans. Und Heimat, das sind nicht nur Hügel, Birken und Bächlein. Die Heimat eines Menschen ist das, wonach sich seine Seele am meisten sehnt. Die Heimat, das ist der Gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind. Das alles zusammen – und nicht irgendwelche Parolen und Präsidenten, Parlamente und Waffen, Priester und Propagandisten machen das Gut eines Menschen aus. Das Licht des heimischen Herdes, das Licht des Geistes und der Erkenntnis und schließlich Gottes selbst – das alles zusammen ist unser wahres Vaterland.

    Und egal, ob wir in der am weitesten entwickelten oder archaischsten Gesellschaft leben, wir werden alle früher oder später vor diese Wahl gestellt, als Sklaven oder als freie Menschen zu handeln. Und egal ob wir gläubig oder atheistisch sind: Wir werden uns dieser Prüfung nicht entziehen können. Und sollten wir naiv glauben, dass die eine oder andere Staatsordnung uns von dieser Wahl befreien würde, so irren wir uns gewaltig. Im Leben des Bürgers eines jeden Landes kommt früher oder später die Stunde, wo er mit diesen Fragen konfrontiert wird: Zu wem gehörst du? Wer bist du? Und gerade weil ich dem Zuschauer all diese beängstigenden Fragen noch stellen kann und weil es hierzulande noch möglich ist, einen tragischen Helden oder einen „Gottessohn“ zu finden, ist mein Vaterland für mich noch nicht verloren.

    Februar 2015

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    Mitte September füllte sich das russische Internet auf einmal mit seltsamen Fotos: viele von ihnen schwarz-weiß oder in nicht ganz lebensechten Farben, mit schiefen Bildausschnitten, und ungewohnten – mindestens – Frisuren bei den Dargestellten. Das Kulturportal Colta.ru hatte zu einem Flashmob aufgerufen: Die User sollten Fotos aus den 1990ern ins Netz legen – und zwar alles, was sie finden konnten und für zeigenswert hielten – und Hunderte, vermutlich Tausende, kamen diesem Aufruf nach. 

    Die 1990er Jahre haben bis heute eine besondere Stellung in Russland, es ist ein unübersichtliches Jahrzehnt. Vielen ist es als Zeit der Armut, der Entbehrungen und des Leidens in Erinnerung geblieben, für andere ist es eine Epoche des Aufbruchs, der Hoffnung und der Freiheit gewesen. Von daher war der Foto-Flashmob zu diesem Thema mehr als nur ein nostalgischer Zeitvertreib: Er hat eine Welle von Diskussionen ausgelöst, die oft politischen Charakter hatten. Andrej Archangelski von Colta.ru versucht im Rückblick, die Bilder zu deuten und zu erfassen, an welche Schichten von Erinnerung und Aktualität die Aktion gerührt hat.

    Quelle – Colta.ru
    Quelle – Colta.ru

    Nicht alle Flashmobs in sozialen Netzwerken sind so dynamisch: Die von Colta ins Leben gerufene Facebook-Aktion Erinnern wir uns an die 1990er erlebte einen solchen Zuspruch, dass sie tatsächlich „politisch kalkuliert“ wirkte, und Patrioten witterten in den Aufnahmen eine versteckte Bedrohung. Das war soweit eine verständliche Reaktion. Aber ein Flashmob richtet sich gegen niemanden, es geht dabei in der Regel allein um die Form, es gibt kein Ziel, außer dem, dass alle ungefähr zur gleichen Zeit annähernd das Gleiche tun. „Ein auf den ersten Blick harmloser Flashmob“ – dieser Satz staatstreuer Kolumnisten könnte aus dem Wortschatz sowjetischer Zeitungen stammen: Gerade die Harmlosigkeit, die Ziellosigkeit, ist die größte Gefahr für eine totalitär angelegte Psyche. Ziellosigkeit schreckt machthungrige Menschen mehr als offen gezeigte Feindseligkeit, denn die Verschwendung von Minuten und Stunden des eigenen Lebens – der gemeinschaftliche Potlatch – bedeutet, dass man über sich selbst verfügt, bedeutet Freiheit. Ziellosigkeit ist im Grunde auch ein Merkmal der 1990er. Die allgemeine, allzu verschwenderische Geste, das Teilen dieser herrlich zweckfreien Dinge geradezu mit Opfermut.

    Die Fotos der 1990er Jahre fixieren vor allem die veränderte gesellschaftliche Haltung. Ein typisches Intellektuellenfoto aus den 1970ern oder 1980ern: Man sitzt Seite an Seite, legt die Arme umeinander, alle blicken in die Kamera, zwischen drei und zwanzig Personen, meist am gedeckten Tisch. Hier sind – das ist mit Parfjonows halbironischer Intonation auszusprechen – „vor allem die Augen wichtig, der Blick – weil man noch nicht alles laut sagen darf.“ Wichtig ist, dass man die Gemeinschaftlichkeit zur Schau stellt. Wichtig ist nicht zuletzt auch, dass man sich an die Traditionen hält: Ein Gruppenfoto von Intellektuellen aus Kratowo unterscheidet sich hinsichtlich der Bildkomposition nicht immer von der fotografischen Dokumentation eines Treffens des Politbüros mit einer kommunistischen Bruderpartei.

    Neben dieser Tradition gibt es eine weitere, nicht weniger starke (wenn auch nicht neue). Die Menschen, die in den 1970ern und frühen 1980ern geboren wurden, erinnern sich gut an ihre Kinderfotos. Es war üblich, mit Kindern zwischen ein und sieben Jahren etwa einmal jährlich das Fotoatelier aufzusuchen. Ein abscheuliches Ritual, ein abscheulicher Initiationsritus, wie wir als fleißige Pelewin-Leser heute verstehen. Ein sowjetisches Auge hat euch zum ersten Mal festgehalten, ihr seid sichtbar geworden, auf dem Filmstreifen erschienen. Ihr wart so angezogen, „wie es sich gehörte“, euer Blick war so, „wie er zu sein hatte“ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren, egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf „Nicht bewegen jetzt!”, sind ein grelles Kindheitstrauma.

    All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen. Das Foto aus den 1990ern ist vor allem für einen selbst. Oder im Grunde genommen für überhaupt niemanden und nichts. Die Fotos aus den 1990ern, die jetzt ins Netz gestellt werden, kämpften unbewusst gegen die beiden Traditionen an: das freundschaftlich-gesittete Foto bei Tisch und das gnadenlose Kinderfoto aus dem Atelier. Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf „Stillgesessen!“

    Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit. Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche: Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war. Im Grunde genommen findet man genau solche Fotos auch bei den Leuten, die heute auf einem Posten in der Präsidialverwaltung oder bei einem staatlichen Fernsehsender sitzen. Die gleichen benebelten Gesichter mit der ersten Flasche ausländischen Wodkas vor sich oder der erste Irokesenschnitt als Schatten an der Wand. Aber natürlich posten sie diese Bilder nicht. Nach der Tradition, die sich in Russland entwickelt hat, wird Freiheit als Verirrung, als Jugendsünde aufgefasst, eine vorübergehende formale und nicht etwa inhaltliche Erscheinung. Premierminister Dimitri Medwedew hörte in seiner Jugend bekanntlich gern Deep Purple, doch diese ästhetische Erfahrung wurde nicht zur einer Werteerfahrung. Es ist eine Eigenheit des sowjetischen, selbst des hochgebildeten Menschen, die Dinge zu trennen: Die Idee der Freiheit ist das eine, das wahre Leben das andere. Damit trösten sie sich heute, wenn sie eure Bilder aus den 1990ern sehen. Ob sie euch beneiden?

    Die Erinnerung daran, dass Freiheit auch für sie einmal ein Instinkt war, wie die Luft zum Atmen, bevor sie rationalisiert, unterdrückt und in Anzughosen gesteckt wurden, ist es, was Menschen, die ihre Freiheit heutigem „Erfolg“ geopfert haben, an diesen Aufnahmen ärgert. Freiwillig geopfert übrigens. Wenn sie ihre romantischen Lieder über die „wilden Jahre“ anstimmen, wollen sie uns in Tat und Wahrheit weismachen, dass es nur einen Weg zu Reichtum und Fortschritt gab, nämlich den ihren, der über Entwürdigung und den Verkauf der Seele führte. Die Existenz anderer Entwicklungsmöglichkeiten (damals wie heute), die Möglichkeit der Wahl würden sie lieber weiter verheimlichen. Aber diese verfluchten Fotos erinnern sie daran. Dass damals alle frei waren und auf unterschiedliche Weise davon Gebrauch machten.

    Diesen Fotos aus den 1990ern ist eine gewisse ontologische Armut gemeinsam. Man sieht, dass die Leute Bekleidung tragen und noch nicht ein bestimmtes Kleid oder eine spezielle Hose, ebenso wie es Essen, Trinken und „Saufware“ gibt und noch keine bestimmte Sorte oder einen bestimmen Jahrgang. Diese Armut ersetzt die Benjaminsche Aura. Gerade die Not an jedem Eck und End lässt das Gefühl der Unwiederbringlichkeit entstehen. Den Mittelpunkt der Komposition bildet oft irgendein seltenes Kleidungsstück, das das allgemeine Elend merkwürdigerweise nur betont. Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie arm wir damals im Vergleich zu heute waren, selbst die bereits verhältnismäßig reichen Leute. Gerade der Wunsch, nie wieder arm zu sein, trieb all diese fotografierten Menschen um. Und jeder ging das Problem auf seine Weise an.

    Eigentlich gab es im Russland der 1990er Jahre, anders als zuvor in den 1980er oder danach in den Nullerjahren, kein einheitliches Gefühl für die Zeit. In den 1990ern entstand sozusagen ein Loch, durch das ganz Russland hinabstürzte. Es war ziemlich schauerlich. Das Leben war nicht mehr zyklisch, sondern bestand aus Einzelstücken, alle Uhren gingen zu Bruch. Dieser Flashmob ist – immer noch im Geiste Benjamins – ein Versuch, im Nachhinein, anhand von Fotos, eine in sich geschlossene Zeit herzustellen. Sie im Wäscheschrank zu verstauen, zu stapeln, zu schematisieren. Sie für ein und allemal zwischen die 1980er und die 2000er zu packen und ihnen so den gleichen Status zu geben, wie ihn auch das jetzt hat. Aber faktisch ist das eine Selbsttäuschung. Hätte man die 1990er Jahre richtig verstanden, wären sie zu einem Lebensquell für die Zukunft geworden. Aber sie wurden nicht verstanden und blieben so ein Rätsel – und auf jeden Fall entschwinden sie, die 1990er. So wie in Russland jede Zeit der Freiheit entschwindet.

    Geblieben sind eigentlich nur diese Schnappschüsse.


    Beispiele von Fotos aus dem Flashmob gibt es zum Beispiel bei Snob, sobaka.ru und fishki.net, und – ein Dank an unsere Leser! –  noch eine besonders wilde Sammlung (allerdings nicht aus dem Flashmob) auf yahooeu.

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  • Wer lebt glücklich in Russland?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Dem Dichter und Publizisten Nikolaj Nekrassow ging es gut, er hätte glücklich sein können. Aber er lebte im 19. Jahrhundert und er lebte in Russland und so füllte er seine persönlichen goldenen Jahre mit der Arbeit an einem Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Glücklich sein im Hier und Jetzt, das können Russen nicht, analysiert der Historiker und Chefredakteur des Portals Snob Nikolai Uskow, selbst eine schillernde Figur des modernen intellektuellen Russland. In seinem kulturhistorischen Essay jedenfalls geht er dem russischen Leiden zunächst einmal an die Wurzeln. Erst wenn alles vorbei ist, sagt er, dann wird es bei uns schön! Beerdigungen sind in Russland der Höhepunkt der Glückseligkeit. Wie kann das sein? Uskow ruft dazu auf, es anders zu machen, auch einmal Russland Russland sein zu lassen, und Erfüllung im individuellen Leben zu suchen.

    Können Sie sich diese Frage in einem anderen Land vorstellen, etwa in Frankreich? Wer lebt in Frankreich glücklich? Na, alle doch. Und über den existenziellen Abgrund legen sich augenblicklich die Seerosen von Claude Monet. Platanen, der Duft von Kaffee und frischem Gebäck, Vögelchen in den Tuilerien – in Frankreich gibt und kann es keine Hölle geben, höchstens eine unglückliche Liebe, aber die ist etwas Wunderbares. Selbst der Clochard, der eben unter der Brücke Pont Alexandre III aufwacht, erfreut sich an der lieben Sonne und lächelt den frühmorgendlichen Joggern zu. „Bonjour, M’sieur!“

    Nekrassow stellte seine verzwickte Frage in jener Epoche unserer Geschichte, die man heute beinahe als ihr Goldenes Zeitalter ansieht. Urteilen Sie selbst: Er arbeitete zwischen 1863 und 1878 an seinem Poem. Die Großen Reformen Alexanders II., Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Ostrowski, Gontscharow, Tschaikowski, Mussorgski, die Akademiemitglieder und Peredwishniki – faktisch entstand das, was später in beträchtlichem Maß den Begriff Russland ausmachen würde. Doch nein, bei Nekrassow finden wir keine Begeisterung über die Epoche. „Schon ärmre Zeiten sah das Land, bösartigere nicht“ – diese Worte lieh er sich bei der damals höchst angesagten Schriftstellerin Nadeshda Chwoschtschinskaja und bewaffnete damit auf ewig alle Russland-Nörgler: Nur so sprach man meiner Erinnerung nach über die Siebzigerjahre und über die Achtziger- und über die Neunziger– und über die 2000er Jahre, von der Gegenwart ganz zu schweigen.

    Wenn wir das Poem Wer lebt glücklich in Russland? aufschlagen, stoßen wir umgehend auf die Quetschprovinz, den Kummerleider-Amtsbezirk, das Kirchspiel Ödendorf. Da ist sie, die Geografie des Goldenen Zeitalters: die Dörfer Flickdorf, Lochdorf, Barfußdorf, Frierdorf, Branddorf und auch Hungerdorf. Nekrassows Absicht zufolge hätte das Poem zu einem Panorama des menschlichen Leidens werden sollen. Bauern, Popen, Gutsbesitzer, Beamte, Handelsleute und sogar der Zar – aus Nekrassows Sicht sind hier alle unglücklich. Unglücklich ist anscheinend auch der Dichter selbst.

    Und das, obwohl der Adlige Nekrassow eine glänzende Karriere machte und der womöglich erfolgreichste Verleger und Redakteur der Geschichte des russischen Zeitschriftenwesens war. Er lebte mit einer Frau zusammen, der Schönheit Awdotja Panajewa, aber in der Wohnung ihres Gatten Iwan Panajew. Diese merkwürdige Konstellation sorgte beim Publikum für die unglaublichsten erotischen Fantasien. Als das gewagte Verhältnis mit den Panajews endete, erlebte Nekrassow weitere aufregende Leidenschaften. Und dazu hatte Nikolai Alexejewitsch auch unglaubliches Kartenglück und gewann Hunderttausende von Rubeln. Dank dem finanziellen Wohlstand konnte sich der Dichter einer weiteren seiner aristokratischen Passionen hingeben, der Hetzjagd. Sein mit Eigenmitteln gekauftes Gut Karabicha im Gebiet Jaroslawl zeugt durchaus anschaulich von den beträchtlichen materiellen Möglichkeiten des Dichters. Und dann erwarb sich dieser vom Schicksal zweifellos verwöhnte Mann plötzlich den Ruf, der größte Leidende der russischen Literatur zu sein. Das Sein bestimmte in keiner Weise sein Bewusstsein.

    Der russische Mensch lebt nie im Frieden mit seiner Zeit. Widerstrebend erträgt er sie, mit aufeinandergepressten Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen, ist immer irgendwo abseits, am Rand. Unzufrieden brummt er in den Bart, fantasiert entweder von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Dort war oder wird alles anders sein als in der verzwickten Gegenwart.

    Die Nekrassow vorausgegangene Generation adliger Gutsbesitzer hatte von der Aufhebung der Leibeigenschaft geträumt. Nicht etwa deswegen, weil ihnen das in irgendeiner Hinsicht, zum Beispiel für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, nützlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete ihren Ruin. Doch der Besitz von Leuten war für die adligen Revolutionäre etwas Beschämendes, Schändliches. 1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft dann endlich auf. Die Schande, könnte man meinen, hatte ein Ende gefunden. Doch nein. Nekrassow schreibt:

    Fürwahr, die große Kette brach
    Und sprang in Stücke ganz:
    Das eine Ende traf den Herrn,
    Das andre Ende uns!

    Die „Schande der Leibeigenschaft“ verwandelt sich unerwartet in eine „große Kette“. Alles ist jetzt schlechter als zuvor. Und so wird es in Russland offenbar immer sein: Mit Stalin wurde das Land zu einem Imperium. In der Sowjetunion waren Bildung und medizinische Versorgung kostenlos, und die Kühlschränke quollen über vor Lebensmitteln. Wenn Putin dereinst abtritt, wird man auch über seine Zeit Legenden erfinden und Lieder darüber singen. Daran zweifle ich nicht im Geringsten.

    Glücklich leben in Russland nur die Toten. „Sie haben ausgelitten“, pflegt das hiesige Volk über sie zu sagen. Nekrassow starb an Magenkrebs, es vergingen einige wenige Jahre, und schon begann man sein Jahrhundert als absolut goldenes anzusehen.

    Für Tote gibt es bei uns überall einen Weg, für Tote gibt es bei uns überall Ehren. Endlich sagt man über dich nur noch Gutes. Man begräbt dich mit herzzerreißendem Enthusiasmus. In Russland war Suworow der erste glückliche Leichnam: „In allen Straßen, durch die sie ihn fuhren, standen die Leute dicht an dicht. Alle Balkone und sogar die Hausdächer waren voller bekümmerter, weinender Zuschauer“, erinnert sich Schischkow. Später würde Puschkins und Tolstois Begräbnis folgen. Lenins und Stalins Begräbnis. Wyssozkis Begräbnis, Sacharows Begräbnis. Jelzins Begräbnis. Begräbnis, Begräbnis, Begräbnis. In Russland sind Hochzeiten immer missraten, versoffen und vulgär. Hochzeit – das bedeutet Schlägereien und protzige Uhren wie die von Peskow. Dafür sind die Begräbnisse majestätisch.

    Der Tod ist der Übergang zur Unsterblichkeit, ist der Sieg über das verhasste Leben. Stalin muss etwas in der Art in Bezug auf den nationalen Charakter gefühlt haben. Denn er war es, der das Feiern von Todestagen initiierte. 1937 feierte das Land im großen Stil den 100. Todestag Puschkins. Pioniere salutierten ihm, Bauern brachten Gaben dar und Stachanow-Arbeiter nahmen aus Anlass des Festes erhöhte sozialistische Verpflichtungen auf sich. 1952 feierte die jubelnde Volksmenge den 100. Todestag Gogols. Auf einem Boulevard wurde ein lebensfroher, breitschultriger Bursche aufgestellt, während man Andrejews depressive Jammergestalt den Blicken entzog. Gogol quälen bei seinem Eintritt in die Ewigkeit keine Koliken und Zweifel mehr, er ist selbstbewusst, gesund und fröhlich.

    Übrigens heißt das eindringlichste Poem über unsere Heimat ja Die toten Seelen. Schon seit siebzig Jahren sind wir stolz darauf, der Gefallenen zu gedenken, und scheren uns dabei kein bisschen um die am Leben Gebliebenen. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte des Landes ist ein mörderischer Krieg. Mit einem unguten Leuchten in den Augen kämpfen Historiker und die Gesellschaft dafür, dass die Opfer dieses Kriegs so furchtbar wie möglich aussehen: nicht sieben Millionen, sondern zwanzig, nicht zwanzig, sondern siebenundzwanzig, und wenn man auch die Ungeborenen dazuzählt, ganze fünfzig Millionen. Nein, hundert! Der wichtigste Politiker des Landes ist auch sein wichtigster Henker, Josef Stalin. Das wichtigste Heiligtum ist das Grabmal des unbekannten Soldaten. Das Land unterdrückt, quält, mordet, plündert, vertreibt und fordert dann die Asche der glücklich am Leben Gebliebenen zurück, um sie hier zu begraben. Mit allen Ehren. Welch erbitterte Grabenkämpfe führte man wegen der sterblichen Überreste Brodskys und jetzt Rachmaninows.

    „Die Toten haben keine Schande“, sagte Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, der Vater des heiligen Wladimir. Letzterem will man übrigens, natürlich zum 1000. Todestag, ein Denkmal aufstellen. Die Toten haben keine Schande, dafür haben die Lebenden so viel, wie sie nur können, die Lebenden leben in Kommunalkas und Baracken, schuften und saufen, verblöden und verrohen. Die Lebenden beneiden die Toten.

    Eine hübsche Erklärung für diese nationale Nekrophilie könnte der spontane Platonismus der russischen Weltanschauung sein, den wir zusammen mit dem orthodoxen Glauben von den Griechen übernommen haben sollen. Die wahre Welt ist ein Jammertal, hier gilt es zu leiden und zu darben, das echte Leben kommt danach, beispielsweise jenseits des Grabs. Der Katholizismus stand tatsächlich unter geringerem Einfluss von Seiten Platons, orientierte sich vornehmlich an den Stoikern und Aristoteles und vermochte deshalb eine Generation glücklicher Menschen zu erziehen, die im Heute leben und sich an Monets Seerosen, der Sonne und dem Wein erfreuen. Denn diesen trinkt man wirklich, um sich zu erfreuen. Den Wodka, um zu vergessen.

    Aus der platonistischen Philosophie lässt sich nach Belieben die Ärmlichkeit russischer Wohnungen ableiten, die schiefen Zäune, verwilderten Gärten, Hoftoiletten, die Müllberge am Straßenrand, die himmelschreiende Vernachlässigung von Ästhetik, Hygiene und guten Manieren. Aber hübsche Erklärungen sind selten zutreffend. Wo elementare Armut und Düsternis vieles bestimmen, darf man nicht nach Philosophie suchen.

    Ich vermute den Grund für unsere ewige Fixierung auf das Jenseits eher in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens. Die erdrückende Mehrheit der hiesigen Menschen ist nicht nur von der Macht entfremdet, sondern hat auch das Gefühl, nicht einmal über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Nikolai Alexejewitsch Nekrassow selbst hätte, wenn er in England geboren wäre und dort so einflussreiche Zeitschriften herausgegeben hätte, wie es Sowremennik und Otetschestwennye sapiski waren, nicht traurige Poeme geschrieben, sondern Gesetze, und zwar im Unterhaus. Zur Fuchsjagd auf seinem Gut in der Grafschaft Surrey hätten die einflussreichsten Mitglieder der Whigs, Herzöge und Abgeordnete um sich versammelt, nicht progressive Rasnotschinzy.

    Die denkenden Menschen, die in ganz Europa zur Lokomotive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wurden, verdrängte man unsere gesamte Geschichte hindurch von jeglichen Entscheidungsbefugnissen. Im Endeffekt suchte sich ihre Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in harter Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart.

    Glücklich lebten in Russland wohl nur diejenigen, die sich nicht mit verzwickten Fragen quälten, sondern die Dinge anpackten und die Gegenwart als beste aller möglichen Welten ansahen. Solche Macher gab es zu jeder Zeit reichlich und doch waren es lächerlich wenige. Mein Ratschlag zur Krise: Lasst Russland in Ruhe, ihr könnt das Land nicht verändern, aber so habt ihr immer noch die Chance auf ein interessantes und bequemes Leben. Puschkin, dem das Schicksal viel weniger Erfolg schenkte als Nekrassow, wusste das:

    „… Ich murre nicht deswegen, weil die Götter mir versagten,
    In zärtlicher Beschwernis die Steuern zu beklagen
    Oder Zarn zu störn, einander zu bekriegen;
    Ob es der Presse freisteht, Idioten zu betrügen
    Oder ob Zensoren, empfindlich, dumme Schwätzer
    Am Spaltenfüllen hindern, kann mich kaum verletzen.
    Das sind nur Worte, Worte, Worte weiter nichts,
    Auf andre, bessre Rechte leg ich mehr Gewicht;
    Die andre, bessre Freiheit ist mir mehr vonnöten;
    Vom Zaren abzuhängen oder von Proleten –
    Ist das nicht völlig gleich? Gott mit euch!
    Aber keinem
    Je Rechenschaft zu geben, sich selber nur zu meinen
    Beim Schaffen und im Dienst; für Macht und für Livreen –
    Gewissen und Gedanken, den Hals nicht zu verdrehen;
    Zu schlendern hier und dort, nach eigner Lust und Laune
    Die gottgegebne Schönheit der Natur bestaunen,
    Und durch die Schöpfungen von Geist und Kunst verführt,
    In freudiger Entzückung zu zittern tief gerührt.
    – Das nenn ich Glück! Hier liegen Rechte …“

    (Deutsch von Eric Boerner)


    Pushkin zitiert mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers.

    Nekrassow zitiert nach: Gedichte und Poeme: Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Nachdichtung von Martin Remané und Rudolf Seuberlich, Berlin [u.a.] 1965 (Aufbau-Verl.)

     

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  • Nach dem Bruderkuss

    Nach dem Bruderkuss

    Im Jahr 1990 malte der Moskauer Künstler Dimitri Vrubel an den Überresten der Berliner Mauer sein historisches Bild: den Kuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker. Nun, kurz vor dem 44. Jahrestag der Errichtung der Grenze, die Berlin und ganz Europa in zwei Lager teilte, hat sich „bumaga“ mit dem Künstler über den aktuellen Stand der zeitgenössischen Kunst und Politik unterhalten. Warum er in den 2000er Jahren Russland verlassen hat, ob Künstler zu einer Revolution fähig sind und wozu die Avantgardisten die klassische russische Literatur brauchen: Dimitri Vrubel redet über Pawlenski, Tolstoi, die Biennale in Venedig und Angela Merkel in Gestalt von Anna Karenina.

    Vor fünf Jahren sind wir (Dimitri Vrubel und Viktoria Timofejewa, Frau und Co-Künstlerin Vrubels, Anm. Bumaga) nach Berlin gezogen. Warum? Politisch und gesellschaftlich begannen nach dem Georgienkrieg in Russland Rückschritte, und wo Rückschritt herrscht, ist die aktuelle Kunst gewöhnlich ständigen Angriffen ausgesetzt; Kunst zu machen wird lebensgefährlich. Noch wichtiger war aber etwas anderes: Jeder Künstler in Russland fängt früher oder später an, immer wieder das Gleiche zu machen. In dem Jahr, in dem wir nach Deutschland übersiedelten, hatten wir den Zenit erreicht: Wir hatten in der Gelman-Galerie ausgestellt und in der Tretjakow-Galerie und standen vor der Frage: Was soll jetzt noch kommen?

    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa
    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa

    Ich glaube, meine Kollegen aus Russland nehmen mir das Wort „Zenit“ vielleicht übel. Wir kennen uns alle, sind in den 1980er Jahren aus denselben Wurzeln erwachsen. Doch unsere abweichende Haltung hier hat mittlerweile dazu geführt, dass wir für die Moskauer Kunstszene quasi inexistent sind. Für uns ist das kein Problem, denn die Moskauer Kunstszene ist hier auch in keiner Form vertreten. Auch in Moskau war ich eher ein Einzelgänger: Als die Perestroika begann und sich die wichtigsten Künstler im besetzten Haus im Furmanny Pereulok betätigten, hatte ich schon meine eigene Wohnungsgalerie.

    Über die russische Kunst im Westen

    In Moskau wird dir keiner sagen, ob du wirklich etwas Neues geschaffen hast oder ob es das schon vor dreißig Jahren in Österreich gab. Sogar mein wunderbarer Kollege Oleg Kulik, der Mensch-Hund – das ist die österreichische Aktionskunst der 1960er Jahre. Russland war jahrelang aus der Weltgeschichte der Gegenwartskunst herausgerissen, und das ist die Antwort auf die Frage, warum es im Westen keine russischen Künstler gibt: Alles ist schon dagewesen. Ein westlicher Künstler muss unbedingt einen eigenen Stil wählen, doch die Wiedererkennbarkeit – ob von Gerhard Richter, Neo Rauch, Keith Haring, Damien Hirst oder wem auch immer – ist das Ergebnis eines sehr langen innerlichen Selektions-Prozesses.

    Ich brauchte drei Jahre in Berlin, um zu verstehen, dass sich die russische visuelle Sprache genauso stark von der westlichen unterscheidet wie Russisch von Deutsch. Versuchen Sie mal, mit einem Deutschen russisch zu sprechen: Man wird Sie nicht verstehen. Und danach werden Sie in Ihr Heimatland zurückkehren und sagen: „Mich versteht dort keiner.“ Genau das aber tun sehr viele unserer Künstler und versuchen ihre Botschaft in russischer narrativer Sprache zu vermitteln. Für einen westlichen Menschen ist aber in erster Linie ein „Schlag ins Auge“ interessant und erst dann das Wesen des Bildes. Deshalb gibt es nur zwei russische Künstler, die im Westen vollkommen adaptiert sind: Malewitsch und Kandinsky. Mit Deutschen deutsch zu reden, und sei es nur schlecht, ist weitaus wirksamer, als mit ihnen gut russisch zu reden.

    Über Pjotr Pawlenski und die aktuelle Kunst

    Keiner meiner Kollegen wagt es, mit aktuellen Nachrichten zu arbeiten. Nirgendwo auf der Welt. Was mich sehr wundert, denn genau das wäre ja aktuelle Kunst!

    Mein großes Idol in dieser Hinsicht ist Pjotr Pawlenski. Er arbeitet zweifelsohne mit aktuellen Themen. Seine Performance, bei der er sich den Mund zugenäht hat, war zwar nichts Neues, hat aber interessanterweise die meisten Schlagzeilen gemacht. Als er sich das Ohrläppchen abgeschnitten und ein andermal seinen Hodensack an den Roten Platz genagelt hat, das waren absolut perfekte Aktionen. Wichtig ist vor allem, dass er direkt reagiert und dass er die unglaubliche Fähigkeit hat, mit seinem eigenen Körper zu arbeiten und ihn als Material zu nutzen. Allerdings macht er das im Rahmen der traditionellen Aktionskunst, wir dagegen arbeiten im Rahmen der totalen Kunst.

    Die Ereignisse, die ich auswähle, sind Teil meiner Biographie: Ich möchte sie geschichtlich festhalten, zumindest in meiner eigenen Geschichte als Künstler. Wenn mich etwas bewegt, versuche ich, auch andere zu bewegen. Und mithilfe des Bruderkusses, der auch nach 25 Jahren immer noch aktuell ist, erforschen wir die Mechanismen: Wie funktioniert die Kunst, die etwas mit Unsterblichmachung zu tun hat?

    Über Anna Karenina, Morphium-Trips und die klassische Literatur

    In mein neues Projekt Anna Karenina News ist alles eingeflossenen, womit ich mich in den letzten 40 Jahren beschäftigt habe. Es ist eine alte Idee, ein altes Vorhaben von uns: Nicht durch ein Medium Kunst zu machen, sondern die Kunst selbst als Medium, Nachricht, Meldung zu verstehen. Wir haben systematisch Reaktionen auf verschiedene Themen erforscht, angefangen mit der Politik: Haben ein Bild von Angela Merkel in der Rolle von Anna Karenina veröffentlicht und anschließend virale Bilder, Sport, Erotik. Jedes Bild wird von einem Zitat aus dem Klassiker in drei Sprachen und einer Audio-Spur begleitet. Zeitungen haben wir schon gemacht, Outdoor-Präsentationen sind geplant.

    Warum wir mit Anna Karenina angefangen haben? Erstens weil alle sie kennen. Zweitens weil dieses Buch ausnahmslos alle Fragen beantwortet, von der Geburt bis zum Tod. Eine Sache darin hat mich besonders verblüfft. Vor zehn Jahren ging meine ziemlich lange Alkoholpraxis zu Ende. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, was ein Alkohol-Drogen-Trip ist. Wenn Graf Tolstoi uns die letzten Tage von Anna Karenina schildert, ist mir klar, dass das nichts anderes als eine Insider-Beschreibung eines heftigen Morphium-Trips ist. Es ist eine Art absoluter Text, durch den all diese Bilder, die eine starke Verbindung zu heute haben, erhalten bleiben auf dem Gebiet der unsterblichen Kunst. Das ist stark.

    Projekt Anna Karenina News
    Projekt Anna Karenina News

    Außerdem gibt es so gut wie keine Menschen, die gegen die klassische Literatur wären. Ob Faschisten, Kommunisten, jung, alt, Deutsche, Russen oder Amerikaner – alle sind dafür. Im Unterschied zu einer Zeitung, die morgen schon keiner mehr braucht, existiert hier der Text jenseits der Zeit. Trotzdem ist es kein Evangelium, mit dem wir in unserem Evangelium-Projekt gearbeitet haben. Wir wollen derzeit sehen, inwiefern Anna Karenina News total sein kann, um alle Medien- und Kunsträume für sich zu beanspruchen.

    Über Kunst für Reiche und für alle

    In den 20 Jahren, die Damien Hirst von Andy Warhol trennen, hat sich herausgestellt, dass nicht Dollar (wie Warhol meinte), sondern 100 Millionen ein Kunstwerk sind. Der Höhepunkt der Kommunikation in der aktuellen Kunst ist heute die Biennale von Venedig; Venedig wird im Jahr der Biennale zur teuersten Stadt der Welt. Und das bedeutet, dass die ganze aktuelle Kunst, die in den 1960er Jahren als revolutionäre Kunst geboren wurde, zu einem Spielzeug verkommen ist für die, die das Geld haben, um nach Venedig zu kommen.

    Kunst muss man verkaufen. Aber man muss sie auch so platzieren, dass die Format-Bandbreite von einer handgefertigten Kopie des Bruderkusses für sehr viel Geld bis zu Postkarten für fünf Euro reicht. Wenn Kunst schwer erreichbar ist, dann nennt sie nicht „aktuell“ oder „experimentell“, sondern sagt gleich: „nur für Reiche“. Die ideale Kommunikation in der aktuellen Kunst sollte ganz einfach sein: ein Klick.

    Über das Russland von gestern und heute

    Ich war 29, als ich zum ersten Mal im Ausland landete. Und wo? Gleich in Paris! Aber nach einer Woche dort habe ich begriffen, dass mich dort nichts wundert, dass alles dort so ist, wie es sein soll. So sollen Läden und Straßen aussehen, so sollen Menschen lächeln. Und als ich dann im November nach Moskau zurückgekehrt bin, war das für mich ein furchtbarer Schock. Noch drei Monate war ich völlig durchgedreht wegen dieser absoluten Abnormalität: Alles schnell schnell, gehetzt, auf dem Sprung, und nur ja niemanden wirklich angucken. Warum leben die Menschen so? Heute bemüht sich Russland, Europa zu sein. Es ist auch Europa, aber ein halbfertiges. Im heutigen Moskau spürt man die imperiale Wucht: Alles ist teuer, Staus, riesige Autos. Wenn in Berlin einer einen Geländewagen fährt, dann ist es entweder ein reicher Araber oder ein Zigeunerbaron oder ein Russe.

    Ich besuche Russland nicht öfter als ein Mal im Jahr und nur kurz. Dort leben meine drei älteren Kinder und meine beiden Enkelkinder, dort liegen meine Mutter und meine Großmutter begraben. Ich kann kein Urteil über die Veränderungen im Land abgeben: Ich treffe mich nur mit meinen Kindern. Mit denen, die mich besuchen, reden wir immer weniger darüber, wohin sich Russland bewegt. Es reicht, einen Blick in Facebook zu werfen – und schon wird alles klar. Mir ist aufgefallen, dass man in den letzten fünf Jahren praktisch aufgehört hat, offline über Politik zu reden.

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  • Leviathan gegen Leviathan

    Leviathan gegen Leviathan

    Andrej Swjaginzews Film Leviathan, der als erster in der jüngsten russischen Geschichte mit dem zweitwichtigsten Hollywood-Preis, dem Golden Globe, ausgezeichnet und tatsächlich danach auch noch für den Oscar nominiert wurde, war diese Woche [Anfang 2015 – Anm. dekoder] Ziel einer regelrechten Hetzkampagne im eigenen Land. Der Kolumnist von The New Times glaubt, diese Kampagne war sorgfältig geplant.

    Schon möglich, dass die folgenden Ausführungen nur Vermutungen oder gar Verschwörungstheorien sind. Jedoch klingen diese Vermutungen ziemlich glaubwürdig. Es geht dabei um eine minutiös durchdachte Intrige der Machthaber nicht nur mit dem Ziel, Swjaginzews Werk in Verruf zu bringen (und Leviathan ist wirklich der beste russische Film seit Jahren), sondern auch die lang erwartete neue sozialkritische Richtung im russischen Film.

    Von Liebe zu Hass

    Nach der Nummer 1 aller Filmfestivals in Cannes letzten Mai, wo Leviathan den Preis für das beste Drehbuch bekommen hatte, schien es, der Film würde uns allen gefallen. Der Einzige, der ihn aktiv missbilligte, war der eigens zur Vorführung angereiste Kulturminister Medinski. Zum Teufel mit ihm! Welchen normalen Menschen interessiert schon Medinskis Meinung? Und so rutschten wir gut ins Neue Jahr: Leviathan als großes Kino! Und gleichzeitig für den Westen nicht in voller Breite und Tiefe verständlich. Lächerlich, dass unterdessen sogar echte Auskenner behaupten, Leviathan sei speziell für den Westen gemacht. Keineswegs! Der Westen, und ganz konkret Europa, hat das Wichtigste nicht verstanden: dass Leviathan nicht einfach nur eine persönliche Geschichte über himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, sondern auch ein politisches Statement über den Wesenskern des modernen Russland. Über den schrecklichen Leviathan, den korrupten Staat bar jeglicher Ehre und jeglichen Gewissens, in dem die Kirche den Staat deckt und Jesus de facto von Kriminellen privatisiert wird. In Europa wurde Leviathan nicht ausreichend wertgeschätzt. Die Auszeichnung in Cannes für das beste Drehbuch ist natürlich toll, aber sie ist kein Hauptpreis. Im Dezember hat der in Europa für einige wichtige oscarartige Filmpreise nominierte Leviathan den Kampf gegen die polnische Ida klar verloren. Wladimir Medinskis besorgte Gedanken galten jedoch vor allem der englischsprachigen Welt, vor allem den USA. Wer in Russland kennt die europäischen „Oskars“? Nicht mehr als ein paar Tausend. Wer kennt den Golden Globe und den Oscar? Oh, das ist schon eine ganz andere Geschichte. Der derzeitige Kulturminister ist kein Dummkopf und er hat einen ganzen Trupp von Zuträgern. Und höchstwahrscheinlich hat er selbst aktiv den entsprechenden Stellen zugetragen, dass es – sollte Leviathan nun kurz vor dem offiziellen Kinostart am 5. Februar amerikanische Preise gewinnen und große Popularität beim breiten Publikum in der Heimat erlangen – ein herber Schlag wäre. Jedenfalls was das primitive russische Patriotismus-Verständnis eines Medinski angeht. Und den russischen Staat und die orthodoxe Kirche. Medinski wusste nicht ohne die Hilfe eben jener Zuträger, dass der Produzent des Films Alexander Rodnjanski, der seine hochkarätig besetzten Filme sowohl in Russland als auch in Amerika produziert, bei den Organisatoren des Golden Globe viel bessere Karten hat als bei der Europäische Filmakademie. Also hätte Leviathan den Globus durchaus gewinnen können. Offenbar wurde eben deshalb beschlossen, den Film kurz vor der Verleihung des Golden Globe, in den Augen der russischen Öffentlichkeit niederzumachen. Für die konzertierte Aktion brauchte es eine Woche. Und man darf annehmen, nicht ohne Beteiligung des Geheimdiensts.

    Russland, zurück – marsch, marsch!

    Am vorigen Wochenende wurde Leviathan nun illegal im Netz veröffentlicht. Es gibt die Vermutung, die Filmemacher hätten das selber getan, doch das widerspricht jeglicher Logik. Wozu sollte Rodnjanski den Film im Netz veröffentlichen, wenn er am 5. Februar ohnehin offiziell in die Kinos gekommen wäre und schon viele den Kinostart ungeduldig erwarteten? Ist ihm dafür nicht sein Geld zu schade? Und was hätte er davon? Swjaginzew ist Perfektionist. Er macht Filme für die große Leinwand. Leviathan besticht durch die fantastische Kameraarbeit des Großmeisters Michail Kritschman. Wozu hätte Swjaginzew seinen bis dato besten Film heimlich ins Netz stellen sollen, wo man ihn auf winzigen Bildschirmen, halbverdeckt von englischen Untertiteln, ansehen würde? Viel plausibler scheint die Annahme, dass der Film von unserem Geheimdienst ins Netz gestellt wurde. Erstens, um die Wirkung zu verderben (denn ausgerechnet die besten Filme rufen bei Zuschauern oft genau die gegensätzliche Reaktion hervor, wenn sie in schlechter Qualität gezeigt werden). Und zweitens, damit seine Agentenschaft in den sozialen Netzen sofort damit beginnen konnte, die öffentliche Wahrnehmung von Leviathan negativ zu beeinflussen. Wäre der Film dort nicht erschienen, hätten sowohl die Filmemacher als auch ich, der ich diese Zeilen schreibe, sagen können: „Was redet ihr Hohlköpfe da? Ihr habt den Film doch nicht mal gesehen!“ Und was bitteschön kann man jetzt erwidern? All die vom Geheimdienst engagierten Leute, die im Internet unter zwei- bis fünfhundert erfundenen Namen ihre Arbeit machen, verkündeten just am Vorabend des Golden-Globe-Triumphs von Leviathan in den sozialen Netzwerken: Der Film ist scheiße, Russlandschmäh und Schwarzmalerei. Das Unangenehmste ist, dass es funktioniert hat. Ich sage es noch einmal: Nach der Premiere in Cannes, wo der Film in guter Qualität gezeigt wurde, waren alle Russen dort begeistert. Mittlerweile aber schreiben sogar viele kluge Menschen, die etwas vom Film verstehen, im Internet: „Den Quatsch seh ich mir erst gar nicht erst an.“ So effektiv erweist sich die KGB-Propaganda eben nach wie vor! So ein Leichtes ist es ihr, sogar angeblich intelligente Leute aus dem Konzept zu bringen! Die Kampagne war angelaufen. Mit dabei die beiden wichtigsten offiziellen Fernsehsender, die besondere Instruktionen erhalten hatten. Als am Montag die Nachricht kam, dass Leviathan tatsächlich einen Golden Globe gewonnen hat, was eine nationale Sensation ist (der einzige russische Film, der den Preis bis dahin gewonnen hatte, war 1969 Bondartschuks Krieg und Frieden), präsentierten die beiden Fernsehsender das nicht nur nicht als Nachricht des Tages, es wurde nur knapp am Ende der Nachrichtensendungen erwähnt. Dabei listeten sie zunächst die anderen Golden-Globe-Gewinner auf, um dann in einem Nebensatz kurz zu sagen, dass Leviathan den Preis als bester fremdsprachiger Film bekommen hat. Das war‘s! Den Höhepunkt erreichte der Irrsinn am 15. Januar, als bekannt wurde, dass Leviathan auch noch für den Oscar nominiert ist. Das ist doch wohl ein großer „Sieg der russischen Waffe“, was denken Sie? Das ist die Nachricht des Tages! Nix da. In den Abendnachrichten des Ersten Kanals wurde die Nachricht ignoriert. Als gäbe es keinen Oscar und keinen Leviathan. Stattdessen wurde uns in allen Nachrichtensendungen freudig verkündet, dass unsere Biathlon-Männer bei einer Weltcup-Etappe Bronze geholt hätten. Schimpf und Schande.

    Wohin es führt

    Wohin wollen sie uns bekommen? Ins Ghetto. In ein politisches und kulturelles Ghetto, in dem es ein Leichtes sein wird, uns die Gehirne zu waschen und kein Platz sein wird für Filme wie Leviathan, in denen offen über die Verschmelzung von Staat und Kirche gesprochen wird. Erstaunlich ist ein Gedanke, der gerade durch eindeutig bezahlte Einflussagenten in den sozialen Netzwerken verbreitet wird: Medinski habe das Recht, von Leviathan politische Loyalität zu fordern, denn der Film sei mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht. Aber so gut wie alle russischen Filme in den letzten Jahren wurden mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht, warum sollte man da an Leviathan besondere Anforderungen stellen? Besonders, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung mickrig ist und das Gros der Finanzierung aus anderen Quellen stammt. Ideale Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht in Frankreich, dessen Herangehensweise von unseren Entscheidungsträgern so gerne als Vorbild zitiert wird. (Dort wird gern davon gesprochen, dass es in Frankreich Verleihquoten für amerikanische Filme gäbe. Fakt ist: Es gibt in Frankreich keinerlei Quoten, es gab sie nie und es wird sie nie geben. Man verscheißert euch.) In Frankreich wird auf jedes Kino-Ticket eine Steuer von 11 Prozent erhoben, die in den Fonds des Centre National de la Cinématographie fließen, das dann wie unser Kulturministerium Zuschüsse an Produzenten vergibt. Dabei geht es um weit größere Summen als die, die unser Kulturministerium für diese Zwecke vergibt, doch keiner würde je auf die Idee kommen, die geförderten Filme einer ideologischen Kontrolle zu unterwerfen. Womöglich weil Frankreich – im Gegensatz zu Russland – ein freies Land ist. Vor dem Hintergrund der Geschichte mit Leviathan hat das Kulturministerium neulich einen Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge kein Film eine Verleih-Lizenz bekommt, der „die nationale Kultur verleumdet, die nationale Einheit bedroht und die Grundlagen der Verfassungsordnung zerrüttet“. Man bereitet uns darauf vor, dass in den Kinos keine Filme mehr laufen werden, die die herrschende Macht in Russland kritisieren, und sei es nur indirekt. Man darf gespannt sein, wie lange sie mit ihren Restriktionsgesetzen durchhalten und ob ihnen bald Nürnberger Prozesse bevorstehen. Was Swjaginzew betrifft, tut unser Staat offenbar alles dafür, ihn aus dem Land zu bekommen. Wenn Abschaum an der Macht ist, wählt er sich immer freie, ehrliche, talentierte Menschen als Angriffsziel.

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