дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Moskau, Sommer 2013. Eine Autoexplosion hier, ein Mord da: Über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren, doch der FSB ist ihnen auf der Spur. „Konfrontation der Geheimdienste, Intrigen und echte Liebe“ – als „TV-Event des Jahres“ kündigt der staatliche Erste Kanal in Russland seine neue Serie Die Schläfer an, dessen Handlung „auf wahren Begebenheiten“ basiere.  

    Die vom Kulturministerium geförderte, aufwändig produzierte Thriller-Serie sorgt insbesondere in unabhängigen Medien für heiße Diskussionen. Sogar die jüngste Messerattacke auf Tatjana Felgengauer, die stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy, wird in Verbindung gebracht mit der Folge, in der eine Journalistin durch einen Messerstich in die Kehle ermordet wird. 

    Zusätzliche Brisanz gewinnt die Serie durch eine Stellungnahme des Regisseurs auf Vkontakte: Juri Bykow, der sich mit Filmen wie Major auch im liberalen Lager einen Namen gemacht hat, erklärt darin seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft, und wirft sich selbst vor, mit der Serie „die gesamte progressive Generation verraten“ zu haben.

    Natalja Issakowa hat die acht Folgen der Schläfer angeschaut und erklärt in einer kritischen Rezension auf Colta.ru, warum sie die Serie gefährlich findet – noch gefährlicher als Propaganda-Nachrichten.

    https://www.youtube.com/watch?v=mC6CBqRoDwA


    „Wie man Russland in acht Folgen zerstört und keiner merkt, dass es total irre ist.“ So in etwa stelle ich mir die Kernidee der Schläfer als Pitch bei einem Filmmeeting vor. Die TV-Serie Die Schläfer, ausgestrahlt im Ersten Kanal, hätte durchaus das Potenzial zu einer fabelhaften schwarzen Komödie im Stil von Borat gehabt, in der die wesentlichen Mythen und Ängste des kollektiven Unterbewussten ausgeschlachtet werden. Aber nein: Das Ganze ist völlig ernst gemeint. Wie viele Kritiker bereits festgestellt haben, unterscheiden sich Die Schläfer ideologisch kaum von Informationssendungen des staatlichen Fernsehens. Sehen wir uns an, warum die TV-Serie Die Schläfer dennoch gefährlicher ist als die Nachrichten. Aber zunächst ein paar Worte zur Handlung. 

    Der CIA-Agent mampft Hamburger

    Die Amerikaner träumen davon, Russland zu zerstören. Ein dämonischer CIA-Agent (Alexander Rapoport) fühlt sich in Russland wie der Boss. Er mampft Hamburger, und zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach (offenbar eine Anspielung auf das Buch The Grand Chessboard des Politologen Zbigniew Brzeziński, in dem, so heißt es oft, der Plan der USA, Russland zu vernichten, beschrieben ist). Nach seiner Pfeife tanzt sogar der amerikanische Botschafter (ein stämmiger Blondschopf, dem ehemaligen US-Botschafter in Russland Michael McFaul recht ähnlich).

    Der CIA-Mann hat überall in Russland seine Agenten, die seinerzeit von einem produktiven MGIMO-Dozenten angeworben wurden. Im nötigen Augenblick bekommen sie die Nachricht: „Wach auf“, und beginnen der Heimat Schaden zuzufügen. In den meisten Fällen tun sie das noch nicht einmal aus Angst oder Geldgier, sondern weil sie irgendwann einmal ihr Wort gegeben haben, zu intrigieren und alles ins Wanken zu bringen.

    Um Russland zu zerstören, muss die Abmachung zwischen Russland und China über den Bau der Pipeline Sila Sibiri platzen. (Wie Russland bis heute überleben konnte, wenn doch alles an dieser Pipeline hängt, bleibt ein Rätsel.) Dafür müssen die Chinesen aus dem Konzept gebracht werden, dann werden sie sich von dem unruhigen Partner schon lossagen. (Aus irgendeinem Grund haben die Macher der Serie die Vorstellung, Chinesen seien prüde und schreckhaft. Wie eine viktorianische Jungfrau brechen sie bei jeder kleinen Anspielung einen Skandal vom Zaun.)

    Korruption? Bei uns klaut die Regierung nicht

    Streng geheime Unterlagen über ein schreckliches Geheimnis werden dem Blogger Asmolow zugespielt, der sich mit Korruptionsbekämpfung beschäftigt (Gruß an Nawalny). Diese Unterlagen sollen Informationen über illegale Absprachen bei der Auftragsvergabe zum Bau der Pipeline enthalten, hinter dem Schattensystem des Geldtransfers steht der FSB. Aber das ist natürlich nicht wahr – denn bei uns klaut die Regierung nicht, und schon gar nicht der Teil der Regierung mit Schulterklappen

    Ein dämonischer CIA-Agent mampft ständig irgendwas, zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 4 Serija“/YouTube
    Ein dämonischer CIA-Agent mampft ständig irgendwas, zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 4 Serija“/YouTube

    Nach einer sensationellen Pressekonferenz von Asmolow über ein Anwesen und, sorry, eine Pipeline mit Entchen (c) jagen die Amerikaner das Auto des Bloggers in die Luft. Das ganze Jean-Jacques (in der Serie ist es das Café Herzen) trauert. Und eine Trollfabrik, natürlich vom State Department finanziert, trichtert dem Volk ein, der FSB würde Oppositionelle umbringen. Die schreckhaften Chinesen versuchen abermals abzuspringen. Aber ein alter sowjetischer General mit erhaben ergrautem Haar beruhigt sie – erschöpft, aber voller Nachdruck.

    Grausamer CIA, tapferer FSB

    Ein einfacher Skandal genügt den CIA-Leuten jedoch nicht. Sie wollen Tausende Unzufriedene auf die Straße bringen und eine Revolution anheizen – Hauptsache die Chinesen machen sich in die Hose und unterzeichnen den Vertrag mit Russland nicht. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Nachwuchsblogger filmt den Anschlag auf Asmolow und verkauft das Video an oppositionelle Journalisten. Um Spuren zu verwischen, arbeitet eine russische Verräterin gewissenhaft eine Liste ab und bringt ohne mit der Wimper zu zucken alle um – auf Befehl des CIA, versteht sich. 

    In einer heiklen Situation alle umbringen: Das ist das Lieblingsverfahren der Amerikaner. Um an die geheimen Dokumente über den Bau der Sila Sibiri zu kommen, setzen sie sogar den ihnen gegenüber handzahmen IS auf die russische Botschaft in Libyen an – damit beginnt die Serie. Mehr als 20 Mitarbeiter der russischen Mission sterben, es bricht ein richtiger Krieg aus – und all das nur, damit Uncle Sam einen Aktenkoffer mit ein paar Unterlagen bekommt. So grausame Menschen sind das nämlich. 

    Ganz anders dagegen unsere tapferen Agenten des FSB. Manchmal würden sie dem Feind sogar gern symmetrisch antworten, aber sie können einfach nicht. Sie sind doch Offiziere. Menschen mit schneeweißer Weste. Sie schimpfen nie Mat und lassen ihre Leute nicht im Stich.

    Der Verräter trägt schicke Anzüge

    Du schaust einem von ihnen ins Gesicht, beispielsweise Andrej Rodionow (Igor Petrenko), und weißt: Er könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sein ganzes Leben liebt er eine einzige Frau, die seine Gefühle nicht erwidert, und dient seiner Heimat. Zugegeben, den einen oder anderen Verräter gibt es auch bei den Organen, aber die erkennt man sofort an ihren modischen Haarschnitten aus dem Barbershop, den schicken Anzügen und den unangenehmen Stimmen. 

    Eine Autoexplosion hier, ein Mord da – über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 1 Serija“/YouTube
    Eine Autoexplosion hier, ein Mord da – über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 1 Serija“/YouTube

    Worin besteht also die Gefahr dieser Serie? Als wüssten wir nicht schon aus den Nachrichten, dass Russland von Feinden umringt ist und Oppositionelle sich selbst umbringen, nur um dem Staat eins auszuwischen. Doch in den Nachrichten werden die Emotionen nicht so angeheizt. Eine Serie dagegen bietet die Möglichkeit, ideologische Maximen unterm Deckmantel von Küssen ins Herz des Zuschauers zu meißeln. 


    Die schädlichen, liberalen Ideen vertritt selbstverständlich der Bösewicht. Über seine Argumente braucht der Zuschauer gar nicht groß nachzudenken – was soll man schon von einem Menschen erwarten, der ein Agent des State Department ist und, schlimmer noch, seine Frau mit der Frau des Darstellers Fjodor Bondartschuk betrügt. Wenn allerdings der gute FSBler mit dem sanften Bariton seiner Geliebten die Weltverschwörung gegen Russland erklärt, weiß jeder: Nur er und seine Kameraden können das Land vor der Katastrophe bewahren. 

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Yankees

    Der Zuschauer bekommt mit den Schläfern ein aufrichtiges Melodram zu sehen, in dem die verwirrte Heldin (Natalia Rogoschkina) hin und hergerissen ist zwischen dem guten FSBler, gespielt von Igor Petrenko, und ihrem schlechten Ehemann, Dimitri Uljanow, der sich ihr zufolge zu den global russians zählt. Die Ideologie wirkt dabei wie ein leichtes, einlullendes Schneegestöber im Hintergrund, das sich sanft im Unterbewusstsein absetzt und den Zuschauer überzeugt: Russland ist ein großartiges Land, und bei uns wäre alles gut, wären da nicht diese Yankees [im Original pindossy dek]. 

    Der Regisseur der Serie Juri Bykow beharrte in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant darauf, er habe eine Serie über die Liebe gedreht.
    In jeder Folge gibt es einen programmatischen Monolog, der wirkt, als sei er den Glaubenskriegen aus den Sozialen Netzwerken entnommen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die Liberalen werden in der Serie immer von Verrätern und Bösewichten vertreten. Alles Übel hängen die Macher der Serie den Bloggern und Journalisten an. 


    Das war tatsächlich nur eine Frage der Zeit – die Verfilmung von Nachrichten, all dieser Geschichten über gekreuzigte Jungen und vertilgte Dompfaffen. Die Krim (seit September im Verleih) und nun Die Schläfer sind künstlerische Umsetzungen von Propaganda.

    Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten

    Für Die Schläfer musste erstmal der Boden bereitet werden: auf neuem Wege zur alten Doktrin: „Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten.“ Das gute alte sowjetische Muster musste man wiederbeleben, das nie ganz vergessen war. Das Bild des FSBlers hat sich allmählich gewandelt: vom ehrlichen Mitarbeiter, den es in diesen Strukturen nur selten gibt und der mit den blutigen Henkern aus der Serie Es war einmal in Rostow (2015) hadert, bis zum intelligenten Typen mit den stählernen Muskeln aus Geheimnisvolle Leidenschaften (2016), ohne dessen Hilfe die sowjetischen Dichter ihr Liebesleben nicht auf die Reihe kriegen und weder ein Spiegelei braten noch Verse schreiben können.


    Eine Neubewertung der jüngsten Vergangenheit ist noch im Gange, bislang ist nicht alles eindeutig geklärt. Es kann noch nicht in Fernsehserien verwertet werden. So gibt es beispielsweise noch keine feste Meinung darüber, wie Gorbatschow zu beurteilen ist. Aber das eine oder andere hat sich mittlerweile herauskristallisiert und wurde auf Hochglanz poliert. Längst ist klar, dass die Sowjetunion unser verlorenes Paradies ist.


    Die Sowjetunion, das verlorene Paradies

    Ein Problem bei der Verfilmung von Nachrichten ist allerdings, dass der Dreh einer Serie sehr zeitaufwändig ist. Während der Entstehung der Schläfer hat sich einiges verändert. Ein Typ wie der Filmemacher mit dem Basecap, eine Mischung aus Vitali Manski und Kirill Serebrennikow, über dessen dramatische Textkraft der Tschekist Rodion sich in der Serie köstlich amüsiert, steht heute unter Arrest. Und unsere tapferen Kämpfer in Syrien lässt das Vaterland mittlerweile in Gefangenschaft umkommen.

    Der Regisseur Bykow, dem mit Der Idiot oder Major noch gelungen war, etwas Wichtiges zu sagen, äußerte sich kurz vor der Premiere auf Facebook in etwa so: Sogar wenn das Land im Unrecht ist, würde er es im Krieg immer unterstützen, weil es sein Land ist. Danach gab er seinen Austritt von Facebook bekannt – man müsse darüber nachdenken, auf wessen Seite man steht. Ich glaube, nach so einer Serie gibt es nicht mehr viel nachzudenken.


    Für ein bisschen Optimismus sorgen nur die Zahlen: Die Quoten der Schläfer lagen etwa bei 13 Prozent (beim vorangegangenen Schnüffler zur selben Sendezeit im Ersten waren es um die 19 Prozent). Vielleicht entscheidet sich der Sender bei einem Blick auf diese Zahlen dafür, von Nachrichtenverfilmungen abzusehen und sich Experimenten im reinen Entertainment-Sektor zu widmen? Immerhin gibt es zwischen Propaganda und Unterhaltung nicht umsonst einen gewaltigen Unterschied: Hier schinden wir unser Hirn, dort legen wir Heilkräuterchen auf. 

    Weitere Themen

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Die Täter-Debatte

    Umzingelt von Freunden?

    „Der Westen hat Russland abgewiesen“

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Kino #9: Major

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

  • Kino #10: Oktober

    Kino #10: Oktober

    Dieser Film hat das Ziel, die Welt zu erschüttern, zum zweiten Mal nach dem Oktoberaufstand: Im September 1926 beschloss eine Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unter dem Vorsitz von Michail Kalinin und Nikolaj Podwoiski, dass zum zehnten Jubiläum der Oktoberrevolution ein solcher „zentraler Film“ gedreht werden solle. Der einzige Regisseur, der hierfür in Frage kam, war Sergej Eisenstein (1898–1948). Das Drehbuch, an dem er ab Januar 1927 arbeitete, wurde mehrmals kritisch diskutiert und verändert. Als Eisenstein von einem amerikanischen Korrespondenten gefragt wurde, wer das Buch zu seinem Oktoberfilm schreibe, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Partei.“1

    Der eigentliche Film Oktober entstand aber nach den Dreharbeiten am Schneidetisch von Eisenstein: Hier wurde die Dramaturgie bestimmt, die nicht historische Anekdoten, sondern das dialektische Denken visualisierte.
    1917 wurde der Winterpalast politisch erobert. Eisenstein sollte die ästhetische Einnahme dieser Zitadelle der Macht vollenden.2


    Unmittelbar nach der Abnahme des Drehbuches Anfang März 1927, brach der Drehstab nach Leningrad auf. In Begleitung der damaligen Kommandeure des Oktober-Aufstandes, Nikolaj Podwoiski und Wladimir Antonow-Owsejenko, besuchte man die Originalschauplätze. Schon im April begannen die Dreharbeiten. 

    Revolution als heilige Geschichte

    Oktober war eine Mammutproduktion. Erwartet wurde, dass der Film die Welt genauso erschüttert wie der Oktoberaufstand es zehn Jahre zuvor auch getan hatte. Das Budget überstieg das eines sowjetischen Durchschnittsfilms um das 20fache. Cecil DeMilles Superproduktion jener Zeit, Die zehn Gebote (1923), war der Film, mit dem Eisenstein sein Projekt zu vergleichen wünschte. Konnte in Hollywood als Sujet für solche Unternehmungen nur die Bibel herhalten, so war es in der Sowjetunion der 1920er Jahre die Revolution, wobei ihrem Anführer Lenin die Rolle des Erlösers zukam. 

    Eisenstein rechnete mit 50.000 bis 60.000 Statisten. Um riesige Menschenmassen vor die Kamera zu bekommen, drehte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 als Julidemonstration von 1917 – mit 6000 Menschen. Nur die Losungen wurden ausgetauscht, und Eisenstein choreografierte die Demonstration nach historischen Fotos.

    Um große Menschenmassen zeigen zu können, filmte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 / Fotos © Mosfilm
    Um große Menschenmassen zeigen zu können, filmte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 / Fotos © Mosfilm

    Die Bevölkerung der Stadt bewunderte unter der Bewachung berittener Miliz das Geschehen als ein grandioses Spektakel. Als das Team tagsüber die Szenen der aufgezogenen Brücke in Leningrad drehte, legte es damit den Verkehr lahm. Diese Aufnahmen begleiteten viele witzelnde Feuilletons in den Zeitungen: Ein Banküberfall sei offiziell als Filmdreh ausgegeben worden, damit keine unangenehmen Fragen aufkommen.

    Kanon aller späteren Darstellungen

    Vom 13. Juni an wurde zehn Tage lang die zentrale Episode des Oktober-Aufstandes, die Erstürmung des Winterpalastes, gedreht. Für diese Szenen wurde nichts gebaut – Eisenstein durfte am Originalschauplatz filmen. 90 Scheinwerfer machten die Nacht zum Tage, dafür wurde in der ganzen Stadt das Licht abgeschaltet, um die nötige Amperestärke zu garantieren. Die Aufnahmen wurden wie Kriegshandlungen an der Front – unter Beteiligung der Armee – organisiert und durchgeführt. 5000 Statisten kamen Abend für Abend auf Befehl des Stadtparteikomitees zum Drehort. Die Kameras standen auf Dächern und Säulen oder hingen über Toreinfahrten. Die Assistenten waren auf Motorrädern unterwegs, während Eisenstein das Massenballett mit dem Megaphon dirigierte. 

    Dabei waren die Aufnahmen für die historischen Gebäude nicht ungefährlich – zu viel Licht, zu wenig Brandschutz. Noch lange nach Fertigstellung des Films lästerte man, der reale Aufstand hätte bei weitem nicht so viel Schaden angerichtet wie die Dreharbeiten.

    Obwohl Podwoiski, der den realen Aufstand angeführt hatte, Eisenstein jeden Tag am Drehort beriet, ließ der Regisseur die Arbeiterbrigaden anders als in der historischen Wirklichkeit nicht über den Seiteneingang, sondern durch das Hauptportal den Palast erstürmen. Diese Erfindung wurde zum Kanon aller späteren Darstellungen: Eisensteins Filmeinstellungen zierten als „historische Fotos“ viele Jahre die Revolutionsmuseen im ganzen Land. 

    Perversität der Dinge

    In seinem Tagebuch notierte Eisenstein: „Das Winterpalais ist für mich Exotik. Wie ein Kaufhaus. Ein Schlafzimmer: 300 Ikonen und 200 Porzellan-Ostereier. Ein Schlafzimmer, das kein Zeitgenosse psychisch ertragen könnte.“3 Das Palais wirkte wie der Fundus eines Filmstudios, wie ein Museum der Vergangenheit. Eisenstein entdeckte die Absurdität der Macht in der Perversität der von ihr eroberten Dinge. Mit ihnen ließe sich die Revolution gestalten, die zur Befreiung von dieser absurden Welt führte.

    Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films
    Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films

    Beim Drehen an den Originalschauplätzen, mit Doppelgängern4 der historischen Figuren und mit deren tatsächlichen Beratern, die den Winterpalast zehn Jahre zuvor erobert hatten, kam Eisenstein mehr und mehr die Idee eines zutiefst symbolischen Films, der jede Art von Symbolik als lächerlichen Fetischismus zerstören musste. Jeder Vorgang wurde als eine metaphorische Handlung begriffen und auch so inszeniert. Nicht die Provisorische Regierung, die seit Juli 1917 im Winterpalast residierte, sondern die leeren Mäntel machtloser Minister wurden im Film verhaftet. Zwei Matrosen durchbohrten mit ihren Bajonetten das Bett im Schlafgemach der Zarin. Damit ließ Eisenstein die Soldaten den Winterpalast wie eine Frau gewaltsam erobern.


    Im Rausch der Aufputschmittel

    Am 12. September waren die Dreharbeiten in Leningrad vollendet. Nun saß Eisenstein im Schneideraum und sollte aus 49.000 Metern belichteten Materials einen 2000 Meter langen Film montieren. Der Film und seine Dramaturgie entstanden letztendlich erst am Schneidetisch. Eisenstein sah seine Mission nicht darin, die historischen Fakten abzubilden, sondern in der Visualisierung des dialektischen Denkens. Seiner Filmtheorie, die in dieser Zeit entstand, gab er die Bezeichnung „intellektueller Film“. 

    Um die pausenlose Tag- und Nachtarbeit durchzustehen, bekam Eisenstein Aufputschmittel verabreicht. Doch die Allmacht schlug bald in körperliche Ohnmacht um: Eisenstein arbeitete so viel, dass er zeitweilig erblindete. Die Ärzte diagnostizierten totale Erschöpfung und befahlen ihm Bettruhe in einem vollständig abgedunkelten Zimmer. In dem Aufsatz Unser Oktober schrieb er, zehn Tage hätten ihm gefehlt, um den Film zum zehnten Revolutionsjubiläum komplett fertigzustellen.

    „Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte
    „Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte

    Am Abend des 7. November wurden im Bolschoi-Theater nur Ausschnitte aus dem Film vorgeführt. Doch davor war es zu einem Eklat gekommen: An diesem Morgen ging die Trotzki-Opposition in Moskau und Leningrad auf die Straße. Eisensteins Assistent schrieb später in seinen Erinnerungen, dass Stalin persönlich gegen 16 Uhr in den Schneideraum gekommen sei. Er habe gefragt, ob Trotzki in dem Film zu sehen sei, und ließ sich diese Szenen zeigen. Stalin unterrichte die Anwesenden über die Aktion der Opposition, woraufhin Eisenstein die Episoden mit Trotzki herausschnitt.5 Diese Nachricht ging sofort durch die internationale Presse. Eisenstein sah in dieser Weisung keine Einmischung in die künstlerische Freiheit, doch seine europäischen und amerikanischen Kollegen nahmen ihm das später nicht ab.

    Reproduktion gestellter Bilderrätsel

    Oktober wurde schließlich erst im März 1928 fertig, und seine öffentliche Rezeption war keineswegs eindeutig. Die Werbekampagne sah vor, den neuen Eisenstein-Film in eine Art Wettrennen mit Varieté zu schicken, dem „durch und durch erotischen bürgerlichen Schlager“ von Ewald André Dupont. Eisenstein ärgerte sich maßlos darüber. Die Zuschauer blieben weg. Bei der Kritik war das Echo geteilt. Erwartet wurde ja ein zweiter Panzerkreuzer Potemkin
    Das radikale Experiment, das Eisenstein mit diesem Film wagte, verstand damals kaum einer. Die Kritiker warfen Eisenstein historische Lüge, schwere ideologische Fehler und ein totales künstlerisches Versagen vor und sprachen über eine Reproduktion gestellter Bilderrätsel (Béla Balázs).6 Nur wenige erkannten, dass es sich bei Oktober um etwas absolut und gewollt Neues handelte.

    Film über das Ende der Dinge

    Oktober, der den Mythos der Oktoberrevolution festigen sollte, war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte geworden. Natürlich vermochte Eisenstein einige Massenszenen beeindruckender zu zeigen, als sie vermutlich abgelaufen waren. Doch der eigentliche Kern seines Films lag nicht in der Einführung eines Darstellungskanons für das Initiationsereignis der sowjetischen Geschichte. Er lag in Eisensteins intellektuellen Montage-Spielen, in denen mal transparente, mal dunkle Metaphern oder sogar obszöne visuelle Witze den Geschichtsmythos demontieren: Der Kornilow-Putsch gegen die Provisorische Regierung ist als eine Gegenüberstellung zweier Spielzeug-Napoleons inszeniert, der Umsturz der Macht als Demontage eines aus Pappe und Gips nachgestellten Zarendenkmals. Orden, verliehen „fürs Vaterland“, wachsen zu einem Müllberg wertloser Abzeichen an. Der damalige Chef der Provisorischen Regierung Alexander Kerenski steigt endlos die Treppe der Macht empor, doch als sich ihm die Türen zum Thronsaal öffnen, tritt er – dank Eisensteins Schnitt – in das Hinterteil eines mechanischen Pfaus. 

    Viktor Schklowski, Eisensteins schärfster Kritiker in jenen Jahren, überschrieb 1928 seine Rezension des Films mit Gründe für den Misserfolg. 50 Jahre später gab er zu, dass er den Film erst als alter Mann verstanden habe. Das geschah, nachdem er in den Westen fahren durfte und dort den Wahnsinn des Konsumzeitalters erlebte. Eisenstein sei ihm mit seinem Oktober weit voraus gewesen, da er keine Nachstellung der Revolutionsereignisse von 1917, sondern einen Film über das Ende der Dinge gedreht habe. Bis heute überwältigt dieses Werk die Imagination der Zuschauer, indem er sie zwingt, im Kino nicht nur zu sehen, sondern auch zu denken.

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am 09.10.2017


    Jetzt mitmachen! Werde Teil von dekoder!
    Jetzt mitmachen! Werde Teil von dekoder!

    1.Freeman, Joseph (1930): The Soviet Cinema, in: Voices of October: Art and Literature in Soviet Russia, New York, S. 541
    2.Russisches Archiv für Kunst und Literatur, 1923- 2-1105, S.75
    3.zit. nach Bulgakowa, Oksana (1998): Sergej Eisenstein: Eine Biographie, Berlin, S. 96-97
    4.Eisenstein wollte keine Schauspieler besetzen, sondern Doppelgänger der damaligen Politiker Alexander Kerenski oder Lenin finden. Dafür wurden in den Leningrader Zeitungen Anzeigen aufgegeben.
    5.Aleksandrov, Grigorij (1976): Epocha i kino, Moskva, S. 117
    6.Balázs, B. (1984): Schriften zum Film, Berlin/DDR, Bd. 2, S. 89

    Dieses Kino-Special wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Die Februarrevolution

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Lenin-Mausoleum

    Kino #2: Aelita

    Frauen und die Revolution

    Das Revolutionsjahr an der Peripherie

  • Musyka: Pharaoh – der Zar des russischen Hip-Hop

    Musyka: Pharaoh – der Zar des russischen Hip-Hop

    Er habe ein Bubigesicht wie Justin Bieber und eine Schwermut wie Kurt Cobain – das sagen Kritiker über den Rapper Pharaoh. Der tut alles, was im Grunde verboten ist: kifft, säuft und schimpft Mat gegen jedes System. So viel Anarchie kommt an bei der Generation Z, und dank Youtube ist Pharaoh ein Star, dessen Musikclips Millionen sehen.

    Julia Gussarowa von Snob traf den Jungstar, der 1996 geboren ist und mit bürgerlichem Namen Gleb heißt, im Moskauer Nobel-Restaurant Turandot – beim Modeshooting für das Magazin.

    Er tut alles, was im Grunde verboten ist: kifft, säuft und schimpft Mat – der Rapper Pharaoh / Foto © dead-dynasty.ru

    Pharaohs Auftauchen in der Hip-Hop-Szene war so seltsam, dass niemand recht wusste, was man von ihm halten sollte. Teenager ahmten seinen Kleidungsstil nach, junge Studenten erstellten Listen amerikanischer Rapper, von denen Gleb abkupfert (als würden diese Rapper nicht voneinander abkupfern), und unser damaliger Kulturredakteur wollte googeln, was der Satz bedeutet: „Ja podshigaju dshoint, on osweschtschajet put v Konochu“ [dt. „Ich zünde einen Joint an, er leuchtet den Weg nach Konoha“]. 

    Es war sinnlos, ihm zu erklären, dass die Musikstile Trillwave und Cloud Rap in ihren Liedtexten weder Logik noch Narrativ verlangen. Statt einer Botschaft ein Sammelsurium an Bildern, die Stimmung der Hörenden entsteht über Imaginationen, die vor dem inneren Auge entstehen. So ungefähr werden die Kulturwissenschaftler in 20 Jahren Trillwave beschreiben. 

    PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht

    Vor zwei Jahren habe ich mich zum ersten Mal mit Gleb unterhalten. Ich hatte den Auftrag, ein Wörterbuch des russischen Trillwave zu erstellen. Aufgrund der oben genannten Besonderheiten des Genres hätte ein solches Verzeichnis überhaupt keinen Sinn ergeben, daher plauderten wir einfach an die zwei Stunden darüber, was er mag, was er nicht mag, was er sich anguckt und was er liest.

    Kaum hatten wir uns verabschiedet, begann ich, seine Biografie weiterzuspinnen: Bald wird er zwanzig, und ein anderer Typ wird ihn ausbooten, einer, der härter ist, authentischer, absurder, und Fara, wie ihn seine Fans nennen, wird in der Masse untergehen – ohne systematische PR ist es heute unmöglich, die Aufmerksamkeit der Leute langfristig zu halten. Und PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht – wozu sollte ein Internet-Star wie er das auch brauchen.

     

     

    Inzwischen sind noch zwei Dutzend junger Leute aufgetaucht, die mit Auto-Tune auf Band krächzen, was sie sich wünschen: kiffen oder verrecken. Und Beatmaker (Komponisten für Hip-Hop-Artists) sind aus dem Boden geschossen wie Hochzeitsfotografen. Und zu Glebs Millionen Views auf YouTube sind noch ein paar Millionen mehr dazugekommen, der Song Pjat minut nasad [dt. Vor fünf Minuten], für dessen Ruhm zur Hälfte der aus Ufa stammende Boulevard Depo verantwortlich ist, wurde auf Firmenfeiern von Kreativagenturen zum Hit. Den Text dieses Erfolgshits können sogar glatzköpfige Musikkritiker mitsingen, die seelisch und geistig in den 1990ern steckengeblieben sind. 

    „Was finden die alle an ihm“ fragt keiner mehr

    Die Frage „Was finden die alle an ihm?“ stellt keiner mehr, doch der Prozess der Akzeptanz ist noch im Gang und nimmt bisweilen kuriose Formen an: In einem Käseblatt wurde der Song Diko, naprimer [dt. Wild, oder so] als Sommerhit bezeichnet. Obwohl ein Sommerhit ein ganz bestimmtes, bescheuertes Genre des frühen Glamours ist. Solche Lieder werden in speziellen Fabriken hergestellt, in der namenlose Arbeiter mechanisch „Blick“ auf „Glück“ reimen, und die Statisten im Clip heiße Klubnächte auf Ibiza mimen. Lustigerweise trägt Pharaoh im Video zu dem angeblichen Sommerhit einen schweren Pelzmantel, der wie ein ungehobelter Sarg wirkt, geht durch einen Wald, in dem noch der letzte Schnee liegt, und rappt einen Text darüber, dass wir irgendwann sterben werden. 

     

    Der Bühnenbildner baut im Palais-Restaurant Turandot-Barrikaden aus Stühlen, der Pelzsarg aus dem letzten Video baumelt an einem Kleiderhaken in einer improvisierten Künstlergarderobe. Auf meine sarkastische Bemerkung, er und seine Jungs hätten sich für das Video zurechtgemacht wie dunkelhäutige Zuhälter, reagiert Gleb gelassen: „Ich habe mir ausgemalt, wie wir in der Zeit vor der Revolution gefeiert hätten. Ich denke manchmal darüber nach, wie wir leben würden, wenn die Kultur und Ästhetik des zaristischen Russland nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki nicht erstickt worden wären.“

    Die neuen Musiker, nicht nur Rapper, besingen ein Bild der postsowjetischen Heimat, das aus Landschaften mit Plattenbauten, rohem Kapitalismus, Gefängniskultur und Gopniki-Elementen modelliert ist. Eine Liebe zu Russland, die stellenweise an das Stockholm-Syndrom erinnert, ist stark in Mode. „Dieser Hang zum Post-Sowok, der jetzt zum ästhetischen Mainstream geworden ist, ist eine sehr bequeme Pose für mediale Persönlichkeiten. Eine Geschmacklosigkeit und Vergewaltigung des Gehirns, das wird bald vorbei sein. Das ist nichts für die Ewigkeit“, sagt Gleb, dessen Blick über die bronzenen Kandelaber irrt. Er ist fasziniert von der rissigen imperialen Vergoldung und dem französierten Asien. Das Logo seiner Band Dead Dynasty wurde geändert – jetzt ist es ein Skelett eines doppelköpfigen Adlers. Den Bandnamen selbst assoziiert man zufällig mit der Zarenfamilie. Oder auch gar nicht so zufällig. 

    Rapper als Topmodels des Streetstyle

    Er wird abgeholt, um für ein weiteres Video gestylt zu werden. Heutzutage kleiden Hochglanzmagazine niemanden so leidenschaftlich ein wie Rapper. Das Wachstum auf dem Markt für Männermode in den letzten zwei Jahren ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken. Rapper sind die Hauptfiguren des Streetstyles, gern gesehene Gäste bei Modenschauen, und sie haben auf Instagram mehr Follower als die Redakteure von Modezeitschriften.

    Auch Pharaoh wird von Redakteuren umschwärmt. Tatler fotografierte ihn mit seiner Geliebten, dem Model Alessja Kafelnikowa im Stil rich & beautiful. Viele Bürschchen aus reichen Familien haben sich ihre Mäuler zerfetzt. „In unbekanntem Gewässer unterwegs zu sein, war stressig, aber spannend“, erinnert sich Gleb. „Die Tür zur Glamour-Welt war einen Spalt breit aufgegangen, und ich dachte: Das kann interessant werden. Mit den Leuten in Kontakt zu sein, war dann ziemlich unangenehm, weil die meisten mich von oben herab behandelten. Das hat mich gewurmt, aber auch motiviert, mehr zu arbeiten.“ 

    Er hätte das Zeug dazu, ein Influencer auf Instagram zu werden, wie viele internationale Rapper – doch er kann mit diesem ganzen Schnickschnack überhaupt nichts anfangen. Sobald der Fotograf das Schlusszeichen gibt, schlüpft er blitzartig in seine ausgelatschten Chucks. 

    „Von mir kommt bald was Neues raus“, sagt er und verwuschelt sich energisch die gestylten Haare. „Nur weiß ich nicht recht, wie ich das am besten nennen soll. Ich hab’s! Schreib, das wird eine Art Glam-Rock des Hip-Hop.“

    Übersetzung (gekürzt): Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.09.2017

    Weitere Themen

    Ein bisschen Frieden

    Sergej Schnurow

    Russki Rock

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Musyka: Lucidvox

    Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

  • Kino #9: Major

    Kino #9: Major

    Gesellschaftskritik verpackt in Mainstream-Ästhetik – das ist die Richtung, die der junge Regisseur Juri Bykow seit mehreren Jahren konsequent verfolgt. Seine Geschichten erzählt er fesselnd mit konzentrierten Plots und klar kalkulierten Wendepunkten, es sind Thriller aus dem russischen Hinterland. So auch Major (2013), in dem Bykow eine russische Kreispolizeibehörde ins Zentrum der Handlung stellt.

    Während man im russischen Kulturministerium historische und patriotische Stoffe bevorzugt, entfalten Regisseure wie Bykow ihr Schaffen im Schatten solcher Großproduktionen.1 Auf diese Weise entstehen Werke über das konkrete, alltägliche Leben im neuen Russland, das längst aus einer postsowjetischen Periode herausgetreten ist.
    Bykow ist herausragend in seiner Generation, begann seine Karriere nach einem Schauspielstudium zum Ende der 2000er Jahre und wurde sogleich auf dem wichtigsten Festival des Landes, dem Kinotawr, für den besten Kurzfilm ausgezeichnet. In seinen spannungsgeladenen Geschichten ist Nervenkitzel kein Selbstzweck und nicht zur bloßen Unterhaltung gedacht. Vielmehr geht Bykow hart ins Gericht mit politischen und sozialen Strukturen, die das Verhalten seiner Figuren maßgeblich bestimmen. Major ist sein zweiter abendfüllender Film. Einfache Antworten oder moralische Botschaften nach einem Gut-Böse-Schema darf man hier nicht erwarten – dafür tiefe Einblicke in die russische Gegenwart.

    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com
    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com

    Ein Fahrer rast in den frühen Morgenstunden mit seinem Wagen über eine Landstraße. Er ist auf dem Weg zur nächstgelegenen Kreisstadt, wo seine Frau in einer Klinik in den Wehen liegt. Es herrscht klirrende Kälte, ein Dunstschleier verhüllt die Landschaft, die Fahrbahn ist völlig vereist. An einer Bushaltestelle überquert ein siebenjähriger Junge die Straße, der Fahrer ist viel zu schnell unterwegs und kann nicht mehr ausweichen. Der Junge stirbt.

    Die Kräfte für eine Aufklärung des Unfalls sind sichtbar ungleich verteilt: Der Fahrer ist ein junger, aufstrebender Polizeimajor, und ein Eingeständnis seiner Schuld hätte nicht nur für seine Karriere fatale Folgen, sondern würde einen Skandal bedeuten, den niemand in der Polizeidienststelle gebrauchen kann. Die Mutter des Jungen, vor deren Augen sich das Unglück ereignet hat, entstammt dagegen einer Arbeiterfamilie. Sie und ihr Ehemann bleiben hart und weigern sich, für den Major zu lügen.

    Die Polizei als Symptom des Gesellschaftssystems

    Die Handlung wird rund um die verantwortliche Kreispolizeibehörde angeordnet. Jedoch geht es Bykow nicht um den Polizeiapparat als solchen, sondern allgemein um die Machtverhältnisse und das soziale Gefüge in einer Gesellschaft, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion neu formieren musste. Genauso wenig wird das Verhalten des Einzelnen zur Diskussion gestellt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die ein konkretes Verhalten hervorbringen. Den Gravitationspunkt der dynamisch voranschreitenden Handlung bilden bei Major die beiden unterschiedlich agierenden Hauptprotagonisten: der junge, titelgebende Major Sobolew (gespielt von Denis Schwedow) und sein Vertrauter Korschunow (gespielt von Juri Bykow selbst). Während Korschunow alles dafür tut, um die Schuld seines Kollegen zu vertuschen, schert Sobolew plötzlich aus, versucht, seinem Gewissen zu folgen und seine Schuld einzugestehen. Dadurch wird er jedoch nicht zum Helden, sondern entfesselt eine Welle der Gewalt.

    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films
    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films

    Trotz des ernüchternden Befunds von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der Behörden stellt Bykow die Polizeibeamten nicht als „Werwölfe mit Schulterklappen“2 dar. Dazu passt, dass der Film unter dem Slogan vermarktet wurde: „Major – prosto tschelowek“ – der Major ist auch nur ein Mensch, einer von uns.

    Informelle Regeln

    Korschunows Verhalten führt konkret vor Augen, was es bedeutet, wenn der Polizeiapparat nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem System informeller Regeln und Normen funktioniert. In der russischen Gegenwartssprache existiert dafür der Ausdruck shit po ponjatijam, was wörtlich übersetzt „nach den Begriffen leben“ bedeutet. Entlehnt aus dem Jargon der sowjetischen Verbrecherwelt3 gibt die Wendung zu verstehen, dass im heutigen russischen Alltag, in Politik und Verwaltung, vieles nicht nach kodifiziertem Recht, sondern nach „anderen, informellen Regeln und Abmachungen“ funktioniert.  Oben, an der Spitze der Provinzstadt, steht eine grauhaarige Autorität, die nicht nur über die Exekutive, sondern auch über alles andere wacht. Ihn suchen Korschunow und Sobolew auf, seine Entscheidung gilt: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden.
    Da sich die Machtvertikale nach oben hin fortsetzt, erscheint für alle Beteiligten als wichtigster Grundsatz, nicht negativ aufzufallen und nur keinen Staub aufzuwirbeln. Überregionale Instanzen könnten auf den Plan gerufen werden.

    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden
    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden

    So handelt Korschunow absolut loyal – po ponjatijam – und setzt um, was ihm von oben aufgetragen wird: Um der Mutter das Einvernehmen abzupressen, benutzt er zuerst die Mittel der Rhetorik, dann die der Gewalt. Dabei wäre aus seiner Sicht doch alles ganz einfach und logisch: Den toten Jungen macht nichts wieder lebendig, aber der Major muss weiterleben und gemeinsam mit ihm steht das Leben und Wohlergehen seiner Nächsten – seiner Familie, Freunde und Kollegen – auf dem Spiel. Der entfachte Konflikt bringt schließlich die Bruchlinien hervor, die dem Zuschauer systematisch Einblick in die wirkmächtigen Strukturen des Systems gewähren.

    Engagiertes sozialkritisches Kino

    Es ist dieser Fokus bei Bykow – auf Gesellschaftsstrukturen und die Zwänge, die sich für den Einzelnen ergeben – der seine Filme  als ein engagiertes sozialkritisches Kino markiert und die drei bislang realisierten Streifen wie eine Trilogie erscheinen lässt: Shit! (dt. Leben!, 2010), Major (dt. Der Major, 2013) und zuletzt Durak (dt. Der Idiot, 2014).4 Während sich Figurenkonstellation und Milieu ändern, steht immer die Frage nach der sozialen Verantwortung und damit nach einer Pflicht im Mittelpunkt, die nicht nur den Nächsten, sondern allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber besteht. Bykows Figuren aber stellen den Schutz der Familie, Freunde und Kollegen über alles. Der persönliche Einsatz für die Nächsten heiligt die Mittel, rechtfertigt Gewalt und Mord (Shit!, Major). Wer dieses System durchbricht, fällt ihm zum Opfer (Durak).

    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord
    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord

    Fehlende soziale Verantwortung begründet für Bykow eine Art modernen Feudalismus: „Eine liberale Gesellschaft bedeutet, dass Jeder für Jeden Verantwortung übernimmt. Ein Bürger für den anderen. Feudal bedeutet dagegen, wenn es meine Familie gibt, meine Nächsten, meine Freunde – und so weiter, je nach Entfernung.“5 Dabei versteht Bykow seine Filme als Anstoß zur Veränderung: „Für mich ist es [gemeint ist Major] ein Film darüber, dass wir nicht länger allgemeinmenschliche ethische Werte ignorieren können. Die zivile, menschliche Pflicht dem anderen gegenüber ist wesentlich wichtiger als Clan- und Familienbeziehungen.“6

    Anklänge an die tschernucha der 1980er und 1990er

    Bykow kennt Milieu und Schauplatz seiner Filme gut, dreht bevorzugt im Gebiet von Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Realitätsnähe ist ihm wichtig, zugleich verfolgt er eine klare filmische Stilistik. 

    So ruft die erste Szene auf der Polizeiwache Effekte der Tschernucha aus der Perestroika-Zeit auf, einer neonaturalistischen Darstellungsweise, die daran ging, die sozialen Abgründe der Gesellschaft zu ästhetisieren. Die Kamera bahnt sich bei Major den Weg durch die klaustrophobische Enge des Ganges mit seinen lackierten Wänden und abgewetzten Türen. Sie kann gar nicht anders, als nah an die sich dort tummelnden Menschen – Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle – heranrücken. „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte, faltige Frau einem jungen Polizeibeamten entgegen, der sie gerade vor ihrem gewalttätigen Sohn gerettet hat. 

    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen
    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen

    In den 1990er Jahren wurde diese Ästhetik mit dem im Entstehen begriffenen Genre-Kino kombiniert und fand Eingang in Thriller und Krimi. Die Schlussszene von Major mit dem Hauptprotagonisten, der per Anhalter in einen Laster steigt, verweist unverkennbar auf Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder, 1997). Dabei ruft die Szene gerade dazu auf, die Unterschiede im Herangehen der beiden Regisseure zu formulieren: Während Balabanow eine adäquate filmische Darstellung der postsowjetischen Realität fand und das Verbrechen romantisierte, setzt Bykow die längst etablierten Mittel des Genrekinos ein, um seiner kritischen Stimme Gehör zu verschaffen. 
    Das verbindet ihn auch mit dem Sozialrealismus US-amerikanischer Low-Budget-Produktionen, wie zuletzt überzeugend in Hell or High Water von Regisseur David Mackenzie zu sehen. Dabei ist freilich einzuräumen, dass das filmisch vermessene amerikanische Hinterland auf eine weit reichere Tradition zurückgreifen kann, als dies bei der russischen Provinz der Fall ist.

    Autorenfilmer in der Praxis

    Gerade durch die mainstreamtaugliche, leicht verständliche Sprache heben sich Bykows Filme auch klar von Andrej Swjaginzews Sozialdramen ab, obwohl Letzterer in Leviafan (dt. Leviathan, 2014) einen durchaus vergleichbaren Stoff bearbeitet hat. Die ewigen Themen des Menschen – der „Kosmos gespiegelt im Wassertropfen“7 – sind Bykows Sache nicht. Entsprechend distanziert werden seine Filme auch von der liberalen russischen Kulturelite aufgenommen, der sie zu wenig künstlerisch, zu direkt, zu grob sind.8

    Dabei zeugt der Weg, den der 1981 geborene Regisseur bislang verfolgt, von einer Eigenständigkeit und Kompromisslosigkeit, wie sie in der Blütezeit des europäischen Autorenfilms jedem Filmemacher zur Ehre gereicht hätte. Den Autorenfilmer verkörpert Bykow nicht zuletzt durch seine Vielseitigkeit; so übernimmt er Schlüsselfunktionen selbst – vom Drehbuch über die Montage bis hin zur minimalistischen Musik.9 Autorenfilm und Mainstream-Ästhetik schließen einander heute, wie Andrej Tarkowski dereinst noch glaubte, längst nicht mehr aus. 

    TextEva Binder
    Veröffentlicht am 05.09.2017


    1.Genannt seien hier beispielsweise Stalingrad (2013) von Fedor Bondarčuk, der erste russische Blockbuster, der komplett in 3D gedreht wurde, oder Admiral (2008) von Andrej Kravčuk, der den russischen Bürgerkrieg monumental in Szene setzt.
    2.Die verbreitete Wendung oborotni v pogonach geht auf eine Folge von bekannt gewordenen Korruptionsfällen in den 2000er Jahren zurück und wird so auch vom Filmkritiker Andrej Plachov in seiner Rezension zu Major verwendet, vgl. Kommersant: Obyknovennyj feodalizm.
    3.Siegert, Jens (2016):  Diebe im Gesetz, in: Russland-Analysen Nr. 321, S. 27
    4.Durak ist Bykovs erster Film, der seinen Weg in den deutschsprachigen Filmverleih gefunden hat. Er wird vom Schweizer trigon film unter dem Titel Durak als Kinofilm und DVD vertrieben.
    5.Bykov im Interview mit der Zeitung Izvestija; das Interview wurde 2013 anlässlich der Aufnahme des Films in das Programm Semaine internationale de la critique der Filmfestspiele von Cannes geführt.
    6.Bykov in der Pressekonferenz anlässlich der Russlandpremiere des Films beim Filmfestival Kinotavr in Sotschi 2013. Der genaue Wortlaut im Original lautet: «Dlja menja kartina o tom, čto chvatit ignorirovat’obščečelovečeskuju moral‘. Graždanskij, čelovečeskij dolg postoronnemu čeloveku gorazdo važnee čem vzjakie vot klanovye, semejstvennye vešči.»
    7.vgl. Bykov im Interview mit der Zeitschrift Russkij reporter
    8.vgl. Bykovs Ausführungen zur Rezeption seiner Filme in dem Gespräch, das der Regisseur mit dem russischen Schriftsteller Sachar Prilepin in dessen Sendung Čaj s Sacharom (dt. Tee mit Sachar) auf dem Sender Tsargrad TV geführt hat.
    9.Von seiner Ausbildung her Schauspieler, wurde er schnell als Multitalent und Autodidakt gefeiert. Bei seinem zum Kinotavr prämierten Kurzfilm Načalnik (dt. Der Vorgesetzte, 2009) hatte er Regie, Drehbuch, Schnitt und die Hauptrolle übernommen.

    Weitere Themen

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Freundschaft auf Russisch

    Karriere in Uniform

    Kino #3: Brat

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Leviathan gegen Leviathan

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest

    Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest

    Ein Menschenauflauf vor dem Moskauer Basmanny-Gericht am Mittwoch, den 23. August, etwa 300 Leute haben sich hier versammelt, viele Prominente sind darunter. Drinnen sitzt der bekannte Regisseur Kirill Serebrennikow. Die prominente Unterstützung hilft ihm nicht: Serebrennikow steht bis 19. Oktober unter Hausarrest.

    Betrug in Millionenhöhe lautet der Vorwurf gegen den berühmten und umstrittenen Theatermann. Die ehemalige Chefbuchhalterin belastet ihn.

    Serebrennikow leitet das Moskauer Theater Gogol Center, eine Art Experimentierbühne, staatlich gefördert. Er ist international bekannt für seine innovativen Regiearbeiten, im Oktober soll seine Inszenierung der Oper Hänsel und Gretel in Stuttgart Premiere feiern, sein aktueller Film Der die Zeichen liest ist in Cannes ausgezeichnet worden.

    Die Unterstützung hilft Serebrennikow nicht – er bleibt unter Arrest / Foto © Irina Bursho/Kommersant
    Die Unterstützung hilft Serebrennikow nicht – er bleibt unter Arrest / Foto © Irina Bursho/Kommersant

    Schon im Mai hatten maskierte und bewaffnete Männer das Gogol Center durchsucht, die Polizei inspizierte auch die Wohnung Serebrennikows. Putin soll laut Medienberichten die Beamten als Duraki (dt. Dummköpfe) bezeichnet haben.

    Im Juli erregte der Regisseur erneut Aufsehen, als sein Ballett Nurejew am Moskauer Bolschoi Theater kurz vor der Premiere verschoben wurde. Anfang der Woche wurde Serebrennikow schließlich in der Nacht festgenommen, während er in St. Petersburg an seinem neuem Film Leto (dt. Sommer) arbeitete.

    Seine Festnahme und der Hausarrest lösen heftige Debatten aus, nur wenige glauben an die Vorwürfe. Viele Prominente, etwa die Schriftsteller Boris Akunin und Ljudmila Ulitzkaja, ergriffen Partei für ihn, waren teilweise im Gericht anwesend. Die berühmte Publizistin Irina Prochorowa hatte sogar erklärt, eine Kaution in beliebiger Höhe für Serebrennikow zu zahlen.

    Warum ausgerechnet Serebrennikow? Soll hier ein Exempel statuiert werden? Ein missliebiger, international renommierter Kreativer mundtot gemacht werden? Und wer steckt dahinter? dekoder bringt Stimmen aus russischen Medien.

    Facebook/Andrej Loschak: Ins Gesicht gerotzt

    Für Andrej Loschak, Gründer und ehemaliger Chefredakteur von Takie Dela, ist klar, weshalb die Behörden gegen Serebrennikow vorgehen, wie er auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Kirill ist die ideale Figur für einen Schauprozess gegen Liberale. Wahrscheinlich die Autorität schlechthin – um ihn können sich städtische Oppositionelle einmütig zusammentun. Seine Festnahme ist ganz klar ein Zeichen. So saftig und voll Schmackes hat man uns noch nie ins Gesicht gerotzt. Jetzt wird alles lang und genüsslich verschmiert und ausgewalzt. Mindestens sechseinhalb Jahre.
    Die erste Aule – die Bolotnaja-Prozesse – haben wir geschluckt. Zu ihnen erschienen im besten Fall ein paar Dutzend Menschen. […] Die Verhaftung von Kirill werden wir auch schlucken. Nach einigen Achs und Ohs werden wir in unseren privaten Alltag zurückkehren, wie es auch 2012 der Fall war.~~~Фигура Кирилла – идеальная для показательного процесса над либералами. Наверное нет других таких авторитетов, вокруг которых единодушно консолидировалась бы городская фронда. Его арест безусловно знаковый. Так смачно и с оттяжкой нам еще в лицо не харкали. Теперь будут размазывать долго и с удовольствием. Ну, минимум 6 с половиной лет.
    Первый харчок – процессы над „болотниками“ – мы проглотили. На них приходило в лучшем случае несколько десятков человек. […] Арест Кирилла тоже проглотим. Поохаем тут и вернемся в частную жизнь, как это случилось в 2012-м.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    Colta: Verrat am Kollegen

    Auch der international berühmte Geiger Gidon Kremer hat sich nun zu dem Fall geäußert, Colta druckt seine Stellungnahme ab:

    [bilingbox]Ich glaube, dass alle, die sich – um diese Aktion zu rechtfertigen – befremdet und erstaunt zeigen oder die darauf verweisen, dass es – auch in Künstlerkreisen – ein weit verbreiteter Usus sei, über dunkle Kanäle Geld zu beschaffen oder zu waschen, dass diese Menschen eine erstaunliche Gleichgültigkeit an den Tag legen, was die allgemeinen Entwicklungen betrifft. Sie üben damit offenkundig Verrat an ihrem Kollegen, wie auch an ihrem Gewissen als Bürger.
    Allein der Rang des Künstlers impliziert eine bestimmte Moral, und ich bin überzeugt, dass Kirill Serebrennikow diese auch verkörpert.~~~Думаю, что все те, кто в оправдание акции выражают лишь недоумение или ссылаются на повсеместно распространенные — и в артистических кругах! — теневые способы получать и «отмывать» деньги, также показывают определенное равнодушие к развитию событий и тем самым открыто предают как своего коллегу, так и свою гражданскую совесть. Само звание артиста предполагает определенную мораль, и я уверен, что Кирилл Серебренников — ее олицетворение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 24.08.2017

    Facebook/Boris Akunin: Nicht ohne Putins Segen 

    Ein weiterer von vielen Prominenten, die den Fall kommentierten, ist Star-Autor Boris Akunin. Kurz nach der Festnahme Serebrennikows in St. Petersburg, aber noch vor dem Hausarrest, zieht er auf Facebook historische Parallelen:

    [bilingbox]Festnahmen von Personen diesen Ranges, die international Resonanz auslösen, geschehen bei uns nur mit dem Segen oder gar auf direkten Befehl des obersten Chefs. Nicht anders.
    Darum lasst uns die Dinge beim Namen nennen. Den Regisseur Meyerhold hat nicht der NKWD festgenommen, sondern Stalin. Den Regisseur Serebrennikow hat nicht das Ermittlungskomitee festgenommen, sondern Putin. Gut wäre, es würden nur PR-Ziele verfolgt, um anschließend größtmögliche Gnade zu zeigen und den weltbekannten Regisseur unter Hausarrest zu stellen oder mit Meldeverpflichtung zu entlassen. Denn wenn nicht, so hieße das, dass Russland in ein neues Stadium übergegangen ist, in dem neue Regeln gelten. ~~~Международно резонансные аресты людей такого уровня у нас происходят только с санкции, а то и с прямого приказа Главного Начальника. Не иначе. 
    Поэтому давайте называть вещи своими именами. Режиссера Мейерхольда арестовало не НКВД, а Сталин. Режиссера Серебренникова арестовал не Следственный комитет, его арестовал Путин. И хорошо еще, если с PR-целью затем явить высочайшую милость и выпустить всемирно известного режиссера под домашний арест или подписку. Потому что если нет — значит, Россия перешла на новую стадию существования, где будут действовать новые правила.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    RIA Nowosti: Weshalb automatisch Opfer? 

    Weshalb sollte ein Künstler immer gleich Opfer sein, fragt Viktor Marachowski in seiner Analyse für die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti:

    [bilingbox]Brandschutzinspektoren, Polizisten, Generälen oder Gouverneuren – warum können denen Wirtschaftsverbrechen angelastet werden und niemand vermutet, dass Putin da persönlich den Nichteinverstandenen die Mäuler stopft? Aber ein Künstler und Intendant, dem Veruntreuung angelastet wird, für den gilt die Vermutung, er würde verfolgt. Das heißt: Ein Amtsinhaber, der Zugang zu staatlichen Geldern und zahlreiche Möglichkeiten zu dessen Veruntreuung hat, muss automatisch als Opfer politischer Willkür behandelt werden, wenn er ein Mann der Künste ist.~~~почему пожарный инспектор, полицейский, генерал или губернатор могут быть обвинены в хозяйственном преступлении, и никто не заподозрит, что это лично Путин затыкает рты несогласным. А режиссер и худрук, обвиненный в утаскивании средств, — обладает „презумпцией преследуемости“. То есть должностное лицо, обладающее доступом к казенным деньгам и широчайшими возможностями их распила, должно по умолчанию трактоваться как жертва политического произвола, если оно человек искусства.
    [/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017
    Bis zum 19. Oktober unter Hausarrest – Regisseur Kirill Serebrennikow  / Foto © Anton Belizki
    Bis zum 19. Oktober unter Hausarrest – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Anton Belizki

    Echo Moskwy: Konflikt innerhalb der Gesellschaft

    Alexander Baunow, Chefredakteur bei Carnegie.ru, schreibt im Blog auf Echo Moskwy von einem innergesellschaftlichen Konflikt:

    [bilingbox]Man darf das nicht als einen Konflikt zwischen Staatsmacht und Künstler, oder zwischen Volk und Künstler deuten. In der Gesellschaft Russlands gibt es zwei Teile, und die Teilung ist vertikal, nicht horizontal. Sie verläuft von oben nach unten: Sowohl innerhalb der Kreml-Spitzen, als auch in der Wirtschaftselite, in der Intelligenzija, unter gewöhnlichen und spießigen Bürgern hat Serebrennikow kategorische Anhänger und kategorische Gegner. Für die einen ist er ein großer Künstler, für die anderen ein Mensch, der das Geld der Steuerzahler ausgibt und damit seine Passion zu suspekten Experimenten auslebt.
    […] in den Augen eines Teils der Gesellschaft und, sagen wir mal, der patriotisch eingestellten politischen Elite […], ist Vielfalt nicht vorgesehen. Ein solches Theater wie das Gogol Center, solche Stücke, wie sie Serebrennikow inszeniert, ein solches Ballett wie Nurejew im Bolschoi-Theater – all das hat es nicht zu geben.  ~~~Не надо анализировать это как конфликт между властью и художником или как конфликт между народом и художником. В российском обществе есть 2 части: это вертикальное, а не горизонтальное деление, это деление проходит сверху вниз и в кремлевских верхах, и в бизнес-верхушке, и в интеллигенции, и в среде обывателей, обычных граждан есть и категорические сторонники, и категорические противники Серебренникова. Для одних это большой художник, а для других это человек, который тратит деньги налогоплательщиков, удовлетворяя свои страсти к сомнительным экспериментам.
    […]  в глазах части общества и, соответственно, политической верхушки, ну, скажем так патриотически настроенной, […] разнообразия быть не должно. Такого театра как Гоголь-Центр, таких спектаклей, которые ставит Серебренников, такого балета как «Нуриев» в Большом театре быть не должно.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

    Facebook/Dimitri Bykow: Wichtiges Signal

    Dimitri Bykow dagegen ist sicher, dass Putin zumindest unterrichtet ist – und mit dem Fall eine eindeutige Message gesendet werden soll, wie er in einem Interview sagte und auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Es ist lächerlich zu sagen, dass Putin es nicht weiß, dass man Putin nicht davon unterrichtet hat. Natürlich ist Putin darüber informiert, gehört Serebrennikow doch in die Top Fünf der bedeutendsten Kulturschaffenden seiner Generation.
    Hier wird aus meiner Sicht ein doppeltes Signal gesendet: Erstens glaube ich, dass hiermit dem Westen noch einmal gezeigt wird, dass hier niemand auf seine Meinung angewiesen ist. Der Westen verleiht Serebrennikow demonstrativ Theaterpreise, Russland erniedrigt ihn demonstrativ und öffentlich. 
    Dabei ist seine Schuld nicht bewiesen. Er läuft nicht vor der Untersuchung weg, sein Pass wurde ihm weggenommen, und dennoch setzen sie ihn fest. Das ist eine dreiste öffentliche Demonstration dafür, dass sie auf das Recht pfeifen, auf den Künstler und auf das ganze Land – wir tun das, was wir wollen.
    Das Zweite ist sogar noch bedauerlicher, das Signal an die kreative Intelligenzija: Sie muss darüber nachdenken, was ihre Meinungen denn eigentlich wert sind. ~~~Смешно говорить, что Путин не знает, что Путину не докладывают. Разумеется, Путин осведомлен об этом, все-таки Серебренников из деятелей культуры своего поколения в России входит в пятерку самых заметных людей.
    Тут, на мой взгляд, сигнал идет двоякий. Во-первых, я думаю, что это лишний раз показывает Западу, что от его мнения здесь никто не зависит. Запад демонстративно присуждает Серебренникову театральные премии, Россия демонстративно и публично унижает его. Причем вина его не доказана, и от следствия он не бегает, и загранпаспорт у него был отобран, а его, тем не менее, сажают. Это наглая публичная демонстрация абсолютно наплевательского отношения и к праву, и к художнику, и ко всей стране — что хотим, то и воротим.
    Ну, а второе, что еще более печально — это сигнал творческой интеллигенции призадуматься о том, чего стоят все еe мнения.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

    Kommersant FM: Talent tut nichts zur Sache

    Der berühmte Regisseur Andrej Kontschalowski verteidigt auf Kommersant FM das Vorgehen gegen Serebrennikow:

    [bilingbox]Wenn es nicht Kirill Serebrennikow wäre, sondern Hänschen Meier, wen würde es dann überhaupt scheren? Solche Ereignisse gibt es im russischen Leben täglich in ausreichender Menge. Niemanden würde es scheren. 
    Hier haben die Ermittler und Staatsorgane offensichtlich etwas gefunden. Und was, wenn sie nun mal etwas gefunden haben? Ich kann außer Mitgefühl und Bedauern für die Menschen, die da Fehler gemacht haben, nichts empfinden. Zu sagen, was für ein talentierter Regisseur oder Künstler Serebrennikow ist, tut hier nichts zur Sache.~~~А если бы не Кирилл Серебренников, а Иван Петрович Пупкин, кто бы обратил внимание? А таких событий в российской жизни происходит ежедневно достаточное количество. Никто бы не обратил внимание. Но там, очевидно, следователи, силовые органы что-то обнаружили. Если они что-то обнаружили, что делать? У меня, кроме сочувствия и соболезнования людям, которые ошиблись каким-то образом, больше ничего нет. Нельзя говорить, насколько Кирилл Серебренников талантливый режиссер или художник — это не имеет отношения к делу.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    Facebook/Sergej Medwedew: Völlig kafkaesk

    Dem kremlkritischen Politologen und Historiker Sergej Medwedew scheint es auf Facebook so, als fände sich Kirill Serebrennikow plötzlich in einem Kafka-Stück wieder:

    [bilingbox]Serebrennikow wurde – eben ein echter Künstler – Opfer seiner eigenen Bilder. In der letzten Spielzeit zeigte das Gogol Center Kafka, und die Geschichte seiner Festnahme ist völlig kafkaesk: Der Regisseur wird beschuldigt, dass es das, was es gab, nicht gegeben hat. Das ist wie im Prozess, wo es Joseph K. nicht zu erfahren gelingt, wessen er beschuldigt wird.
    Weiter gefasst, greift hier eher die Metapher der Verwandlung. Eines nicht so wunderschönen Tages, entdecken wir, dass sich in unserer Wohnung ein riesiges, grimmiges Insekt eingenistet hat, eine zehn Meter lange Raupe mit zig Ringen, liegt in Wohnzimmer, Flur und Küche und mampft unaufhörlich etwas. Wir haben uns schon an sie gewöhnt, quetschen uns an ihr vorbei in eine Küchenecke.
    Zuweilen schnappt sich die Raupe einen der Bewohner, alle regen sich ein Weilchen auf, schlagen Krach, doch dann verstummen sie und quetschen sich weiter vorbei, denn so läuft es bei uns nun mal. Diese Raupe kann einen Magnitski umbringen, einen Senzow und Koltschenko anknabbern, sich einen Uljukajew packen, und nun siehe da, einen Serebrennikow, ja im Prinzip jeden – aber wir haben uns schon daran gewöhnt und begreifen sie als wohnungseigenes Spezifikum.~~~Серебренников как настоящий художник стал заложником своих образов. В прошлом сезоне „Гоголь-центр“ делал „Кафку“, и сюжет его ареста – совершенно кафкианский, режиссера обвиняют в том, что существовавшее – не существовало. Это как в „Процессе“, где Йозефу К. так и не удается узнать, в чем его обвиняют.
    Но если шире, то тут скорее метафора „Превращения“. В один не очень прекрасный день мы обнаруживаем, что с нами в одной квартире поселилось огромное мерзкое насекомое, десятиметровая гусеница из множества колец, лежащая в гостиной, коридоре и кухне, и постоянно что-то жующая. Мы уже привыкли к ней, ходим бочком, на кухне сидим в тесноте. Иногда гусеница схватывает кого-то из жильцов квартиры, все недолго возмущаются, шумят, но потом стихают и продолжают ходить бочком, потому что так у нас заведено. Эта гусеница может убить Магнитского, зажевать Сенцова и Кольченко, схватить Улюкаева, теперь вот Серебренникова, да собственно любого, но мы уже привыкли и воспринимаем ее как особенность планировки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

    dekoder-Redaktion

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Der Geist der Korruption

    „Russland fällt immer weiter zurück“

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Debattenschau № 54: Nurejew

    Angstfreiheit als Kunst

  • Debattenschau № 56: Matilda

    Debattenschau № 56: Matilda

    Es ist der meistdiskutierte Film des Jahres in Russland: Matilda. Kinostart ist im Oktober, aber schon seit Veröffentlichung des ersten Trailers wollen orthodoxe Aktivisten und Monarchisten den Film verhindern. Das Biopic dreht sich um die historisch verbürgte Liebesbeziehung, die der noch ungekrönte Zar Nikolaus II. mit der Ballerina Matilda Kschessinskaja einging. Die Zarenfamilie der Romanows wurde vor 100 Jahren gestürzt und später von den Bolschewiki ermordet.
    Der landesweit bekannte Regisseur Alexej Utschitel hat sich gegen Angriffe auf seinen Film ausdrücklich verwahrt. Wortführerin dieser Angriffe auf politischer Ebene und Initiatorin von Eingaben bei Ermittlungsbehörden ist die umstrittene Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja – ehemals Generalstaatsanwältin auf der Krim, seit der Wahl im September 2016 Mitglied des Parlaments.

    Offiziell gibt es keinerlei Beanstandungen, und das russische Kulturministerium gab den Film nun zum Verleih frei. Betont wurde zugleich, dass es den Regionen Russlands freistehe, davon abweichende Regelungen zu treffen. Hintergrund ist, dass die Obrigkeiten der Kaukasus-Republiken Dagestan und Inguschetien den Zarenfilm aus ihren Kinos raushalten wollen. Auch Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow zählt zu den erklärten Gegnern.
    Die Kritiker berufen sich bei ihrem Protest auf die „Verletzung religiöser Gefühle“, weil sie das Ansehen des Zaren beschmutzt sehen, der von der orthodoxen Kirche zur Jahrtausendwende zum Heiligen erklärt wurde. In Russland kann so etwas unter Anwendung eines schwammig gehaltenen Extremismusbegriffs rigide Ahndungen nach sich ziehen.

    In die Schusslinie des Streits um den Film gerät immer wieder auch der deutsche Schauspieler Lars Eidinger, der in dem Historiendrama die Hauptrolle des Zaren spielt. Auch Theaterregisseur Thomas Ostermeier hat eine Rolle. Ostermeier ist künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, Eidinger dort Ensemblemitglied und für sein exzentrisches Spiel auf der Bühne bekannt. Zu den Anfeindungen sagte der Schauspieler der Deutschen Welle, er könne die Vorbehalte „bis zu einem gewissen Punkt“ verstehen. „Aber ich glaube, diese Vorwürfe laufen ins Leere, wenn man den Film anguckt. Weil man merkt, dass sich dieser Film dem Charakter mit großem Respekt annähert und dass er etwas zutiefst Menschliches beschreibt.“
    Die Dreharbeiten waren bereits im Herbst 2014; je näher nun die Premiere rückt, desto schärfer und wütender werden die Anfeindungen. Und das, obwohl bisher so gut wie niemand den Film gesehen hat.

    Die Freigabe durch das Kulturministerium – eigentlich eine Formalie – ließ die Debatte erneut hochkochen. dekoder übersetzt Auszüge aus Interviews und Kommentarspalten.

    https://www.youtube.com/watch?v=RYNTRzXC0_g

    Kommersant-FM: Republikchef Inguschetien

    Der Kommersant-FM lässt Junus-bek Jewkurow zu Wort kommen, Republikchef von Inguschetien. Jewkurow zeigt sich enttäuscht, dass das Kulturministerium kein allgemeines Verbot ausgesprochen hat, den Film zu zeigen – und hält eine solche Option nicht nur in diesem Fall für geboten.

    [bilingbox]Ich finde, dass es gerade heutzutage natürlich eine gewisse Zensur geben muss, weil wir ein multiethnischer und multikonfessioneller Staat sind. Und jeder verzerrte und sogar nicht verzerrte Fakt, der bedeutende historische Ereignisse oder Personen betrifft, muss daraufhin geprüft werden, welchen Einfluss er hat. Deshalb brauchen wir Zensur. Im Kulturministerium muss der Film schon im Stadium des Drehbuchs dahingehend begutachtet werden, ob wir ihn brauchen oder nicht. Erst recht, wenn der Film mit Hilfe staatlicher Gelder entsteht. Auch Filme, die aus privaten Mitteln finanziert werden, müssen eine gewisse Zensur durchlaufen. […]

    Wenn ein Film einen Keil zwischen Völker und Konfessionen treibt – wozu ist er dann gut? […] Was hat der Film für eine Wirkung und wie beeinflusst er die Gesellschaft, wird es danach im Land mehr Patrioten geben oder Banditen.~~~Я считаю, что определенная цензура, особенно в нынешнее время, конечно, должна быть, потому что мы многонациональная многоконфессиональная страна, и любой искаженный или даже не искаженный факт, который касается значимых исторических событий, личностей, должен рассматриваться с точки зрения того, какое влияние он оказывает. Поэтому цензура должна быть. На уровне Министерства культуры еще на стадии сценария должна даваться оценка, нужен он или нет. Тем более если этот фильм создается на бюджетные средства. Также и картины, бюджет которых предполагает частные источники, должны проходить определенную цензуру. […]

    [Е]сли какой-то фильм может вбить клин между народами, между конфессиями, то зачем он нужен? […] Что эта картина даст на выходе и какое влияние на общество окажет, станет ли после ее просмотра в стране больше патриотов или бандитов.[/bilingbox]

    erschienen am 11.08.2017

    Republic: Film-Furore als Steigbügelhalter

    Die Politologin Tatjana Stanowaja lenkt die Aufmerksamkeit weg von der eigentlichen Diskussion um den Film. In einem Beitrag für das liberale Webmagazin Republic nimmt sie den Charakter politischer Allianzen in den Blick, die sich im Kampf gegen den Film gebildet haben.

    [bilingbox]Ramsan Kadyrow hat in Poklonskaja auf gesamtstaatlicher Ebene eine neue Anwältin gefunden. Sie ist vielleicht nicht fähig, „wichtige Entscheidungen zu treffen”, mindestens aber in der Lage, Interpretationen und ideologischen Grundlagen Vorschub zu leisten, die sowohl die Handlungen des tschetschenischen Regimes legitimieren wie auch den reinen Fakt seiner Existenz in heutiger Form. So wurde Poklonskaja erst über die vergangenen zwei Monate zur Verfechterin von traditionellen Werten in der Tschetschenischen Republik. Und sie bezeichnete es als absurd, die Führung massenhafter Hinrichtungen zu beschuldigen. […]

    Russland betritt eine Epoche großer Veränderungen (voraussichtlich von 2017–2020) mit einer Elite, die sich an die Vergangenheit klammert. Die Diskussion über Matilda ist das erste entfernte Anzeichen, wie schwer es für den Umbau des späten Putin-Regimes sein wird, den Widerstand der sich an den Status Quo klammernden Konservativen zu überwinden.~~~В лице Поклонской Рамзан Кадыров нашел нового адвоката федерального уровня, который если и не способен «решать вопросы», то как минимум может продвигать интерпретации и идеологические обоснования, легитимирующие и действия чеченского режима, и сам факт его существования в нынешнем виде. Так, Поклонская только за последние два месяца успела заступиться за «традиционные ценности» в Чеченской Республике и назвать «абсурдом» обвинение руководства республики в массовых казнях. […]

    Россия вступает в эпоху перемен (можно ориентироваться на 2017–2020 годы) с элитой, цепляющейся за прошлое. Дискуссия вокруг «Матильды» – первый очень отдаленный признак того, как тяжело перестройка позднего режима Путина будет преодолевать сопротивление цепляющихся за свой статус-кво охранителей.[/bilingbox]

    erschienen am 12.08.2017

    Echo Moskau: Kaukasus als Vorkämpfer

    Doch ein bisschen mehr als politisches Kalkül sieht Alexander Malenkow darin. Der Chefredakteur des Männermagazins Maxim geht im Interview beim Radiosender Echo Moskau auf die spezifische Rolle der Kaukasusrepubliken ein – die sich aus seiner Sicht zum Anwalt aller Gläubigen im Land erheben.

    [bilingbox]Erstens liegen unsere kaukasischen Republiken meilenweit vor den anderen, was Religiosität angeht. Und da es ja hier um das Thema der Beleidigung von Gefühlen Gläubiger geht, haben die hier in diesem Sinne ein großes Stimmrecht – sie fühlen sich ein bisschen verantwortlich für Religion allgemein. Und zweitens ist eine gewisse Bekräftigung, ein Ausdruck der eigenen konservativen staatlichen Verhaltenslinie, immer wieder gut.

    […] Sie sind im Grunde von Vornherein beleidigt. Jenseits der Unterteilung in Konfessionen, gibt es im Prinzip auch eine Gemeinschaft aller Gläubigen, die mittlerweile mit Leib und Seele füreinander einstehen. Ungeachtet dessen, dass sie immer Erzfeinde waren, haben sie sich jetzt vereinigt gegen – man kann nicht mal sagen gegen die Atheisten, sondern gegen – Menschen, die ganz prinzipiell ein wenig gleichgültig sind gegenüber dem Glauben und entsprechend auch gegenüber den Gefühlen Gläubiger.~~~Во-первых, наши кавказские республики, в общем-то, сильно впереди всех остальных в религиозности. А поскольку здесь на повестке дня тема оскорбления чувств верующих, то у них в этом смысле большое право голоса – они себя ощущают немножко ответственными за вообще религиозность.

    И второе, некое подтверждение свое, там, консервативной государственной линии поведения лишний раз выказать хорошо. […]

    То есть они уже заранее обижены. Кроме деления по конфессиям есть еще такое, в принципе, сообщество верующих, которые теперь друг за друга горой. Несмотря на то, что они заклятые враги всегда были, но сейчас они объединились против не то, что даже атеистов, а против людей несколько равнодушных, в принципе, к вере и, соответственно, к чувствам верующих.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2017

    Snob: Großes Geschenk

    Iwan Dawydow geht beim virtuellen Debattenmagazin Snob auf die riesige PR ein, die mit der anhaltenden Diskussion und den Protestaktionen gegen Matilda verbunden ist – und macht darin auch etwas Gutes aus.

    [bilingbox] Die Filmtrailer zu Matilda (die ich selbstverständlich gesehen habe, wie wohl alle gutwilligen Menschen und Finstermänner des Vaterlandes) genügen, um mir zu zeigen, dass der Film nichts für mich ist. […] Aber anschauen muss ich ihn jetzt. Das ist wahrlich kein Geschenk – aber im Weiteren wird es nur noch um Geschenke gehen. Was bitte wusste noch vor zwei Jahren ein sogar ziemlich gebildeter russischer Bürger über Matilda Felixowna Kschessinskaja? Klar, ‘ne Ballerina. Primaballerina am Marinski. Getanzt hat sie.

    […] Nicht nur die Memoiren wurden [nun] gelesen. Sondern auch die im Auftrag der Duma-Abgeordneten Natalja Poklonskaja erstellte Expertise, die zeigen soll, dass Alexej Utschitels extremistischer Film die Gefühle von Gläubigen beleidigt. Erstens ist das eine äußerst amüsante Lektüre, und einen Anlass zum Lachen sollte man immer nutzen. Aber zweitens – und das ist natürlich wichtiger, denken die Leser vielleicht mal darüber nach, welche Art von Studien dazu führen, dass Menschen durch zahlreiche Paragraphen  unseres Strafgesetzes, die die Freiheit von Worten und Gedanken einschränken, büßen müssen. Haftstrafen, unvorstellbar hohe Geldstrafen werden verhängt, Leben zerstört. Je mehr Menschen das bewusst wird, desto höher sind die Chancen, dass die unerhörten Strafparagraphen verschwinden. Und dass die Richter, die nach diesen Paragraphen Urteile sprechen, zusammen mit den „Experten”, die die Beweisgrundlage liefern, losgeschickt werden, die Straßen zu fegen. Das ist doch ein wahrlich großzügiges Geschenk der Ballerina.~~~Трейлеров фильма «Матильда» (которые я, разумеется, видел, как видели их все люди доброй воли и все мракобесы отечества, похоже) достаточно, чтобы понять, что это — не для меня. […] Но смотреть теперь все-таки придется. Это, впрочем, не подарок, но дальше речь пойдет исключительно о подарках. Что знал обычный, даже не лишенный эрудиции, россиянин о Матильде Феликсовне Кшесинской года два-три назад? Ну, балерина. Прима Мариинского. Ну, танцевала. […]

    […] Читали ведь не только мемуары. Еще выполненную по заказу депутата Натальи Поклонской «экспертизу», призванную доказать, что экстремистский фильм Алексея Учителя оскорбляет чувства верующих. Во-первых, это очень смешное чтиво, а повод посмеяться никогда не бывает лишним. Но, во-вторых, что, конечно, важнее, прочитавшие, может быть, задумались, на основании каких изысканий людей карают по многочисленным статьям нашего УК, ограничивающим свободу слова и мысли. Дают реальные сроки, невообразимые штрафы, ломают жизни. Чем больше людей обратит на это внимание, тем больше шансов, что позорные карательные статьи исчезнут, а судьи, выносившие по ним приговоры, вместе с «экспертами», готовившими доказательную базу, отправятся мести улицы. Это по-настоящему роскошный подарок от балерины.[/bilingbox]

    erschienen am 11.08.2017

    Vedomosti: Zurückpfeifen gestaltet sich schwierig

    Was die Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja bei ihrem Kampf gegen den Film antreibt – wobei sie sich stets darauf beruft, dass sie mehrere Zehntausend Unterschriften und Hinweise aus der Bevölkerung erhält –, welche Auswirkungen es hat, dass sie die religiösen Gefühle Gläubiger verletzt sieht und wie das Kulturministerium darauf reagiert, betrachtet Xenia Bolezkaja in einem Kommentar für das liberale Wirtschaftsblatt Vedomosti.

    [bilingbox]Poklonskaja hat einen echten Fimmel: Nikolaus II. Im Jahr 2016 ging sie sogar mit einer Ikone des Märtyrer-Zaren auf eine Kundgebung des Unsterblichen Regiments. Das Antlitz des Imperators mitten unter den im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Soldaten, zudem noch in den Händen einer amtierenden Staatsanwältin, war befremdlich. Als Poklonskaja, dann schon als Dumaabgeordete, mit ähnlicher Ernsthaftigkeit  mitteilte, dass, nein, keine Ikone, sondern gleich eine Büste von Nikolaus II. in Simferopol Salböl weine, zuckte schon niemand mehr zusammen. Als gäbe es eine schweigende Übereinkunft: Nun, es kommt vor, dass russische Staatsanwälte-Parlamentarier ein bisschen spinnen, oder gar schlimmer. Tja, nun ist das Rad ins Laufen gekommen – und jetzt müssen sich ehemalige Kollegen und Staatsbeamte gegen Eingaben und Gesuche von Poklonskaja zu Matilda schon ganz ernstlich wehren.

    […] Wobei das Kulturministerium Poklonskaja sehr schlau abwehrt. Kein einziges scharfes Wort gegen sie, nur die Anregung, den Film erst einmal in Gänze anzuschauen und dann zu beurteilen. Erstens ist die harsche schöne Staatsanwältin eines der bedeutendsten Symbole von Krimnasch. Zweitens ist es sehr schwer, ein gerade erst losgelassenes Tier namens „Beleidigung der Gefühle von Gläubigen” zurück in den Käfig zu jagen. Ja wie könnte man denn die sehr sehr gläubige Poklonskaja packen und ihr barsch beibringen, dass Heilige eine Sache sind – und das Kino was ganz anderes ist. Besser man wartet ab.~~~Для Поклонской образ Николая II – настоящий пунктик. В 2016 г. она даже вышла с иконой царственного мученика на шествие «Бессмертный полк». Лик императора среди погибших во время Великой Отечественной войны солдат, да еще и в руках действующего прокурора смотрелся крайне удивительно. Так что когда Поклонская, уже депутат, с такой же серьезностью сообщила, что даже не икона, а бюст Николая II в Симферополе замироточил, уже почти никто не вздрогнул.

    Будто молча решили: бывают у российских прокуроров-депутатов причуды и похуже. Но вот маховичок раскрутился – и теперь от запросов Поклонской по «Матильде» уже совсем не в шутку вынуждены отбиваться бывшие коллеги и чиновники. […]

    Причем отбиваются от Поклонской очень аккуратно. Ни одного резкого слова против, только приглашения сначала посмотреть фильм целиком, а потом уже судить. Во-первых, суровый и красивый прокурор – один из главных символов «Крымнаша». Во-вторых, сложно загнать обратно в загон только разгулявшегося зверя под названием «оскорбление чувств верующих». Ну как же можно взять да и грубо сообщить очень-очень верующей Поклонской, что святые отдельно, а кино отдельно? Лучше переждать.[/bilingbox]

    erschienen am 14.08.2017

    Komsomolskaja Prawda: Natalja Poklonskaja

    Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda hat ein Interview mit Natalja Poklonskaja geführt und kritisch hinterfragt, wo ihre konkreten Probleme mit dem Film liegen. Allen voran stört sie sich an der Besetzung der Hauptrolle von Nikolaus II. mit dem deutschen Schauspieler Lars Eidinger.

    [bilingbox]Meinen Sie nicht, man hat sehr bewusst bestimmte Schauspieler für die Rolle des russischen Herrschers und die anderen Rollen ausgesucht?

    In Russland gibt es viele beeindruckende Schauspieler. Sind die uns irgendwie ausgegangen? Nein, es gibt sie. Orthodoxe. Aber den heiligen Märtyrer spielt ein deutscher Pornodarsteller. Haben die Filmemacher etwa nicht gemerkt, dass diese Gestalt den orthodoxen, gläubigen Menschen missfällt? Menschen, die ein Ehrgefühl haben, die die eigene Geschichte lieben? Die in die Kirche gehen und sich vor den Heiligen verbeugen. […]

    Heute erscheint das alles als Mysterium, aber vor hundert Jahren war das ein unwahrscheinlich grausamer Mord. Wie Tiere wurden der Herrscher und seine gesamte Familie ermordet. Es entsteht der Eindruck, dass hier eine  Opferdarbringung wiederholt werden soll.~~~[Р]азве не специально были подобраны конкретные актеры на роль русского государя и других персонажей?

    В России много удивительных актеров. Неужели они закончились? Нет, они есть. Православные. Но играет Святого мученика немецкий порноактер. Неужели создатели фильма не понимали, что его образ не устроит православных верующих, людей, уважающих собственное достоинство? Уважающих свою историю. Приходящих в церковь поклониться святым. […]

    Сегодня это кажется мистическим, но сто лет назад было совершено жестокое убийство. Зверски убиты государь и вся его семья. Складывается впечатление, что жертвоприношение планируется повторить.[/bilingbox]

    erschienen am 14.08.2017

    Das Interview mit Natalja Poklonskaja in Auszügen mit deutschen Untertiteln (Quelle: Komsomolskaja Prawda):

    dekoder-Redaktion

    Weitere Themen

    Die Kirche des Imperiums

    Aus und vorbei für Paragraph 282?

    Russisch-Orthodoxe Kirche

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

    Debattenschau № 54: Nurejew

    Krasser Cocktail

  • Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    „Genosse, dort sagt ein Mensch, er sei ein Außerirdischer: Da muss man doch etwas tun!“ Doch, was der Genosse dann macht, führt schnurstracks nach Pljuk in die Galaxie des gleichnamigen Films Kin-dsa-dsa!, wo eine hochentwickelte Zivilisation lebt. Deren Einwohner sehen zwar wie Menschen aus, besitzen jedoch telepathische Fähigkeiten und können sich durch Raum und Zeit beamen. Trotzdem ist das, was Regisseur Giorgi Danelia da im Jahr 1987 auf die Leinwand brachte, keine schöne, neue Welt. Hier offenbart sich eine vom Fortschritt völlig ausgelaugte Gesellschaft mit Bewohnern in zerlumpter Kleidung und einer absurden sozialen Ordnung, wo die einen mit gelben Hosen etwas gelten und die anderen mit Nasen-Glöckchen ausstaffiert werden.

    Vor Kin-dsa-dsa! hatte Danelia vor allem mit leicht gesellschaftskritisch angewürzten Komödien landesweite Publikumserfolge erzielt. Doch Kin-dsa-dsa! ist anders. Mit zwei Sowjetbürgern inmitten einer Wüstenlandschaft, die von einer verstörenden Begegnung zur nächsten stolpern, ist der wohl seltsamste Film sowjetischer Kinogeschichte gelungen: eine Art kunstvolle Zeitverschwendung als satirische Sci-fi-Persiflage.

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Als Kin-dsa-dsa! in die Kinos kam, war mit Glasnost und Perestroika die Hochzeit politischer Hoffnung und gesellschaftlicher Unsicherheit. Erste, bis dahin verbotene, Filme durften gezeigt werden, und die westliche Massenkultur sickerte in den Alltag ein, während dissidente Grundsatzkritik am sowjetischen Gesellschaftsprojekt immer häufiger erklang. Der meistgesehene Kinofilm des Jahres 1987 war die Western-Komödie Tschelowek s Bulwara Kapuzinow ( dt. Der Mann vom Kapuziner-Boulevard), die von Liebe, Eifersucht und dem Traum vom goldenen Westen handelt.

    Solche Wildwestromantik und Signale des Umbruchs bedient Giorgi Danelia nicht. Vielmehr versetzt er seine beiden Haupthelden in die öde Fremde des Wüstenplaneten Pljuk in der Galaxis Kin-dsa-dsa und erzählt eine Geschichte, die sowohl als sozialkritische Parabel auf den westlichen Kapitalismus wie auch als politische Allegorie auf die korrupte sowjetische Bürokratie gedeutet werden könnte. Keine Szene, kein Detail, das nicht eine Anspielung auf sowjetische kulturelle und politische Realien beinhaltet. 

    Sowjetische Realien in der Pljuk-Wüste

    Schon die Ankunft auf Pljuk ist ganz von Alltagsklischees geprägt: Die beiden Protagonisten wähnen sich zunächst in einer Kapstrana der Dritten Welt, in der die verarmten Einheimischen betteln und schnorren. Gleichzeitig tragen die beiden selbstgemachten Weinessig mit sich herum, was auf die blühende Schattenökonomie ihrer heimischen Mangelwirtschaft verweist.1 Ausgerechnet Streichhölzer, die zwar noch en Masse, dafür aber qualitativ so schlecht hergestellt werden, dass sie ständig abbrechen, erweisen sich auf Pljuk als begehrtes Luxusgut. So wie dieses billige Alltagsutensil hier gewissermaßen zum Symbol sowjetischer Misswirtschaft wird, gräbt Danelia auf 130 Minuten Spielzeit die allzu vertraute Vorstellungswelt des Sowjetbürgers um.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Der biedere Vorarbeiter Wladimir Maschkow (gespielt von Stanislaw Ljubschin), genannt Onkel Wowa, den seine Ehefrau nach Feierabend noch schnell für Makkaroni losschickt, und der schüchterne Student Gedewan Alexidse aus Batumi (gespielt von Lewan Gabriadse), genannt der Geiger, begegnen sich zufällig am Kalinin-Prospekt im Zentrum von Moskau, wo sie sich um einen vermeintlichen Obdachlosen kümmern wollen. Der stellt sich als Außerirdischer vor und fragt sie nach den Koordinaten ihres Planeten. Ehe sie sich versehen, bringt sie eine falsche Bewegung per Teletransporter nach Pljuk. Dort begeben sie sich auf die Suche nach dem knappen und teuren Treibstoff, den sie für die Rückkehr zur Erde benötigen. 

    Abweichler als Norm

    Ihre ersten Bekannten sind Uef und Bi, zwei Einheimische, die mit den strebsamen Sowjetbürgern so gar nichts gemeinsam haben. Letztlich erweisen sie sich als Begleiter, die den Gästen von der Erde andere Lebenswege und -formen nahebringen wollen. Das deutet Uef bereits bei seinem ersten Auftritt an, als er ihnen mit tänzelndem Schritt und leicht die Hüften schwingend entgegenkommt – nachdem Uef und Bi beinahe wie aus dem Nichts einem quietschenden Raumgleiter entstiegen und ein schräges Hupkonzert angestimmt hatten.

    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm
    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm

    Dieser tänzelnd-verführerische Gestus ist es, der sich durch den Film zieht und ihn einzigartig macht. Die Besetzung mit Jewgeni Leonow in der Rolle des Uef und Juri Jakowlew2 in der Rolle des Bi ist dabei entscheidend: Mit ihnen erscheinen zwei der populärsten Schauspieler der Sowjetunion in dieser flimmernden Wüstenhitze. Diesmal kommen sie als kosmische Wiedergänger von Fy und Bi (dt. Pat und Patachon) daher, tollpatschig, kindlich-betrügerisch und mit Hang zum Egoismus. In ihrer Komik geht es aber nicht so sehr darum – wie bei Pat und Patachon – die Automatismen des irdischen Alltagslebens zu entblößen. Stattdessen vermögen es die liebgewonnenen Filmschauspieler in der Rolle schräger Vögel, ein für den Zuschauer verstörendes Setting zu etablieren: Darin erscheinen die nonkonformistischen Lebensweisen als Norm. 

    Kulturkritik und Fortschrittspessimismus?

    Diese zerlumpten Figuren Uef und Bi haben zugleich einen solch verschmitzten Gleichmut an sich, dass die Filmkritiker bis heute ratlos sind, ob es sich bei dem Film eher um eine dystopische Komödie, philosophische Fabel, satirische Gesellschaftskritik oder doch eine absurde Groteske handele.3

    Das rührt auch daher, dass alle eingewebten gesellschaftspolitischen und filmhistorischen Anspielungen weder für die Pljuk-Bewohner noch die beiden Erdlinge von Relevanz zu sein scheinen. So lässt sich Kin-dsa-dsa! zum Beispiel auch als Parodie von Andrej Tarkowskis apokalyptischer Filmästhetik lesen.4 Die Tatsache, dass es auf dem Planeten keine Vegetation oder andere Lebewesen mehr gibt und einzig verrostete Raumgleiter, brüchige Blechbuden und unterirdische Bunkerkatakomben als Behausungen geblieben sind, deutet auf eine subtile Ökokritik hin. Doch scheint die zerstörte Umwelt die Helden keineswegs zu betrüben, im Gegenteil: Für ihre skurrilen Fortbewegungsmaschinen opfern sie lustvoll noch den letzten Rohstoff.

    Gleichzeitig werden bei der Darstellung dieser hochintelligenten Zivilisation sämtliche kolonialen Klischees über primitive Kulturen in abgelegenen Weltgegenden aufgerufen, die durch hierarchische Strukturen und diskriminierende Ausgrenzungen gekennzeichnet sind. Entsprechend werden Verstöße mit drakonischen Strafen belegt, und Onkel Wowa und der Geiger müssen als Migranten kleine, silberne Glöckchen in der Nase tragen. Die Begrüßungsrituale wirken zudem lächerlich, und es existieren gerade einmal ein paar Worte im Sprachgebrauch: Neben Ku als Universalwort und Kju als einzig zugelassenem Schimpfwort sind das noch einige technische Bezeichnungen, wie Pepelaz für Raumgleiter, Katse für Streichholz oder Grawizappa für ein zentrales Motorenteil in den Raumgleitern.

    Zelebrierte Desillusion

    So verlegt Danelias Film zwar viele aktuelle politische Themen und gesellschaftliche Konflikte in grotesk-verzerrter Form auf den Planeten Pljuk, doch von dem Reformwillen von Glasnost und Perestroika ist hier nichts zu spüren.  Die Dialoge und Konflikte sind meist belanglos, eine tiefere Figurenpsychologie oder kompliziertere Intrige gibt es nicht. Stattdessen bewegt sich der Film von einer trivialen Wüstenepisode zur nächsten, nur zum Ende gibt es etwas mehr Tempo. „Warum ist zum Beispiel den beiden einsamen Repräsentanten der dortigen ‚Fauna‘ – Bi und Uef – so viel Zeit gewidmet“, fragte seinerzeit der prominente Kritiker und Literaturhistoriker Wsewolod Rewitsch entrüstet: „Die Hauptcharakterzüge dieser kleinen Judasse werden bei ihrem ersten Auftritt deutlich und es kommen keinerlei weitere Schwierigkeiten oder Seelenwinkel hinzu. Ein Kunstwerk lässt sich nicht aus nichts bauen.“5

    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig
    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig

    Doch genau von dieser kunstlosen Zeitverschwendung handelt der Film, und sie lässt ihn nicht erst aus heutiger Sicht so irritierend wirken. Er appelliert an nichts, sondern bringt einfach die desillusionierte Welt des Moskauer und Leningrader Undergrounds auf die fantastisch verfremdete Bühne des Wüstenplaneten. Jener Subkultur, für die das große Säuferepos Die Reise nach Petuschki aus dem Jahr 1969 genauso steht wie das legendäre Café Saigon der 1980er Jahre auf dem Leningrader Newski-Prospekt, in dem die junge Bohème und Untergrund-Künstler wie die Jugend-Ikone Boris Grebenschtschikow ein- und ausgingen. 

    „Mama, was werde ich tun? Ku“

    In Danelias Film sind den stilsicher verwahrlost gekleideten Bewohnern von Pljuk die großen Versprechungen der Politik schlicht völlig egal. Schon bald sehen sich die unbedarften Weltraumreisenden Onkel Wowa und der Geiger genötigt, sich auf die Weltauffassung der Pljukschen Bewohner einzulassen. Begegnen sie den chaotisch-egoistischen Einheimischen Uef und Bi anfangs noch mit sowjetischem Hochmut, süffisantem Spott und auffahrender Geste, lässt Danelia sie schließlich gemeinsam hupend und fiedelnd mit ihren Begleitern auftreten. Der Inbegriff dieses Lebensstils findet sich in jenen Liedzeilen, die die beiden gleich mehrmals zum Besten geben und die ihnen gewissermaßen das Sesam-Öffne-Dich zum Verständnis dieser anderen Welt sind. „Mama, Mama, was werde ich tun? Ku./ Mama, Mama, wie werde ich leben? Yyyyy! Y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, yyyyy.“

    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden
    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden

    In durchgeschwitzten, dreckigen Hemden krächzen die beiden Männer ihr schrulliges Liedchen und begleiten es mit einer quietschenden Geige und einer Rassel in monotoner Tonlage ohne jede Harmonie. Das Infantile und Stupide wird in diesen Zeilen lustvoll zur Schau gestellt, die sich in ihrer Verknüpfung von kindlichen Grundsatzfragen („wie werde ich leben?“) an die Mutter mit banalem Nonsens („… y-ku, y-ku …“) um keinen Sinn, keine Moral, keine Gesellschaftskritik scheren. Und gerade dadurch begeistern sie jene Wüstenbewohner, die eine Art subkulturelle Gemeinschaft der Aussteiger im extraterrestrischen Sand darstellen und in einer Welt leben, deren gesellschaftspolitisches System sogar noch öder und diktatorischer ist als die sowjetische Gegenwart der 1980er Jahre.

    Kult und Refugium

    Fast wie in einem Road Movie entdecken Onkel Wowa und der Geiger zum Ende des Films in der amoralischen und spielerischen Unbedarftheit ihrer Pljuk-Gefährten ein eigenes Ideal von nonkonformer Freiheit für sich9:  Dass diese Lust am Anderssein damals nicht dem Mainstream entsprach und mit 15,7 Millionen Kinozuschauern eher mager besucht war, verwundert nicht, dürstete man doch eher nach politischen Visionen, skandalösen Enthüllungen oder den verbotenen Früchten aus dem Westen. Die befremdliche Albernheit von Kin-dsa-dsa! ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden – und mit seinen Zitaten und Gesten als Refugium für abweichendes Verhalten bis heute weiterleben.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 03.08.2017


    1.Ursprünglich war hier im Filmskript Selbstgebrannter vorgesehen, was die Zensur aber verhinderte. Dass die Glasflasche jedoch eher hochprozentigen Alkohol als Essig enthielt, war seinerzeit auch so für jeden Zuschauer erkennbar. Die Anspielung ist im Kontext der Anti-Alkohol-Kampagne zu verstehen, die Staatschef Michail Gorbatschow 1985 initiiert hatte und im Zuge derer er in Georgien massenweise uralte Weinreben abholzen ließ.
    2.Zunächst war Alexei Petrenko für die Rolle des Bi vorgesehen, der in seiner Exzentrik vielleicht noch stärker das Grotesk-Faszinierende des ungleichen Männerpaares zum Ausdruck gebracht hätte, der aber nach Lektüre des Drehbuchs auf eine Teilnahme am Film verzichtete.
    3.vgl. beispielsweise Kušnirov, M. (1987): Na tretjem dychanii, in: Iskusstwo kino 7 (1987), S. 48-59; Smith, Michael Thomas (2017): Kyu, A Semantic Analysis of Kin-Dza-Dza!, in: Quarterly Review of Film and Video (21.07.2017), S. 1-10
    4.Genauso sind beispielsweise Verweise auf Pier Paolo Pasolini offensichtlich, vgl. hierzu Braguinski, Nikita (2012): Kin-dsa-dsa!, in: Vassilieva, Ekaterina; Braguinski, Nikita (Hrsg.): Noev kovčeg russkogo kino: Ot ‚Sten’ki Razina‘ do ‚Stiljag‘, Vinnytsia, S. 393-397
    5.Rewitsch, Wsewolod (1987): Ku-ku! (Dva mnenija o filme Kin-dsa-dsa!), in: Sovetskaja kul’tura, 07.04.1987, S. 5
    6.Im selben Jahr wie Kin-dsa-dsa! kam der Dokumentarfilm Vai viegli būt jaunam? (Ist es leicht jung zu sein?, 1987) des lettisch-sowjetischen Regisseurs Juris Podnieks in die Kinos, der zum ersten Mal überhaupt nonkonformistische Jugendkulturen in der Sowjetunion für ein größeres Publikum medial sichtbar machte; zur urbanen Poetik des Underground, vgl. Kliems, Alfrun (2017): Der Underground, die Wende und die Stadt: Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa, Bielefeld
    7.Bei dem Liedchen handelt es sich um ein bekanntes russisches Couplet aus den 1920er Jahren, das hier sowohl von der Melodie als auch vom Text her in stark verstümmelter Form wiedergegeben wird.
    8.Inbegriff dieser Sinnlosigkeit des Films war für viele Kritiker der Filmtitel, der sich einer klaren Herleitung – manche verwiesen auf georgische Anklänge – entzieht und nicht nur darin an den postutopischen Film O-bi, o-ba. Koniec cywilizacji (dt. O-bi, o-ba: Das Ende der Zivilisation) des polnischen Regisseurs Piotr Szulkin aus dem Jahr 1984 erinnert.
    9.Schließlich wird ihrer Begegnung auch ein homoerotisches Begehren eingeschrieben, wobei das in der vor allem von körperbetonten Männern bevölkerten Welt des Kin-dsa-dsa! an vielen Stellen offensichtlich ist, aber lediglich in einer – gleich zweimal gezeigten – Szene zweier in einer Wanne an einem verschlossenen Ort gemeinsam Badenden explizit gemacht wird. Alexander Sokurow wird ein Jahr später in seinem Film Tage der Finsternis dieses Begehren noch sehr viel expliziter auf die Leinwand bringen, dessen Handlung vielleicht nicht ganz zufällig ebenfalls in einem Wüstengebiet in Zentralasien spielt, dort, wo auch Kin-dsa-dsa! gedreht worden ist.

    Weitere Themen

    Kommunalka

    Pionierlager Artek

    Kino #1: Ironija Sudby

    Kino #2: Aelita

    Sowjetische Eiscreme

    Kino #7: Mne dwadzat Let

  • „Der Westen hat Russland abgewiesen“

    „Der Westen hat Russland abgewiesen“

    Wer ihn einordnen will, der greift daneben: Regisseur Andrej Kontschalowski. Wie eine Art Zwitterwesen aus Konservativem und Liberalem changiert der ältere Bruder des berühmten Schauspielers und Regisseurs Nikita Michalkow zwischen den politischen Lagern. Seine Ideen über Russland sind noch gespeist von den Positionen russischer Philosophen wie Berdjajew. Als Opfer der Tauwetter-Zensur geht ihm die Freiheit jedoch über alles, 2012 unterschrieb er etwa einen Brief zur Unterstützung von Pussy Riot.

    Sein neuester Film Rai (dt. Paradies) kommt diesen Donnerstag in die deutschen Kinos, 2016 gewann Kontschalowski in Venedig den Silbernen Löwen dafür. Es geht darin um drei unterschiedliche Protagonisten – einen SS-Offizier, einen französischen Kollaborateur und eine emigrierte russische Aristokratin. Ihre Wege kreuzen sich während des Zweiten Weltkriegs.

    Katerina Gordejewa traf den Regisseur für Meduza, um mit ihm über den Film zu sprechen. Es ging dann aber vor allem um den besonderen Weg Russlands, die Beziehung zum Westen, bäuerliches Bewusstsein und die Notwendigkeit von Zensur. Immer wieder ist das Gespräch auch eine kleine Lehrstunde in Mansplaining.

    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski /  Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant
    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski / Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant

    Meduza: Ihr Film Paradies hat mich extrem beeindruckt. Ich verstehe, dass man Sie in Venedig mit stehenden Ovationen gefeiert hat.

    Andrej Kontschalowski: Danke.

    Auch das russische Kulturministerium war an Paradies beteiligt. Das scheint mir ja mal eine richtig gute Investition. Noch nie sind Gelder, die für Propaganda bewilligt wurden, derart intelligent eingesetzt worden: Ein glänzend gemachter Film erzählt der Welt – ganz europäisch – von der Wichtigkeit und Größe der russischen Idee. Hat Ihnen das von vorneherein so vorgeschwebt?

    Das Kulturministerium wird sich durch Ihre Meinung geschmeichelt fühlen, nehme ich an. Mir fällt es schwer, in solchen Kategorien zu denken und über irgendwelche Interessen zu sprechen. Jedenfalls kann man in dem Moment, in dem man an einen Stoff herangeht, schwer die Aussagen im Kopf haben, die sich im Laufe des Schaffensprozesses möglicherweise entwickeln. 

    Sie fragen einen Komponisten ja auch nicht, welche Idee er der Welt offenbaren, wovon er die Menschheit überzeugen wollte, denn Musik ist eben Musik.

    Was Komponisten nie daran gehindert hat, sich auf kreative Weise zu diversen aktuellen, auch politischen Fragen zu äußern. Aber sprechen wir über Paradies. Ihr Film berührt gleich mehrere Themen, die für die verschiedenen Länder und Kulturen äußerst schmerzhaft sind: den Holocaust, die französische Résistance, die Idee der Auserwähltheit der Russen als Retter und Befreier der gesamten Menschheit. 

    All das, was sie nennen, ist schließlich das Ergebnis. Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz. 

    Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen – das ist ein etwas anderes Thema als der Holocaust. Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein ….

    … der Tschechow liebt …

    Ja, der Tschechow liebt, ein aristokratischer, schöner Mensch, eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Für mich ist es sehr wichtig, dass er diesen trüben Fluss des Bösen betritt und die Strömung ihn fortträgt.

    Welche Reaktion in Frankreich erwarten Sie vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel Alexander Sokurows Francofonia, ein Film, der ebenfalls das Thema Résistance und Kollaboration aufwirft, in Frankreich Probleme mit dem Verleih hatte: Das Außenministerium intervenierte gegen die Vorführung in Cannes, das französische Kulturministerium und sogar der Louvre haben sich quasi von dem Film distanziert. Wie es aussieht, sind die Franzosen nicht gerade erpicht darauf, dass Außenstehende sich dieser Themen annehmen. 

    Ich habe Sokurows Film leider noch nicht gesehen, aber ich bedaure sehr, wie die Jury in Venedig mit ihm umgegangen ist [Francofonia lief 2015 im Wettbewerb, erhielt aber keine der wichtigen Auszeichnungen – Anm. Meduza]. Das war sehr ungerecht. 

    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK
    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK

    Den Franzosen ist es außerordentlich unangenehm, ihre eigene Vergangenheit wieder ans Licht zu zerren. Und es war eine vollkommen richtige Entscheidung von de Gaulle damals, alle Akten von Kollaborateuren für 60 Jahre zu sperren. Erst heute, wo die Leute alle schon gestorben sind, werden die Archive geöffnet. 

    Wissen Sie, warum de Gaulle diese Entscheidung getroffen hat? Weil er verstanden hatte, dass man die Gesellschaft nicht spalten darf. Halb Frankreich hatte ja mit den Deutschen kollaboriert, also wenn wir ganz ehrlich sind, sogar der überwiegende Teil der Franzosen. 

    Finden Sie das wirklich richtig? Auf unser Land übertragen würde das ja heißen: Das Unglück liegt nicht darin, dass es 1991, als die KPdSU zerschlagen und die UdSSR aufgelöst wurde, keine Lustration gab. Sondern darin, dass man überhaupt angefangen hat diejenigen zu benennen, die Menschen hinter Gitter gebracht, denunziert und erschossen haben?

    Jede Geschichte hat ihre Ambivalenzen und es geht um weitaus tieferliegende Zusammenhänge von Ursache und Wirkung als um die bloße Auflistung der Verbrechen irgendwelcher Bastarde. Davon handelt im Grunde auch mein Film. 

    Was die Auflösung der Kommunistischen Partei betrifft, kann man das kaum als glückliche politische Entscheidung bezeichnen. Man darf nicht vergessen, dass die kommunistischen Ideen das Hoffen und Streben einer großen Zahl von Menschen verkörperten. Diese Menschen glaubten inbrünstig und aufrichtig an diese Ideen. Das waren ganz normale, ehrliche Leute. Sicher waren sie auch mit manchem unzufrieden, aber die 1960er Jahre – sprich die Zeit nach der Entstalinisierung – war für sie keine gute Zeit. Sie konnten nichts gegen die in der Chruschtschow-Ära entstandene, nennen wir es, Gedankenwelt tun, aber sie träumten keineswegs davon, dass man ihr Leben und ihre Ideale in den Dreck zog.

    Eine andere Zeit war angebrochen: All die Ideen, an die sie geglaubt hatten, waren in Verruf geraten, und Stalin wurden alle Sünden angehängt, die eigentlich diejenigen zu verantworten hatten, die die Entstalinisierung eingeleitet hatten. 

    Na und dann, wie ging es weiter? Sind alle Russen gute Menschen geworden? Haben sie aufgehört, in den Hauseingang zu pissen? Und ihren Müll aus dem Fenster zu werfen? Dass ich nicht lache.

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen. Zumal es unmöglich ist, damit abzuschließen. Nehmen Sie zum Beispiel China: der Mao-Kult ist bis heute ungebrochen, und mit dem Land geht es voran.

    Also ich würde ungern China als Beispiel nehmen und ungern so leben wie in China. Sie vielleicht?

    Ich schlage Ihnen ja nicht vor, in China zu leben, sondern die politischen Probleme zu lösen wie die Chinesen. Ein politisches Problem in einem archaischen Land zu lösen ist eine völlig andere Sache als in Jugoslawien oder sonst irgendwo in Osteuropa. 

    Leben wir denn in einem archaischen Land?

    Meiner Ansicht nach lebt ein gewaltiger Teil unseres Landes in einem archaischen Wertesystem. Bei uns ist das Heidentum mit dem Kommunismus verwoben und der Kommunismus mit der Orthodoxie. Und jede Regierung in Russland, auch die jetzige, ist die Regierung eines sozial ausgerichteten Staates. 

    Inwiefern? 

    Insofern, als dass die Regierung sich verpflichtet fühlt, Menschen zu versorgen, die kein Interesse daran haben, viel zu arbeiten und zu verdienen und sich mit wenig begnügen. Man kann Menschen schwerlich gegen ihren Willen dazu bringen, „Business“ zu treiben. Es geht nicht darum, dass jemand sie nicht lässt, sondern darum, dass dem russischen Menschen daran nichts liegt. 

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit der Russen etwas gelegen

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit etwas gelegen. Würde ihnen etwas daran liegen, würden sie sie sich ohne Weiteres nehmen. Freiheit wird einem schließlich nicht gegeben, man nimmt sie sich! Aber den Menschen liegt nichts daran. Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir von der russischen Nation sprechen und nicht von den Bürgern, die innerhalb des Moskauer Gartenrings leben.

    Das erinnert daran, wie sich die Rhetorik Wladimir Putins gewandelt hat: Zu Beginn seiner Präsidentschaft hob er ja gerne auf die europäischen Werte und auf Russland als Teil Europas ab, später war davon dann immer weniger und heute ist davon überhaupt nicht mehr die Rede.

    Mir scheint, Sie haben eine falsche Wahrnehmung von dem, was passiert ist. Russland hatte sich tatsächlich darum bemüht, zum europäischen Gebiet dazuzugehören. 

    Der Westen hat Russland abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika

    Das war Putins Plan, der von seinen Überzeugungen her selbstverständlich der größte Europäer im ganzen Land ist. Doch der Westen hat Russland abgewiesen, hat Putin abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika: ein großartiges Land mit einer Menge Scheiße ringsherum und einer bettelarmen Armee. Putin hat das verstanden. Und es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Armee aufzubauen und Verbündete im Osten zu suchen.

    Behagt Ihnen diese Kehrtwende?

    Ich war früher ein Befürworter der Westorientierung Russlands und glaubte damals auch, Russland hätte nur einen Weg – nämlich den nach Westen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es diesen Weg für uns nicht gibt. Und Gott sei Dank sind wir auf dem Weg in diese Richtung stark zurückgefallen.

    Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Man darf die Menschenrechte eben nicht über alles stellen

    Denn Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Die Ursachen dieser Katastrophe liegen darin, dass man die Menschenrechte eben nicht über alles stellen darf. Die Rechte eines Menschen sind immer im Zusammenspiel mit seinen Pflichten zu sehen. [In Europa] hat man sich von den traditionellen europäischen, also den christlichen, Werten verabschiedet.

    Für Sie ist Wladimir Putin also wirklich ein Europäer?

    Für Sie nicht? Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie nicht den gesamten Verlauf seiner Präsidentschaft im Blick haben. Er ist Europäer, ja, und zwar sowohl vom Kopf her als auch durch seine persönliche Erfahrung, er hat ja in Europa gelebt.

    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“
    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“

    Ich glaube, als er die Führung des Landes übernahm, hatte er bestimmte Ideen, die sich unter dem Druck der inneren und äußeren Umstände später stark verändert haben. Er kam in ein vollkommen zerstörtes Land und stand vor der Aufgabe, eine gigantische archaische Masse von Menschen zu regieren, die dem Staat gegenüber extrem ablehnend eingestellt waren. Seine Bemühungen waren zuallererst darauf gerichtet, den Zerfall abzuwenden. Im Grunde finde ich es unvorstellbar, wie er das geschafft hat.

    Putin als Westler, als Mensch, der hervorragend deutsch spricht und mit der Weltkultur vertraut ist, hatte natürlich die Illusion, dass Russland nach Europa zurückkehren müsse. Doch in Europa sagten sie zu ihm: „Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.“ 

    In Europa sagten sie zu Putin: ,Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.‘


    Putins Münchner Rede war das Resultat einer kolossalen Enttäuschung hinsichtlich seiner Europa-Ideen, verbunden mit der Einsicht, dass ein Leben in dem Teil der Welt bevorsteht, der von einer Zivilgesellschaft noch weit entfernt ist. 

    Das sind alles äußerst schwierige Probleme, die für uns beide, die wir hier innerhalb des Moskauer Gartenrings sitzen, nicht erkennbar sind, aber das Land zu führen ist ohne diese Einsicht nicht möglich.

    Meine Schlussfolgerung wird Ihnen nicht gefallen: Wir sind nicht Westeuropa und wir werden es nie sein, und es hat auch keinen Sinn, sich darum zu bemühen.

    Wann ist Ihnen das klar geworden? Wie hat sich diese Veränderung vollzogen: Bis zu einem bestimmten Moment waren Sie Kontschalowski, der zum Beispiel mir immer durchaus wesensverwandt schien, und dann …

    … wann ich zu Michalkow geworden bin, meinen Sie?

    Ja. Danke, dass Sie das jetzt selbst ausgesprochen haben.

    Strengen Sie mal Ihr hübsches kleines Köpfchen an und denken Sie so an die 20 Jahre nach – da werden Sie sich auch verändern. Denkende Menschen ändern öfter mal ihren Standpunkt. Nur Idioten verändern sich nicht. Was mich stark beeinflusst hat, war mein Leben an dem See Kenosero, wo ich den Postboten gedreht habe. Das Leben mit Menschen, die mit allem, was sie tun, im Einklang sind, die weder Wladimir Putin noch Wladimir Posner etwas angeht. Sie leben in der reinsten Archaik, in der geradezu bewundernswerten Welt ihrer shakespearehaften Harmonie. Oder gar der einer antiken Tragödie.

    Wie äußert sich das?

    Diese Menschen dort streben nach nichts. Die lassen sich weder in den Kapitalismus noch ins private Unternehmertum treiben. Natürlich gibt es dort absolut großartige Menschen, aber ein Bürgertum, das dynamisch ist und Verantwortung für das Land empfindet, ist das nicht. Ein Bürgertum hat es nie gegeben und gibt es bis heute nicht. Auch das ist eins der Probleme der russischen Geschichte – das sollte man nicht einfach so übergehen.

    Sie waren also früher Liberaler und dann haben Sie sich unters Volk begeben und sind als vollkommen neuer Mensch zurückgekehrt. Kann man das so sagen?

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Warum müssen Sie denn derart vereinfachen? Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand, schon allein deshalb, weil ich 40 Jahre älter bin als Sie. 

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand

    Und ich bin nach und nach zu der Überzeugung gelangt: Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern. Und um die Mentalität zu verändern, muss man das kulturelle Genom verändern. Und um das kulturelle Genom zu verändern, muss man es zuerst in seine Bestandteile zerlegen, gemeinsam mit den großen russischen Philosophen – also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung begreifen, der in unserem Land bis heute noch nicht erforscht ist. Und erst dann kann man entscheiden, wohin es gehen soll.

    Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern

    Es ist naiv zu glauben, wenn alle lesen und schreiben können, verändert das den Menschen. Zum Beispiel gilt „Business“ in der russischen Vorstellung als Diebstahl. Vom Moskauer Gartenring aus ist das keineswegs augenfällig, aber so ist es. Und das ist nicht alles. Dort draußen, hinter dem Ring, hinter Moskau, da gibt es vollkommen andere Werte und Menschen: Die wollen, dass der Staat sie in Ruhe lässt. Und das heißt, sie sind keine Staatsbürger, sondern Bevölkerung. Millionen Russen sind schlicht Bevölkerung. Von welchen Bürgerinitiativen reden wir da?

    Sie sprechen von einem kulturellen Code, der die Russische Nation prägt. Was genau meinen Sie?

    Bei uns herrscht ein bäuerliches Bewusstsein. Der russische Mensch hat vorbürgerliche Werte: „Das Hemd ist mir näher als der Rock“, „Rühr mich nicht an, dann rühr ich dich nicht an“ „’Ach, wählen gehen – wozu soll das gut sein.’ ‘Hingehen muss man, sonst kommen sie und scheuchen einen oder bestrafen einen sogar.’“

    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“
    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“

    Das bäuerliche Bewusstsein ist die Abwesenheit des Wunsches, an der Gesellschaft teilzunehmen. Alles, was außerhalb der Interessen der eigenen Familie liegt, löst im besten Falle Gleichgültigkeit, im schlimmsten Falle feindselige Reaktionen aus. 

    Die Entstehung des Bürgertums in Europa hat das republikanische Bewusstsein hervorgebracht. Die Republik ist ja die Gesellschaft der Bürger. In Russland gab es ein republikanisches Bewusstsein in ganzen zwei Städten, und zwar in Pskow und in Nowgorod. Und darüber hinaus niemals und nirgends. Im Übrigen wurde auch diese Wiege [des Republikanischen – dek] plattgemacht. 

    Das Plattmachen gehört ja nun zu den Traditionen, die in unserem Land von jeher akkurat befolgt werden. Kaum dass irgendetwas Neues, Frisches sein Haupt erhebt, fängt es sich schon eine klatschende Ohrfeige ein: Bleib bloß weg hier, wag ja keine Experimente, untersteh dich, irgendwelche Gefühle zu beleidigen. Wir leben in einer Zeit der Renaissance von Denunziation und des Triumphs der Zensur.  

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören. Ihren Fragen entnehme ich, dass Sie keine Ahnung haben, was wirkliche Zensur und echtes Denunziantentum bedeuten. Ich persönlich bedaure, dass es keine Zensur gibt. Die Zensur hat die Menschen noch nie daran gehindert, große Kunst zu erschaffen. Cervantes hat zur Zeit der Inquisition Meisterwerke geschaffen, Tschechow schrieb all das, was er der Zensur wegen nicht in einem Theaterstück unterbringen konnte, in Prosa.

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören

    Denken Sie vielleicht, Freiheit bringt Meisterwerke hervor? Niemals. Große Kunst wird durch Beschränkungen hervorgebracht. Schöpferisch bringt die Freiheit dem Künstler gar nichts. Zeigen Sie mir mal diese Scharen von Genies, auf die die Zensur Druck ausübt? Die gibt es nämlich nicht.

    Leider ist es mit der Kultur im umfassenden Sinne des Wortes bei uns vorbei, es gibt keine Regisseure mehr. Denn bei Lichte besehen – was ist Regie? Regie bedeutet Reichtum an künstlerischen Assoziationen, das ist die unermessliche kulturelle Basis, ohne die ist alles nichts, alles andere sind Späßchen und Pointen. Die findet man bei unseren heutigen jungen Regisseuren jede Menge, aber künstlerische Assoziationen – Fehlanzeige. Darin liegt das Unglück und nicht in irgendeiner angeblichen Zensur. Da werden einfach Begriffe vertauscht.

    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“
    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“

    Genauso wie man heute gerne behauptet, es werde die Geschichte umgeschrieben, Ereignisse würden unterschlagen … In den letzten 20 Jahren ist so viel sogenannte Wahrheit geschrieben worden, die sich dann später als Nicht-Wahrheit erwiesen hat. Und wissen Sie warum? Weil Geschichte immer subjektiv ist. Die Wahrheit in der Geschichte kann überhaupt nicht triumphieren, weil Geschichte immer im Sinne desjenigen interpretiert wird, der sie interpretiert. Objektive Geschichte – das ist eine gewaltige Illusion. Wieder einmal eine. Nun ja, das Leben besteht aus Illusionen.

    Es hat wohl niemand irgendwelche Zweifel daran, dass Hitler ein blutiger Verbrecher war. An den Verbrechen des Nationalsozialismus zweifelt keiner. Wenn wir es rein rechnerisch betrachten wollen: Stalin hat eine vergleichbare Anzahl von Menschen getötet, sogar seine eigenen Leute. Aber heute ist diese Tatsache bei uns offenbar wieder strittig.

    Nehmen Sie einen chinesischen Kaiser aus dem 13. Jahrhundert, zu dem die Chinesen ins Mausoleum strömen – der hat innerhalb von zwei Wochen vierhunderttausend Menschen umgebracht. Ich frage also: „Aber der hat doch viele Leute getötet?“ Und kriege zur Antwort: „Stimmt, hat er, aber er ist doch ein Teil unserer Geschichte. Und wir besuchen hier sein Grab.“

    Na sicher, wenn ein Tyrann die Menschen umbringt, das ist eine eindeutige – und blutige – Katastrophe. Und natürlich war Hitler ein Wahnsinniger, aber vergessen Sie nicht, dass der Großteil der Deutschen ihn gewählt hat.

    Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Film zurückkommen. Am Schluss von Paradies heißt es „Wir sind Russen, mit uns ist Gott“, fast wörtlich wird das so gesagt, ohne dass es mit irgendwelchen Reflexionen verbunden wäre. Quasi: So ist es halt – alles wissenschaftlich erwiesen. 

    Glauben Sie wirklich, das könnte unsere Nationalidee sein und damit könnten wir im Westen für uns Werbung machen?

    Derart frontal wird das im Film nicht gesagt. Die Protagonistin spricht allgemein davon, was menschliche Selbstaufopferung bedeutet - das ist ja ihr Lebensthema. Die ganze Erfahrung dieses Films ist für mich neu. Ich muss dazu sagen, dass mit meinem letzten Film, dem Postboten Trjapizyn, mein neues Regie-Leben angefangen hat. Paradies ist jetzt der zweite Film in diesem Leben, bei dem ich meine Rolle als Filmschaffender oder Künstler anders verstehe.

    Was heißt das?

    Ich versuche, die Gesetze des Films zu verstehen, die nicht offenliegen. Es ist nämlich eine Illusion, dass wir wissen, wie man Kino macht. Bei den Surrealisten hat es Versuche gegeben, das herauszukriegen, Buñuel in den naiven 1920er Jahren. Aber dann wurde Buñuel sehr tiefsinnig, und seine formale Suche nach anderer Bedeutung hatte ein Ende. Und jetzt versuche also auch ich diese neue Kinosprache für mich zu erkunden, solange ich noch am Leben bin. 

    Ich habe Abstand zu dem gewonnen, was ich früher gemacht habe, und inzwischen eine ganz neue Haltung zum Film als Ton- und Bildkunst entwickelt. Mit einem Mal habe ich begriffen, dass es nicht mehr braucht als Ton und Bild, das sind ausreichend Ingredienzien für eine ganze Symphonie, verstehen Sie? Bloß Ton und Bild. Keinerlei unnötiges Beiwerk.
     

    Weitere Themen

    „Russland fällt immer weiter zurück“

    Die Fragen der Enkel

    „Sie sehen die Dinge einseitig!“

    Die Täter-Debatte

    Umzingelt von Freunden?

  • Debattenschau № 54: Nurejew

    Debattenschau № 54: Nurejew

    Drei Tage vor der Uraufführung, am 8. Juli 2017, kündigte der Generaldirektor des berühmten Bolschoi-Theaters in Moskau an, dass die Premiere des Balletts Nurejew von Kirill Serebennikow verschoben wird. Sie soll erst im Mai 2018 stattfinden. Die offizielle Begründung lautet, dass das Stück noch nicht aufführungsreif sei. Die Entscheidung wurde nach der ersten Durchlaufprobe getroffen. 
    Auch wenn es auch im Bolschoi-Theater keine Ausnahme ist, dass ein Ballett kurz vor der Premiere abgesetzt wird, löste diese Maßnahme eine breite Diskussion in den russischen Medien aus. Für die gab es gleich mehrere Auslöser:
    Die staatliche Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte eine Meldung, die Absetzung sei auf „Anordnung von Kulturminister Wladimir Medinski“ erfolgt. Die Formulierung wurde innerhalb weniger Stunden korrigiert, Medinski habe die Absetzung befürwortet, so heißt es nun auf der Webseite von TASS. Inwieweit der Staat die Kultur kontrolliert, wurde in den Medien breit diskutiert.

    Tränen am Bolschoi – Warum wurde das lang erwartete Ballett „Nurejew“ aufgeschoben? / Foto © Kirill Serebrennikow/Facebook
    Tränen am Bolschoi – Warum wurde das lang erwartete Ballett „Nurejew“ aufgeschoben? / Foto © Kirill Serebrennikow/Facebook

    Die Debatten kreisen aber auch um Rudolf Nurejew (1938–1993) und Autor und Regisseur Kirill Serebrennikow:

    Der schwule Nurejew war Solotänzer im Mariinski-Theater in St. Petersburg, der 1961 mit den Gastspielen die UdSSR verließ und politisches Asyl in Frankreich beantragte. Kirill Serebrennikow leitet seit 2012 das von ihm gegründete Gogol-Zentrum in Moskau, das im Juni ins Zentrum eines Korruptionsskandal geriet. 

    Was waren die tatsächlichen Gründe für die Absetzung? Ist das Thema Homosexualität zu „heiß“ für russische Bühnen? Oder Regisseur Serebrennikow einfach zu provokant? Und welche Rolle spielt dabei Kulturminister Medinski? Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.

    The New Times: Was hatte das Bolschoi erwartet?

    Im unabhängigen Wochenmagazin The New Times wundert sich Katerina Gordejewa über das Bolschoi Theater:

    [bilingbox]Möglicherweise liegen ja in Nurejews Biographie Antworten auf die Frage, was am Bolschoi Theater kurz vor der Premiere des Stücks über sein Leben und Werk, über Liebe und Hass geschehen ist.
    […]
    Welcher Teil seiner Biographie könnte sich 2017 in Russland und für einen russischen Zuschauer als unwichtig, unbedeutend oder gar verboten erweisen: Der Zug? Die verbannte Lehrerin? Die Flucht in den Westen? Die Homosexualität? Oder vielleicht die Krankheit

    Was hatte die Leitung des Bolschoi Theaters erwartet, als sie den Vertrag mit Serebrennikow abschloss? Dass es um einen anderen Nurejew gehen würde, dessen Leben Kirill Serebrennikow mit irgendwelchen für ihn völlig untypischen Mitteln erzählen würde? ~~~Возможно, в биографии Нуреева можно отыскать ответы на вопрос о том, что произошло в Большом театре накануне премьеры постановки о его жизни, творчестве, любви и ненависти. 
    […]
    Какая часть его биографии в 2017 году в России и для российского зрителя может оказаться неважной, несущественной или даже запретной: поезд? ссыльная учительница? побег за границу? гомосексуальность? или, может быть, болезнь? На что рассчитывало руководство Большого театра, заключая контракт с Серебренниковым: что это будет какой-то другой Нуреев, чью жизнь какими-то несвойственными себе способами расскажет […] Кирилл Серебренников?[/bilingbox]

     

    erschienen am 10.07.2017

    Moskowski Komsomolez: Regisseur als Aushängeschild

    Feuilleton-Redakteurin Marina Raikina listet im staatsnahen Moskowski Komsomolez vor allem inoffizielle Gründe für die Absetzung des Ballets auf – und sieht einen wesentlichen Grund im Regisseur selbst:

    [bilingbox]Es gibt nur einen offiziellen Grund: die Unfertigkeit des Stücks. Inoffizielle Gründe gibt es allerdings zuhauf: von der Unzulässigkeit, Homosexualität auf der wichtigsten Bühne des Landes […] zu thematisieren, bis hin zur politischen Verfolgung von Kirill Serebrennikow. Brächte jemand anders als Serebrennikow Nurejew auf die Bühne, gäbe es wohl kaum so einen Lärm und keiner hätte seine „Rohheit“ bemerkt. 

    Wie dem auch sei, dieser Fall beweist (wie schon viele andere zuvor): Ein Künstler, der sich bereit erklärt, das „Aushängeschild“ für irgendwelche politischen Kräfte zu sein, muss sich darauf einstellen, dass man „Aushängeschildern“ nachjagt und sie früher oder später zerfetzt – entweder machen es die Anhänger oder die Gegner.~~~Официальная причина только одна — неготовность спектакля, зато неофициальных масса: от недопустимости темы гейства на главной сцене страны […] до политического преследования Кирилла Серебренникова. Но если бы «Нуреева» делал не Серебренников, вряд ли бы поднялся такой шум и никто бы не заметил его «сырости». Как бы там ни было, но этот случай (а до него масса других) доказывает: художник, согласившийся быть «знаменем» тех или иных политических сил, должен быть готов к тому, что со «знаменем» носятся, но рано или поздно порвут — чужие или свои.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.07.2017

    Telegram/Alexej Wenediktow: „Nichts Persönliches”

    Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, macht in seinem Telegram-Kanal ganz andere für die Absetzung des Stückes verantwortlich:

    [bilingbox]Rätsel gelöst. Bei der Generalprobe waren Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche. Aber in Zivil. Sie rannten zu Tichon. Tichon rief Medinski an. Medinski braucht für die Wiederernennung zum Minister im nächsten Jahr nämlich die Unterstützung der ROK (Michalkow allein genügt nicht mehr), und insbesondere die von Tichon vom Sretenski[-Kloster], unserem großen „Beichtvater“. Nichts Persönliches. Medinski rief [Wladimir] Urin an und machte einen auf zornig und hysterisch. Dann kam er wieder runter und bat, über einen Aufschub nachzudenken – die neue Regierung, die Wahlen.
    „Sie können doch keine Proteste vor dem Theater gegenüber vom Kreml gebrauchen. Und die machen sowas!!!“ Der Minister drohte.
    Da habt ihr’s, nichts Persönliches.
    Und ihr immer mit euren „Schwuchteln“.
    Knete und Karriere – darum geht’s.
    Wir sind gespannt, wie es weitergeht.~~~Разобрался. На прогоне были представители РПЦ. Но в штатском. Они добежали до Тихона. Тихон позвонил Мединскому. Мединскому для переназначения в следующем году в министры нужна поддержка (одного Михалкова уже не хватает) РПЦ и, в частности, Тихона Сретенского, “духовника” нашего всего. Ничего личного. Мединский позвонил Урину и изобразил ярость и истерику. Потом, охолонув, попросил подумать о переносе на потом – новое правительство, выборы.
    “Вам же не нужны пикеты возле театра напротив Кремля перед выборами. А они могут!!!” Пугал министр. 
    Ну вот, ничего личного. 
    А вы все “пидорасы, пидорасы…”
    Бабло и карьера
    Будем наблюдать[/bilingbox]

     

    erschienen am 10.07.2017

    Kommersant: Blockbuster des psychologischen Balletts

    Im Kommersant bedauert Tatjana Kusnezowa den unermesslichen Verlust für die russische Ballettwelt und löst damit eine Debatte in den Feuilletons aus:

    [bilingbox]Nurejew hätte zweifellos zum erfolgreichsten und einträglichsten Ballett des Bolschoi der postsowjetischen Epoche werden können: Bei allen Vorstellungen in Russland wäre ihm ein ausverkauftes Haus sicher, genau wie die unbedingte Aufnahme ins Gastspielrepertoire. 

    Nun ist angesichts der wachsenden Hysterie aber klar, dass das Moskauer Schicksal des Stücks besiegelt ist: Nurejew wird wohl kaum am 4. oder 5. Mai 2018 auf die Bühne kommen, wie es der Generaldirektor bei der Pressekonferenz versprochen hatte. Aber dieser Blockbuster des psychologischen Balletts kann mit gleichem Erfolg auf jeder großen internationalen Bühne gespielt werden (nur leider ohne die wunderbaren russischen Künstler).~~~«Нуреев», без сомнения, мог бы стать самым успешным и кассовым балетом Большого российской эпохи: аншлаг на всех российских представлениях и непременное включение в гастрольный репертуар были бы ему гарантированы. Теперь на фоне нарастающей общественной истерии уже ясно, что московская судьба спектакля не сложится: едва ли 4 и 5 мая 2018 года «Нуреев» выйдет на сцену, как пообещал гендиректор на брифинге. Но этот балетный психологический блокбастер с тем же триумфом, что и в Москве, может пройти на любой серьезной сцене мира (жаль, что без замечательных русских артистов).[/bilingbox]

     

    erschienen am 11.07.2017

    Colta: Großes nationales Melodram

    Auf solche Lobeshymnen über Nurejew reagiert Bogdan Korolek auf dem unabhängigen Kulturportal Colta.ru mit großer Skepsis:

    [bilingbox]

    Keiner der Kommentatoren ließ auch nur den Gedanken daran zu, dass Possochows Ballett einfach eine schlechte Produktion sein könnte. Es griff die eiserne Logik: Verboten heißt innovativ, genial. Ein Ding, eine Marke, also kaufen. Schaut man sich allerdings das im Internet kursierende Video an – die nahezu vollständige Aufzeichnung, die etwa eine Stunde dauert – wird man feststellen, dass Nurejew im schlechtesten Sinne literarisch ist: Zwar liegt dem Stück kein Buch zugrunde, aber verbale Fakten dominieren den Handlungsverlauf und lassen dem rein musikalisch-plastischen Ausdruck keinen Raum.

    Pathetische Aussagen über das Schicksal der Heimat, leidenschaftlich hingeworfene Worte wie „Hetze“ oder „Meisterwerk“, hysterische Werbung, die sich als Antiwerbung entpuppt – all das ist genauso ein großes nationales Melodram, wie das Projekt Nurejew selbst.~~~Никто из комментаторов отмены даже не допустил мысли, что балет Посохова мог быть попросту плохой продукцией. Сработала безотказная логика: запрещенный — значит, новаторский, гениальный. Вещь, фирма, надо брать. Если посмотреть гуляющее по сети видео — наиболее полную запись, длящуюся что-то около часа, — окажется, что «Нуреев» в худшем смысле литературен: в основу не была положена книга, но ход спектакля определяют словесные факты, не оставляя поля для чистой музыкально-пластической выразительности.
     
    Патетические реплики о судьбах Родины, в сердцах брошенные слова «травля» и «шедевр», истерическая реклама, обернувшаяся антирекламой, — все это — большая всенародная мелодрама, какой является и сам проект «Нуреев».[/bilingbox]

     

    erschienen am 14.07.2017

    dekoderRedaktion
    Übersetzerin: Maria Rajer

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Anna Achmatowa

    „Sorokin wird plötzlich zum Spiegel unserer Polit-Phrasen“

    Das besondere Theater

    Konstantin Stanislawski

  • Kino #7: Mne dwadzat Let

    Kino #7: Mne dwadzat Let

    Sowjetischer Sturm und Drang: Regisseur Marlen Chuzijew verewigte in Mne dwadzat Let (dt. Ich bin zwanzig Jahre alt, 1965) das Lebensgefühl jener Generation, die beim Anbruch der 1960er Jahre ihr Erwachsenenleben begann1, voller Hoffnung und Sehnsucht – in Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration ihrer Eltern jedoch nicht unbeschwert.

    Erstmals seit zwei Jahrzehnten stand im Kino nicht mehr das große, patriotische Wir im Mittelpunkt des Ausdrucks, sondern das lyrische Ich mit seiner Alltäglichkeit der Empfindung. Schon das Kriegsdrama Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen) von 1957 hatte das Tor dahingehend aufgestoßen.

    Der Meilenstein Mne dwadzat Let und seine Genese verdeutlichten nur wenige Jahre später eindrucksvoll, dass sich eine sowjetische nouvelle vague hätte herausbilden können – wären die konservativen Kräfte aus dem Zentralkomitee der KPdSU seinerzeit nicht eingeschritten. 

    https://www.youtube.com/watch?v=AG7YqF3WjFE

     

    Hier finden Sie den Film „Mne dwadzat Let mit englischen Untertiteln

    „Ich habe den Winter satt, mit unermesslicher Kraft habe ich ihn satt“, erklärt der erkältete Sergej mit festem Blick in die Kamera. Aus einer Ecke seiner Wohnung tropft es laut und stetig. Er bittet seine Schwester, die im nächtlichen Korridor telefoniert, den Wasserhahn zuzudrehen. Doch weiterhin tropft es. Als er schließlich selbst aufsteht und am Waschbecken ist, versteht er erst, woher das Geräusch kommt: „Hör nur, wie alles tropft! Öffne das Fenster. Ja doch, es tropft!“ flüstert seine Schwester ihrem Liebsten in den Hörer.

    Und plötzlich – es ist Tag, es ist Frühling! – schlagen kleine Jungen mit Ästen gegen die Regenrinnen der Häuser, und die Laute erfüllen die ganze Straße im Herzen Moskaus. Von oben herab tropft und rinnt es, das Wasser sammelt sich zu einem fließenden, das Sonnenlicht reflektierenden Teppich, die Menschen tummeln sich auf ihm und vereinigen sich in der Ferne in einen Menschenstrom, der zur 1. Mai-Parade zieht, auf der auch Sergej wieder auftaucht, der zusammen mit seinen zwei Freunden Kolja und Slawa am wichtigsten Fest der Sowjetrepublik marschiert. 

    Diese Szenen in Mne dwadzat Let vermögen wohl am stärksten auszudrücken, welches Versprechen die kurzen Jahre der Tauwetter-Periode bargen: als Symbole der befreienden Wirkung auf Gesellschaft und (Film-)Kunst. Mit dem Tod Stalins im März 1953 und sodann dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 19562 endete der lange „Winter“ des Stalinismus. Und dieser Film wird zum Schlüsselwerk seiner Zeit.

    Ausgelassene Moskauer Twens, immer unterwegs in Straßen und auf Hinterhöfen / Foto © Screenshots aus dem Film „Mne dwadzat Let“
    Ausgelassene Moskauer Twens, immer unterwegs in Straßen und auf Hinterhöfen / Foto © Screenshots aus dem Film „Mne dwadzat Let“

    Porträt einer vaterlosen Nachkriegs-Generation

    Marlen Chuzijew, der als Kind seinen Vater in den Stalinschen Säuberungen3 verlor, ließ bereits 1956 die Protagonisten in Wesna na Saretschnoi ulize (gedreht mit Felix Mironer, dt. Frühling4 in der Saretschnaja Straße) nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft suchen, und sie alle litten unter der Kindheit ohne Vater. Dieser Verlust stellt in Mne dwadzat Let gleichsam zentrales Trauma und Dilemma der Hauptfigur Sergej Shurawljew5 dar.

    Mit 21 Jahren aus dem zweijährigen Militärdienst zurückgekommen, schlendert Serjosha mal alleine und grübelnd, mal in Begleitung seiner zwei besten Freunde durch Moskau, betritt Hinterhöfe, in denen Jugendliche zu ausländischer Musik tanzen und sich verlieben. Bei besagter 1. Mai-Parade trifft er Anja wieder, der er Monate zuvor das erste Mal begegnet und verzaubert durch die halbe Stadt gefolgt war. 
    „Wie heißt du?“, fragt er sie. „Anja“, rufen von weiter vorn ihre Begleiter. „Hurra“, gibt sie zurück. Und „Hurra“ schallt es von den fremden Marschierenden hinter ihnen, kein anonymer Marschkörper, sondern freudige Gesichter, weil sich in dieser Film-Utopie Individuum und Masse nicht – wie sonst häufig – antagonistisch, sondern ergänzend gegenüberstehen.

    Seine Protagonisten waren auf der Suche nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft – Marlen Chuzijew / Foto © Ilja Pitalew/Kommersant
    Seine Protagonisten waren auf der Suche nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft – Marlen Chuzijew / Foto © Ilja Pitalew/Kommersant

    Um das Denken und die Sprache dieser Generation der sogenannten Schestidesjatniki glaubwürdiger und unmittelbarer zeichnen zu können, wählte sich Chuzijew den jungen Studenten Gennadi Schpalikow von der Staatlichen Moskauer Filmhochschule zum Drehbuchpartner.6

    Kühne Anlehnung ans französische Kino

    Ihre szenische und dialogische Meisterschaft, unterstützt vom visuellen Genie der Kamerafrau Margarita Pilichina, gipfelte in einem kühnen Entwurf, der glorreicher Ausgangspunkt einer sowjetischen nouvelle vague hätte werden können.

    Erst wenige Jahre zuvor waren es François Truffaut, Jean-Luc Godard und Jacques Rivette, die Paris neu für das Kino entdeckt hatten: keine Studiobauten und Statisten mehr, sondern reale Plätze, reale Menschen bevölkerten die Szenen. Gerade Kameramann Raoul Coutard hielt sich weit ab vom Geschehen, machte die zuvor vom „professionellen“ Kino geächtete Handkamera zu seinem Hauptstilmittel und erfasste so gleichsam dokumentarisch die ganze Lebendigkeit und zugleich auch den Charme von Paris.

    Beeinflusst von diesem bahnbrechenden jungen französischen Kino – Chuzijew war damals ein leidenschaftlicher Kinogänger, der bestens über alle aktuellen stilistischen Entwicklungen des Weltkinos Bescheid wusste – wählten Chuzijew und Pilichina ein ähnliches visuelles Konzept. Eine bewegliche Kamera folgt in fließenden Bewegungen den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus, die man nicht nur einmal mit denen von Paris zu verwechseln geneigt ist.
    Dank einer speziellen Weitwinkeloptik, wie sie schon von Michail Kalatosow und Kameramann Sergej Urussewski in Letjat Shurawli eingesetzt wurde, um den Bildern eine avantgardistische Wucht zu verleihen, kann Pilichina sehr oft nah an den Gesichtern verweilen und trotzdem noch viel von ihrer Umgebung einfangen.

    Eine bewegliche Kamera folgt den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus
    Eine bewegliche Kamera folgt den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus

    Moskau war immer ein wichtiger Bezugspunkt im sowjetischen Filmschaffen, schon in den 1920er Jahren, dort aber zumeist als pulsierende, moderne, den Fortschritt symbolisierende Stadt. Über allen Stadtszenen in Mne dwadzat Let weht dagegen der Atem der Freiheit und Unbeschwertheit. Moskau wirkt hier wie die Hauptstadt eines wahrlich glückversprechenden Kommunismus, der den Menschen nicht beengt und ihn unbeobachtet jeden Winkel der Stadt erkunden lässt.

    Doch bevor Chuzijews Entwurf hätte Schule machen können, sorgten die konservativen Kräfte im Zentralkomitee für ein sofortiges Verbot. Überhöhung der Nichtigkeit des Alltäglichen (Bytowschtschina) warfen sie den Filmemachern vor. Kurz darauf geißelte der damalige KP-Chef Nikita Chruschtschow bei einer gleichsam stalinistischen Intellektuellenschelte im Kreml am 8. März 1963 Chuzijews Film.7 Die Protagonisten hätten nichts gemein mit „unserer herausragenden Jugend. […] Diese Figuren sind nicht die Art von Menschen, auf die unsere Gesellschaft sich verlassen kann. Sie sind keine Kämpfer, gestalten die Welt nicht um. Sie sind moralisch kranke Menschen“.8

    Früher zensiert, später neu entdeckt

    So kam der 1962 unter dem Titel Sastawa Iljitscha (dt. Die Pforte des Iljitsch9) vollendete Film jahrelang nicht zur Aufführung; Chuzijew erklärte sich schließlich bereit, Kernszenen neu zu drehen und ihrem Gehalt nach zu verändern. Andere Sequenzen waren fast komplett gestrichen, als Mne dwadzat Let 1965 ins Kino kam. Auch ein 20-minütiger Dichterabend der lyrischen Avantgarde um Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski und Bella Achmadulina fiel der Zensur zum Opfer. 
    Die damalige Kulturministerin Jekaterina Furzewa selbst hatte Chuzijew ermöglicht, eine solche Lesung eigens für den Film im Polytechnischen Museum zu inszenieren, und war später eine der wenigen UnterstützerInnen des Films in seiner ursprünglichen Fassung.10

    „Moralisch kranke Menschen“ – Die Jugend dieses Films war für KP-Chef Chruschtschow ein einziges Ärgernis
    „Moralisch kranke Menschen“ – Die Jugend dieses Films war für KP-Chef Chruschtschow ein einziges Ärgernis

    Mne dwadzat Let, aber auch die Ursprungsfassung, werden in jüngerer Zeit bei Festivals und Aufführungen von Basel bis Paris als Meilenstein der sowjetischen wie internationalen Kinematographie wiederentdeckt11, während der Film und seine Entstehung rückblickend gleichermaßen Blüte und hereinbrechendes Ende des Tauwetters zu markieren scheint.
    Dafür stehen besonders die beiden am Ende aufeinanderfolgenden Kulminationspunkte im Film: Die Geburtstagsfeier von Sergejs Freundin Anja und die Begegnung mit dem Geist seines im Krieg gefallenen Vaters. Diese Schlüsselszenen sorgten in ihrer Ursprungsversion für harsche Kritik aus dem Parteiapparat, sodass vor allem letztere durch Chuzijew radikal geändert werden musste.

    Die Frage, wie zu leben sei

    Die Stimmung bei Anjas Geburtstag in der Wohnung ihres Apparatschik-Vaters ist gelöst, es wird getrunken und getanzt. Diese privilegierten Moskauer Twens sind ironisch, unernst, verspielt, trotzig. Chuzijew holte hier ebenfalls Studenten der Filmhochschule vor die Kamera, eine Gruppe, die sich heute wie ein kleines Who-is-who der sowjetischen Filmszene liest, waren doch unter anderem die späteren Regie-Größen Andrej Kontschalowski und Andrej Tarkowski dabei.12

    Als Partypublikum fungiert das spätere Who-is-who der sowjetischen Filmszene – auch der junge Andrej Tarkowski (links) ist dabei
    Als Partypublikum fungiert das spätere Who-is-who der sowjetischen Filmszene – auch der junge Andrej Tarkowski (links) ist dabei

    Sergej ist an diesem Abend in anderer, nachdenklicher Stimmung, kreist um moralische Fragen. Über einen vermeintlich harmlosen Trinkspruch auf „die Kartoffel“ (als Symbol für einstige Not) entbrennt unter ihnen ein Streit, in dem Sergej sich letztlich zu seinen Idealen bekennt: „Ich nehme die Revolution ernst, das Lied Die Internationale. Das Jahr 1937. Den Krieg und die Soldaten und die Tatsache, dass praktisch niemand von uns noch einen Vater hat … Und die Kartoffel, die uns während der Hungerzeit gerettet hat.“

    Wieder zu Hause, ist Sergej sehr aufgewühlt. Er entzündet in einem Aschenbecher ein kleines „Lagerfeuer“. Sein toter Vater, Leutnant Alexander Shurawljew, erscheint ihm in Rotarmisten-Uniform als Geist. Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich das Setting verändert: Plötzlich ist da nicht mehr das Moskau des Jahres 1961, sondern der Große Vaterländische Krieg, eine Holzbaracke, in der sich weitere Soldaten befinden. In Sastawa Iljitscha endet der Dialog ursprünglich folgendermaßen:

    Sergej: „Ich wünschte, ich hätte an deiner Seite laufen können.“
    Vater: „Das musst Du nicht.“
    Sergej: „Und was muss ich?“
    Vater: „Leben.“
    Sergej: „Und Wie? Wie?“ (Es entsteht eine Pause.)
    Vater: „Wie alt bist Du?“
    Sergej. „23“
    Vater: „Ich bin 21. Was kann ich dir schon raten?“

    Dieser letzte Satz des Vaters durfte in Mne dwadzat Let nicht so stehenbleiben. Der schlaksige Laiendarsteller Jewgeni Majorow (dessen Interpretation der Szene etwas Verzweifeltes und Unheimliches gab) wird gegen den Schauspieler Lew Prigunow ausgetauscht, einer Personifikation des adrett-heroischen Kämpfers. Seinem Sohn gibt Leutnant Shurawljew sodann mit auf den Weg, sich glücklich schätzen zu können, in einer so großartigen Stadt wie Moskau zu leben und fordert ihn auf, das vaterländische Erbe anzutreten.

    Trotz all dieser zensurbedingten Änderungen atmet auch Mne dwadzat Let den Geist der Freiheit und der Hoffnung, die die Menschen und Straßen Moskaus zu Beginn der 1960er Jahre erfüllten. Mit dem pragmatisch-optimistischen Schlusssatz und einer Panoramaansicht der Hauptstadt versöhnt der Film schließlich mit einem Leben voller offener Fragen:

    „Es war Montag – der erste Werktag der Woche.“

    Text: Gaby Babić und Gary Vanisian
    Veröffentlicht am 10.07.2017


    https://www.youtube.com/watch?v=QDzQbgkZRzQ&feature=youtu.be

     

    Hier finden Sie die Urfassung des Films („Stastawa Iljitscha“) mit russischen Untertiteln


    1.Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.21
    2.Godet,Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.24
    3.Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 128
    4.In dem Jahr war er einer von drei Filmen, der dieses Wort im Titel führte. Vgl. Nelepo, Boris, in: Marlen Khutsiev: Unsung Master of the Modern Cinema
    5.Man könnte in seinem Nachnamen eine Verbeugung vor Michail Kalatozovs epochalem Film Letjat žuravli vermuten.
    6.Wobei Chuziev später schrieb,  Špalikov habe gar nicht so viel zum fertigen Film beigetragen wie man gemeinhin glaubt, da der größte Teil des Drehbuches bereits zuvor mit Feliks Mironer entworfen worden sei (Chuziev, Marlen (1996): Ja nikogda ne delal polemičiskich filmov, in: Kinematograf ottepeli, Moskau, S.192.)
    7.Die anderen Opfer dieses Tages waren Ilja Ehrenburg und der Bildhauer Ernst Neizvestnyj, vgl. Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.32
    8.Zitiert nach: Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 146-47
    9.Einer der ersten Arbeitstitel war „Erinnerst du dich, Genosse?“, vgl. Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 252. Der Titel „Die Pforte des Il’jič“ verweist auf einen Moskauer Stadtteil, ist aber auch symbolisch zu verstehen; er spielt auf das Verhältnis der Nachkriegsjugend zum leninistischen Erbe an. So ist denn auch am Ende des Films eine Wachablösung am Lenin-Mausoleum am Roten Platz zu sehen. 
    10.Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 145
    11.Die Originalfassung Sastava Il’jiča wurde am 29. Januar 1988 im Zuge der Perestroika in seiner ursprünglichen Gestalt wiederaufgeführt; in dieser Form sahen wir, die AutorInnen, diesen Film erstmals im Jahre 2013 beim Festival Bildrausch in Basel, wohin wir eigens für diese 35mm-Projektion gereist waren. Unseres Wissens nach stellte die Aufführung dieses Films in der damals von Tatjana Simeunović betreuten Hommage an Marlen Chuziev auch die erste seit vielen Jahren dar, bevor er kurz darauf als einer der größten sowjetischen Regisseure von Festivals wie goEast, Locarno sowie, unter anderem, dem Harvard Film Archive und zuletzt – im Mai 2017 – der Cinémathèque française in Paris endgültig im Westen wiederentdeckt wurde.
    12.Außerdem die Schauspielerinnen Svetlana Svetličnaja (Brilliantovaja Ruka, dt. Der Brilliantenarm, 1969), Ol’ga Gobzeva (Kryl’ja, dt. Flügel, 1966) und die Drehbuchautoren Pavel Finn (Padarok Stalinu, dt. Geschenk an Stalin, 2008) und Natalja Rjazanceva (Portret Ženy Chudožnika, dt. Porträt der Ehefrau eines Künstlers, 1982)

     

    Weitere Themen

    Kommunalka

    Der Sowjetmensch

    Kino #1: Ironija Sudby

    Plombir

    Kino #6: Letjat Shurawli

    Ära der Stagnation