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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kino #6: Letjat Shurawli

    Kino #6: Letjat Shurawli

    Im Februar 1956 verurteilte Nikita Chruschtschow in einer Geheimsitzung auf dem XX. Parteitag Stalins Herrschaft als eine Zeit des Massenterrors und der Geschichtsfälschung. Der damit eingeleitete Entstalinisierungsprozess wurde weltweit in der metaphorischen Umschreibung Tauwetter bekannt und führte zu radikalen Korrekturen im erstarrten Darstellungskanon. Das kollektive Schicksal, dem sich das Individuum fügte – ein wichtiges Merkmal des sowjetischen Films seit den 1920er Jahren – wurde durch Einzelschicksale verdrängt. Filmhelden bekamen zum ersten Mal das Recht auf eigene Erfahrungen, die sich mit der kollektiven nicht zwingend deckten. Ihre Intimisierung kam im Schwarzweiß eines dokumentarischen Realismus daher, der unmerklich das Objektive durch das Subjektive austauschte.

    Initialisiert hat diesen Prozess der bekannteste Film des Tauwetters, Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen, 1957) von Michail Kalatosow, der 1958 in Cannes die Goldene Palme gewann – ein Jahr vor Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, in dem es um eine ähnliche private Aneignung der großen Geschichte ging.1

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Im Gegensatz zum Kanon der sowjetischen Kriegsfilme erscheint in Die Kraniche ziehen statt der gewohnten treuen Kriegsbraut eine untreue – ein keineswegs heroisches Mädchen. Die 18-jährige Veronika liebt den Ingenieur Boris, der sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldet. In einer Bombennacht gibt sie sich dessen Cousin, dem Pianisten Mark, hin und heiratet ihn, ohne zu wissen, dass Boris an der Front gefallen ist. Ihre Verzweiflung über diesen Entschluss, den sie als Verrat an ihrer Liebe, ja an sich selbst auffasst, treibt sie fast in den Selbstmord. Sie verlässt Mark, arbeitet in einem Lazarett und hofft, jeder Vernunft zum Trotz, dass Boris zurückkehrt. Als im Mai 1945 die ersten Züge mit Frontheimkehrern eintreffen, geht sie, weiß gekleidet wie eine Braut, zum Belarussischen Bahnhof, bleibt jedoch in der jubelnden Menge allein.

    Die verunsicherten Kritiker

    Kalatosow verfilmte ein Erfolgsstück von Viktor Rosow (Wetschno Shiwije, dt. Die ewig Lebenden), das während des Krieges geschrieben und 1956 am neuen Moskauer Theater Sowremennik (dt. Zeitgenosse) uraufgeführt wurde. Seine Sprengkraft allerdings zeigte das Sujet erst im Film.

    Die Darstellung der jungen Tatjana Samoilowa und die starke visuelle Sprache des Films stoßen die hier erwartete Geschichte von Schuld und Reue um: Veronika lebt ihr Leben und nicht das der erwarteten Norm, sie trifft ihre eigene Wahl und wird von den Filmautoren dafür nicht verdammt, sondern poetisiert.

    Die einheimische Kritik war zwar von dem Film begeistert, wusste jedoch lange Zeit nicht, wie sie die Heldin interpretieren sollte. Die Fachzeitschrift Iskusstwo kino empfahl den Film als Werk „über die Liebe zum Volk und die Treue zu ihm“ und hoffte, dass er den „Sinn für zivile Heldentaten eröffnen werde“.2 Dem Drehbuchautor Rosow wurden dramaturgische Fehler vorgeworfen, da die Verhaltensweise der Heldin der Logik widerspreche; der jungen Veronika wurde ein Weg „in das große Leben“ der Gemeinschaft gewünscht.3

    Untreue Braut statt opferbereites Mädchen

    Möglicherweise konnten die damaligen Kritiker und Zuschauer einen Bruch nicht verarbeiten: Die Ambivalenz, die von der Figur der Veronika ausging, wich ab von den angebotenen Typisierungen: untreue Braut, nicht opferbereites Mädchen. Die Rätselhaftigkeit ihrer Individualität stand in krassem Gegensatz zu klar konzipierten Menschen, die auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort wussten. Veronika dagegen blieb sich selbst ein Rätsel. Sie gibt im Film weder die untreue Braut noch die gefallene Frau, weder ein Opfer des Krieges noch eines der Umstände, sondern eine Liebende, deren Glaube an ihr Gefühl stärker ist als der an die Realität.

    Das Geheimnisvolle ihrer Individualität wurde durch metaphysische Bande betont, die die Parallelmontage und die Dramaturgie zwischen den Liebenden etablierten: In dem Augenblick, da Veronika sich Mark hingibt, trifft eine zufällige Kugel Boris. In dem Moment, da Veronika sich unter den Zug werfen will, zwingt das Schicksal sie, ein Kind zu retten, das obendrein Boris heißt. Die Dramaturgie des metaphy­sischen Zufalls widersetzte sich den üblichen Motivierungen.4

    Kalatosow baute auf bewusste Wiederholungen und Variationen der Schlüsselszenen, also auf poetische und nicht prosaische Verbindungen. Dreimal kommt die Szene auf der Treppe vor, auf der Veronika und Boris sich nicht voneinander lösen konnten. Später stürzt Veronika im zerbombten Haus dieselbe Treppe empor, um die Tür nicht in ihre Wohnung, sondern in den Abgrund aufzustoßen. In seinem Todestraum läuft Boris dieselbe Treppe hoch, um Veronika oben im Brautkleid zu treffen.

    Zweimal begegnet Veronikas Blick dem Zug der Kraniche am Himmel. Ihr Blick von oben wiederholt sich in der Szene des Abschieds, der die Liebenden trennt, und am Ende, als die Menschenmasse die verlorene Veronika in sich aufnimmt.

    Die Emanzipation der Gefühle, die Loslösung des Persönlichen vom Allgemeinen, spürten auch die deutschen Kritiker in Ost und West, die den Film zum „indivi­duellsten“ aller Kriegsfilme erklärten.5

    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm
    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm

    Das Individuelle und das Kollektive

    Die Subjektivierung der Erfahrung wurde durch die Individualisierung der filmischen Perspektive unterstützt. Der Kameramann Sergej Urussewski setzte eine entfesselte Handkamera ein, die im ununterbrochenen „Mitlauf“ die Bewegung der Heldin suggerierte, er fand ausgefallene Blickwinkel, die Veronikas Perspektive vermitteln sollten. Dieses subjektivierte Bild wurde außerdem durch den Ton verstärkt, der sich aus der Überlagerung von Geräuschen, Dialogfetzen und Musik zusammensetzte.

    So ließen ausdrucksstarke Einstellungskompositionen, die die Raumverhältnisse deformieren, sowie das expressionistische, kontrastreiche Licht- und Schattenspiel Veronikas psychische Schocks erahnen. Die bei der Bombardierung zerstörte Wohnung wurde durch die Zerstörung der Bildkomposition wiedergegeben, das schwindende Bewusstsein des sterbenden Boris‘ über von unten aufgenommene, sich im Kreis drehende, mehrfach belichtete Baumkronen.

    Auch die Massenszenen bekommen dank der bevorzugten Weitwinkelobjektive mit ihren Tiefenschärfen eine neue Dimension: Der virtuos langanhaltende Einsatz der Handkamera ohne Schnitte verlagerte die Montage in die Einstellung und schuf den eigenartigen nervösen Rhythmus des Films.

    Das Gesicht der Samoilowa zeichnet Urussewski wie eine Schwarzweißgrafik mit Licht (und Schatten) – jenseits kommerzieller Fotogenität und Erotik.

    Der unvermittelte Wechsel von der subjektiven zur objektiven Perspektive, von Nahaufnahmen zu Totalen von ganz oben herab, ergänzt die verwirrte Sicht der Veronika um den totalen Blick auf ihre kleine Figur – mitten im Chaos schwerer Lastwagen oder in der Menge auf dem Bahnhof.

    Diese raffinierten visuellen Verunsicherungen betonen die Verzweiflung der Heldin, wobei die aufgepeitschte Emotionalität des Films mitunter an Kitsch grenzte.

    Das Weibliche und das Männliche

    Die subjektive Sicht, das expressionistische Licht sowie der synkopische Schnitt­rhythmus waren Veronika gegeben und weiblich kodiert, Boris‘ Geschichte dagegen in das Schicksal der Gemeinschaft eingeschrieben und mit neutralen Totalen verknüpft. Wegen dieser Gemeinschaft war er bereit, sein Leben zu opfern. Doch im Augenblick seines Todes und ihres Selbstmordversuchs wird diese Teilung aufgehoben.

    Den Film treibt ein starkes, nicht realisiertes Verlangen voran. Die Liebesszene zwischen Veronika und Mark in einer Bombennacht wurde gewöhnlich als Vergewaltigung oder Sündenfall interpretiert. Doch Kalatosow hatte hier nichts anderes als das klassische Motiv der Verbindung von Eros und Tanatos, Liebe und Tod benutzt. Die Szene variierte das Thema der leidenschaftlichen unerfüllten Liebe, das die Beziehung von Boris und Veronika bestimmte, der Braut des Toten, die einmal der Hypnose eines Lebenden erliegt.

    Expressionismus und Neorealismus

    Die Kraniche ziehen wurde innerhalb von nur sechs Monaten abgedreht, ein Rekord für die damalige Zeit. Im Film alternierten betont expressive und ruhige neorea­listische Szenen. Auf die Alltagsszene im Lazarett folgte der Selbstmordver­such, gedreht und geschnitten wie im Stummfilm. Der ausein­ander­gebrochene Raum mit der umgestürzten Horizontlinie wurde aus extrem kurzen, losen Fragmenten zusammengesetzt. Die Reißschwenks lösten die Formen auf. Kalatosow verband diese verschiedenen Stile frei miteinander, und obwohl die neorealistischen Szenen – der Dialoge wegen – längere Einstellungen erforderten, war die Gesamtlänge der expressiven und naturalistischen Episoden im Film ausgeglichen.

    Dieser Film wurde über Nacht zu einem Ereignis, das sich durch nichts angekündigt hatte.6 Auch keiner der späteren Filme von Regisseur Kalatosow oder Kameramann Urussewski erreichte jemals wieder die Kraft der Kraniche, Tatjana Samoilowa spielte nie wieder eine Rolle so suggestiv wie die der Veronika, obwohl sie mehrere internationale Angebote bekam,7 in denen sie ihre Unwiederholbarkeit reproduzieren sollte.

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am 09.06.2017


    1.Resnais war nach Hiroshima gereist, um einen Dokumentarfilm über den Atombombenabwurf zu drehen; der daraus entstandene Spielfilm erzählte das private Drama einer jungen Französin und ihrer Liebe zu einem deutschen Soldaten, dessen Tod am 2. August 1945 sie als ihr Hiroshima erlebte.
    2.in: Iskusstwo kino (1957), Nr. 2, S. 10 und S. 61
    3.Turowskaja M. (1957): Da i net, in: Iskusstwo kino, Nr. 12, S. 18
    4.So in dem damals gerade im Ausland veröffentlichten Roman Doktor Shiwago von Boris Pasternak, der 1957 im Mosfilmstudio (ungelesen) diskutiert wurde.
    5.Bulgakowa O./Hochmuth D. ( Hrsg.) (1992): Der Krieg gegen die Sowjetunion: Katalog des Filmprogramms zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin, S. 61-71
    6.Kalatosow hatte zwar schon 1930 mit dem poetischen, auf die visuelle Ausdruckskraft bauenden Film  Das Salz Swanetiens debütiert, doch drehte er noch 1950 einen typischen Film des Kalten Krieges, Die Verschwörung der Verdammten, und einen genauso plakativen Film über Enthusiasten, die Neuland bezwangen (Der erste Zug, 1955). 1943 bis 1945 verbrachte er in den USA, zunächst in New York, dann in Hollywood, um für die zweite Front zu werben, und hat sich dabei von den affektiven Melodramen Hollywoods beeinflussen lassen. Urussewski war dagegen für seine ungewöhnliche Ausdrucksfähigkeit schon seit Der letzte Schuss (1956) bekannt, hatte jedoch zuvor ebenfalls ausgesprochen konventionelle Filme gedreht(Drei Menschen und Die Kubankosaken), die an Ölgemälde naturalistischer Milieumalerei erinnerten.
    7.Sie nahm u. a. Angebote an aus Ungarn (Alba Regia, 1961; Regie: Mihàly Szemes) sowie Italien (Italiano, brava gente, 1965; Regie: Guiseppe de Santis).

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  • Musyka: Soundtrack der Revolution

    Musyka: Soundtrack der Revolution

    „Die Russische Revolution von 1917 kann man sich ohne Marseillaise und rote Fahnen kaum vorstellen“, schreibt der Historiker Boris Kolonizki in seinem Buch Machtsymbole und Machtkampf. Und es geht nicht nur um Vertonung und Illustration. Zu Zeiten von sozialen Revolutionen, wie sie Russland im Jahr 1917 erlebt hat, werden Lieder zu einem der wichtigsten Instrumente des Machtkampfs. Sie konsolidieren und trennen gesellschaftliche Gruppen manchmal mehr als politische Programme und Reden. Da, wo staatliche Institutionen in Schutt und Asche liegen, da, wo das Rechtssystem stark beschädigt ist, können die bekannten Melodien Gewalt legitimieren und auch den politischen Ton mit angeben.
     
    Das gemeinnützige Medien-Projekt Arzamas stellt den Soundtrack der Revolution vor – die wichtigsten Lieder des Jahres 1917.

    Marseillaise

     

    Musik: Claude Joseph Rouget de Lisle
    Text: Pjotr Lawrow

    Solisten der Kiewer Oper und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917

    Die russischen Revolutionäre verglichen sich gern mit ihren französischen Vorkämpfern aus der Zeit von 1792, in der die Marseillaise entstanden ist. Pjotr Lawrow, Wissenschaftler und Angehöriger der [sozialrevolutionären – dek] Narodnikibewegung verlieh dieser Stimmung Ausdruck, als er 1875 einen neuen russischen Text zu der bekannten Melodie verfasste: „Lasst uns die alte Welt verdammen, // Lasst uns ihren Staub von den Füßen schütteln!“

    In Frankreich wurde die Marseillaise 1879 [endgültig – dek] zur Nationalhymne erklärt, was in den Beziehungen zwischen dem Russischen Reich und Frankreich als seinem engsten Verbündeten für peinliche Kollisionen sorgte. Denn nun galt es, neben Gott, schütze den Zaren auch das Revolutionslied zur Aufführung zu bringen.

    Im offiziellen Kontext gab es die Marseillaise in Russland entweder mit dem französischen oder ganz ohne Text – jegliche andere Darbietung war verboten. Zudem fügte sich Lawrows Text nicht allzu glatt in die französische Melodie, sodass der Komponist Alexander Glasunow die Musik ein wenig an den russischen Text anpasste. Ausländer wunderten sich, warum sie langsamer klang als das Original.

    „Man singt die Marseillaise bei uns auf eigene Art, und zwar schlecht, geradezu verhunzt wird dieses schwungvolle Lied“, klagte der Maler Alexander Benois.

    Zur Februarrevolution waren die russischen Musikkapellen mit der Marseillaise bereits vertraut, und der verbotene Lawrow-Text wurde im ganzen Land offen gesungen.


    Hymne auf ein freies Russland

     

    Musik: Alexander Gretschaninow
    Text: Konstantin Balmont

    Fjodor Oreschkewitsch und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917

    Die Hymne auf ein freies Russland ist das einzig wirklich neue Massenlied, das während der Revolution 1917 geschrieben wurde – alle anderen waren Umarbeitungen alter Lieder oder hatten schon vorher im Untergrund existiert.

    Im revolutionären Schwung schrieb der Moskauer Komponist Alexander Gretschaninow innerhalb einer halben Stunde die Melodie nieder, der symbolistische Dichter Konstantin Balmont verfasste den Text dazu. Wobei die ersten beiden Zeilen bei einem anderen Symbolisten, nämlich Fjodor Sologub, entlehnt waren: „Es lebe Russland, freies Land! Freie Urkraft, zu Großem bestimmt!“

    Das Lied verbreitete sich augenblicklich im Land, Orchester und Kapellen machten sich die Melodie zu eigen, die Hymne wurde auf Kundgebungen gesungen. Doch ihr ein offizielles Siegel aufzudrücken, war bis zum Oktober nicht gelungen oder nicht gewollt.

    Nach der Oktoberrevolution wurde die Hymne auf ein freies Russland zum Emigrationslied, das man in den Zwischenkriegsjahren in Europa und Amerika sang und auch aufnahm. Nach dem Krieg schließlich, noch zu Lebzeiten des Komponisten Gretschaninow, erlangte die Melodie weltweite Bekanntheit: als Sendezeichen von Radio Swoboda.

    Die hier vorliegende Aufnahme, eine der ersten, entstand in Kiew auf der Woge der immensen Popularität, die die Melodie innerhalb kürzester Zeit erreichte. Interpret ist der Tenor Fjodor (Theodor) Oreschkewitsch, der in Tbilissi und Warschau, im Marinski und im Bolschoi-Theater sang und 1917 Solist an der Kiewer Oper war. Sein stilvoller klassischer Gesang harmoniert nicht allzu gut mit dem schrillen Sound des Extrafon-Blasorchesters, doch über solche Kleinigkeiten sah man im Revolutionsjahr hinweg. 


    Trauermarsch
    „Wy shertwoju pali …“ („Ihr seid als Opfer gefallen …“)

     

    Musik: Alexander Warlamow

    Unbekannte Blaskapelle. Deutschland, ca. 1907

    [Der spätere Trauermarsch der Revolutionäre – dek] hat eine reiche vorrevolutionäre Geschichte. Die Melodie wurde in den 1830er Jahren von Alexander Warlamow komponiert, einem Klassiker des russischen Kunstlieds. Dem Text liegt ein Gedicht zugrunde, das Charles Wolfe 1816 zum Tod eines britischen Generals verfasst hatte. Iwan Koslow hat es bearbeitet.

    1870 fand das Lied Eingang in das revolutionäre Milieu, wo es einen neuen, feurigen Text erhielt, verfasst von dem Narodnik Anton Amossow: „Wy shertwoju pali w borbe rokowoi // Ljubwi bessawetnoi k narodu …“ (dt. „Ihr seid als Opfer gefallen im schicksalhaften Kampf // Der bedingungslosen Liebe zum Volk … “). Wy shertwoju pali (dt. Ihr seid als Opfer gefallen) wurde zum Trauerlied, dem Trauermarsch der Revolutionäre, mit dem sie von den gefallenen Kameraden Abschied nahmen.

    Man sang es während der Revolution von 1905, als man die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands zu Grabe trug. Dann wurde es verboten und seine Aufnahmen heimlich nach Russland geschmuggelt. 1917 erklang das Lied erneut im bereits bekannten Kontext – „Ihr seid als Opfer gefallen …“ – sobald die Helden der Revolution die ersten Opfer ausriefen. Es war diese Trauermelodie, die bei ihrem Begräbnis am 23. März 1917 in Petrograd spielte.

    Die Schallplatte der legendären Plattenfirma Poliaphone, die hier zu hören ist, war etwa zehn Jahre vor dem Revolutionsjahr 1917 erschienen: Die Aufnahme (ohne Text) ist aller Wahrscheinlichkeit nach in Deutschland entstanden, wo die Platte gepresst wurde, auf dem Etikett ist jedoch die neutrale Bezeichnung Pochoronny Marsch (dt. Trauermarsch) zu lesen. Dort ist zur Tarnung auch eine Handelsfirma Poljakin und Söhne in Odessa angegeben, die nie existierte. Die Orchesterversion wirkt klangvoll und qualitativ hochwertig – die deutsche Aufnahmetechnik war damals eine der besten.


    „Vorwärts, Genossen, im Gleichschritt“

     

    Musik: Verfasser unbekannt
    Text: Leonid Radin

    Chor des Moskauer Staatstheaters. Moskau 1917

    Entstanden ist dieses Lied in Deutschland als Protestlied gegen den Einmarsch der napoleonischen Truppen. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Repertoire deutscher Gesangs- und Studentenvereinigungen.

    Nach Russland gelangte das Lied Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen dessen Ende wurde es von den Revolutionären in Gebrauch genommen: 1898 verfasste der den Narodniki angehörende Chemiker Leonid Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis einen neuen Text und studierte diesen sogar mit seinen Mitgefangenen ein. „Den Weg ins Glück der Freiheit wollen wir uns bahnen mit Macht.“ Mit diesen kämpferischen Zeilen büßte die bewährte Melodie ihren melodischen, walzerartigen Rhythmus ein und wurde zum Kampfmarsch.

    Nachdem sie 1905 erklungen war, blieb sie bei den Revolutionären eine der beliebtesten Melodien. 1917 war sie von Anfang an und überall zu hören. Nach der Revolution gelangte das Lied wieder nach Deutschland, wo es [unter dem Namen Brüder zur Sonne zur Freiheit dek] zunächst von Arbeiterchören und Kommunisten gesungen wurde, später dann auch von den Nazis.

    Doch in den Ländern Osteuropas bestand daneben auch die beinahe vergessene, langsame und melodiöse Version fort: Noch Mitte der 1930er Jahre sang man im unabhängigen Lettland auf diese Melodie von dem Mädchen eines Fischers, das sich nach dem Geliebten sehnt.


    Ukrainische Hymne

     

    Musik: Michail Werbizki
    Text: Pawel Tschubinski

    Ukrainischer Volkschor unter der Leitung von Alexander Koschiz. Kiew 1917

    Kiew gehörte nicht nur zu den Zentren der revolutionären Ereignisse von 1917, es spielte auch für die Schallplattenindustrie im vorrevolutionären Russland eine bedeutende Rolle.

    Hier betrieb die große Schallplattenfabrik der Firma Extrafon rege Geschäfte. In den Klang-Annalen der Februarrevolution hat die Firma eine besonders markante Spur hinterlassen. Auf ihrem Etikett, reich verziert mit Blättern von Kiewer Kastanien, nahm sich ein in den 1860er Jahren entstandenes Lied besonders eindrucksvoll aus, das feierlich (und erstmalig!) Ukrainische Hymne genannt wurde. Für die Ukraine erwies sich diese Aufnahme als eine Art Auftakt zu der [kurzen – dek] Epoche der Zentralna Rada, die die zeitweilige Unabhängigkeit der Ukraine proklamierte. 


    Hymne der Zionisten (HaTikwa)

     

    Musik: Samuel Cohen
    Text: Naphtali Herz

    Orchester spielt unter der Leitung von Arkadi Itkis. Kiew, 1917

    Auf der Schallplatte mit der Hymne der Ukraine war auch die Hymne der Zionisten – als B-Seite. Die Februarrevolution und die mit ihr aufgekommene Hoffnung auf eine neue nationale Identität hatten alte Konflikte vorübergehend abgemildert. Doch die Idee der Gemeinschaft von Ukrainern und Juden in einem von der Autokratie befreiten Land sollte nun ausgerechnet ein Lied verkörpern, das dazu aufrief, Russland so bald wie möglich zu verlassen.

    1888 hatte Samuel Cohen ein Gedicht von Naphtali Herz Imber über die Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina mit einer moldawischen Volksmelodie unterlegt. Heute ist dieses Lied die israelische Nationalhymne.

    1917 war die Hymne der Zionisten nicht unumstritten. Gewiss, den Verfechtern der Auswanderung stand es jetzt frei, nach Palästina zu gehen. Aber auch in Russland waren jahrhundertealte Grenzen gefallen – nämlich die des [sogenannten jüdischen – dek] Ansiedlungsrayons, was mitunter weitreichende Möglichkeiten eröffnete.

    Ein Beispiel hierfür ist etwa der Dirigent des Orchesters, das im revolutionären Kiew die HaTikwa eingespielt hatte. Gebürtig aus dem kleinen Städtchen Rschyschtschiw im Kiewer Gouvernement, bekleidete Arkadi Itkis nach der Revolution den Posten eines Regimentskapellmeisters der Roten Armee und wurde 1919 Inspekteur der ukrainischen Militärorchester. Ab 1924 war er Kapellmeister der Infanterieschule in Iwanowo-Wosnessensk und machte sich durch den Marsch Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) einen Namen.

    Text [02/2017]: Alexej Petuchow
    Übersetzung: Anja Lutter
    Veröffentlicht am 15.05.2017


    Quellen
    Druskin, M. S. (1954): Russkaja revoljuzionnaja pesnja [Das russische Revolutionslied – dek], Moskau
    Shitomirski, D. V. (1963): Is proschlowo russkoi revoljuzionnoi pesni [Aus der Geschichte des russischen revolutionären Liedes – dek], Moskau
    Kolonizki, B. I. (2012): Simwoly wlasti i borba sa wlast: K isutscheniju polititscheskoi kultury rossiskoi revoljuzii 1917 goda (Die Symbole der Macht und der Kampf um die Macht: Zur Untersuchung der politischen Kultur der russischen Revolution von 1917 – dek), St. Petersburg

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kino #5: Malenkaja Vera

    Kino #5: Malenkaja Vera

    Sowohl an sowjetischen Kinokassen als auch auf dem internationalen Markt war er ein Kassenschlager: Malenkaja Vera, zu dt. Kleine Vera. Gedreht vor 30 Jahren auf dem Höhepunkt der Perestroika – im Sommer 1987 in der ukrainischen Industrie- und Hafenstadt Mariupol – zeigt der Film eine freche, autoritätsverweigernde junge Generation kurz vor dem Zusammenbruch eines ganzen Gesellschaftssystems. Spürbar ist die neu aufgekommene Ästhetik des Kinos seinerzeit, die tschernucha, eine Schwarzmalerei, die der trostlosen sowjetischen Provinz ihren Akzent verleiht. Die rebellische Vera, die versucht dort auszubrechen, um ihren Platz zu finden, war auch deshalb ein Kinoereignis, weil erstmals in einem sowjetischen Film eine Sexszene offen gezeigt wurde. Die Hauptdarstellerin posierte sogar unter dem Titel From Russia with Love: The Soviets’ First Sex Star Natalya Negoda für den US-amerikanischen Playboy.1

    Das Ehepaar Wassili Pitschul (Regie) und Maria Chmelik (Drehbuch) hat mit seinem Debütfilm die Zeichen der Zeit auf paradigmatische Weise konserviert. Und dabei eine Alltagstragödie zwischen keimender Hoffnung und erdrückender Enge geschaffen.

    https://www.youtube.com/watch?v=ojJzBYrIM9I


    Begleitet von Synthesizer-Musik schwenkt die Kamera über ein Meer von Plattenbauten, hinter denen Fabrikschlote in den verwaschen-graublauen Himmel ragen. Wohnhäuser und Industrieanlagen verschmelzen zu einer spezifisch sowjetischen beziehungsweise sozialistischen Landschaft. Man kennt dieses Setting aus Filmen der 1950er Jahre, nur war es damals positiv konnotiert. Es stand für Arbeit, Leben, Glück und Zukunft. 

    Die Kamera zoomt an einen dieser Plattenbauten heran und das Bild, das wir uns von diesem urbanen Leben hier machen sollen, konkretisiert sich ganz anders: Vom Balkon fällt der Blick auf einen langsam vorbeifahrenden Güterzug und einen begrünten Innenhof mit einer Kinderschaukel. Die dazugehörigen Geräusche des Ratterns und Quietschens werden leitmotivisch wiederkehren – genauso wie der etablierte Sprachgestus. Der Familienalltag ist durch Brüllen und Heulen gekennzeichnet. Grob und derb geht es zu: „Bekomm’ ich endlich was zu fressen?“ („Ty poshrat-to dasch, net?“), fragt der Vater die Mutter, oder „Ich hätte dich besser abgetrieben!“ („Lutschsche by ja abort sdelala!“) schleudert die Mutter der Tochter zum Ende des Films entgegen.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie

    Malenkaja Vera ist das Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie, die als der gesellschaftliche Durchschnitt zu verstehen war. Ihr Leben in der Provinz ist voller Frust: Der Vater, ein LKW-Fahrer, betrinkt sich täglich nach der Arbeit mit Selbstgebranntem; die Mutter, eine Textilarbeiterin, ernährt ihre Familie wie eine Besessene; der Sohn Witja hat als in Moskau arbeitender Arzt den Bildungsaufstieg geschafft und wird immer dann gerufen, wenn zu Hause die Situation aus dem Ruder läuft. Dafür verantwortlich ist die 17-jährige Tochter Vera, die aus der Enge der sowjetischen Wohnverhältnisse und Denkstrukturen ausbrechen will und gegen ein vorbestimmtes Leben aus Heirat, Kinder und einem wenig fordernden Beruf rebelliert. Auf der Suche nach Identität und von zwei Männern begehrt, wählt sie den Schurken und stürzt sich dadurch ins Unglück.

    Neues ästhetisches Programm

    Bei aller Sozial- und Gesellschaftskritik verfolgt der Film vor allem auch ein neues ästhetisches Programm, das für das Perestroika-Kino der späten 1980er und frühen 1990er Jahre kennzeichnend war. Es steht für eine ins Negative und Hässliche gekippte Ästhetik, die alsbald mit dem Schlagwort der tschernucha, auf Deutsch in etwa Schwarzmalerei, bedacht wurde. Die russische Filmkritikerin Natalja Siriwlja verglich diese Ästhetik, die durch die Lockerung der Zensur unter dem Zeichen von Glasnost überhaupt erst möglich wurde, treffend mit der „Entdeckung der Rückseite des Mondes“2. In den Vordergrund wurde gerückt, was bis dahin verborgen gehalten wurde: Dunkelheit dominierte über Licht, Abfall und Schmutz über Reinheit, Marginalität über Norm, Kriminalität über Rechtschaffenheit, Wollust und Körperlichkeit über hehre Gefühle.

    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow
    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow

    In diesem Licht steht allein schon die bemerkenswerte Darbietung der Eltern in Malenkaja Vera: Die sonst in anderen Filmen ebenmäßig-schönen Gesichter von Ludmila Saizewa und Juri Nasarow erscheinen hier fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt – er mit seinen „boshaften, scharfen Augen“ und seinem „knittrigen Gesicht“, sie mit strengen Dauerwellenlöckchen und einem „permanenten, stumpfsinnigen Ziegenblick“3.

    Es ist ein inszeniertes und dennoch realitätsgetreu dargestelltes Leben, und die Kamera tastet Innenräume und Alltagsgegenstände regelrecht ab: von den grün gestrichenen fleckigen Wänden des Studentenheims bis hin zur sowjetischen Küche, die bei aller Beengtheit der Ort des Essens, Trinkens und Kommunizierens dieser Familie wie des sowjetischen Privatlebens insgesamt ist.

    Gedreht wurde entsprechend an Originalschauplätzen und nicht im Studio – in einer gewöhnlichen, vom Filmteam angemieteten Wohnung in einer Chruschtschowka am Stadtrand von Mariupol, der Geburtsstadt des Regisseurs in der Ukraine.

    Melodrama mit durchschlagendem Erfolg

    Was sich anfänglich noch zwischen  Komödie und Satire bewegt, wird immer mehr zu einer Alltagstragödie – die insgesamt alle Register eines klassischen Melodramas zieht und damit mainstream-taugliche Kinounterhaltung bietet. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg des Films im In- wie im Ausland. In der Sowjetunion sahen den Film, der dort im Oktober 1988 in die Kinos kam, mehr als 50 Millionen Menschen. Damit war der damals 27-jährige Wassili Pitschul der letzte sowjetische Regisseur, der einen derartigen Erfolg für sich verbuchen konnte. 

    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück
    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück

    Dazu beigetragen hat zweifelsohne die skandalträchtige einminütige Sexszene, die wie eine Antwort auf den 1986 in Umlauf gebrachten und zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex“ („W SSSR sexa net“) wirkte. Für Kino und Fernsehen stimmte diese Aussage jedenfalls, denn Sex- wie auch Gewaltdarstellungen waren bis zur Perestroika-Zeit nicht zugelassen – eine Zensurvorschrift, die für sowjetische wie zum Import zugelassene Filme gleichermaßen galt. 

    Als Melodrama zeigt sich der Film zudem im „Modus des Exzesses“, wie es Peter Brooks beschrieben hat. Dabei meint „Exzess“ ein Hervortreten der aufgestauten dramatischen Konflikte nicht nur innerhalb der Handlung, sondern auch auf formaler Ebene, also bei Dekor oder Musik.4 Dies trifft besonders auf die Besäufnisse des Vaters zu, aber auch auf die innerfamiliären Schreiduelle sowie auf das ekstatische Lachen der jungen Vera und ihr freches Auftreten – mit ihren Netzstrümpfen, ihrem knallengen Mini, toupierten Haar, schnippischen Benehmen und Spaß am Sex.

    Rebellen ohne Perspektive?

    Die aufbegehrende Vera ist mit ihrem Erwachsenwerden von einem Klima der Gewalt umgeben. Die Jugendlichen haben zwar Fluchtpunkte wie die Freiluft-Disko in der Stadt, doch unterscheidet sich ihr aggressives Sozialverhalten nicht grundlegend von dem der Erwachsenen. Veras Eltern wie auch ihr Bruder stehen paradigmatisch für den Verlust von gesellschaftlichen Vorbildern und Wertvorstellungen. 

    Vater und Bruder beanspruchen zwar die traditionellen Rollen von Autoritäten, doch sie erscheinen wie Karikaturen. Die Mutter schwankt zwischen rigider Moral und sozialem Kalkül (wissend, wer der richtige Mann für die Tochter ist) und füllt gleichzeitig die Rolle einer unterwürfigen Ernährerin aus, die allen permanent das Selbstgekochte und Eingemachte aufzwingt. Eine Flucht aus den innerfamiliären und gesellschaftlichen Zwängen erscheint illusorisch, weil das Individuum nicht losgelöst von der Gesellschaft existiert.

    Filme mit unangepassten Helden, die jugendliche Rebellion, das war einmal eines der großen Themen des US-amerikanischen und europäischen Kinos der 1960er Jahre. Filme mit James Dean oder Jean-Paul Belmondo erlangten Kultstatus. Für diese Rebellion gab es im sowjetischen Kino der Tauwetterzeit keine Entsprechung – bei aller Innovation und den ästhetischen Impulsen, die auch vom sowjetischen Film in dieser Zeit kamen. Das Aufbegehren der Jungen wurde erst zwei Jahrzehnte später medial realisiert.

    Die Rebellion in Malenkaja Vera wirkt auch heute noch erfrischend. Damals signalisierte sie Hoffnung auf Veränderung und Freiheit – eine Hoffnung, die in den Folgejahren vielleicht konsequenter eingelöst wurde, als uns das heute scheinen mag.

    Text: Eva Binder
    Veröffentlicht am 02.05.2017


    1.Der Spiegel hat sie damals vorgestellt: Glasnost Girl, das Cover ist hier zu sehen: Pinterest: Natalya Negoda – Playboy Magazine
    2.Sirivlja, Natal’ja (2002): Die langen Schatten des Perestrojka-Films, in: Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 39-45, hier S. 39
    3.Russkoe kino: Malenkaja Vera
    4.Brooks, Peter (1976): The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven u.a.

     

    dekoder-Kino #5: Malenkaja Vera wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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    Kino #1: Ironija Sudby

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  • Editorial: Popcorn!

    Editorial: Popcorn!

    Das ist doch nur ein Film. Diesen harmlosen wie unwahren Satz hat sicher jeder schon mal gesagt. Doch einige Filme überdauern ihre Zeit, verkörpern eine Strömung, werden Klassiker oder kleine Meilensteine. Bei dekoder tauchen wir in diesem Jahr in die russische und sowjetische Filmwelt ein und stellen jeden Monat solch einen Film vor: In unserem monatlichen Visual-Format dekoder Kino.

    Es gibt zahlreiche Filme zu entdecken, die künstlerisch, filmgeschichtlich und popkulturell reizvoll sind. Im deutschsprachigen Raum sind sie oft weniger geläufig. Diese Lücke wollen wir füllen. Aelita aus den 1920er Jahren etwa, hat als erster Science Fiction der Sowjetunion Einfluss auf das gesamte Genre. Deutlich stand er unter expressionistischem Eindruck und soll umgekehrt auch Fritz Langs Metropolis Inspiration gegeben haben. Kulturelles Zeitdokument ist der abgründige 1990er-Jahre-Thriller Brat, der sich gekonnt beim US-Actionkino bediente und mit seinem Protagonisten Danila Bragow eine streitbare Identifikationsfigur schuf.

    Wir wollen zeigen, was sowjetisches sowie gegenwärtiges russisches Kino ausmacht. Filme sind dabei auch Prisma der Gesellschaft und kulturelle Codes. Werte und Ideen ihrer Zeit finden darin einen verdichteten Ausdruck, zeigen zudem gesellschaftliche Beschränkungen und Grenzen der Kunst. 
    In der Sowjetunion waren viele Filme Eingriffen ausgesetzt oder lange Jahre unter Verschluss. Regisseur Andrej Tarkowski, als Meister des traumwandlerischen Erzählens, erging es Zeit seines Lebens so. International gefeiert, eckte er mit seiner Kunst zuhause stets an. Im April wäre er 85 Jahre alt geworden und wir haben den Monat seinem endzeitlich inszenierten, philosophischen Klassiker Stalker aus dem Jahr 1979 gewidmet. 

    Wieder andere Filme werden ohne kulturpolitisches Tamtam oder einen Eklat zum Publikumsliebling und erzählen einfach brillant etwas über ihre Zeit. Das zeigt etwa die sowjetische Verwechslungskomödie Ironija Sudby ( dt. Ironie des Schicksals) aus den 1970ern, aus der Filmzitate in die Alltagssprache übergegangen sind. Wir haben den Silvesterklassiker zum Jahreswechsel vorgestellt, als Start ins dekoder-Kinojahr.

    Gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. entschlüsseln Wissenschaftler aus Slawistik und Filmwissenschaft nun jeden Monat einen anderen Film im dekoder Kino. Im Mai betritt die Kleine Vera die Filmbühne. Das Melodram aus dem Jahr 1988 ist von Bildern und Stimmungen der Perestroika geprägt, in der zarte Hoffnungen einer jungen Generation auf neue Chancen mit Abhängigkeit, Trostlosigkeit und Gewalt kollidieren. 

    dekoder Kino wird auch durch verschiedene frühere Sowjetrepubliken führen.

    Bei allen Filmen, die wir in diesem Format präsentieren, ist uns wichtig, dass sie auch legal im Internet zugänglich sind – mindestens mit englischen Untertiteln, um schnell und direkt ein Tor in diese Welt zu eröffnen. Jedenfalls einen ersten Spalt breit. Weiterschauen, Recherchieren, Entdecken, Kaufen, Verschenken – und hoffentlich abendelang Versinken kann dann jeder selbst.

    Dabei viel Freude, wünscht

    dekoder-Mitarbeiterin Mandy Ganske-Zapf

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    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Es geht los

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

  • Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Boris Grebenschtschikow ist lebende Musiklegende Russlands: Seine Rockband Aquarium gehört zum Soundtrack von Perestroika und Glasnost, ist bis heute Kult und füllt ganze Hallen. Am liebsten aber tritt Grebenschtschikow nach wie vor auf der Straße auf. Alexandra Zhitinskaya traf ihn für Takie Dela in seinem Petersburger Studio, voller Bilder, Ikonen, einem Teetisch und „vorrevolutionärem“ Radio. Hier, in der Puschkinskaja 10, ist seine Kreativität „schon seit 1991 nicht zu stoppen“, wie er sagt.

    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexandra Shitinskaja: Die Frage ist ein bisschen bescheuert, aber ziemlich grundlegend: Warum spielt ihr auf der Straße?

    Boris Grebenschtschikow: Die Antwort ist bescheuert und nicht weniger grundlegend: zum Spaß. Musik habe ich immer schon zum Spaß gemacht, von Anfang an. 

    Sie haben also den Drive, gratis zu spielen, einfach so für sich …

    Nicht für mich. Für die Menschen. Wenn du für die Menschen spielst, macht es dir Spaß. Wir spielen, weil es uns freut und weil es die Leute freut, so wie vor 40 Jahren auch. Früher wurden wir deswegen allerdings manchmal mit zur Polizeistation genommen.  

     

    Aber auf der Bühne spielen Sie ja auch für die Menschen.

    Bei den Konzerten zahlen die Leute. Das ist eine ernste Sache dort. Aber hier spielen wir, wo die Leute das nicht erwarten. Die Leute rechnen nicht mit dir, und so gibt es auch keine vorgefertigte Reaktion …

    Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie auf der Straße jemand nicht erkennen würde.

    Du bist einfach gut erzogen. Glaub mir: Der Großteil der Leute guckt angestrengt und schlägt sich mit der Frage rum: „Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor, ist das nicht … Schewtschuk? Nein, Schewtschuk nicht.“ Als ich aus dem Dom Kino in Moskau kam, sagte einer zu mir: „Ah! Sie sind Juri! Juri Zoi von Maschina Wremeni!“ Der hat das vollkommen ernst gemeint. 

    Das heißt, Sie gehen raus und spielen, ohne das Gefühl, ein berühmter Musiker zu sein?

    Ich gehe einfach raus und spiele, ohne irgendein Gefühl.

     

    Was spielen Sie auf der Straße?

    Alles, was mir einfällt. Lieder, Improvisationen …

    Und wer spielt mit?

    Das sind alles Musiker aus der Band Aquarium.

    Aber in der Gruppe spielen ja ganz unterschiedliche Musiker, auch aus dem Ausland?

    Da möchte ich gleich was klarstellen: In dem Wort „Ausland“ schwingt etwas mir sehr Fremdes mit: „Hier sind unsere Leute in unserem Dorf, und draußen, jenseits der Grenzen, das sind wohl eher Feinde.“ 

    Geografisch gesehen – spielen Sie nur in Städten in Russland, oder spielen Sie auf den Straßen der ganzen Welt?

    Ganz einfach: Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall. In Paris, in London, in Berlin haben wir schon gespielt …

    Wo finden Sie es am interessantesten?

    Ach, es ist überall schön!

    Was halten Sie denn selbst von Straßenmusikanten?

    Manchmal trifft man auf interessante, dann bleibe ich stehen, höre zu. Bei ungewöhnlichen Instrumenten zum Beispiel, da horch ich auf. Kürzlich habe ich in Tallinn einen Straßenmusikanten gesehen, der Hang spielte. Bei den Erinnerungen, wie der erste Hang-Spieler, Manu Delago, an unserem Album Belaja Lotschtschad (dt. Weißes Pferd) mitgewirkt hat, luden wir diesen jungen Mann ein, bei unserem Konzert mitzuspielen. Der kannte uns zwar nicht, war aber dabei.

     

    Geben Sie Straßenmusikanten oder einfach Leuten, die auf der Straße betteln, Geld? Haben Sie da keine Vorbehalte?

    Was für Vorbehalte soll ich denn haben?

    Es gibt die Meinung, dass das nicht wirklich arme Leute sind, illegale Geschäfte …

    Turgenjew oder Dostojewski, einer der beiden hat geschrieben: „Gott bittet euch um eine Gabe. Nicht um ein Urteil.“ Was der Mensch mit diesem Geld macht – das ist seine Beziehung zu Gott. Aber das Geben, das ist eure Beziehung zu ihm.   

    Hatten Sie [wegen der Straßenmusik – dek] nie Konflikte mit Behörden?

    Wieso denn?

    Na ja, immerhin sind das irgendwie Aktionen, die Behörden kriegen es ja mit der Angst zu tun, wenn sich ein paar Leute mehr auf der Straße versammeln … 

    Dann sind sie wohl selber nicht so ganz … wenn sie sich fürchten.

    Wie lange dauern Ihre Auftritte auf der Straße?

    Nicht lang. 20 Minuten, eine halbe Stunde maximal. Man darf das Publikum nicht überfordern. Mehr packen die Leute nicht, so auf der Straße.  

    Das glaube ich nicht. Die müssten Sie doch eher nicht mehr gehen lassen. Und schreien: „Halt, dageblieben, Zugabe!“

    Ja, das stimmt.

    Und ergeben sich nach den Auftritten manchmal Gespräche?

    Die Gespräche bestehen hauptsächlich darin, dass die Leute zu drängeln beginnen und sich um ein Autogramm reißen, für sich oder ihren Schatz, noch dazu ohne Kugelschreiber. Das ist recht unangenehm. 

    Wo würden Sie wirklich gern spielen in nächster Zeit ?

    In New York. Im Central Park. Da kommen viele gute Leute aus aller Welt zusammen, die ich sehr gern mag – Schüler des indischen Gurus und Philosophen Sri Chinmoy. Er war selbst ein hervorragender Musiker, hat alle Instrumente gespielt. Und einmal im Jahr versammeln sich seine Schüler und Freunde. Vielleicht können wir mit dem einen oder anderen von ihnen im Freien zusammen Musik machen. 

    Text: Alexandra Zhitinskaya
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.04.2017

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  • Kino #4: Stalker

    Kino #4: Stalker

    Das Tor öffnet sich für einen Moment und der Jeep schiebt sich flugs hindurch. Das Eindringen ins Sperrgebiet – die Zone – gleicht einem Gefängnisausbruch unter Waffenbeschuss. Vor 35 Jahren assoziierten manche auch eine Republikflucht. Dann geht es für die Männer durch sumpfige Ebene und Ruinen. Auf Umwegen führt sie der Stalker (dt. Kundschafter) mit Bedacht durch diese bizarre Endzeitlandschaft, bis seine Gefährten den Verdacht hegen, es bestehe gar keine Gefahr und er spiele sich nur auf. Ihr Ziel ist ein Zimmer, das die geheimsten Wünsche erfüllen soll. Und so folgen sie ihm …

    Der russische Regisseur Andrej Tarkowski lehnte eine eindeutige Interpretation dieser von ihm inszenierten Zone immer ab – dieses mystisch-entrückten Ortes, der für viele Cineasten damals wie heute die Konturen eines brüchig gewordenen Fortschrittsglaubens trägt. Dabei lässt sich Tarkowskis Meisterwerk Stalker vor allem als eine traumwandlerische Reise ins menschliche Selbst lesen.

     


    Die Kamera bleibt statisch und zeigt eine trostlose Kneipe, die gerade geöffnet wird. Der erste Kunde ist ein Mann mit Strickmütze, und er trinkt einen Kaffee, nur von einer undefinierbaren Musik unterlegt. Es folgt ein eingeblendeter Text und die Sequenz, in der das Erwachen des Stalkers gezeigt wird und wie er sich vorsichtig aus dem Familienbett entfernt. Erst nach neun Minuten fällt das erste Wort. Diese endlos lang scheinenden Einstellungen waren schon für diejenigen, deren Sehgewohnheiten seinerzeit noch nicht von den schnellen Schnitten der Videoclips geprägt waren, eine Zumutung. So beginnt Andrej Tarkowskis Stalker aus dem Jahr 1979. Der Anfang ist schwarzweiß, erst in der geheimnisumwitterten Zone wird der Film farbig.

    Stalker ist Tarkowskis fünfter abendfüllender Film. Zu den Festspielen in Cannes 1980 wurde er gefeiert, blieb in der Sowjetunion jedoch zunächst unter Verschluss. Ein solcher Film muss(te) den interpretatorischen Scharfsinn der Kritiker und Wissenschaftler herausfordern.1 Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie Tarkowski es gemacht hat, einen Film zu drehen, der über Jahrzehnte seine Faszination behalten kann, und der eine so merkwürdige Geschichte erzählt. 

    Fotos © Mosfilm
    Fotos © Mosfilm

    Da macht sich ein Mann, der „Stalker“ genannt wird, mit zwei anderen Männern, die einander nicht mit Namen kennen, sondern die sich mit „Professor“ und „Schriftsteller“ ansprechen sollen, auf den Weg in eine streng bewachte Zone. Dem Stalker und seinen Umwegen folgend, kommen sie schließlich ans Ziel, jenes verheißungsvolle und unwirkliche Zimmer, in dem es regnet. Dort möchten sie dann doch nicht so genau wissen, was sie sich tief in ihrer Seele wünschen. Niemand geht hinein. – Schnitt, und auf einmal sind sie wieder in der Kneipe, dem Ausgangspunkt ihrer Expedition. 

    Die Zone als Raum des Imaginären?

    Durch lange Takes und handlungsarme Szenen erzieht sich Tarkowski seinen Zuschauer, der genau hinschauen, betrachten lernt. Er muss sich das wackelige Beistelltischchen im Schlafzimmer des Stalkers ansehen, die Watte, die Tabletten, das Glas mit Wasser, das auf dem Tischchen verrutscht. Dazu hört er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Er weiß nicht, wogegen die Tabletten helfen sollen, wer sie nimmt. Und er erfährt es auch später nicht. Er muss zweieinhalb Stunden warten, bis die verrutschenden Gläser in einem ganz anderen Kontext wieder auftauchen. Tarkowskis Filme tragen in der Regel keine Antworten zu den Fragen vor, die sie stellen. Und wenn sie Lösungen suggerieren, stehen wiederum andere Fragen dahinter. 

    Die Geschichte, die Stalker erzählt, ist in sich plausibel, aber ohne klaren Sinn, bei geradezu hypnotisierenden Bildern, deren Suggestivkraft man sich nur schwer entziehen kann. Tarkowski selbst lehnte es strikt ab, die Zone als ein Sinnbild zu lesen.2 In einem eingeblendeten Text zu Beginn des Films heißt es nur so viel über sie: „ … was es war? Der Fall eines Meteoriten? Ein Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons … und haben wahrscheinlich recht daran getan … im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht … Aus einem Interview des Nobelpreisträgers Professor Wallace mit einem Korrespondenten der RAI.“

    Dass man nicht alles, was die drei Männer in dieser Zone erleben, nur als einen Traum, eine Einbildung abtun kann, zeigt sich daran, dass sie der Schäferhund, dem sie dort begegnet sind, hinausbegleitet. Auch zur Familie schließt sich der Kreis, mit der über die telekinetischen Fähigkeiten des Kindes noch das Unerklärliche in die Welt außerhalb der Zone integriert wird.

    Der Rationalität entfliehen?

    Tarkowski erschwert, ja verweigert ein Lesen seiner Bilder als Symbole. Aber wirken die Bilder ohne den Umweg über die Bedeutung nur auf die Emotionen? Es gibt den klugen Hinweis, Professor, Schriftsteller und Stalker hegelianisch zu lesen.3 Sie stehen dann für Wissenschaft, Kunst und Religion, die nach Hegel die Modi sind, in denen das Wissen zu seiner Vollendung kommt. Religion (Anschauung) und Kunst (Vorstellung) sind in der Philosophie (Selbsterkenntnis) dialektisch aufgehoben. Im Film ist die dialektische Trias umgekehrt4: Wissenschaft und Kunst sind ungenügende Annäherungen an die Wirklichkeit, die der Vollendung durch den Glauben bedürfen. Wissenschaftler und Schriftsteller aber sind dazu nicht fähig. Tatsächlich mahnt der Stalker, in der Zone Ehrfurcht zu zeigen und zu glauben. Resigniert muss er aber feststellen: „Sie glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ mit dem man glaubt, an Nahrungsmangel zugrunde gegangen.“

    Tarkowskis Bilder gehören allerdings nicht zu einer konkreten Form des Glaubens, nicht zu einer bestimmten Religion. Es geht um die eher unspezifische Sehnsucht nach einem Absoluten, das die menschliche Rationalität übersteigt und zu dem man Kontakt haben möchte.

    Zwischen Glauben und Leiden

    Man kann zwar in den drei Stromleitungsmasten, die beim Eintritt in die Zone sichtbar werden, ein Zeichen für die Kreuze auf Golgotha sehen, aber dieses Zeichen steht nicht so sehr für das Christentum, sondern für die in ihm virulente Idee des Leidens, die in der russischen Tradition einen sehr hohen Stellenwert hat. Tarkowski knüpft nicht direkt an die Bibel an, sondern an Fjodor Dostojewski, der in einem seiner Romane das Leiden „eine gute Sache“ genannt hatte.5 Ganz ähnlich spricht die Frau des Stalkers, während sie direkt in die Kamera schaut: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe, besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter, denn dann gäbe es kein Glück.“ Glück wird nicht mit Wohlbefinden verbunden, sondern mit Erlösung, die aber nur der erfahren kann, der um seine Erlösungsbedürftigkeit weiß.

    Schon die literarische Vorlage des Films, die Erzählung Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) der Brüder Strugazki hatte die Sehnsucht in den Vordergrund gestellt: In ihr will der Stalker eine goldene Kugel aus der Zone holen, die seine ganz persönlichen Wünsche erfüllen soll. Als er sie gefunden hat, wünscht er sich jedoch „Glück für alle“.
    Der Stalker des Films dagegen glaubt nicht mehr an die Utopie, dass man das Glück für alle einfach erreichen kann. Seine Weggefährten müssen erst einmal ihr Gewissen erforschen, ob denn das, was sie wünschen, wirklich allgemeinverträglich ist, damit ihr Konzept vom Glück nicht zum Unglück der anderen wird.

    Der Mythos von Tschernobyl

    In einer der letzten Szenen des Films geht der Stalker mit seiner Familie an einem verschmutzten Gewässer vorbei, den Hintergrund bildet ein Kraftwerk. Gefilmt wurden diese Bilder vor einem Gas-Kohlekraftwerk in der Nähe von Moskau6. Der Umstand aber, dass Andrej Tarkowski am 29. Dezember 1986 in Paris an einem Krebsleiden verstarb, nachdem im April desselben Jahres der Reaktor des Kernkraftwerks von Tschernobyl explodiert war, führte zu dem Gerücht, der Film sei in der Nähe von Tschernobyl  gedreht worden. Schon damals habe der Reaktor geleckt und Tarkowskis Erkrankung verschuldet. Die Zone wurde in der Retrospektive mitunter zur vorweggenommenen Landschaft der Reaktorkatastrophe. Das 2007 auf den Markt gekommene Computerspiel S.T.A.L.K.E.R., in dem Plünderer in der Zone um das zerstörte Kraftwerk Gegenstände und mutierte Lebewesen finden können, nährt diesen Mythos bis heute.

    Dass es den Mythos überhaupt gibt, hat sicher mit der Faszination zu tun, die der Film als Kunstwerk ausübt, mit seiner unvergleichlichen Aura. Diese Faszination hat dem Regisseur die Bewunderung seiner Kollegen eingebracht („Tarkowski ist für mich der bedeutendste“ – Ingmar Bergman) – und ein immer wieder beeindrucktes, ihm manchmal geradezu verfallenes Publikum.

    Text: Norbert P. Franz
    Veröffentlicht am 05.04.2017


    1.vgl. Franz, Norbert P. (2009): Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Stalker: UdSSR, 1980: Regie: Andrej Tarkowski, Protokoll des Films in der Original- und der deutschen Synchronfassung, Potsdam, 2009, S. 104ff
    2.„Häufig wurde ich gefragt, was denn die ‚Zone‘ nun eigentlich symbolisiere, woran sich dann auch gleich die unsinnigsten Vermutungen anschlossen. Derlei Fragen und Mutmaßungen versetzen mich regelrecht in Verzweiflung und Raserei. Die ‚Zone‘ ist einfach die ‚Zone‘. Sie ist das Leben, durch das der Mensch hindurch muß, wobei er entweder zugrunde geht oder durchhält. Und ob er dies nun durchhält, das hängt allein von seinem Selbstwertgefühl ab, von seiner Fähigkeit, das Wesentliche vom Nebensächlichen zu unterscheiden.“, in: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Frankfurt/Main/Berlin, S. 203
    3.Böhme, Hartmut (1985): Ruinen-Landschaften, in: Konkursbuch Nr. 14, Tübingen, S. 117-157
    4.Engell, Lorenz (2002): Filme und Sachen. Das Gesicht der Dinge und die Metaphysik des Dekors, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Seminar für Filmwissenschaft
    5.in Dostojewski, Fjodor: Prestuplenie i nakazanie (dt. Verbrechen und Strafe). Vgl. dazu Franz (2009), S. 116
    6.Andere Außenaufnahmen entstanden außerdem in Estland. Im Jahr 2006 haben sich drei Mitglieder der damaligen Crew gemeinsam an die Entstehungsgeschichte erinnert: Rerberg hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Tarkowski darum besorgt gewesen sei, dass seinen Leuten bei den Dreharbeiten nichts passiert.  Deshalb habe er den Stalker nicht – wie ursprünglich vorgesehen – im Erdbebengebiet von Isfar und erst recht nicht in der verschmutzten Gegend des Stahlwerks von Zaporož’e („schlechte Ökologie“) gedreht, sondern im Baltikum bei Tallinn. Dort gibt es keinen Kernreaktor, und das Kohlekraftwerk hat nur einen großen Schornstein (Rerberg, Georgij/Čugunova, Marianna /Cymbal, Evgenij: Fokus na beskonečnost‘: Razgovor o ‚Stalkere‘, in:  Iskusstvo kino 2006, Nr. 4).

    dekoder-Kino #4: Stalker wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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  • Musyka: Lucidvox

    Musyka: Lucidvox

    Ethnomusik – das sollte nicht nur was für „Leute, in T-Shirts mit Wölfen“ sein. Findet Lucidvox. Die Mädchen-Band aus Moskau will die Klischees aufbrechen. Am 3 Mai spielen sie in Hamburg und am 4 Mai in Berlin. Das unabhängige Internetmagazin Colta.ru hat die Band schon 2017 vorgestellt: Alina (Gesang), Galla (Gitarre), Nadja (Drums) und Anja (Bass). Und weil die vier gut vernetzt sind, ist aus dem Gespräch ein kleines Audio-Kaleidoskop der musikalischen, russischen Ethnoszene geworden:

    Foto © Anna Genwarewa/Colta.ru
    Foto © Anna Genwarewa/Colta.ru

    Denis Bojarinow: In eurer Musik verwendet ihr gezielt russische Klangfolgen, russische Texte und slawische Stilistik. Warum?

    Nadja: Ein gewisser Ethnocharakter ist von selbst entstanden; teilweise auch durch die jakutische Kultur, die Anja in die Band hineingebracht hat, und anscheinend fasziniert uns alle das Düstere, Geheimnisvolle, Verbindende – jetzt muss ich gerade an die Musik von Huun-Huur-Tu denken.

     

    Galla: Für mich ist wichtig, dass alles mit Geist gefüllt ist. Geschichte trägt viel davon in sich, und mir ist der Geist unserer Kultur sehr nah. Wenn du in einem ganz stillen verschneiten Wald bist oder im Nebel Sommerbeeren sammelst, an einem düsteren See, bei Sonnenuntergang – da kann man ihn immer noch finden.

    Alina: Wegen des slawischen Stils denken viele wahrscheinlich, dass wir Musik für Leute in T-Shirts mit Wölfen machen. Diese Symbolik ist ziemlich klischeebehaftet. Ich glaube, dass unsere Musik das aufbricht.

     

    Beschäftigt ihr euch auch mit Musik, die vor euch versucht hat, russische Wurzeln mit Rock-n-Roll zu verbinden? Habt ihr Idole in der russischen Rockmusik?

    Galla: Mir fällt da ehrlich gesagt nichts wirklich Beachtenswertes ein. Als Erstes kommt mir noch die Band Grashdanskaja oborona in den Sinn. In dem Frontmann Jegor Letow geisterte wirklich so eine schaurige russische Mystik. Heute wird diese Linie aus meiner Sicht von Shortparis fortgeführt.

     

    Nadja: Mir gefallen die russischen Wurzeln in der Musik von Lovozero und Tikhie Kamni. Galla und ich lassen uns von russischen (und nicht nur russischen) Chören inspirieren, außerdem hören wir auch Bands wie Goat, Flamingods, Lightning Bolt, Ty Segall, Show Me The Body. Aus alldem entsteht dann schließlich etwas Eigenes.

     

    Was müssen wir über das neue Minialbum Dym [dt. Nebel] wissen? Was habt ihr bei den Aufnahmen Neues für euch gelernt? 

    Galla: Was man wissen muss? Nichts, denke ich, seid unvoreingenommen. Alles, was wir zu sagen hatten, haben wir im Grunde gespielt.

    Alina: Ich habe gelernt, dass Duduk ein sehr schwieriges Instrument ist. Und wenn du mich ernsthaft fragst, dann haben wir gelernt, dass man die Arbeit am Material ohne Eile angehen muss. 

    Ihr fahrt zur Tallinn Music Week. Welche der Bands, die bei dem Festival Russland repräsentieren, sind euch bekannt, welche findet ihr interessant?

    Nadja: Wir kennen viele der Teilnehmer, aber am meisten und von ganzem Herzen drücke ich natürlich der Band Spasibo die Daumen. Vor Kurzem war ich mit ihnen beim slowenischen Festival MENT, und sie waren eine der wenigen Bands, die das Publikum von Anfang bis Ende völlig entfesselt zum Tanzen brachten.

    Besonders interessant finde ich die Band Shortparis, und zwar nicht nur unter den russischen Teilnehmern der Tallinn Music Week, sondern generell in unserer Szene.

     

    Alina: Mich interessieren weniger die Bands selbst, sondern wie die russischen Interpreten beim Festival aufgenommen werden. Ich fahre zum ersten Mal zu einem Festival ins Ausland, und ich finde es sehr spannend, wie die Bands in diesem etwas anderen Kontext klingen werden.

    Text: Denis Bojarinow
    Übersetzung: Andrej Steinke (gekürzte Version)
    Veröffentlicht am 22.03.2017

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    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

    Wie politisch ist der Eurovision Song Contest (ESC)? Die Frage wurde schon mehrfach diskutiert, vor allem auch im vergangenen Jahr, als die Ukraine (ein Jahr nach der russischen Angliederung der Krim) die Krimtatarin Jamala ins Rennen schickte, diese prompt gewann und den russischen Kandidaten auf Platz 3 verwies.
     
    Nun hat der Erste Kanal die russische Kandidatin für den ESC 2017 in Kiew bekannt gegeben. Dass keine Zuschauerwahl stattfand, ist nicht gegen ESC-Regeln, aber ungewöhnlich. Und leistet dem Vorwurf Vorschub, dass die russische Seite versuche, die Gewinnerin zu instrumentalisieren: Julia Samoilowa hat 2015 einen Auftritt auf der Krim absolviert. Weil sie bei ihrer Einreise gegen ukrainisches Recht verstieß – sie hatte keine Einreiseerlaubnis der ukrainischen Behörden – droht ihr in diesem Fall eigentlich ein Einreiseverbot oder eine Geldstrafe. Da die 27-jährige Sängerin aber seit ihrer Kindheit im Rollstuhl sitzt und noch dazu in einem Interview sagte, schon immer von der Teilnahme beim ESC geträumt zu haben, sehen vor allem viele Ukrainer ihr Land moralisch erpresst. Am 15. März wurden laut Medienberichten schließlich alle Verbote gegen die Sängerin von ukrainischer Seite aufgehoben – für die Zeit des ESC [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei].

    In russischen wie ukrainischen Medien und Sozialen Netzwerken tobt seit Samoilowas Nominierung eine hitzige Debatte. Eine Debatte, die nicht nur das desolate Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine spiegelt, sondern auch positive wie negative Stereotype gegenüber Menschen mit Behinderung zum Vorschein bringt.

    Facebook Uliana Pcholkina: Gleiche Regeln für alle

    Die ukrainische TV-Moderatorin Uliana Pcholkina sitzt selbst im Rollstuhl. Auf ihrer Facebook-Seite wirbt sie für gleiche Regeln für alle – in jeder Hinsicht:

    [bilingbox]Die Kandidatin Russlands, die eine Behinderung hat, soll unter Verletzung der Gesetze unseres Staates in die Ukraine reisen. Der SBU untersucht den Fall bereits und wird überprüfen, ob Julia tatsächlich die ukrainische Grenze überschritten und ein Konzert auf der annektierten Krim gegeben hat.

    Aber hier gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Im Internet schreiben einige, dass sie Favoritin würde, weil sie „ein armes Mädchen im Rollstuhl“ sei.

    Leute, meint ihr das ernst? Das ist ein Songcontest, und bewertet werden sollten der Gesang, das artistische Vermögen und der Auftritt selbst! Was spielt denn hier die Behinderung für eine Rolle? Wie hilft ihr diese beim Singen?

    […]

    Ich schlage vor, eine Aktion ins Leben zu rufen: „Ukrainische Menschen mit Behinderung gegen die Gesetzesbrecherin Samoilowa!“~~~Конкурсантка від росії, яка має інвалідність, має приїхати в Україну, порушуючи закони нашої держави. СБУ вже розглядає цей випадок і буде перевіряти, чи дійсно Юлія перетинала кордон України і давала концерти в анексованому Криму.

    Але, тут є і інша сторона медалі. Користувачі мережі, пишуть, що вона має стати фавориткою, бо „бєдна дєвочка в каляскє“ …

    Народ, ви серйозно? Це пісенний конкурс і оцінювати треба спів, артистичність і сам номер! При чому ту її інвалідність? Як вона допомагає їй співати?

    […] Пропоную, запустити акцію „Люди з інвалідністю України, проти порушниці закону Самойлової![/bilingbox]

     
    erschienen am 13.03.2017

    Republic: Revanche und Testballon

    Oleg Kaschin kommentiert auf dem unabhängigen russischen Portal Republic, dass die ESC-Teilnahme Julia Samoilowas für die Verantwortlichen Revanche und Testballon zugleich bedeute:

    [bilingbox]Nun wird niemand mehr glauben, dass der Skandal in der Show Minute des Ruhms unabhängig war von der geplanten Kandidatur der russischen Sängerin beim Kiewer ESC. Auf der Seite des Ersten Kanals finden sich die Clips nebeneinander in der Rubrik „Spezialprojekte“: Renata Litwinowa und Wladimir Posner entschuldigen sich bei dem einbeinigen Tänzer Jewgeni Smirnow für die Äußerungen zum „unerlaubten Kniff“, daneben das Mädchen im Rollstuhl, die Sängerin Julia Samoilowa mit ihrem Song Flame is burning, quasi als Fortsetzung des Themas „Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im kulturellen und medialen Leben Russlands“.

    […]

    Die Sängerin Samoilowa befindet sich an einem Punkt, an dem gleich drei Probleme sich kreuzen, mit denen sie nichts zu tun hat. Die Revanche des Ersten Kanals nach der ESC-Niederlage im vergangenen Jahr, und jetzt, im Vorfeld der Wahl, das Austesten der Möglichkeiten des Fernsehens sowie der russisch-ukrainischen Beziehungen – das sind die drei Räder, auf denen der Rollstuhl der Sängerin ins Finale des Wettbewerbs gefahren ist.~~~Никто уже не поверит, что скандал на шоу «Минута славы» не был связан с запланированным выдвижением российской певицы на киевское «Евровидение». На сайте Первого канала эти два ролика висят рядом в разделе спецпроектов – Рената Литвинова и Владимир Познер извиняются («извиняются») перед безногим танцором Евгением Смирновым за слова о «запрещенном приеме», а рядом девушка в инвалидной коляске, певица Юлия Самойлова со своей песней «Flame is burning» как бы продолжает тему участия людей с ограниченными физическими возможностями в культурной и медийной жизни России. [….]

    Певица Самойлова находится в точке, в которой сошлись сразу три проблемы, не имеющие к ней никакого отношения. Реванш Первого канала после прошлогоднего отставания, предвыборные проверки возможностей телевидения и российско-украинские отношения – вот три колеса, на которых коляска певицы доехала до финала песенного конкурса.[/bilingbox]

     

    erschienen am 13.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Die Flamme brennt

    Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda mutmaßt, weshalb Julia Samoilowas ESC-Teilnahme in Russland nicht unumstritten ist:

    [bilingbox]Von der Seite sieht das so aus: Nach Kiew kommt endlich der Armata T-14, fährt auf die Bühne des ESC und beginnt zu feuern. Flame is burning – die Flamme brennt. Und mit ihr die „europäischen Werte“, die gleichgeschlechtliche Liebe, die Transgender, Transvestiten, Transsexuellen und anderes profiliertes Publikum der Show.

    Das wäre ein zu konfrontatives Vorgehen. So scheint es vielen (bei einer Umfrage des KP-Radios sprachen sich 64 Prozent gegen die Kandidatur von Julia aus). Das wäre zu gemein, zu konjunkturell, zu spekulativ.

    Mit anderen Worten: ein „unerlaubter Kniff“.~~~Со стороны это выглядит так. В Киев наконец-то входит «Армата Т-14», заезжает на сцену «Евровидения» и начинает палить. Горит пламя. А вместе с ним — «европейские ценности», однополая любовь, трансгендеры, трансвеститы, транссексуалы и другая профильная аудитория шоу.
    То есть слишком лобовой ход. Так кажется многим (опрос на радио «КП» выявил 64% несогласных с кандидатурой Юли). Слишком пошло, слишком конъюнктурно, слишком спекулятивно.

    Другими словами, запрещенный прием.[/bilingbox]

     

    erschienen am 13.03.2017

    Apostrophe.ua: ESC als Plattform für hybriden Krieg

    Das ukrainische Onlinemagazin Apostrophe.ua empfindet die Kandidatur Samoilowas ebenfalls als eine Art „unerlaubten Kniff“: 

    [bilingbox]Die Russische Föderation nutzt den ESC nicht als Songcontest, sondern als ideologische Plattform für ihren hybriden Krieg.

    So haben sie ohne jegliche Vorauswahl Julia Samoilowa zur Kandidatin gekürt, zynisch eine Interpretin im Rollstuhl ausgewählt, um später zu zeigen, wie brutal die Ukrainer sind, weil die sie nicht reinlassen. Das ist der völlige moralische Verfall des putinschen Russlands sowohl in humanitärer als auch in politischer Hinsicht. Die Auswahl eines Mädchens, das sich im Rollstuhl fortbewegt – das ist für die ein völlig normaler propagandistischer Zug. ~~~РФ использует Евровидение не как песенный конкурс, а как идеологическую площадку в своей гибридной войне.

    И вот они без всякого отбора назначили кандидата Юлию Самойлову, цинично выбрав исполнительницу на инвалидной коляске, чтобы потом показать жестокость украинцев, которые не будут ее принимать. Это полное моральное падение путинской России как в гуманитарном, так и в политическом смысле. Выбор девушки, которая передвигается на инвалидном кресле, – для них нормальный пропагандистский ход.[/bilingbox]

     
    erschienen am 13.03.2017

    Blog Echo Moskwy: Verhängnisvolles Symbol

    Dimitri Bykow sieht in seinem Blog auf Echo Moskwy ein „gefährliches Symbol“ in einer Rollstuhlfahrerin, die Russland ausgerechnet in der Ukraine vertreten soll:

    [bilingbox]Russland und die Ukraine befinden sich vielleicht nicht im Kriegszustand, aber Frieden kann man das auch nicht nennen. In dieser Situation ein Mädchen im Rollstuhl auf die ukrainische Bühne zu schicken, bedeutet – besonders wenn man bedenkt, dass der ESC in Russland aus irgendeinem Grund als unglaublich wichtig und prestigeträchtig gilt, obwohl er das schon längst nicht mehr ist – einen gefährlichen symbolischen Schritt zu machen. Schließlich interpretieren wir jetzt jeden Wettbewerb, ob kulturell oder sportlich, im symbolischen Sinne. Und bei diesem Wettbewerb einen Invaliden vorzuschlagen, bedeutet ein gewisses doppeldeutiges Bild seines Landes zu schaffen. Nach der Art: Uns darf man nicht den Sieg verwehren, weil wir krank sind. Das wurde offenbar nicht so erdacht, aber aussehen tut es genau danach. Ist Russland heute daran interessiert, als Invalider zu erscheinen? (Besonders wenn man bedenkt, dass die Situation von Menschen mit Behinderung in Russland schwierig ist.)

    Ich persönlich will nicht, dass mein Land im Kontext höchst musikalischer Wettkämpfe als Paralympionike wahrgenommen wird. Auch wenn das heute der schnellste Weg zum Sieg ist. Aber vielleicht wissen wir einfach nicht alles über die wahre Sachlage?~~~Россия сейчас находится с Украиной не то чтобы в состоянии войны, но и миром это тоже не назовешь. В этой обстановке выпускать на украинскую сцену девушку в коляске — особенно если учесть, что Евровидение почему-то считается в России ужасно важным и престижным, давно не являясь таковым — значит совершать опасный символический шаг. Ведь мы теперь любое соревнование, культурное или спортивное, интерпретируем в символическом плане. И предлагать к участию в таком конкурсе инвалида — значит создавать какой-то двусмысленный образ своей страны. Типа нам нельзя не отдать победу, потому что мы больные. Это явно задумывалось не так, но выглядит это именно так. Заинтересована ли сегодня Россия в том, чтобы представать в образе инвалида? (Особенно если учесть, что положение инвалидов в России сложное.)

    Лично я не хотел бы, чтобы моя страна воспринималась в контексте сугубо музыкальных соревнований как паралимпиец. Даже если это сегодня кратчайший путь к победе. Но, может, мы просто не всё знаем об истинном положении дел?[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.03.2017

    Nowoje Wremja: Nichts zu befürchten

    Bogdan Jaremenko ist ukrainischer Diplomat und Vorsitzender der Bewegung Maidan sakordonnich spraw. Was er am 14. März auf dem populären ukrainischen Onlineportal Nowoje Wremja vorschlägt, wurde schließlich umgesetzt: Für die Zeit des ESC darf Samoilowa in die Ukraine reisen [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa nun ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei]:

    [bilingbox]Ich würde Samoilowa zum ESC in der Ukraine zulassen.
    Erstens haben wir gewisse Verpflichtungen gegenüber den Organisatoren und Zuschauern des Wettbewerbs. […] Und Verpflichtungen muss man erfüllen – einerlei, ob es für dich nutzbringend oder schwierig ist.
    […]

    Ja, wir haben das Hoheitsrecht, zu definieren, wen wir auf unserem Staatsgebiet sehen wollen oder nicht. Und selbstverständlich wird die Entscheidung, Samoilowa nicht zum ESC zu lassen, aus offensichtlichen Gründen unter vielen Ukrainern Anklang finden.

    Aber falls wir die Einreise verweigern, und zwar einer Sängerin, die noch dazu „ein Mädchen im Rollstuhl“ ist (Julia Samoilowa ist körperlich beeinträchtigt), schadet dieser von Russland provozierte Skandal der nationalen Sicherheit der Ukraine meines Erachtens mehr als wenn wir Julia Samoilowa für die ESC-Teilnahme in unser Staatsgebiet lassen.

    […]

    Und noch eine Sache: Ich habe mir Samoilowa angeguckt, ihr Lied angehört … Eine abgeleierte Melodie (würde mich wirklich wundern, wenn die nicht geklaut ist), ein einfach gestricktes Mädchen (und ihren Facebook-Posts nach – einfach ungebildet), irgendeine scheußlich-gelispelte englische Aussprache. In etwa so ist auch Russland. Da gibt’s nichts zu befürchten.~~~Я бы допустил Самойлову в Украину на Евровидение.

    Во-первых, мы имеем определенные обязательства перед организаторами и зрителями конкурса. […] Обязательства следует выполнять несмотря на то, выгодно, сложно это для тебя или нет.
    […] 
    Да, мы имеем суверенное право определять, кого хотим или не хотим видеть на территории своего государства. И, конечно, решение не допустить на Евровидение Самойлову по очевидным причинам найдет положительные отзывы среди многих украинцев.

    Но спровоцированный россиянами скандал вокруг нашего отказа допустить в Украину певицу, да еще и „девушку в инвалидной коляске“ (Юлия Самойлова имеет физические ограничения), с моей точки зрения, нанесет больше вреда национальной безопасности Украины, чем допуск на нашу территорию для участия в конкурсе Евровидение Юлии Самойловой.
    […]
    И еще одно. Посмотрел я на Самойлову, послушал ее песню… Банальный мотив (буду искренне удивлен, если не ворованный), простенькая девочка (а из постов в ФБ – то элементарно безграмотная), какое-то ужасно-шепелявое английское произношение. Где-то такой Россия и есть. Нечего бояться. [/bilingbox]

     

    erschienen am 14.03.2017

    InLiberty: Amputation des Gewissens

    Der Politikwissenschaftler und Historiker Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Auf der unabhängigen Diskussionsplattform InLiberty geißelt er den Zynismus der Show-Produzenten:  

    [bilingbox]Samoilowas Problem besteht auf zwei Ebenen – auf der menschlichen und auf der politischen. Auf der menschlichen kann man ihr nichts anderes für den Wettbewerb wünschen als den Sieg, von dem sie schon jahrelang träumt. […] Möglicherweise wird ihr Auftritt allen helfen, die mit eigenen Verletzungen und Gebrechen kämpfen; die diese nicht verstecken, den Schmerz überwinden, die Isolation und die Anonymität. Vielleicht wird er ihnen helfen, sich vollwertig in die Gesellschaft zu integrieren. 

    Auf der politischen Ebene ist es unmöglich, sich nicht über den Zynismus dieser Show-Produzenten zu wundern, die Samoilowa nach Kiew schicken – lösen sie doch ihre propagandistischen Aufgaben mithilfe verwundbarer, abhängiger Körper. Im Übrigen, das Gewissen wurde ihnen schon vor Langem amputiert – wie auch unsere Fähigkeit verkümmerte, uns noch über irgendetwas zu wundern.~~~Проблема Самойловой существует на двух уровнях — человеческом и политическом. По-человечески нельзя не желать ей победы в конкурсе, о котором она мечтала долгие годы: Возможно, ее выступление поддержит всех, кто борется со своими травмами и недугами, не скрывает их, преодолевает боль, изоляцию и анонимность, поможет им полноценнее интегрироваться в общество. Но на политическом уровне нельзя не удивиться цинизму продюсеров этого шоу с отправкой Самойловой в Киев: они решают свои пропагандистские задачи при помощи уязвимых, зависимых тел. Впрочем, у них уже давно случилась ампутация совести — как и у нас атрофировалась способность чему-либо удивляться.[/bilingbox]

     

    erschienen am 14.03.2017

    dekoder-Redaktion

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  • Kino #3: Brat

    Kino #3: Brat

    „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) – so lautete im krisengeschüttelten Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder) fragt nicht nur, er gibt auch die schon damals, in prä-postfaktischen Zeiten, gefährliche Antwort: „In der Wahrheit liegt die Kraft.“
    Auf den „Bruder“ Danila Bagrow (gespielt von Sergej Bodrow jun.), der diese Antwort auch jenseits des Films verkörpern sollte, trifft man noch zwei Jahrzehnte nach dem Filmstart 1997 allüberall. Auf dem Petersburger Alexander-Newski-Platz blickt er als Graffito von einem Trafohäuschen, und in Wahlkampagnen ertönen seine alles andere als politisch korrekten Sentenzen quer durch die politischen Lager.
    Dieser „Kumpel“, so die umgangssprachliche Verwendung von „brat“, ist die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich. Der Wahrheitskämpfer Danila und sein Programm spielen in Politik, Produktbranding und als geflügelte Worte bis heute eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis.

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company
    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company

    Die Ausgangsbedingungen für den schillernden Kultfilm und seinen Helden waren denkbar schlecht. Die Filmindustrie steckte Mitte der 1990er Jahre in ihrer tiefsten Krise. Die Menschen gingen angesichts der prekären Umstände kaum noch ins Kino, und wenn, dann wollten sie US-amerikanische Action sehen. Nicht zuletzt galt der Regisseur Balabanow bis dahin als Autorenfilmer ausschließlich für „Eingeweihte“.1 Doch nun lieferte sein hybrides, sehr erfolgreiches Autoren-Genrekino, das mit Brat im Jahr 1997 seinen Anfang nahm,2 in geradezu idealtypischer Weise die Schablone für ein neues russisches Kino, das zur nationalen Identitätsbildung beitragen sollte.

    Die Geburt eines neuen Volkshelden

    Brat ist das Beispiel für ein „nationales Kino“ mit „neuen Volkshelden“, die den Vergleich mit dem amerikanischen Film nicht zu scheuen brauchen. Dieser „neue Filmheld“ geht nicht aus der Geschichte des Landes hervor. Vielmehr ist er scheinbar völlig „unschuldig“ und „rein“. Er ist nicht etwa das groß gewordene Kind der sowjetischen Leidensgeschichte, das zum Beispiel Andrej Tarkowski in Iwans Kindheit (1962) in aller tragischen Brutalität an den Folgen des Krieges zu Grunde gehen ließ. 

    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow
    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow

    Zwar kommt auch Danila Bagrow aus dem Krieg, er ist ein jugendlicher Heimkehrer aus dem heute „ersten“ genannten Tschetschenienkonflikt (1994 bis 1996). Doch ist er kein traumatisierter Kindersoldat, sondern ein so sympathischer wie reflexionsfreier Killer, der sich selbst ermächtigt. Aus dem Kaukasus bringt er nur die Camouflage-Jacke und das Handwerk des Tötens mit und entfaltet im unförmigen Strickpulli, seiner Version des Superheldenkostüms, eine enorme Anziehungskraft. 

    Als „Dummerjahn“, dem für die russische Kultur typischen Iwanuschka-Duratschok, ist Danila in seiner Unmittelbarkeit, „Unschuld“ und psychologischen Flachheit das ideale Sprachrohr der nationalen Befindlichkeit in den Jahren der Transformation. Sie findet ihren Ausdruck in Danilas xenophoben Statements und in der Wahl der Mittel, mit denen er seine Wahrheit skrupellos und gewalttätig etabliert.

    Danilas Zaubermärchen der Transformationszeit

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, der sich auf die Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft macht und dabei zielstrebig und ohne Skrupel, dafür aber „instinktiv“ und mit durchschlagender Gewalt vorgeht. Von den Autoritäten seines provinziellen Herkunftsortes – örtliche Miliz und Mutter – in die Welt geschickt, soll er sich eine Arbeit suchen, um nicht wie der kriminelle Vater in einem Straflager zu verschwinden. 

    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig
    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig

    Danila macht sich also auf den Weg zum angeblich erfolgreichen Bruder Viktor nach Petersburg. Bald schon kann er zeigen, was seine eigentliche Mission ist: Er übt im Machtvakuum der 1990er Jahre stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz, ahndet Regelverstöße und beschützt die „Seinen“. Entsprechend einfach ist seine Welt gestrickt. Die anderen, denen er eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“ („Ich bin nicht dein Bruder, schwarzärschige Zecke“), die Nicht-Russen („Ich hab’s nicht so mit den Juden“) und „Amerika“ („… auch bald am Ende“). 

    Für den Bruder und Ersatzvater allerdings, der in Petersburg keineswegs einer ehrlichen Arbeit nachgeht, sondern der Handlanger einer „kriminellen Autorität“ ist, macht sich Danila ganz ohne Moral die Hände nicht nur symbolisch schmutzig. Der kindliche Protagonist mit dem gleichbleibend harmlosen Gesichtsausdruck verwandelt sich in einen kaltblütigen Killer, der unverwundbar, professionell und frei von Emotionen für Ordnung sorgt. 

    Musikclip-Ästhetik

    Bevor es zu Action, Showdown und einem unerwarteten Ende kommt, flaniert der junge Protagonist durch die Stadt. Ein liebevoller Blick auf die Abseiten eines Petersburg der 1990er Jahre – getaucht in für Balabanow typisches Sepia. Bewaffnet ist der „Held seiner Zeit“ hier noch lediglich mit einem CD-Player, der Quelle für den musikalischen Drive des Films. 

    Danilas Streifzüge durch die Stadt zeigen die Metropole zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen und erbarmungslosen Vollstreckern. Nicht zuletzt dieses Stadtporträt macht den Film heute, zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, zum „größten russischen Film über das Leben in der ersten postsowjetischen Dekade“.3

    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“
    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“

    Die auffällige Rhythmisierung des Films durch Schwarzbilder, die wie sichtbar gemachte Pausen zwischen Songs einer Musik-Compilation die einzelnen Episoden voneinander abtrennen, verweist auf die Musikclip-Ästhetik, ebenso die Montagetechnik, für die der handlungsinterne musikalische Sound eine strukturelle Funktion hat. Szenen, die – wie ein Video-Clip auf die darin auftretenden Musiker – hier auf die musikbegleitete Bewegung des Protagonisten durch den Stadtraum fokussieren, wechseln in Brat mit Actionszenen, die ohne Musik auskommen. 

    Low-Budget als ästhetisches Programm

    Der Film ist auch eine Reflexion über das Filmemachen unter völlig neuen Bedingungen. Nicht zufällig spielt die erste Szene auf dem Set einer Musik-Clipproduktion für Nautilus Pompilius, einer berühmten Band der russischen Rockszene. Brat kommentiert in der Machart und auf seiner Handlungsebene die zeitgenössische Medien- und Populärkultur, in der er sich wegweisend positioniert. 

    Balabanow realisiert Brat als Low Budget-Produktion bei CTB, einer Filmgesellschaft, die Sergej Seljanow 1992 unter Beteiligung Balabanows gegründet hatte, und die sich bald als eine der einflussreichsten Produktionsfirmen auf dem russischen Filmmarkt etablieren sollte. 

    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz
    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz

    Mit minimalen Mitteln und der kostenlosen Unterstützung von Freunden realisiert, kann Brat als Paradebeispiel für den Low-Budget-Film der ausgehenden 1990er Jahre in Russland gelten, wie er damals als Lösung diskutiert wurde.4

    Die sich daraus ergebende Arbeitsweise, kurze Drehzeiten, unaufwändige Settings auf der Straße oder in den eigenen vier Wänden, minimaler Technikeinsatz, ein mobiles Team aus großteils Amateuren, die anstelle von Gage an den Einnahmen beteiligt werden sollten und ähnliches,5 erzeugt eine spezifische Ästhetik, die sich in der authentischen Ausstattung, dem Kolorit der Drehorte, der unverstellten Spielweise, der monochromen Farblichkeit und ganz besonders der Dynamik von Brat widerspiegelt. 

    Regisseur als Handlanger?

    Überhaupt lässt sich der gesamte Film als Kommentar verstehen, wie unabhängiges Filmemachen unter den Bedingungen fehlender Filmförderung zu bewerkstelligen ist. In langen Close-ups ist Danila wiederholt bei seinen Vorbereitungen zu sehen, wie er aus einfachen Alltagsgegenständen, aus Streichhölzern, Plastikflaschen und Nägeln, sein Waffenarsenal herstellt. Um im Russland der 1990er Jahre zu überleben und zu prosperieren, hatte jeder, ob Filmemacher, Gangster oder Geschäftsmann, DIY-skills zu entwickeln.6 

    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen
    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen

    Dass ein solches Konzept nicht allein kreative Freiräume eröffnet und Erfolg bringt, sondern den Regisseur auch zum Handlanger von Fragwürdigem machen kann, wurde Balabanow nicht nur von der heftig streitenden Filmkritik sondern auch noch lange von der Forschung vorgeworfen. 

    Brat kommentiert diese ungute Verflechtung in einer Filmszene allerdings selbst und auf ironische Weise: Während der junge Killer mit Gehilfen in einer Wohnung auf das Opfer seines nächsten Auftrags wartet, steht plötzlich sein Idol Wjatscheslaw Butusow, der Frontmann von Nautilus Pompilius, vor ihm. Der sich hier selbst spielende Butusow hat sich in der Tür geirrt und lockt nun Danila in eine friedliche Parallelwelt im Stockwerk darüber. Dort feiern Filmleute und Musiker ein friedliches Fest. 

    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films
    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films

    Die Episode endet damit, dass Danila in seiner Welt von Mord und Totschlag die zufällige Geisel, einen kleinmütigen Regisseur und womöglich ironisches alter ego Balabanows, freilässt. Danilas Kompagnons hingegen werden Opfer seines „Wahrheitskonzepts“. Für den Filmemacher gibt es die Freiheit allerdings nur zu dem Preis, gemeinsam mit dem Killer Danila Tatortreiniger zu sein.

    Text: Christine Gölz
    Veröffentlicht am 01.03.2017


    Original mit englischen Untertiteln:

    Original ohne Untertitel:


    1.Dondurej, Daniil (1998): Ne brat ja tebe, gnida…, in: Iskusstvo kino, 1998, Nr. 2
    2.Großen, auch internationalen Erfolg hatte Balabanow mit seinen kontrovers diskutierten Filmen War (2002), Cargo 200 (2007), Morphin (2008) und The Stroker (2010)
    3.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50
    4.Gurauskajte, Ju. (1996): I ėto tože kino, in: Kommersant, 22.8.1996
    5.Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov, Sankt-Peterburg, S. 15
    6.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50

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  • Kino #2: Aelita

    Kino #2: Aelita

    Im September 1924 tauchten in den größten sowjetischen Zeitungen vermeintliche Agenturmeldungen auf: „Anta … Odeli … Uta“, so war zu lesen, laute das Kryptogramm seltsamer Radiobotschaften aus dem Weltall. Funkstationen auf dem gesamten Globus hätten diese empfangen.

    Diese Meldungen hatten insofern eine gewisse Glaubwürdigkeit, als es schon zuvor Spekulationen gegeben hatte, dass es vielleicht außerirdisches, intelligentes Leben auf dem roten Planeten oder anderswo geben könnte. Seit der Entdeckung der sogenannten Marskanäle durch den Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli im Jahr 1877 waren solche Mutmaßungen in der populärwissenschaftlichen Presse immer wieder aufgetaucht. Diese und auch Meldungen über Weltraum-Enthusiasten, die von baldigen interplanetaren Reisen zu anderen Himmelskörpern und Zivilisationen träumten, waren auch dem sowjetischen Zeitungsleser bekannt.

    Was der Leser zunächst nicht wusste: Bei dieser „Agenturmeldung“ handelte es sich um eine Anzeigenkampagne, die Neugierde auf den Stummfilm Aelita1 schüren sollte. Der Film eröffnet dementsprechend mit Aufnahmen von Funkstationen aus allen Erdteilen und dem Zwischentitel: „Am 4. Dezember 1921 um 18 Uhr und 27 Minuten mitteleuropäischer Zeit haben alle Radiostationen der Erde ein seltsames Radiogramm empfangen.“ Es lautet: “Anta… Odeli… Uta“.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Ende September 1924 kam Aelita in die Moskauer Kinotheater. Die Premiere war nicht nur wegen der einzigartigen Werbekampagne mit großer Spannung erwartet worden. Es war auch die erste Filmproduktion der neu gegründeten deutsch-sowjetischen Filmgesellschaft Meshrabpom-Rus. Als staatlich-private Aktiengesellschaft sollte sie ausländisches Kapital für das sowjetische Kino akquirieren und gleichzeitig die Revolution auch im Ausland propagieren.2

    Zudem war mit Jakow Protasanow (1881–1945) einer der prominentesten Filmregisseure der Vorkriegszeit aus dem Exil zurückgekehrt – und Aelita war sein erster Film seit seiner Rückkehr 1923.

    Schließlich heizte sowohl in der Parteiführung als auch beim breiten Publikum ein aktueller Beschluss des 13. Parteitags die Erwartungen an: Das Kino sollte, entsprechend stark gefördert, zum bedeutendsten Propagandainstrument werden. So wurde Protasanows Film als der „erste russische Streifen“ angepriesen, „der nicht hinter den besten ausländischen Inszenierungen“3 zurückbleibe.

    Der „erste Blockbuster in Russland“

    Aelita erzählt die Geschichte des frisch verheirateten Ingenieurs und Hobbyraketenbauers Los (gespielt von Nikola Zeretelli). Er wird schon bald von Eifersucht auf seine Ehefrau Natascha (Walentina Kuindshi) geplagt und beginnt davon zu träumen, geheime Botschaften von einer „Herrscherin des Mars“ mit Namen Aelita zu erhalten. Anstatt sich auf die Wirklichkeit einzulassen, verzweifelt Los über seine Ehe und träumt von einem Flug auf den Mars, wo er sich der Liebe zur Marskönigin hingeben kann, während der Bürgerkriegsveteran Gusew (Nikolaj Balatow) die Marsianer zur Revolution antreibt. Doch dann verwandelt sich die von der Sehnsucht nach Liebe verzehrte Herrscherin Aelita (Julia Solnzewa) selbst in eine Diktatorin: Den von dem irdischen Revoluzzer angezettelten Aufstand lässt sie blutig niederschießen. So erweisen sich die Marsträume als illusorische Trugbilder, während Los sich am Filmende mit seiner Ehefrau versöhnt. Gemeinsam sitzen sie vorm häuslichen Kamin und verbrennen Los’ Raketenpläne mit den Worten: „Genug geträumt – auf uns alle wartet eine andere, wirkliche Arbeit.“

    Operntheater ganz alter Schule

    Der nach dem antiken Kriegsgott benannte rote Planet – der Mars – hatte seit Alexander Bogdanows sozialistischer Zukunftsutopie Der rote Stern (1908) in Parteikreisen eine gewisse symbolische Bedeutung: Er stand für das bolschewistische Versprechen einer neuen Menschheit. Auch beim breiten Publikum erfreuten sich die Abenteuerfilme und Groschenhefte über außergewöhnliche Reisen in abgelegene Weltgegenden, mit spannenden Intrigen und viel Action und Exotik ungebrochener Beliebtheit.4 Der Roman von Alexej Tolstoi Aelita. Der Untergang des Mars, der ein Jahr zuvor erschienen war und zur Vorlage für den Film Aelita wurde, wurde von der Kritik jedoch nur verhalten aufgenommen.5 Auch die Verfilmung von Protasanow konnte die großen Erwartungen, die man vor der Premiere des „ersten Blockbusters in Russland“6 geschürt hatte, nicht erfüllen. Weder was die Handlung noch was die filmische Umsetzung betraf.

    Los ist in Protasanows Film eher ein tragikomischer Romantiker als ein draufgängerischer Abenteurer. Und eine vom bolschewistischen Zuschauer erwartete siegreiche interplanetare Revolution bietet der Film auch nicht. Entsprechend vernichtend fiel die Filmkritik seinerzeit aus. Die Partei erwog sogar ein Exportverbot. Als Aelita 1926 dann doch in die Kinos der Weimarer Republik kam, war die Enttäuschung ebenfalls groß: „Operntheater, oft nur Ausstattungsballett ganz alter Schule“ sei hier entstanden.7 Der Film verschwand für Jahrzehnte in den Kinoarchiven. Der „erste sowjetische Science-Fiction-Film“, so scheint es, war seiner Zeit voraus. Er sollte erst in der Zukunft neu entdeckt werden.

    Realitäten und Sehnsüchte

    Tatsächlich holte man Aelita in den 1960er Jahren, im Zuge der Kosmosbegeisterung der sowjetischen Tauwetterzeit wieder aus der Versenkung. Das staatliche Filmarchiv in Moskau brachte eine restaurierte Fassung dieses „ersten sowjetischen Science Fiction-Films“ auf die Leinwand, warnte aber in einem Vorspann vor dem „geringen künstlerischen Niveau“ dieses Frühwerks des sowjetischen Stummfilms.

    Es dauerte noch bis in die 1990er Jahren, ehe Aelitas Wiederentdeckung als „Schlüsselfilm der frühen NÖP-Periode“ begann, der die „Realitäten und auch […] Sehnsüchte“ dieser Zeit „in einer komplexen und originellen Form“ reflektiert.8

    Die vielen Straßenszenen zeigen die schwierige Situation nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre: Einerseits herrschten Wohnungs- und  Lebensmittelknappheit, andererseits vergnügten sich die alten Oberschichten wieder in Kaffeehäusern, Restaurants, bei Theateraufführungen und auf Bällen. Diese Szenen ließen nun ein „avantgardistisches Prinzip“ erkennen, das die „Präsenz vom Alten im Neuen, vom Westen im Osten, vom Dekadenten im Proletarischen, und vor allen Dingen vom Falschen im Wahren“ bloßlege.9

    Imaginäre Revolutionshelden versus spießbürgerliche Romantik

    Und auch wenn Protasanows Film (nicht nur) in seinem melodramatischen Filmschluss ein recht konservatives Ideal des häuslichen Ehelebens propagiert: Aus heutiger Sicht fällt gerade der kritische Kamerablick auf die patriarchalen Rollenbilder ins Auge.10 So entfaltet Aelita in Gestalt von Los und weiteren männlichen Protagonisten eine detaillierte psychologische Studie über Männer, die sich als geniale Erfinder, Revolutionshelden, Gentleman-Gauner oder Meisterdetektive sehen, aber unfähig sind, ihre „erotischen Eskapaden“ in ein postrevolutionäres Alltagsleben zu integrieren.

    Vor allem aber sind es die Marsszenen, die den Film zum Klassiker machen. Sie stehen deutlich unter dem Eindruck des frühen expressionistischen Films aus Deutschland, umgekehrt wird ihnen aber auch ein Einfluss auf Fritz Langs Metropolis (1927) nachgesagt. Diese Fantasiewelt besticht durch die geometrischen Bühnenaufbauten und Innenräume von Viktor Simow und Isaak Rabinowitsch. Zwischen Kuben, Dreiecken und Zylindern bewegen sich die handelnden Figuren in konstruktivistischen Kostümen von Alexandra Exter mit expressionistischen Gesten. Allerdings zeigen diese kontrastreich ausgeleuchteten Bilder keine kubo-futuristische Utopie. Sondern sie sind der Schauplatz einer brachialen Militärdiktatur, die mit Hilfe einer Roboterarmee die Arbeiter in unterirdischen Katakomben versklavt und vernichtet.

    Dieses Scheitern der futuristischen Marsträume erscheint angesichts der späteren Unterdrückung der künstlerischen Avantgarde im Stalinismus geradezu prophetisch. 1924 jedoch war dies keine Botschaft, die im Land der proletarischen Diktatur auf großen Zuspruch gestoßen wäre. „Verschimmelte, spießbürgerliche Romantik, gemischt mit einer äußerst ungezügelten Fantastik“ bescheinigte die damalige Kritik dem Werk. Ein Diktum, das den Zukunfts-Film aus der Vergangenheit heute nur noch interessanter macht.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 02.02.2017


    Hier gibt es das Original ohne Vertonung:


    1.Aelita (Meshrabpom-Rus, UdSSR 1924, Regie: Jakow Protasanow, Drehbuch: Fjodor Ozep, Alexej Fajko)
    2.Vgl. Agde, Günter / Schwarz, Alexander (Hrsg.) (2012): Die rote Traumfabrik: Meschrabpom-Film und Prometheus (1921-1936), Berlin
    3.Anfangs gab es auch Überlegungen, die avantgardistischen Züge des Films noch durch Zeichentrickszenen zu unterstreichen, was Protasanow aber ablehnte. Aus den Skizzen ist dann der erste sowjetische Science-Fiction-Zeichentrickkurzfilm Die Interplanetare Revolution (Mežplanetnaja revoljucija, 1924) entstanden, der nur einen Monat vor Aelita seine Premiere hatte.
    4.Seit 1923 erschienen erstmals die ersten drei Bände einer polulären Barsoom-Serie vom Bestsellerautor jener Zeit Edgar Rice Burroughs auf Russisch, die von dem amerikanischen Bürgerkriegshelden John Carter handeln, der auf dem Planeten Mars in einen dortigen Krieg der Welten verwickelt wird. Diese Serie ist gewissermaßen eine frühe literarische Version von Star Wars.
    5.Juri Tynjanow hatte seinerzeit lakonisch festgestellt: „Der Mars ist langweilig wie das Marsfeld … Es lohnt nicht, Marsromane zu schreiben.“ Siehe Schwartz, Matthias (2014): Expeditionen in andere Welten: Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Wien, S. 168
    6.Ignatenko, Aleksandr (2007): «Aelita»: Pervyj opyt sozdanija blokbastera v Rossii, Sankt Petersburg
    7.Schlotthauer, Lora (2009): Rezeption des russischen Stummfilms in den deutschen Medien am Beispiel von Film-Kurier 1920-1930, in: KakanienRevisited. Ich danke Karsten Greve für den Hinweis.
    8.Christie, Ian (1991): Down to Earth: Aelita relocated, in: Taylor, Richard / Christie, Ian (Hrsg.): Inside the Film Factory: New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London, New York
    9.Huber, Katja (1998): „Aėlita“ – als morgen gestern heute war: Die Zukunftsmodellierung in Jakov Protazanovs Film, München
    10.Horton, Andrew J. (2000): Science Fiction of the Domestic: Iakov Protazanov’s Aelita, in: Central Europe Review Nr. 1:2/2000; Christensen, Peter G (2000): Women as Princesses or Comrades: Ambivalence in Yakov Protazanov’s „Aelita“ (1924), in: New Zealand Slavonic Journal (2000), S. 107-122

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