Der Videodesigner und Filmemacher Dimitri Kalaschnikow hat aus den besten russischen Dashcam-Videos einen Langfilm produziert. The Road Movie (russ. Titel Doroga) wurde gestern zwar nicht nominiert, stand aber auf der Longlist für die Oscars. Im Interview mit Bumagaerzählt der Regisseur, was einem auf russischen Straßen so vor die Linse kommt und was er daraus gelernt hat.
Wladislaw Tschirin: Wie und wann sind Sie auf die Idee zu The Road Movie gekommen?
Dimitri Kalaschnikow: Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Dashcam-Videos aus Sicht des Dokumentarfilms sehr interessant sind. Sie sind nicht einfach nur lustig oder furchtbar, sondern sind dank ihrer Aufnahmetechnik etwas Besonderes. Alles passiert absolut zufällig, niemand steuert die Kamera. So, wie der Fahrer sie montiert hat, bleibt sie auch, und dann vergisst man sie und fasst sie nicht mehr an, bis etwas passiert ist, was man aufbewahren möchte. Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall.
Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall
Außerdem fällt das Gefühl weg, dass eine Kamera da ist, die das Geschehen beeinflusst. Was auch immer du beim Dokumentarfilm machst, wie sehr du dich auch bemühst, unsichtbar zu sein und dich der Hauptfigur anzunähern, damit sie sich an dich gewöhnt und nicht mehr auf dich achtet – von der Kamera geht trotzdem eine Wirkung aus. Vielleicht nur eine geringe, aber sie ist da. Bei der Dashcam läuft alles von selbst, und niemand denkt daran, dass das Geschehen aufgenommen und in einem Film gezeigt wird. Auch das Wechselspiel zwischen der realen Umgebung außerhalb des Autos und der Reaktion darauf aus dem Inneren, die wir hören, fand ich spannend. Ich habe Material gesucht, das dieses Wechselspiel wiedergibt. Der Film war im August/September 2016 fertig, ich habe rund ein Jahr dafür gebraucht. Premiere war im November 2016 auf dem Festival IDFA in Amsterdam.
Der Film besteht zur Gänze aus Dashcam-Videos aus dem Internet. Was ist bei so einem Film die Rolle des Regisseurs?
Die Regieführung, also die Anordnung des Materials. Im Dokumentarfilm arbeiten wir mit einer Wirklichkeit, die wir entweder selbst aufzeichnen oder die bereits in dokumentierter Form vorliegt. Das Genre des Found-Footage-Films ist ziemlich alt. Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden. Ob man einen Film aus der Wochenschau der 1920er Jahre oder aus Videos des 21. Jahrhunderts montiert, macht wohl keinen wesentlichen Unterschied.
Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden
Es war mir sehr wichtig, die größtmögliche Natürlichkeit des Materials zu erhalten. Mein Eingreifen als Autor soll während der Episoden nicht wahrnehmbar sein. Das ist wie bei einer Galerie, in der ich der Kurator bin und die Bilder den Besuchern in einer bestimmten Abfolge präsentiere. Und dann ist es ja auch ein Langfilm, also musste ich mit der Struktur arbeiten. Es entstand etwas Zyklisches: vom Winter zum Sommer, vom Sommer zum Herbst und wieder zum Winter. Darin wiederum habe ich Blöcke mit Nachtaufnahmen eingebaut. Es gibt ein paar Episoden, die mit Musik untermalt sind, nur vier – meines Erachtens sorgen sie für Dynamik und helfen der Struktur des Films, sich zu entwickeln.
Warum ist der Film in den USA im Verleih, aber in Russland nicht?
Weil ziemlich viel nichtnormative Lexik darin vorkommt. Damit ein Film in Russland eine Verleihgenehmigung erhält, muss man die Kraftausdrücke daraus entfernen. Ich finde aber, Mat ist ein wesentlicher Bestandteil meines Films, und es würde viel verlorengehen, wenn man die Vulgärsprache herausnähme. Ich glaube nicht, dass das sinnvoll wäre.
Warum ist so ein Filmformat in den USA auf Interesse gestoßen?
Soweit ich gehört habe, interessiert es die Leute genau wegen der Dashcam-Videos. Die wissen dort, dass es bei uns viele solcher Videos gibt – anscheinend wurde das nach dem Tscheljabinsker Meteor bekannt, der eben zufällig mit Dashcams gefilmt wurde. Vielleicht ist auch Russland ein aktuelles Thema. Und der Film ist für das Publikum … keine Attraktion zwar, aber doch Entertainment. Sehr emotional, oft lustig, oft dramatisch, stellenweise vielleicht auch beängstigend.
Haben Sie in Ihrem Film Lieblingssequenzen?
Es gibt eine Episode in einem brennenden Wald. Ein Auto fährt auf einer schmalen Straße durch einen Wald, der zu beiden Seiten lichterloh brennt. Im Auto sitzen offenbar drei Personen, die alles kommentieren, dem Fahrer Tipps geben, wie er fahren soll, auf welchem Fahrstreifen. Man hört, wie nervös sie diese Situation macht. Alles wirkt sehr apokalyptisch. Am Straßenrand taucht einmal ein Auto auf, das schon brennt – ich weiß nichts Genaueres, was damit im Weiteren passiert ist. Am Ende fahren sie aus dem Wald heraus auf eine normale Straße, unterwegs kommt ihnen ein Feuerwehrauto entgegen, alles wird kommentiert und reflektiert. Das ist sehr emotional und filmisch.
Was erzählt der Film über Russland und die Menschen hier?
Ich glaube, er zeichnet ein allgemeines Portrait des Landes und des russischen Menschen. Die Leute im Film sind meistens Extremsituationen ausgesetzt. Es ist faszinierend zu beobachten und zu hören, wie sie auf die Geschehnisse reagieren und damit fertig werden. Aber was ich vor meiner Arbeit an dem Film nicht erwartet hätte: Was auch immer passiert, Verrücktes oder Schreckliches – die Leute [in den Videos] bleiben gelassen.
Was ich nicht erwartet hätte: Egal was passiert – die Leute bleiben gelassen
Auf alles reagieren sie mit stoischer Ruhe, sie nehmen das Schicksal hin, das über sie hereinbricht. Natürlich ist es nicht in jedem Fall so, aber eine gewisse Gemeinsamkeit lässt sich doch ausmachen.
Dashcams sind nichts spezifisch Russisches, auf Youtube werden sie aber gerade mit Russland assoziiert. Glauben Sie, man könnte genauso einen Film auch über ein anderes Land machen?
Ja, da geht es wirklich vor allem um Russland und die postsowjetischen Staaten. Abgesehen von Russland sind mir am häufigsten Kasachstan, die Ukraine und Belarus untergekommen. Es gibt ziemlich viele Videos aus den USA und aus einigen asiatischen Ländern wie Thailand und Malaysia, aber das sind deutlich weniger.
Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, deswegen gibt es so viele Videos. Der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich
Wenn man eine Kamera montiert und die ganze Zeit filmt, dann kommt einem auf jeden Fall irgendetwas Bemerkenswertes vor die Linse. Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, und deswegen gibt es so viele dieser Videos. Aber der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich.
In einer Rezension wurde befürchtet, Sie könnten den Erfolg von The Road Movie nicht noch einmal erreichen, ohne sich zu wiederholen. Was sagen Sie dazu, und welche künstlerischen Pläne haben Sie jetzt?
Ich habe noch nie hauptberuflich Filme gedreht, weil ich noch keinen Weg gefunden habe, damit Geld zu verdienen. Meistens war ich bei kommerziellen Projekten als Videodesigner beschäftigt. Deswegen habe ich seit 2016 keinen neuen Film mehr gemacht. Stattdessen habe ich ein weiteres Studium angefangen – an der Petersburger Schule des neuen Films, in der Werkstatt für Experimentalfilm. Ich möchte in ein Umfeld eintauchen, in dem sich die Leute für Film interessieren und damit arbeiten. Ideen für Projekte habe ich schon, aber ein Drehbuch gibt es noch nicht. Ich werde sicher nicht auf Dashcam-Videos zurückkommen, die interessieren mich nicht mehr, ich kann mir nicht vorstellen, was ich noch daraus machen könnte. Ich möchte andere Arten von Dokumentarfilmen drehen und auch mal Spielfilme versuchen.
Die besten russischen Interpreten des Jahres 2018 – ein Ritt durch die Genres. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, jung.
LEITMOTIV DES JAHRES
Verbotene Lieder
2018 sind in Russland erneut verbotene Musik und schwarze Listen von Musikern aufgetaucht, ganz nach Vorbild der UdSSR 1984. Diverse Machtinstanzen, angefangen bei städtischen Verwaltungen und regionalen Staatsanwaltschaften bis hin zu den Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, haben sich der Analyse populärer Songs auf VKontakte verschrieben, haben nach Propaganda für Suizid, Extremismus, Drogen und sogar Kannibalismus gesucht und als präventive Maßnahme schlicht „per Telefon“ Konzerte abgeblasen.
Unter den Opfern fanden sich Poschlaja Molli (dt. „Gemeine Molli“), Friendzona, Monetotschka (dt. „Kleine Münze”), Allj, Gunwest, Jah Khalib, Matrang, Husky und IC3PEAK – diese völlig unterschiedlichen Künstler waren gezwungen, ihre Auftritte abzusagen oder zu unterbrechen und wurden von der Polizei festgehalten und gefilzt.
Das einzige, was diese Musiker verbindet, ist wohl ihre Beliebtheit bei der Generation VKontakte und die Beunruhigung, die bei der älteren Generation ausgelöst wird durch ihren Einfluss auf die jungen Gemüter; diese ältere Generation fordert nun im Namen aller Eltern in ganz Russland, [die Jugend] „abzuschirmen und zu beschützen“. Dafür bedient sie sich so traditioneller wie ineffektiver Methoden: Denunziation und Druck, die in polizeiliche Willkür münden.
Der Grad an Besorgnis ist dermaßen ausgeartet, dass man sich angesichts der zersetzenden Kraft der neuen russischen Popmusik, die laut den Beschwerdeführern auf den Säulen „Sex, Drogen und Protest“ ruht, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation beriet. Der bemerkte weise, es sei zwecklos, Konzerte zu verbieten – wenn man die Bewegung nicht aufhalten könne, müsse man sie organisieren und lenken. Damit ist der Staatsauftrag für korrekte, ideologisch reine, sterilisierte und fettfreie Popmusik bereits formuliert; warten wir also ab, wie die wachsamen Veteranen des Showbiz und die Funktionäre des Kulturministeriums ihn im neuen Jahr umsetzen werden.
KONZERT DES JAHRES
Soli-Konzert für Husky: Ich werde meine Musik singen im GlawClub Green Concert
Die breiteste Medienresonanz in der Reihe der Konzertabsagen und -verbote hat der Fall Huskyausgelöst. Huskyalias Dimitri Kusnezow hatte auf die Provokation durch die Polizei reagiert und sich in Krasnodar zwölf Tage Haft wegen „geringfügigen Rowdytums“ eingehandelt – dadurch konnte er die russische Rap-Szene hinter sich vereinigen.
Das Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das [seine Rapper-Kollegen] Oxxxymiron, Noize MCund Basta daraufhin auf die Beine stellten, war schon wenige Stunden nach den ersten Ankündigungen ein historisches Ereignis: Die Tickets waren im Nu ausverkauft, die Kasseneinnahmen in Höhe von sechs Millionen Rubel flossen in die Hilfe für Husky, die Strafe wurde infolge des ganzen Rummels überprüft und der Rapper sogar wieder freigelassen.
Das Soli-Konzert hat gezeigt, dass russische Musiker durchaus in der Lage sind, für sich und das Recht auf Meinungsäußerung einzustehen, wenn sie es schaffen, an einem Strang zu ziehen.
NACHWUCHS DES JAHRES: SONGWRITING
Monetotschka: Raskraski dlja Wsroslych (dt. „Ausmalbilder für Erwachsene“)
Die Jugend (und das Äußere) der aktuellen Interpreten und vor allem Interpretinnen – vor allem das hielt die Beobachter der inländischen Popkultur in diesem Jahr beschäftigt. Das zweite Album von Monetotschka alias Lisa Gyrdymowa ist wohl das bestartikulierte Argument dafür, der Jugend so oft wie möglich das Recht auf ihre Stimme zu geben: Das Album ist zeitkritisch, brandaktuell, witzig, weise, sanft, treffsicher und zu hundert Prozent von heute.
NACHWUCHS DES JAHRES: TEXTE
Lizer: Teenage Love GONE.Fludd: Supertschuits
Auch die hippe russische Rapszene verjüngte sich in diesem Jahr rasant: Die erdrückende Mehrheit der lautesten und herausragendsten Rap-Platten des Jahres kam von Künstlern um die zwanzig. Am liebsten mögen wir diese zwei Jungs, die beide von ihrer eigenen individuellen Seite ins Rap-Spiel eingestiegen sind. Lizer hat der leicht miefigen machohaften Welt des russischen Rap eine jugendlich-anrüchige, geradlinige Aufrichtigkeit eingehaucht, GONE.Fludd hat ihr die verrückten Farben psychedelischer Fantasien verpasst und dabei eine ganz eigene Sprache erfunden.
COMEBACK DES JAHRES
Yury Chernavsky: Woswraschtschenije na Bananowyje Ostrowa (dt. „Rückkehr auf die Bananeninseln“)
Ohne Yury Chernavsky – den ersten Produzenten der UdSSR – wäre die auch so nicht gerade farben- und stilfrohe russische Popszene noch weitaus ärmer. Wie großartig und symbolisch, dass sich der Maestro, der längst in den USA lebt, zum 35. Geburtstag seines Kultalbums Bananowyje Ostrowa erstmals wieder der russischen Öffentlichkeit präsentierte.
ROOTS DES JAHRES
Abstraktor: Abstraktor
Konservatorium umarmt Kornfeld (oder umgekehrt). Im Bandnamen des Woronesher Trios Abstraktor trifft „Abstraktion“ auf „Traktor“, während in ihrer Musik kompositorischer Post-Jazz auf Folk trifft – und was dabei herauskommt, ist unfassbar ansteckend und lebendig. Nein, echt, das ist, als würdest du selbst übers Feld laufen, deine Hände fahren durch die Ähren, und der vom Wald herüberwehende Wind lässt Haar und Hemd aufwirbeln.
KAMPF DES JAHRES
Posory: Dewitschje gore (dt. „Schande“: „Das Leid der Mädchen“)
Die Girls schlagen zurück – zornig, laut, kompromisslos, hinreißend. Das Debüt-Minialbum des Trios aus Tomsk betritt das (leider brandaktuelle) Schlachtfeld der Geschlechter erhobenen Hauptes, mit geballten Fäusten und der Bereitschaft, sofort und mehrfach jedem eine reinzuhauen, der ihnen Steine in den Weg legt – und das klingt so gerecht und hammermäßig, dass man unmöglich nicht aufstehen und mitlaufen kann.
BEGEGNUNG VON VERSTAND UND TANZ DES JAHRES
Kate NV:Dlja/For GSch:Polsa(dt. „Nutzen“)
Diese zwei Alben klingen vielleicht nicht unbedingt ähnlich – auf dem einen spielt impressionistischer Ambient mit Klängen, auf dem anderen donnert architektonisch ausgefeilter Indie-Rock mit Gitarren. Und doch haben diese beiden Projekte, vereint in der Person von Katja Schilonossowaja, etwas gemeinsam – allem voran das Vermögen, sich bei aller formellen intellektuellen Strenge der Musik dem Leben und der Freude, der Sonne und dem Tanz zu öffnen. Blendend.
[video:]
DIE HOFFNUNGEN DES JAHRES
Die „Neue russische Welle“ im Ausland
2018 verlässt uns mit dem Gefühl, dass die russischen Musiker keine Angst vor dem neuen Eisernen Vorhang haben, der zwischen Russland und dem Rest der Welt durch die Außenpolitik des Landes und die Wirtschaftssanktionen errichtet wird.
Trotz der unvorteilhaften Medienumgebung und den unvermeidbaren Übersetzungsproblemen nimmt der Westen unser Produkt mit großem Interesse auf. Die ausländische Musikpresse schreibt plötzlich begeistert von einer „Neuen russischen Welle“ – zum ersten Mal seit dem Roten Rock der Perestroika-Zeit. Und sie haben allen Anlass dazu: Die internationalen Erfolge von Kate NV, GSch, Shortparis, Kedr Livanskiy und selbst der Meme-Hit Skibidi von Little Biglassen hoffen, dass der Prozess der kulturellen Integration gerade erst an Fahrt aufnimmt.
RITT DES JAHRES
Pognali: Ty w porjadke (dt. „Auf gehts!“: „Du bist in Ordnung“)
Pognali machen Rockmusik, die so erschütternd klar ist, als käme sie geradewegs aus den 1968ern zu uns – noch bevor die Gigantomanie des Progressive Rock mit ihren lauten E-Gitarren die Musik überwuchert hat und wir uns wie mit einer Elektroschockbehandlung mit dem Primitivismus des Punk davon reinwaschen mussten.
Das ist wahrscheinlich der größte Triumph des Albums – hier erklingt Musik, die man vom Aufbau her instinktiv dem Classic Rock zuschreiben will, doch dabei hat sie nichts von all dem unangenehmen Gepäck, das sich über fünfzig Jahre darin angesammelt hat: dem Konservatismus, dem Macho- und Posergehabe. Nur ausgelassene Virtuosität und reine, glückselige Energie.
MUSICAL DES JAHRES
Leto
Kirill Serebrennikow hat mal wieder ins Schwarze getroffen: Der auf wahren Begebenheiten basierende Musikstreifen Leto hat unglaubliche Resonanz bekommen und das Publikum maximal polarisiert. Dabei ist das Skandalpotential der Geschichte strenggenommen minimal – ein platonisches Techtelmechtel aus einem Sommer im fernen Jahr 1981. Aber weil in das Liebesdreieck zwei Helden des russischen Rock verstrickt sind – der Heilige (Viktor Zoi) und der Kultstar (Mike Naumenko) – hat der Film niemanden kaltgelassen.
INFERNO DES JAHRES
Jars: Dshrs II
„Sabotiert alles!“, schreit sich die Moskauer Band Jars die Lunge aus dem Hals, während dazu der Bass ohrenbetäubend dröhnt, die Gitarre heult und kreischt und das Schlagzeug scheppert wie ein Metro-Waggon, der über deinen Kopf rast. Der blindwütige Noise-Rock von Jars wirkt so ähnlich wie ein Molotowcocktail, der in deinem Gesicht landet – schlag zu, renn, brüll, schüttel dich in Krämpfen, tu, was du willst, aber vergiss keine Sekunde, dass du immer noch kategorisch und voller Wut am Leben bist.
Übersetzung (gekürzt): Jennie Seitz Veröffentlicht am 08.01.2019
Wenn es stille Tage gibt, dann sind es diese. Der deutsche Weihnachtsbaum steht schon blasser in der Ecke, der russische ist noch nicht geschmückt. Und der dekoder atmet leise durch, und erinnert euch mit Texten an einen Weltteil, der euch interessiert, den ihr wichtig findet. Und der wichtig ist.
Wir haben euch 2018 hoffentlich satt versorgt mit Themen, Texten und neuen Formaten, haben euch mitgenommen in das politische, aber auch weniger politische Leben in Russland. dekoder hatte Schwerpunkte, die die Machtverhältnisse heute und den Umgang mit Stalin genau betrachten. Wir haben die Werte angeschaut, die das Leben im heutigen Russland prägen und zu prägen haben und die Medien unter die Lupe genommen, die uns mit tollen Texten oder krassen Darstellungen das Jahr über Russland gezeigt haben.
Aber wir haben 2018 auch ordentlich was dafür getan, dass der dekoder weiter und immer besser dekodieren kann. Und in dieser Hinsicht kam zum Jahresende viel Gutes zu uns zurück. Dafür allen danke, die daran direkt materiell, und auch mental Anteil haben. So können wir den Dekodiertakt ein paar Tage runterfahren und kurz das tun, was nötig ist: kollektiv innehalten.
Und dann geht’s los: Mit Rückenwind düsen wir hinüber ins Jahr 2019! Das erste Zauberwort heißt Wissenstransfer und betrifft unser Kompetenzmodul – sprich Gnosen und Co: Diese Sparte wird dekoder ausbauen, zusammen mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, substantiell gefördert von der VolkswagenStiftung. Ein großes Thema gibt 2019 vor: der Mauerfall vor 30 Jahren und schließlich der Systemwechsel in Deutschland und Russland. Möglich ist dank der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ein jahresbegleitendes Dossier. Und nicht nur das: Möglich wird dadurch auch, den dekoder – zumindest in Teilen – endlich seiner inneren Logik entsprechend auch in die andere Richtung laufen zu lassen: vom Deutschen ins Russische. Wir sind gespannt! Das Sinnlichste und Handfesteste im Wortsinn wird das dekoder-Buch, das im Frühjahr pünktlich zur Leipziger Buchmesse erscheint. Dessen Produktion wird wunderbar unterstützt von der ZEIT-Stiftung sowie dem Verlag Matthes und Seitz Berlin. Dies sind nur ein paar leuchtende Schlaglichter, die hier bei dekoder Weihnachtsbaum und Neujahrs-Jolka schmücken.
All das finden wir großartig und freuen uns auf die Herausforderungen im neuen Jahr 2019!
Genießt die Tage zwischen den Jahren, sie sind kostbar, und Kostbares wollen wir pflegen!
Der preisgekrönte russische Dokumentarfotograf Sergey Maximishin formulierte für sich einst sechs Kriterien, die ein gutes Foto ausmachen:
• ein gutes Foto ist immer überraschend
• ein gutes Foto lässt einen nicht los
• ein gutes Foto kann man nicht nachmachen
• ein gutes Foto ist ehrlich
• ein gutes Foto kann man nicht einfach am Telefon wiedergeben
• ein gutes Foto ist „nicht menschengemacht“
Während die ersten fünf Kriterien verständlich und plausibel sind, wirft das letzte mehrere Fragen auf. Wie?! „Nicht menschengemacht“? Der Fotograf geht doch selbst mit seinem Fotoapparat irgendwohin und hält die Kamera oder befestigt sie auf dem Stativ, drückt auf den Knopf. Aber gemeint ist damit: Jedes wirklich gute Foto entsteht gleichzeitig durch ein Wunder, das man nicht vorprogrammieren, vorbestimmen oder vorhersehen kann. Unter anderem darum geht es in den kleinen Erzählungen von Sergey Maximishin, die die 100 Bilder in seinem Buch 100 Fotos von Sergey Maximishin (Sankt Petersburg, 2015) begleiten.
dekoder hat zu Weihnachten zehn Fotos aus diesem Buch ausgewählt. Wir sind uns sicher, dass diese ehrlichen Bilder die Leser überraschen und nicht loslassen werden. Auch wenn Fotografieren und Telefonieren zu den Feiertagen gehört: Versuchen Sie nicht, Maximishins Bilder nachzumachen oder sie einfach am Telefon wiederzugeben – denn die sind „nicht menschengemacht“.
Die französische Frauenzeitschrift Elle hatte mich mit einer Reportage über russische Frauen beauftragt. Ich präsentierte der Redaktion eine Liste mit möglichen Heldinnen: eine Eiskunstlauftrainerin, eine neue russische Ehefrau, eine Kindergärtnerin, eine Restauratorin der Eremitage und eine Milchbäuerin. Die Elle stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass die Heldinnen allesamt hübsch und glamourös wären.
Jemand, der nicht vom Fach ist, kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Probleme man stößt, wenn man für Magazine arbeitet. Einmal sollte ich für eine englischsprachige Zeitschrift in Saudi-Arabien eine Reportage über Kasan fotografieren. Ich bekam eine Liste von Dingen zugeschickt, die man auf den Bildern nicht sehen durfte: Neben Alkohol, Menschen mit Hunden, Männern mit freiem Oberkörper standen auch Frauen in kurzärmeliger Kleidung auf der Liste. Draußen herrschte eine Bullenhitze, und ich antwortete der Redaktion, es gebe in Kasan nur einen Menschen in langen Ärmeln: mich. Ich habe nämlich eine Sonnenallergie.
Genauso ist es mit Texten: Viele Zeitschriften haben eine Liste von Wörtern, die nie auf ihren Seiten erscheinen dürfen. Ein Hochglanzmagazin für Männer hat es seinen Autoren zum Beispiel verboten, das Wort „Liebe“ zu benutzen – es würde die Leser irritieren. Und der französische Journalist, mit dem ich für die Elle zusammenarbeitete, klagte über eine redaktionelle Sperrliste von Begriffen, die für die Leser angeblich zu kompliziert seien. Angeführt wurde sie von dem Wort „Paradox“.
Wo bekommt man glamouröse Milchbäuerinnen her? Ich rief den wunderbaren Fotografen Shenja Astaschenkow an. Er arbeitet seit 30 Jahren für die Zeitung Tosnenski Westnik und kennt nicht nur alle Milchbäuerinnen im Bezirk Tosnenski, sondern, da war ich mir sicher, auch alle Kühe. „Ja!“, sagte Shenka, „Glamouröse haben wir! Werden dir gefallen!“
Die Mädels erwarteten uns schon in Kriegsbemalung. Wie sich herausstellte, war eine der Schwestern die Karriereleiter aufgestiegen und arbeitete mittlerweile als Besamungstechnikerin. Umso besser, fand ich. Während wir durch den Kuhstall gingen, fiel mir auf, dass eine der Kühe sich immer zu den Menschen reckte, Aufmerksamkeit suchte. Ich stellte die jungen Frauen zu der liebebedürftigen Kuh, sagte ihnen, sie sollen ernst und immer schön ins Objektiv schauen. Die Kuh enttäuschte mich nicht und reckte die Lippen zum Kuss. Und dann sandte uns Gott auch noch einen Mann mit Schubkarre.
Von Tschita nach Krasnokamensk sind es mit dem Zug 15 Stunden. Von Kransnokamensk bis an die chinesische Grenze – eine. Den besten Blick auf die Stadt hat man von einer Anhöhe aus, die die hiesigen Bewohner „Liebeshügel“ nennen: Mitten in der vollkommen flachen Steppe eine lange schmale Reihe von Hochhäusern. Rechts außen – Urangruben. In der Mitte – der zentrale Platz mit den goldenen Kuppeln. Links außen – ein Stahlbetonwerk und die Zone.
In der Strafkolonie von Krasnokamensk saß Michail Chodorkowski den ersten Teil seiner Haftstrafe ab. Seine Frau und seine Mutter waren zu einem Besuch angereist. Im Auftrag der Weltwoche sollte ich zusammen mit dem deutschen Journalisten Jens Hartmann hinterherfahren, um sie zu interviewen und über den Inhaftierungsort zu berichten.
Mit der Ankunft des Häftlings von föderaler Bedeutung war die Stadt aufgeblüht. Der nicht abreißende Strom an Geschäftsreisenden – Polizisten, Justizmitarbeiter, Anwälte, Journalisten – führte zu einem sprunghaften Wachstum von Unternehmen im Dienstleistungssektor. Und trotzdem blieb das Angebot hinter der Nachfrage zurück: Das einzige Hotel der Stadt platzte aus allen Nähten.
Man verdoppelte die Anzahl der Betten, indem man die (ohnehin schon kleinen) Zimmer halbierte. Ich musste mit einer schmalen Box mit Heizung Vorlieb nehmen, Jens bekam die Heizungsrohre. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil es brütend heiß war, Jens hat kein Auge zugetan, weil er fast erfroren wäre.
Am nächsten Morgen fuhren wir los, um Chodorkowskis Mutter zu fotografieren, wie sie aus dem Lager kommt. Die Bullen waren so schlau, etwa 800 Meter vor dem Tor ein Schild anzubringen: „Foto- und Videoaufnahmen verboten“. Ich ging daran vorbei und stellte mich vor dem Tor auf, ohne die Kamera auszupacken. Ein Polizist gesellte sich zu mir. Als Marina Filippowna in Begleitung der Anwältin im Tor erschien, schob sich der Polizist vor mich. Ich versuchte, meine Kamera rauszuholen, aber der Bulle brüllte: „Keine Fotos vom Objekt!“ und wollte mir die Kamera aus der Hand reißen. „Das ist kein Objekt, das ist eine Mutter!“, schrie die Anwältin zurück, aber der Moment war vorbei. Die Fotos konnte ich vergessen.
Danach saßen wir mit Marina Filippowna und Irina Chodorkowskaja in einem Café. So vertrieben wir uns den Tag. Den ganzen nächsten Tag hatten die Chodorkowskis zu tun, also machte ich ein paar Aufnahmen von der Stadt, Jens unterhielt sich mit dem hiesigen Popen, und dann machten wir einen Ausflug ins Stahlbetonwerk, wo, so sagte man uns, Chodorkowskis Mitinsassen arbeiteten.
Am Tor angekommen hupten wir – man machte uns auf. Wir fuhren aufs Gelände – niemand sagte ein Wort. Wir liefen durch die Werkhallen, warteten, dass uns jemand von hinten zurückrief – alles still. Wir fanden die Häftlingsbrigade. Wir stellten uns vor, unterhielten uns, die Gefangenen schlugen mir einen Deal vor: Du gibst uns deine Kamera und hundert Dollar, und wir liefern dir morgen die allerbesten Fotos von Chodorkowski. Ich ärgerte mich sehr, dass ich keine einfache Knipse dabei hatte (später sah ich solche Bilder in irgendeiner Zeitung), aber meine Arbeitskamera schien mir dann doch zu kostbar. Und so fuhren wir wieder – niemand sagte ein Wort. So ist das manchmal.
Am Abend nahmen Irina und Marina Filippowna den Zug nach Hause. Jens und ich setzten uns in ein Taxi, fuhren zu irgendeinem Bahnhof – ich wollte die Frauen im Zugfenster fotografieren. Dann fuhren wir auf schnellstem Weg zum Flughafen nach Tschita. Etwas zu schnell – wir kamen um fünf Uhr morgens an. Unser Flug ging um zehn, der Flughafen machte erst um acht auf (ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt), draußen -30 °C. Das Flughafenhotel war ebenfalls zu; wir hämmerten an die Tür, der Nachtwächter rief die Polizei. Die Bullen kamen, sahen ein, dass uns der Kältetod erwartet, und befahlen, uns reinzulassen. Am Morgen hoben wir planmäßig ab.
Das Bild habe ich quasi im Vorbeigehen geschossen. Mir war klar, dass ein Kreml aus Eis eine starke Metapher ist, und ich mich dort ein bisschen umsehen musste. So ist es immer: Hast du die Kulisse, warte auf den Darsteller, hast du einen Darsteller, such die Kulisse. Aber mit einem derart gewaltigen Exponat habe ich natürlich nicht gerechnet. Dieses Foto ist später viele Male veröffentlicht worden, und ich habe mich sehr gefreut, als die berühmte Kuratorin und Herausgeberin Leah Bendavid genau dieses Bild für das Buch Siberia: In the Eyes of Russian Photographers auswählte.
Ein Freund von mir sagte, als er dieses Bild sah: „Das Lächeln des Sauron“. An dem jungen Mann ist nichts Dämonisches – er heißt Sascha und ist Fahrer beim Kulturkomitee der Stadtverwaltung von Tobolsk. Sie schickten mir Sascha und seinen Buchanka-UAZik zu Hilfe, als wir für die russische GEO eine Reportage über Tobolsk machten. Das Bild ist entstanden, als wir zusammen mit dem Journalisten Alexander Moshajew abends mit der Fähre über den Irtysch setzten. Wir zwei waren an Deck gegangen, Sascha, der Fahrer, war im Auto geblieben, und es war schwer, dieses Dreieck zu übersehen – die Zähne, die Kirche, das Kreuz. In der Kamera war kein Film mehr, ich hatte schon alle Vorräte für den Tag aufgebraucht. Nur noch eine alte 800er Rolle, die seit Monaten im Fotokoffer rumlag, war noch da (dass ich mich überhaupt erinnerte!) – ein exotisches Teil für die damalige Zeit. Während ich den Film einlegte, wanderte die Kirche von selbst zum linken Rand des Autofensters, ich konnte gerade noch ein paar Bilder schießen. Und wie das immer so ist, unabhängig davon, wie viele Schüsse man macht – es ist immer genau das eine richtige Bild dabei.
Sascha hat sich nicht nur mit seinem blendenden Lächeln verewigt, sondern auch mit dem Spruch: „Fleisch ohne Wodka fressen nur die Hunde“. Als ich einmal eine Reportage über russischen Wodka für eine deutsche Kochzeitschrift machte, gefiel meinem deutschen Kollegen Saschas Lebensweisheit so gut, dass er sie als Überschrift für den Artikel benutzte.
Aus der Oserkowski-Lachszucht werden die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran. Wenn sie groß genug sind, eilen sie nach Hause, einem Instinkt folgend, den man homing nennt. Die wenigen Lachse, die es schaffen, den Wilderern zu entwischen, kehren in ihre Geburtsfarm zurück. Dort presst man aus den Weibchen die Fischeier und sammelt sie in Eimern. Die Männchen betäubt man mit einem Holzknüppel, schlitzt ihnen die Bäuche auf und schüttet die Fischmilch in die Eimer mit dem Kaviar. Dann werden die Weibchen und Männchen auf einen Laster geladen und in die Resteverarbeitung geschickt – zum Essen sind sie nicht mehr geeignet. Aus den befruchteten Eiern schlüpft die Fischbrut. Die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge werden in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran …
Genauso geht es in der Natur zu, nur dass es niemanden gibt, der die Setzlinge wiegt und misst, die Männchen mit einem Knüppel erschlägt und die Kadaver in ein Auto lädt.
Und wieder mal ein Foto darüber, dass man Gott eine Chance geben muss. Wie oft hat der Arbeiter Fische geworfen, wie oft habe ich auf den Auslöser gedrückt. Und nur bei einem von hundert geschossenen Bildern hat sich alles gefügt. Was dem Betrachter als phänomenales Glück erscheint, ist in der Regel ein Werk der Statistik.
Noch ein Foto, das nur zum Teil mir gehört. Die Pressevorführung einer Ausstellung zu Iwan Aiwasowski. Die Museumsmitarbeiter waren noch nicht ganz fertig, als die Presse schon da war. Wir wurden vom Wachpersonal durchgeführt, eine große Gruppe – Fotografen, Kameraleute, schreibende Journalisten. Ein paar meiner Kollegen blieben vor der Glasvitrine stehen und begannen zu fotografieren.
Das, was dir einfach so zufliegt, weißt du weniger zu schätzen. Ich schickte das Bild zusammen mit den anderen weg und vergaß es. Ich dachte, so eins haben viele.
Ein paar Monate später fiel das Foto zufällig meiner Frau in die Hände. Mascha sagte: „Wow!“, was selten passiert und wirklich ein Grund ist, sich Gedanken zu machen. Ich durchsuchte die Timelines der Agenturen und stellte fest, dass es zwar ähnliche Fotos gab, aber genau so eins hatte niemand. Ich schickte das Bild an Rossija Press Foto, und es gewann in der Kategorie Kultur.
Das Bild ist vor allem unter Kuratoren und Museumsleuten beliebt. „Jeder Kurator kippt vom Stuhl vor Lachen, wenn er sieht, wie die Frau auf dem Foto die Vitrine putzt. Wir alle haben das schon mal gemacht, nur lagen wir dabei vielleicht nicht alle auf dem Boden“, schrieb Anne Tucker, [ehemals] Kuratorin am Museum of Fine Arts in Houston.
Am zehnten Tag des heiligen Monats Dhul-Hidscha feiern die Muslime im Gedenken an die Opferbereitschaft des Propheten Ibrahims Kurban Bayrami das islamische Opferfest. Nach dem Gebet muss jeder rechtschaffene Muslim Allah einen Hammel, eine Kuh oder ein Kamel opfern. Das Opfertier darf keine physischen Blessuren aufweisen. Vor der Schlachtung muss man die Worte „Bismillah, Allahu Akhbar“ aussprechen. Das Fleisch soll in drei Teile geteilt werden: Ein Drittel soll man zu Hause essen, ein Drittel bedürftigen Verwandten oder Bekannten geben und das restliche Drittel Armen spenden, in Übereinstimmung mit dem Koran: „So esset davon und speiset den Bedürftigen und den Bittenden.“
Die Händler verkauften die Hammel von Lastwagen. Mir fiel auf, dass einer der Käufer mit seinem Hammel nicht zum Parkplatz ging, sondern ihn in Richtung Moschee schleifte, also folgte ich ihm und versuchte im Gehen zu fotografieren. Wahrscheinlich ist so der „Mitzieheffekt“ entstanden, den man auf dem Foto sieht. Als Artjom Tschernow und Andrej Polikanow mit mir die Fotos für den Band auswählten, musste ich dieses Bild buchstäblich durchdrücken: Meine Kollegen reagierten relativ kühl, ich aber leide fast körperlich, wenn ich diese Respektlosigkeit vor dem Tod sehe, mich durchbohrt der Blick des verurteilten Tieres, das sich (buchstäblich!) an das Leben klammert. Hoffnung ohne Hoffnung.
Barthes schreibt in Die helle Kammer: „Im Jahre 1865 versuchte der junge Lewis Payne den amerikanischen Außenminister W. H. Seward zu ermorden. Alexander Gardner hat ihn in seiner Zelle fotographiert; er wartet auf den Henker. Das Foto ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein, und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.“ Gut möglich, dass das eines der Bilder ist, die nur mir und niemandem sonst gefallen. Es gibt auch Fotos, die sehr beliebt sind und bei denen ich keine Ahnung habe, was an ihnen so gut sein soll.
Abdallah ibn ʿAbbas, der Cousin des Propheten, berichtete: „Einst sah der Gesandte Allahs einen, der sein Messer schärfte, während er mit einem Fuß auf der Schnauze des Schafs stand und das Schaf zu ihm hinaufsah. Da fragte der Prophet den Mann: Warum schärftest du dein Messer nicht, bevor du das Tier zu Boden warfst? Willst du ihm etwa zweimal das Leben nehmen?“
Die Dreharbeiten im Internat dauerten drei Wochen. Zum Abschied wollte ich ein bisschen feiern, kaufte eine Torte aus Schokowaffeln und Kekse. Die Regisseurin Ljudmila Arkadjewna warf den elektrischen Samowar an, die jungen Leute setzten sich im Speiseraum auf ihre gewohnten Plätze, wie beim Mittagessen. Im Bild ist eine Uhr zu sehen – das ist einer der seltenen Fälle, wenn auf dem Film, wie in einer EXIF-Datei, die Aufnahmezeit festgehalten ist.
Die Jungs und Mädels tranken Tee, alberten herum, kokettierten, stritten sich. Aus über hundert Schüssen habe ich das Bild ausgewählt, auf dem fast nichts passiert, ich finde, so liest sich die Allusion auf das berühmte Fresko besser heraus.
Nur die Optik hat mich etwas im Stich gelassen: Ich habe die Aufnahmen mit einem billigen 50mm-Plastikobjektiv gemacht, das mir kurz davor runtergefallen war. Der linke Bildrand ist leicht verschwommen.
Das Foto war schon bekannt, bevor es den World Press Photo Award gewonnen hat. Hin und wieder begegnet es mir in unerwarteten Situationen, mit unerwarteten Lesarten. Einmal fragte mich jemand, ob ich absichtlich gewartet hätte, bis die Uhr sieben vor zwölf zeigt. Als ich nicht recht verstand, sagte er: „Naja, es sind doch zwölf Apostel, und am Tisch sitzen sieben!“
Der letzte Tag der Reise, das Pflichtprogramm war geschafft. Der Autor Pyotr Vail, mit dem ich die Reportage-Serie zu Kamtschatka machte, flog zurück nach Moskau. Ich hatte noch einen halben Tag, bis mein Flug ging. Ich beschloss, einen Blick auf die berühmten Thermalbäder zu werfen. Als ich mich etwas umgeschaut hatte, verstand ich, dass ich den höchsten Punkt suchen musste. Zum Glück hatten die Betreiber eine Klappleiter.
Fast zweihundert Journalisten waren zur Abschlusskonferenz des Petersburger Dialogs gekommen. Präsident Putin und Kanzler Schröder wurden erwartet. Nach dem Sicherheitscheck versammelten sie uns im riesigen Auditorium, niemand durfte raus, und Putin kommt ja nie weniger als zwei Stunden zu spät. Alle 15 Minuten rief mich die Redaktion von Izvestia an, für die ich damals arbeitete, und verlangte nach fröhlichen Fotos von Putin und traurigen von Schröder. Die Ausgabe ging um zwei Uhr mittags in Druck. Nur fünf Minuten zu spät, und die Fotos würden direkt in die Tonne wandern.
Endlich trafen die Staatschefs ein. Die Journalisten stürzten los, um einen Platz im riesigen Saal zu ergattern. Putin und Schröder setzten sich an einen langen Tisch weit weg voneinander, und ich ärgerte mich, dass ich mir einen frontalen Blickwinkel ausgesucht hatte – von der Seite fotografiert, hätte man optisch die Entfernung zwischen den Personen verkürzen können. In unserem Rücken waren die Vorhänge im Halbkreis zugezogen. Plötzlich kämpfte sich ein Lichtstrahl durch eine Lücke und fiel direkt auf Putins Gesicht, während Schröder im Schatten blieb. Alle hörten auf zu fotografieren, wegen der ungleichmäßigen Beleuchtung war ein gutes Doppelporträt unmöglich. Und ich denk mir so, Putin sieht doch gar nicht so schlecht aus, ganz hübsch. Drücke ein paar Mal ab. Der Präsident schaut zu mir hoch – und so ist dieses Bild entstanden.
Auf dem Weg nach draußen fragte ich den amerikanischen Fotografen, den ich beim Warten kennengelernt hatte: „Und, wie war’s?“ „Zu förmlich“, sagte der. Dann musste es schnell gehen, die Redaktion wartete. Ich schnappte mir ein Taxi, fuhr ins Labor, entwickelte den Film, suchte noch im Taxi auf dem Weg nach Hause ein Foto raus, mit fröhlichem Putin und traurigem Schröder. Das scannte ich zu Hause ein, schickte es raus und vergaß den Auftrag.
So wäre das Bild verschütt gegangen, wenn nicht mein Freund Sergej Tjagin auf einem Fotoportal ein Bild von Putin veröffentlicht hätte, das er genau im selben Moment, mit demselben Lichteffekt geschossen hatte, nur im Profil. Es hagelte Kommentare: „Guckt mal, wie toll!“ Ich wurde neidisch: Ich hab auch so eins! Fand den richtigen Filmausschnitt (nur drei Bilder), steckte ihn in den Scanner. Eine Minute später erschien dieses Bild auf dem Monitor.
Die höchste Anerkennung für einen Fotografen ist es, wenn ein Bild es schafft, durch die dünne Expertenschicht zu dringen und Menschen zu erreichen, die sonst mit Fotografie wenig am Hut haben. Wenn es sich quasi unter’s Volk mischt. Wenn man sich an das Bild erinnert, aber nicht mehr an den Künstler. Für mich ist das größte Kompliment die Frage: „Ach, dann haben Sie das Foto gemacht?“ Ich hoffe sehr, dass das eines dieser Bilder ist.
Und noch was: Erstaunlicherweise wird das Foto sowohl von Putins Befürwortern wie von seinen Gegnern aufgenommen. Jeder sieht darin das, was er sehen will.
Das Verlagshaus Conde Nast hatte Illustrationen für einen Reiseführer zu Sankt Petersburg bestellt. Ich bekam eine Liste von Orten, die ich fotografieren sollte. Unter anderem das Restaurant Sow Iljitscha – Der Ruf des Iljitsch. Ich wählte die Nummer. Die Administratorin sagte mir, in Anwesenheit der Gäste seien Aufnahmen nicht erlaubt, aber tagsüber könne ich kommen.
Zwei schelmische Kellnerinnen in einer Mischung aus Pionier- und Gesundheitshelfer-Uniform bereiteten den Laden für den Abendbetrieb vor. Die eine wischte die Lenin-Büsten auf dem Fensterbrett ab. Ich fotografierte sie und behielt im Hintergrund das Iljitsch-Porträt an der Wand im Blick. Dann schob sich beim Tischabwischen ihre Kollegin vor die Linse.
„Geh mal weg, du störst den Mann! Dein Arsch verdeckt das ganze Bild!“, sagte die erste Kellnerin.
„Vielleicht ist mein Arsch ja auch nicht so übel!“, erwiderte die zweite kokett und beugte sich nach vorne.
Vielleicht hat sie sogar recht, dachte ich schon zu Hause, als ich nach einem passenden Bild suchte.
Fotos: Sergey Maximishin Bildredaktion: Andy Heller Übersetzung: Jennie Seitz Veröffentlicht am 24.12.2018
Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.
Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.
In einem Interview mit Fontankaäußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.
Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK
Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?
Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt.
Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film.
„Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK
Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?
Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.
Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.
Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?
Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.
Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.
„Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK
Offenbar haben wir den Ort besudelt
Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?
Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen.
Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.
Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?
Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung.
Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?
Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif.
Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.
Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?
Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen.
Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler.
Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?
Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.
Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.
„Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK
Konzertverbote für Rapper – und nicht nur: Wochenlang haben russische Behörden Konzerte von Rappern und anderen Musikern abgesagt und verboten. Meduzahat eine Überblicksliste abgesagter Konzerte erstellt. Im Staatssender Rossija-1 griff Dimitri Kisseljow das Thema Anfang Dezember auf – und trat für die Rapper und für den Rap als „alternative Musikkultur“ ein. Er sagte: „Ein Vorreiter des Rap in unserer russischen Lyriktradition ist natürlich Wladimir Majakowski“, und gab selbst auch gleich ein paar Majakowski-Bars zum Besten (siehe Video unten). Kurz zuvor war der Rapper Husky wegen einer Rap-Performance auf einem Autodach zunächst zu zwölf Tagen Haft verurteilt, dann aber vorzeitig wieder aus der Haft entlassen worden. Während Beobachter über die staatsnahe Unterstützung für die Rapper rätselten, kommentierte Huskys Manager in der russischen BBC:
„Für mich ist das [Eintreten Kisseljows für Husky] so zu werten, dass zunächst von oben die Gegenrichtung vorgegeben wurde, dass jetzt konkret über Husky nur Gutes gesagt werden darf – und alle staatlichen Fernsehsender haben dann nur noch Gutes gesagt. Die Krönung des Ganzen war der Beitrag von Kisseljow. Schon klar, warum das so läuft, wir wissen alle ganz genau, wie Content in Staatssendern gemacht wird und wer der Auftraggeber ist.“
Kurz darauf wurde in Woronesh ein Auftritt des Experimental-Duos IC3PEAK nach wenigen Minuten abgebrochen. Am selben Tag hatte die Duma einige Rapper zum Runden Tisch eingeladen. Dort hieß es unter anderem, sie hätten „die Werte eines würdigen, wertvollen und gesunden Lebens zu pflegen, das dem Land und der Gesellschaft diene“. Der bekannte Rapper Shigan verließ schließlich den Saal und sagte: „Das bringt nichts.“ Dabei gab es beim Parteitag der Regierungspartei Einiges Russland von höchster Ebene Unterstützung für die Musiker. Sergej Kirijenko, Vizechef des Präsidialamtes, kritisierte die Behörden: „Wenn es mit Konzertverboten endet, ist das eine Dummheit.“
Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen. Sie erhielt zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen für ihre Werke, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als sie 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, charakterisierte der Literaturkritiker Karl-Markus Gauß in seiner Laudatio ihr Werk mit den Worten: „Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird.“
Wie wichtig dieses Geflecht auch für die Privatperson Ljudmila Ulitzkaja ist, wird im Interview deutlich, das Katerina Gordejewa mit ihr führte. Sie sprachen über Persönliches, über starke Frauen, #metoo und darüber, warum der westliche Feminismus in Russland nicht verstanden wurde. Dabei zeigt sich, dass Ulitzkaja selbst geprägt ist von diesem Blickwinkel und ihr westliche feministische Positionen wenig vertraut sind. So ist das Interview mit der 75-jährigen Ulitzkaja in der russisch-orthodoxen Pravmir eines, woran sich (nicht nur) westliche Leser durchaus reiben können.
Katerina Gordejewa: Derzeit sehen wir täglich in den Nachrichten, dass sich Frauen zusammentun und Berge versetzen. Ein aktuelles Beispiel ist der Marsch der Mütter. Bei diesem Marsch scheint mir besonders wichtig, dass sich die Frauen nicht wegen gemeinsamer politischer Ansichten zusammengeschlossen haben, sondern einfach, weil sie Frauen sind, Mütter. Die kann nichts aufhalten. Das ist für Russland eine völlig neue Kraft.
Ljudmila Ulitzkaja: Oh, ja. Wie heißt es doch bei Pasternak: „Was könnte sich messen mit weiblicher Kraft? Sie ist unfassbar mutig!“ Denkst du, diese weibliche Kraft ist in Russland schon erwacht?
Zumindest erwacht sie gerade.
Es lief in den letzten 100 Jahren darauf hinaus: Seit 1904 vergingen in Russland keine drei Jahre, ohne dass Männer getötet wurden. Seit dem Russisch-Japanischen Krieg gab es immer nur: Krieg und Repressionen, Repressionen und Krieg.
Wegen diesem ständigen Schwund der besten, stärksten und klügsten Männer, die in Konflikten und Kriegen umkamen, hat es sich in den letzten 100 Jahren so ergeben, dass die Frauen in Russland einfach qualitativ hochwertiger sind, und außerdem sind sie auch in der Überzahl. Während die Männer in Kriegen und Lagern umkamen, mussten die Frauen sowohl die typischen weiblichen Aufgaben übernehmen als auch die Familie versorgen und beschützen, was für gewöhnlich die Aufgabe der Männer gewesen war.
Deswegen stießen westliche feministische Losungen bei uns erwartungsgemäß auf Unverständnis: Sie passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen. Die westlichen Feministinnen wollten, dass Frauen wie auch Männer arbeiten, dass sie am politischen, sozialen und beruflichen Leben teilnehmen. Während unsere Frauen, abgearbeitet von der Doppelbelastung, von jener Situation nur träumen konnten, gegen die man im Westen aufbegehrte. Wenn du von früh bis spät schuftest wie ein Gaul, sind die berühmten drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – ein Traum: Zu Hause sitzen, Suppe kochen, mit den Kindern Hausaufgaben machen und zur Kirche gehen.
Westliche feministische Losungen passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen
Zum ersten Mal beobachtete ich dieses nahezu komische Unverständnis in den 1980ern, als amerikanische Feministinnen in die Sowjetunion kamen und davon sprachen, was sie beschäftigt, und unsere Frauen sie überhaupt nicht verstanden. Diese Feministinnen verlangten, Abtreibungen zu legalisieren (bei ihnen waren sie verboten) und forderten, dass eine Frau selbst frei entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt. Die russischen Frauen saßen nur da und nickten: „Ja, ganz genau, Abtreibungen sind furchtbar, es gibt überhaupt keine Betäubung, sie reißen es dir einfach so aus dem Leib.“ Man redete völlig aneinander vorbei.
Aber auch bei den Problemen gab es fast keine Überschneidungen: Die einen litten unter den einen Sachen, die anderen unter ganz anderen. Ich bin im Grunde überhaupt keine Anhängerin von feministischen Ideen, auch wenn ich vor ein paar Jahren den Simone de Beauvoir Prize bekommen habe.
Der Anfang des 21. Jahrhunderts wird in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der nicht mehr nur einzelne, besonders fortschrittliche Frauen für ihre Rechte und Freiheiten eintreten. Frauen auf der ganzen Welt tun sich zusammen und protestieren gegen Dinge, die zuvor als selbstverständlich oder sogar als Errungenschaften der sexuellen Revolution galten.
Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm. Angefangen bei der Weinstein-Affäre, die gewissermaßen zum Auslöser für die ganze Kampagne wurde. Weißt du, jemand, der mal beim Theater oder Film hinter den Kulissen war, weiß genau, dass die Regisseure und Produzenten sich die Weiber vom Leib halten müssen: Junge (oder nicht mehr junge) Schauspielerinnen sind so besessen davon, eine Rolle zu bekommen, dass sie vor nichts zurückschrecken und zu allem bereit sind.
Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm
Ich kann dir wirklich nicht sagen, wer in der Überzahl ist: die männlichen Bösewichte, die die weibliche Schwäche und den Wunsch, Karriere zu machen, ausnutzen, oder die Frauen, die sich selbst, ihren Freundinnen oder ihren Konkurrentinnen die Kehle durchschneiden würden, nur um eine gute Rolle zu bekommen. Ich habe ein bisschen am Theater gearbeitet und kenne die Zustände, deswegen finde ich diese ganze Geschichte lächerlich.
Aber die Aufmerksamkeit nimmt nicht ab.
Mir scheint diese Kampagne vor allem gegen eine der mächtigsten Industrien des 20. Jahrhunderts gerichtet zu sein, die sicherlich vorhatte, auch im 21. Jahrhundert noch ordentlich mitzumischen: die Schönheitsindustrie. Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Frau mit jedem Jahr schöner und sexier wird. Die Mode ist vollständig auf dieses sexy Image ausgerichtet, das übrigens aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt. Weißt du eigentlich, was das Symbol dieser Bewegung war?
Was denn?
Der Minirock.
Hatten Sie auch einen?
Na, was denkst du denn? Klar. Sogar einen aus Leder, eigenhändig aus der Ledercouch kreiert: Ich riss den Lederbezug herunter und nähte mir einen Minirock daraus, den ersten in unserer Gegend. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese nackten Beine, die der Minirock zeigt, bis heute im Clinch mit jenen Beinen liegen, die von Vertretern eines anderen kulturellen Codes unter langen Kleidern oder weiten Hosen versteckt werden.
Ich hatte einen Ledermini, geschneidert aus einer Ledercouch
Ich denke, hier lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese ganze Gender-Geschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Wobei weltweit immer noch zwei Strategien dominieren.
Welche sind das?
Die erste: Der kleine Finger, der aus schwarzen Kleidern hervorblickt. Er muss nur kurz aufblitzen – und schon ist der Mann der Besitzerin hoffnungslos verfallen und entscheidet sich für sie. Die zweite Strategie kommt aus der Schönheitsindustrie: Die Frau soll immer noch attraktiver, sexuell aufreizender sein – denken wir nur daran, wie viel Geld, Kraft und Zeit Frauen in Kosmetik, Kleidung und Unterwäsche investieren. Als ich letztens einen BH für 1500 Euro gesehen habe, ist mir die Kinnlade runtergefallen. Bei dieser Strategie suggeriert die Frau, die sich durch Make-up und fehlende Kleidung maximal ausgestellt hat: Beachtet mich, und dann entscheide ich selbst, welchen von euch ich nehme.
Da gibt es die albernsten Sachen, aber auch ein aktuelles, kulturanthropologisches Problem: Wie soll man heutzutage seine Kinder erziehen? Beispielsweise die Mädchen. Wonach sollen sie sich richten? Soll man ihnen rosa Kleidchen oder Jogginganzüge kaufen? Lackpumps oder Sportschuhe?
Meine Enkelin Marianna hat von meiner Tochter immer nur mädchenhafte Kleidung bekommen, aber jetzt wo sie etwas älter ist und sich ihre Kleidung selbst aussucht, trägt sie nur geschlechtsneutrale Sachen: Jeans und Sportschuhe. Und auch wir tragen doch mittlerweile alle dieselben Kapuzenjacken, die sich höchstens dadurch unterscheiden, ob die Knöpfe rechts oder links sind. Ich bin da keine Ausnahme.
Sind Sie direkt vom Leder-Minirock auf Unisex-Garderobe umgestiegen?
In meiner Jugend habe ich mir viel aus Kleidung gemacht, ich muss zugeben, ich war immer sehr extravagant angezogen. Meine Mutter geriet außer sich, wenn ich meinen Lederrock trug, dazu ein amerikanisches Militärhemd in Camouflage, das ich aus dem Second Hand-Laden hatte und mit einem Gürtel festzurrte, und 15 Zentimeter High Heels. Ich fand, ich sah sehr cool damit aus. Irgendwann hat das nachgelassen. Heute bin ich bei meiner Kleiderwahl viel gelassener, auch wenn nichts, was ich trage, zufällig ist. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich nie anziehen würde.
Was zum Beispiel?
Ein Abendkleid.
Mein Mann sagte mal: ‚Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.‘
Nicht einmal, wenn Sie den Nobelpreis bekämen?
Nicht einmal dann. Mein Mann sagte mal: „Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.“ Dieser Satz hat mich ein für alle Mal von der Idee befreit, ich müsste etwas anziehen, das mir nicht gefällt, statt etwas Bequemes, worin ich mich wohlfühle. Das kleine Schwarze? Nie im Leben!
Und abgesehen vom Kleid, haben Sie mal über den Nobelpreis nachgedacht?
Diese Frage hat sich für mich erledigt.
Warum?
Weil da ein ganz bestimmter Mechanismus am Laufen ist: Dieses Jahr bekommt ihn ein Amerikaner, nächstes Jahr ein Chinese, danach wäre ein Schwarzer nicht schlecht, und danach die Frauen nicht vergessen, und dann geben wir ihn am besten mal einem Querschnittsgelähmten. Die Idee der politkorrekten Gleichberechtigung, die einem bei der ganzen Geschichte entgegenschlägt, hat meine bescheidenen Chancen völlig zunichte gemacht: Eine russischsprachige Frau hat den Nobelpreis schon bekommen – Swetlana Alexijewitsch. Und ich habe ihr von ganzem Herzen dazu gratuliert.
Damit waren Sie aber eine der wenigen, die ihr von Herzen gratuliert haben.
Klar! Ihr Preis hat mich von der ganzen Anspannung und Nervosität befreit. Es sickern ja immer Informationen durch, ich wusste, dass mein Name dort auf irgendwelchen Listen auftauchte. Endlich konnte ich aufatmen.
Als Alexijewitsch den Preis bekam, sind die Schriftsteller in Russland aus allen Wolken gefallen und kurz darauf brach die Empörung los: „Wie kann das sein? Nabokov hat ihn nicht bekommen, und sie schon!“ Aber die Sache ist die: In den Statuten der Nobelpreis-Stiftung heißt es, der Preis soll „denen zugeteilt werden, die […] einen für die Menschheit großen Beitrag geleistet haben“. Bei dem Preis geht es also um humanistische Ideale und streng genommen nicht um Literatur. Im Gegensatz zu etwa dem britischen Man Booker Prize – da geht es um Literatur. Die Booker-Nominierungen folgen ausschließlich literarischen Kriterien. Obwohl es auch da Nuancen gibt: Es ist viel wichtiger auf die Short List zu gelangen, als den Preis zu bekommen.
Warum?
Weil die Short List dort, wie bei vielen Preisen, eine ziemlich unabhängige Angelegenheit ist: Experten, die nichts miteinander zu tun haben, sprechen Empfehlungen aus. Aber sobald es um den ersten Preis geht, beginnen die Intrigen. Das ist in England nicht anders als bei uns. Dass ich dreimal auf der Short List des russischen Booker war, zählt für mich viel mehr, als dass ich ihn einmal bekommen habe.
Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten durchsehe, wundere ich mich, wie Sie es schaffen, überall gleichzeitig zu sein. Wozu machen Sie das?
Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, ständig hinterherzuhinken. Aber letzten Endes läuft alles eigentlich darauf hinaus, dass jeder von uns eine Aufgabe im Leben hat. Manchmal verlieren wir aus dem Blick, worin sie besteht. Meistens reagieren wir aber einfach, bevor wir überhaupt verstanden haben, worin unsere Herausforderung besteht. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, dass ich meine großen Bücher schon geschrieben habe.
Heißt das etwa, das war’s?
Einen großen Roman werde ich nicht mehr stemmen. Ich habe ihn mir schon ausgedacht, er hängt irgendwo in der Luft, aber schreiben wird ihn jemand anders.
Warum? Sind Sie müde? Haben Sie keine Lust mehr?
Ich habe Angst, Katja. Ich bin 75, mir bleibt objektiv betrachtet wenig Zeit. Da liegt nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir, und auch kein Drittel, sondern nur noch ein kleines Stück. Deswegen setze ich mir lieber kleine Ziele, und die erreiche ich auch.
Was zum Beispiel?
Ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, darüber bin ich sehr froh, denn ich dachte, das wäre vorbei, aber plötzlich kam es wieder. Das macht mich sehr glücklich. Meine Arbeit interessiert mich immer noch, und ich mache sie gern. Aber ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst, du denkst sogar im Schlaf daran. Und wenn du dich mit jemandem über ganz andere Dinge unterhältst, denkst du trotzdem daran. Er verschlingt dich voll und ganz. Anders kann ich nicht arbeiten.
Ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst
Andere können es. Boris Akunin zum Beispiel, letztens gab er bei einem Interview auf die Frage, wie er arbeite, die geniale Antwort: Morgens zwei Stunden. Das glaube ich ihm natürlich nicht: es ist unmöglich, in zwei Stunden so viel zu produzieren.
Sie nutzen ihre Lebenszeit aber letztendlich nicht für diese Arbeit, sondern um zu Dmitrijews Gerichtsverhandlung nach Petrosawodsk zu fahren oder mit einem Plakat für Senzow auf der Straße zu stehen.
Die Mahnwache dauerte ganze 15 Minuten. Und ich musste es tun. Denn so stark das Gefühl der Ohnmacht auch ist, nichts zu machen, ist noch schlimmer. Deswegen musste ich mich einmischen. Das war nichts Besonderes: ich brauche 10 Minuten zur Station Puschkinskaja, ich bin hin und habe dort 15 bis 20 Minuten gestanden, und es hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist sogar bemerkenswert, wie wenig die Passanten uns beachtet haben: ein Grüppchen alter Irrer.
Es waren nur „Ihre Leute“ da. Wie kommt das? Ist Ihre Generation stärker? Auch im moralischen Sinne?
Ach nein, Unsinn.
Aber es gibt doch Unterschiede?
Ja, natürlich. Der wesentliche ist wohl, dass man in unserer Generation ohne einander gar nicht überleben konnte. So war das Leben damals. Wenn du zum Arzt gehen wolltest, musstest du eine Freundin bitten, auf das Kind aufzupassen. Wenn du ein Ticket nach Leningrad brauchtest, musstest du die Cousine einer Bekannten anrufen, damit sie es dir kauft.
Früher war man stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art
Der Alltag war ungemein hart: Ich ging immer in den Keller einer Fleischerei, wo ich den Metzger kannte, und kaufte gleich sechs Stück Fleisch – für Nadja, Natascha, Tanja, Diana, Ira – weil ich ja nicht jeden Tag dort hinging und weil es verflucht selten überhaupt etwas zu kaufen gab. Diese sechs Stück schleppte ich heim, und dann ging es ans Teilen. Es ging viel sozialer zu als heute. Und man war stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art.
Ist das gut oder schlecht?
Weder noch, es ist einfach ein Merkmal. Heute ist es anders. Bei euch ist es eine individuelle Entscheidung, mit wem ihr zu tun habt. Der Alltag zwingt euch zu nichts: Man kann einen Babysitter rufen, sich das Fleisch nach Hause liefern lassen, einen Handwerker kommen lassen, um den Kühlschrank zu reparieren oder sonst noch was. Aber ich will meine gewohnte Welt der sozialen Bindungen nicht verlassen. Sie schafft nämlich eine enorme Lebensqualität: Ich fühle mich sicher hinter einer Chinesischen Mauer von Freunden.
Aber wir haben doch das gesamte 21. Jahrhundert dafür gekämpft, dass man ohne Vetternwirtschaft Tickets bekommen, Lebensmittel kaufen oder sich medizinisch behandeln lassen kann?
Das ist keine Vetternwirtschaft, meine Liebe. Das läuft alles über Empathie. Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn ein Mensch keinen Krankenwagen rufen kann, wenn niemand kommt, um ihm zu helfen, ihn zu retten oder zu behandeln – das ist falsch. Aber wenn ich meine Bekannten Petja, Jura oder Natascha anrufe und sage: „Natascha, es geht mir beschissen. Was denkst du, schaff ich das oder soll ich einen Arzt rufen?“ – dann ist das ein großes Glück.
Warum?
Ganz einfach, weil du dankbar bist und diese Dankbarkeit auch von anderen spürst, wenn du etwas für sie tust. Es ist ungemein wichtig, sich auf positive Weise in die Gesellschaft eingebunden zu fühlen.
Dann müssen Ihnen all die Ideen des „verschönerten“ modernen Moskaus, wo alles effizient ist und automatisch läuft, sehr zuwider sein?
Das stimmt, sie gefallen mir nicht. Ich denke, all diese Verschönerungen sind in Wirklichkeit nur geschmacklose Deko.
Wirklich alle?
Ja, mein Auge protestiert, wobei ich mir dann selbst sage: „Halt! Beruhig dich, die Stadt braucht das: diesen Raum zum Spazieren, diese glatten glänzenden Bürgersteige, alles sieht viel ordentlicher aus als vor fünfzig Jahren.“
Eine große Rolle spielt dabei sicher das, was man in der Biologie Prägung nennt: Die ersten Bilder, die ersten Gerüche, die ersten Wahrnehmungen, Anordnungen – all die Dinge, die für immer in uns bleiben und unser Leben lang bestimmen, was uns gefällt und was nicht.
Eine Stadt lebt und altert mit ihrer Geschichte. Eine alte, alternde Stadt ist organisch. Das heutige Moskau beachtet sein Erbe überhaupt nicht. Auf meinem ganzen Weg hierher zu unserem Treffen habe ich nichts gesehen, was gleichgeblieben wäre, außer dem Feinkostladen Jelissejew, ich glaube dort haben sie sogar noch dieselben Lampen. Der Rest verjüngt und erneuert sich ständig, hat Angst auch nur eine Sekunde stillzustehen. Jagt der schwindenden Jugend hinterher.
Gibt es an diesem Moskau auch etwas, das Ihnen gefällt?
Ja, hier und da gibt es hübsche Springbrunnen. Und es gibt mehr Licht. Aber wenn ich auf den Dritten Ring komme, habe ich den Eindruck im Nirgendwo zu sein. Ich verstehe nicht, was es für eine Stadt ist, wo sie sich befindet, auf welchem Kontinent, an welchem Punkt der Erde – so durchschnittlich ist dieser Ort. Moskaus Stadtbild war tatsächlich immer sehr bescheiden, aber nun hat es sich nicht auf natürliche Weise verändert, sondern nach den Ideen von Architekten und Städtebauern. Das gefällt mir nicht, aber ich gebe zu: Es ist bequemer geworden. Ich habe mein Auto verkauft und fahre nur noch Metro, denn nur damit kann ich meine Fahrzeiten in dieser Stadt noch richtig kalkulieren.
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Für gewöhnlich ärgern sich Menschen in Ihrem Alter über Veränderungen.
Nein, ich finde das oft cool. Ich ärgere mich nur über mich selbst, wenn ich nicht hinterherkomme, ich versuche immer dranzubleiben: Ich arbeite mit Computern, seit es sie gibt. Aber mein Enkel ist natürlich schneller.
Denken Sie oft an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie Krebs haben und fortan mit der Krankheit leben oder sogar an ihr sterben müssen?
Nein. Das war zu erwarten, ich komme aus einer Familie mit Krebs und habe mich hin und wieder untersuchen lassen, weil ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde. Ich habe mich nur geärgert, als sich herausstellte, dass die Ärztin, zu der ich gegangen war, meinen Krebs übersehen hatte: Als ich mit der Therapie anfing, war der Krebs schon im Stadium III. Nach der OP sagte man mir: „Mensch, so einen großen Tumor haben wir noch nie gesehen“ oder „lange nicht gesehen“, ich weiß es nicht mehr genau.
Hatten Sie Angst?
Nein, überhaupt nicht. Ich war besorgt. Mein Leben ist geprägt von einem Gefühl der Dankbarkeit. Und das hat sich nur verstärkt, nachdem das an mir vorübergegangen ist, meine Krankheit hätte ja auch anders ausgehen können.
Wie hat die Krankheit Sie verändert? Viele Menschen finden während einer schweren Krankheit Zuflucht im Glauben.
Bei mir war es genau andersherum. Natürlich bin ich dem Schicksal und den höheren Mächten dankbar, dass ich dieses Geschenk – noch ein paar Jahre nach dem Krebs – bekommen habe. Aber in diesen Jahren bin ich vollkommen in Daniel Stein, also Oswald Rufeisen, aufgegangen. Die Bekanntschaft und der Austausch mit ihm haben mich und mein Verhältnis zum Glauben in eine tiefe Krise gestürzt.
Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr
In welcher Hinsicht?
Er hat mir gesagt: Wir wissen nicht einmal wirklich, was Elektrizität ist, woher sollen wir wissen, wie Gott beschaffen ist? Mit diesem Satz hat er mich aus der furchtbaren Sklaverei befreit etwas zu tun, was ich selbst nicht vollständig verstehe. Ich entfernte mich allmählich von der Kirche und näherte mich Daniels Idee an, die im Wesentlichen eine apostolische Idee ist: die Tat. Ich versuche durch Taten zu leben … Dafür brauche ich keine Kirche.
Haben Sie denn keine Angst? Man sagt ja: In einem abstürzenden Flugzeug gibt es keine Atheisten.
Ich bin keine Atheistin, Katja. Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr. Aber je näher der Tod rückt, desto weniger interessiere ich mich für Religion.
Wofür interessieren Sie sich dann?
Für das Heute, für diese Minute. Mittlerweile lebe ich viel mehr im Hier und Jetzt als noch vor einigen Jahren. Mein Leben hat an Effektivität gewonnen. Mir ist es mittlerweile sehr wichtig, das, was ich gerade tue, gut zu machen. Damit meine ich nicht die literarische Arbeit. Wahrscheinlich bin ich heute ein viel glücklicherer Mensch, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Und ich bin mir bewusst, dass sich das jeden Moment ändern kann.
Eigentlich ist Rap in Russland Teil der Massenkultur. Timati, der als reichster Rapper des Landes gilt, besang auch schon mal Putin. Ansonsten zelebriert er wie viele andere genau das, was auch europäische und US-amerikanische Rapper tun: einen Lifestyle mit Benz, Bitches und viel Bling-Bling.
Auch Face gehörte bis vor Kurzem dazu. Mit seinen sexistischen Texten fand er durchaus Anklang bei der russischen Jugend. Sein neues Album ist anders, es führt gewissermaßen back to the roots: Rap wird zur Gegenkultur, wie zu den Entstehungszeiten in den USA. Unzufriedenheit mit Politik kommt dabei zu Tage, Protest und Wut.
Meduza befragte Face zu seinem neuen Album und wie es dazu kam. Eschtschkere!
„Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben“. Foto: Alexander Anufriev / Meduza
Alexander Gorbatschow: Du hast gesagt, du würdest Meduza ein Interview geben, weil wir nicht übertrieben russophob sind. Was meinst du damit?
Iwan Face Drjomin: Es gibt einen Grad der Russophobie, der ist keine Russophobie, sondern gesunder Menschenverstand. In diesem Staat – und nicht nur in diesem, eigentlich in jeder Gemeinschaft – gibts das. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du unter Umständen sofort zum Gegner dieser Gemeinschaft, zum Oppositionellen. Es reicht doch schon zu sagen: „Es gibt Scheißbullen, die Geld abzocken.“ Wenn du eine mediale Person bist, kannst du sofort zum Volksfeind werden.
Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!
Gemeinschaften haben ihr Wesen, haben Regeln, die sie befolgen, damit es sich bequemer lebt und die Menschen nicht nachdenken müssen, denn Gedanken machen das Dasein zur Qual. Außerdem haben die Menschen eine sehr starke Bindung an ihre Eltern. Die Menschen wollen nicht genauer nachdenken, ob die Eltern ihnen Feind oder Freund sind, wollen sie nicht gleichsetzen mit anderen Menschen, die ihnen zum Beispiel Schmerzen zugefügt haben. Warum schalten die Leute nicht ihren Kopf an? Weil die Eltern das so gesagt haben.
Wie soll man einem Durchschnittsrussen zum Beispiel erklären, dass Afroamerikaner oder Afrorussen, Chinesen, Japaner, Usbeken Menschen sind? Ein banales Beispiel, aber das ist oft ziemlich schwer. Und dann denkst du, du hast es ihm erklärt, und er nickt, aber dann gehts von vorne los: „Überall laufen hier diese Tschurken und Neger rum, hahaha, hihihi.“ Von Schwulen darf man gar nicht erst anfangen. Hier wird man Homosexuelle wahrscheinlich nie als Menschen betrachten. Wieso hackt man auf diesen Menschen rum? Wieso frikassiert man sie, nur weil sie sind, wie sie sind? Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!*
Ist das ein russisches Problem oder ein allgemeines?
Ein allgemeines. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was besser ist: Seinen Hass zu verstecken oder ihn zu zeigen. Es ist natürlich schlecht, ihn auf radikale Weise zu äußern. Wenn man nur eine Meinung formuliert, ist das eher besser, würde ich sagen. In Europa ist es oft ziemlich verfickt: Viele hassen Minderheiten und Migranten und verstecken das. Hier würde ich Russland gern freisprechen – Russland verdient mehr Respekt als ein Land mit aufgesetzter Toleranz. Es gibt sicher auch Länder mit echter Toleranz. Die haben meinen vollsten Respekt. Ich will Bürger einer solchen Polis sein.
Mich würde deine persönliche Beziehung zu Gott interessieren. Das scheint in deinem neuen Album eine große Rolle zu spielen.
Als Kind war ich krass gläubig. Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist. Dir wird keine Wahl gelassen, du darfst nicht selber nachdenken. Du bekommst ein Kreuz umgehängt und fertig: Du glaubst!
Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist
Für mich ist das Faschismus. Psychische Gewalt. Das ist wie mit der Musikschule. Ich weiß nicht, was ich mit sechs machen wollte, aber ich musste zur Musikschule, und ich habe es verdammt gehasst. Genauso ist es mit der Kirche, wenn man da um 9 Uhr morgens hingeschleift wird, obwohl man nicht will. Dafür habe ich null Verständnis. Aber ja, als ich Molitwa [dt. „Gebet”] schrieb, dachte ich daran, wie ich als Kind gebetet habe. Und ich habe selbst ein Gebet geschrieben. Aber in dem Song geht es eigentlich um etwas anderes. Ich habe Gott geliebt, aber wir sind zu verschieden. Das ist die letzte Zeile auf der Platte.
„Ich habe den Herrgott geliebt, aber wir sind zu verschieden“ – Molitwa (dt. „Gebet“, 2018)
Vorhin hast du gesagt, die Gemeinschaft reagiert negativ, wenn man die Wahrheit sagt. Jetzt hast du ein Album veröffentlicht, auf dem du – in deinen Augen – die Wahrheit sagst. Gibt es negative Reaktionen?
Klar gibt es die. Es gibt Menschen, die sagen, was soll das, sing lieber über Burger. Dann gibt es welche, die sagen: „Fuck, sowas hab ich vor zehn Jahren schon gemacht, das Zentrum E hat mich auf den Index gesetzt, man bin ich krass.“ Warum sagen die das, wenn es um meinen Release geht? Weil sie sich auf Twitter feiern wollen. Aber so wie ich hat das noch niemand gemacht. Vor allem, wenn man mein Alter bedenkt und wer ich bin. Das war mutig, und ich bin stolz, dass ich dieses Album geschrieben und rausgebracht habe. Ich musste das einfach tun, um mich von meinen Kindheitstraumata zu befreien. Das habe ich gemacht – wie ich finde, erfolgreich.
Meine Wahrheit liegt im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche
Dann gibt es noch die Fraktion „Wieso erzählst du uns das? Wissen wir auch ohne dich“. Und so Clowns, die finden, ich wär russophob und würde auf die Heimat spucken, ein Volksfeind.
Gut, Hater gab es bei uns wohl schon immer. Was ist mit dem Staat? BBC berichtete von Anrufen aus der Präsidialadministration, in denen es um deine Tweets geht. Wenn sie die Tweets lesen, wird ihnen nicht ein ganzes Album entgangen sein?
Naja, es gibt schon Anfragen zu Konzerten, Gerüchte über Durchsuchungen, irgendwer hat von irgendwem irgendwas gehört … Aber ich versuche, das locker zu sehen, weil ich weiß, dass ich sauber bin. Ich sage meine Wahrheit, und die bewegt sich im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche. Aber auch im Rahmen des geltenden Gesetzes kann man mir nichts vorwerfen. Das würde ich auch nicht wollen. Wenn ich Krieg führen wollte, würde ich andere Wege gehen. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet. Ich weiß, dass ich in dieser Situation nichts falsch gemacht habe und mache.
„Ich fahr zu Gucci in Sankt Petersburg // Sie frisst meinen Schwanz als wärs ein Burger“ – Burger (2017)
Wie ist die Musik zu Puti neispowedimy [dt. „Die Wege sind unergründlich”] entstanden? Sie ist etwas anders als früher – schwerer, ruheloser vielleicht.
Diese acht Songs sind das Ergebnis der letzten zwei, drei Monate und der seelischen Krisen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ich habe viel gerungen und ausprobiert. Der Sound ist hundertpro Meek Mill. Und Drake. Gemischt mit gesellschaftskritischem Rap. Ziemlich originell. Aber ich betrachte rezitativen Rap nicht wirklich als Musik, deswegen will ich nicht damit rumprotzen, was für gute Musik ich geschrieben habe. Guten Rap – ja, auf jeden. Wer was anderes behauptet, der kann mir verfickt noch mal den Schwanz lutschen. Weil die Zeile „Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt“ genial ist. Nochmal, ich bin 21. Ihr alten Säcke könnt euch verpissen, zum Arsch.
Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt
Man kann meine lyrischen Triumphe abtun und sagen: Alles Hype, Show, Performance, Pose, zu einfach usw. Aber es ist viel schwieriger, einfach und genial zu schreiben als umgekehrt. Ich sage nicht, dass ich genial bin, aber das Album ist eine 1-, mindestens eine 2+. Es ist ein wirklich gutes Rap-Album, mit dem ich im Grunde zufrieden bin.
Warum nennen Sie keine Namen? Staatsbeamte, Putin meinetwegen?
Das würde die ganze Geste entwerten. Wenn ich das wegen Knete machen würde, hätte ich das gemacht, aber es war nicht wegen Knete. Ich glaube nicht, dass man mit Namedropping von Politikern ein cooles Album machen kann. Ich könnte das nicht. Das würde nur prollig klingen.
Wenn wir schon bei Kritik sind. Ich kenne Leute, die deine früheren Lieder als frauenfeindlich bezeichnen. Kannst du das nachvollziehen?
Natürlich, denn es ist so. Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Ich musste sie singen, um dank ihnen und ein paar anderen Umständen dahinterzukommen, dass Frauen wundervolle Wesen sind, die man lieben muss.
Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Das war meine Rache am weiblichen Geschlecht
Ich war aus meiner Kindheit traumatisiert, war unglücklich verliebt. Außerdem hat eine Rolle gespielt, dass wir meiner Mutter megascheißegal waren. Das kam alles zusammen, natürlich war ich ein Frauenhasser. Ich habe sogar eine EP gemacht, Revenge – das war meine Rache am weiblichen Geschlecht. Meine Idee war: Ihr habt mich nicht geliebt, und jetzt hüpft ihr um mich rum, weil ich Geld und Ruhm hab und das alles. Ihr könnt euch alle mal verpissen!
„Spiel nur keine Spielchen mit mir, du verlierst unter Garantie“ – Revenge (2017)
Wirst du deine alten Songs noch performen?
Ja, warum nicht? Die Leute sollen meine Entwicklung, den Weg sehen, den ich gegangen bin. Er soll sie dazu inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden und statt über irgendeinen Bullshit zu singen was Wichtiges erzählen kann. Aus einem einfachen Typen aus Ufa, der seine Songs selbst zusammengebastelt und mit dem Geld seiner Oma aufgenommen hat, kann jemand werden, der ein glückliches Leben führt, im Reinen mit sich ist und etwas tut, das tausenden von Menschen gefällt. Oder auch nicht, aber jedenfalls ist er im Reinen mit sich, es fehlt ihm an nichts.
Mein Weg soll sie inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden kann
Ich schäme mich nicht für diese Songs, falls das irgendwer denken sollte. Ich versuche das so zu sehen – auch wenn ich mir das vielleicht zurechtbiege, weil mir diese Legende gefällt: In diesen Songs bin ich ein Spiegel der Jugend. Ich habe das erst viel später verstanden, aber genauso ist es. Das ist die Gesellschaft. Frauenfeindlichkeit liegt in der Luft, alle wollen sich aufblasen, was beweisen – ich bin so reich, so cool, so berühmt. Das ist normal. Ich habe mit solchen Songs angefangen, dann habe ich ein Album aufgenommen, um mir die Seele zu erleichtern, wie man das als Russe manchmal eben tun muss. Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben.
Warum gibt es dann so wenig gesellschaftskritischen Rap?
Weil die Leute Angst haben. Erstens vor Problemen mit den Staatsorganen. Zweitens, Geld zu verlieren, weil Konzerte verboten werden. Drittens, Geld zu verlieren, weil keiner zum Konzert kommt. Viertens, Geld zu verlieren, weil sich alle abwenden. Daher kommt auch diese ganze Schulterklopf-Rhetorik. Eigentlich gibt es nur einen Menschen, auf dessen Meinung wir was geben.
Und wer ist das?
Oxxxymiron.
Warum ausgerechnet er?
Oxxxymiron ist ein wirklich guter Rapper, eine bedeutende Persönlichkeit. Wir haben ein Rap-Album gemacht, und uns interessiert die Meinung des einzigen bedeutenden Rappers, der technisch echt was draufhat, was von Lyrik versteht, der interessant ist, originell. Er ist gut in dem, was er tut. Sehr gut sogar.
Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe. Mich abgesetzt habe. Ich bin wirklich der einzige. Wenn mir irgendjemand künstlerisch nahesteht, dann ist das Oxxxymiron.
„Ich knocke den Westen aus, auf meinem Schwanz steht die gesamte Industrie der USA“ – Ja ronjaju Sapad (2017)
Früher gab es in deinen Songs Sex, Geld und keine Politik. Und jetzt gibt es nur Politik und keinen Sex. Haben diese Themen für dich nichts miteinander zu tun?
Was soll ich dazu sagen? Erstens habe ich seit einem Jahr nichts mehr veröffentlicht. In meinem Alter kann sich in einem Jahr viel verändern. Auf einmal war ich mit Geld und Popularität konfrontiert, einer ernsten Beziehung. Das alles hat mich geflasht, in ein emotionales Loch gestürzt, mich zum Nachdenken gezwungen. Ich habe bekommen, was ich wollte. Worüber habe ich früher gesungen? „Ich bin reich, ich bin berühmt“. Warum? Weil ich nicht reich und berühmt genug war, um darüber zu schweigen. Das habe ich jetzt geschafft. „Ich werd euch alle ficken, ficke alle“. Ich wollte einfach ein Mädchen kennenlernen. Ich war traurig, daher die Texte.
Und dann? Ich wusste nicht, worüber ich singen sollte. Darüber, dass es mir schlecht geht mit meiner Liebsten? Ne, es geht mir ja verfickt gut mit meiner Liebsten. Darüber, dass ich jetzt scheiße viel Geld habe, dass ich berühmt bin? Wozu? Ich bin ja wirklich berühmt, ich habe wirklich Geld.
Der hatte alles und keinen Schiss, es zu verlieren
Ich habe so eine Ahnung: Wenn sich irgendwann mal die Spreu vom Weizen trennt, werden die Leute nicht denken: „Erinnerst du dich an den Vollpfosten, der dieses eine Jahr so gehyped wurde?“ Sie werden in anderen Kategorien denken: „Weißt du noch, dieser Typ, der immer noch verfickt gute Mucke macht: Als der Die Wege sind unergründlich rausgebracht hat, und niemand hat auch nur annähernd mitgeschnitten, was das für eine Hammergeste war? Ich mein, der hatte verfickt noch mal alles und hatte keinen Schiss, das alles zu verlieren.“
„Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe.“ Foto: Alexander Anufriev / Meduza
Ein anderer möglicher Kritikpunkt: Du hast schon erwähnt, dass du ein relativ gutes Leben hast. Du wohnst mitten in Moskau, hast eine tolle Wohnung, isst in teuren Restaurants – und singst von Abgründen und Hölle, obwohl dein Leben heute ein ganz anderes zu sein scheint.
Von den 21 Jahren meines Lebens hab ich nur das letzte Jahr so gelebt. Die 20 davor (und 17 davon – wirklich krass) habe ich gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden. Die, die sowas sagen, leben momentan im Durchschnitt schlechter als ich, und sagen: Du lebst hier dein Dolce Vita und lässt hier so nen Scheiß los. Aber den größten Teil ihres Lebens haben die besser gelebt als ich 20 Jahre. Das sind die von der Sorte: Wenn du nicht gesessen hast, bist du kein Russe. Du musst erst im Gefängnis gewesen sein, bevor du schreiben darfst, wie beschissen es den Leuten da drin geht.
Ich habe gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden
Es gab einen Moment, da hatte ich plötzlich, was ich wollte. Mir war alles scheißegal, das war alles ein einziges Meme für mich. Du kannst dir mein Interview mit [Juri] Dud angucken, da wird dir klar, dass das alles nur Memes für mich sind, Jokes.
Vor einem Jahr war also alles nur ein Witz – und was ist dann passiert?
Ich habe angefangen nachzudenken, als Bürger eine Haltung zu entwickeln. Und ich bedauere das nicht, denn je weniger Haltung du hast, desto weniger Sinn hast du im Leben. Du stehst für nichts ein, höchstens für das Stück Brot auf deinem Teller.
Ist etwas schlecht an politischen Aktionen?
Sie sind ein Instrument zur Einschüchterung und Kontrolle. Warum sind da so wenig Leute? Weil sie wissen: Du gehst hin und kriegst eins aufs Maul. Normalfall in Russland.
Die Welt ist nunmal so geschaffen. Und hier ist es ganz deutlich: Der Stärkere hat Recht, und alle scheißen drauf. In diesem Land wird alles über rohe Gewalt, Geld und Beziehungen entschieden. Sonst nichts.
Politische Aktionen sind ein Instrument zur Einschüchterung
So läuft das doch: Wenn du in der Schule einen auf Macker machst, dann musst du damit rechnen, dass du nach der Schule eins aufs Maul kriegst. Hier [auf den Demos] ist das genau so: Du läufst herum, schreist irgendwas und und wirst durchgenudelt. Die Leute gucken sich das an und sagen sich, warum soll ich da hingehen. Sie haben Schiss.
Du gehst auch nicht hin – hast du Schiss?
Wir haben keinen Schiss. Als ich dieses Album geschrieben habe, habe ich darüber nachgedacht, wie weit ich bei diesem Thema gehen kann. Und weißt du, ich bin ziemlich weit gegangen. So weit, wie es Sinn macht. Weiter wäre sinnlos. Es macht nur Sinn, sich auszudrücken und anderen diese Möglichkeit zu geben – wenn jemand sich die Songs zu Hause anhört und mit dem Kopf nickt. Zu mehr sind die Leute nicht im Stande.
Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben
Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben. Was für Gerechtigkeit überhaupt, wenn die Leute drauf scheißen? Wenn ich jetzt rausgehe und irgendwas mache, wofür ich in Schwierigkeiten komme, werden alle drauf scheißen.
Das heißt, wenn man versuchen würde dich einzusperren, würde sich niemand für dich einsetzen?
Ich bin zu folgendem Schluss gekommen. Wenn du Business machen willst und Geld verdienen, dann geh verfickt noch mal Geld verdienen, du musst nicht Musik machen. Wenn du Politik machen willst, geh und mach Politik. Wenn ich auf die Barrikaden gehen würde, wäre das so, als würde Nawalny ein Album machen. Das wäre doch völlig absurd, oder?
Überhaupt ist Russland ein einziges großes Meme. Genau deswegen stehen hier alle auf Meme-Interpreten und so Zeugs. Die Leute hier stehen auf billige Jokes. Das Leben ist viel zu kompliziert, und die Menschen nehmen das hin. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass man nichts dagegen unternehmen kann, sie sind schwache, verängstigte Schäfchen.
Alles, was wir können, ist über Memes lachen und in allem einen großen Witz sehen. Wenn ein Typ in den Knast kommt – ist das ein Meme, Nawalny – ist ein Meme. Nawalny – der ist kein ernstzunehmender Politiker, weil er das mitmacht. Echt mal, ein Typ, der sein Logo von Supreme abgekupfert, wird niemals Präsident.
Ist es schlecht, dass Russland ein Meme ist? Oder hat das auch was Schönes?
Es hat Charme. Aber erstens kann man in allem das Schöne sehen. Zweitens, auf der menschlichen Ebene … Spaß hin oder her, aber die Leute denken nicht darüber nach: Einmal kann man über etwas lachen – aber wenn es einfach so weitergeht, dann muss man etwas tun. Kaum jemand von denen lacht doch über einen Behinderten ohne Beine? Aber das hier ist dasselbe! Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig. Und sie leben dieses verfickte Leben. Sie sind einfach nur schwach, richtig schwach. Das einzige, was denen noch bleibt, ist ne Psychowaffe.
Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig
Genau, wie man meine früheren Songs als Psychowaffe gegen dieses Scheißleben sehen kann. Das ist alles, was dir bleibt. Ich habe Mitleid mit den Leuten, genau wie ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, dem jungen Erwachsenen habe, der ich war. Es sind krass unglückliche Menschen, bei denen alles so zum Kotzen ist, dass ihnen nichts mehr bleibt, als darüber zu lachen. Und genau deswegen lieben sie diesen ganzen Entertainmentscheiß.
Wie siehst du dich in einem anderen Land? Deine Songs schreibst du ja auf Russisch.
Vielleicht schreibe ich irgendwann auf Englisch. Aber es ist kein Problem, für Konzerte nach Russland zu kommen. Ich bin Russe, mit meiner Sprache bin ich in voller Harmonie und habe auch weiterhin vor, auf Russisch zu schreiben, egal wo ich mich befinde. Is okna [Aus dem Fenster] habe ich zum Beispiel in Japan geschrieben, im Bus nach Osaka. Ich glaube also nicht, dass das was ändern würde.
Gibt es schon konkrete Pläne?
Wir haben noch kein konkretes Land im Blick, aber sind dabei.
Ich finde, in dem Staat, in dem wir leben, ist das einzig Vernünftige, nicht auf die Barrikaden zu gehen, weil das einfach sinnloser Selbstmord ist, sondern ein Leben irgendwo anders auf unserem schönen Planeten zu suchen. Sich mit Leuten zu umgeben, die dir mit ihren Scheißvisagen zumindest nicht die Laune vermiesen und sich etwas Mühe geben, was gegen ihre sauren Fickfressen zu tun.
Ich fordere niemanden zu irgendetwas auf. Ich erkläre nur, warum ich emigrieren will. Wie soll ich das sagen? Die größte Revolution, die du machen kannst, ist die Revolution in dir selbst, als Persönlichkeit. Das ist alles, was du für die Gesellschaft tut kannst. Aber es ist sauschwer, sich weiterzuentwickeln, wenn du selbst in die Höhe wächst und die Leute um dich herum verfickt langsam wachsen, oder eben gar nicht. Das zieht mich runter. Außerdem hab ich die Schnauze verfickt voll von der Kälte und der wenigen Sonne. Das ist alles. Für mich, mit meinen Depressionen und psychischen Problemen, an denen ich arbeite (und an denen alle arbeiten müssen), ist es einen Versuch wert. Der Rest wird sich zeigen.
*Seit 2013 ist die Benutzung nicht-normativer Lexik (Mat) in russischen Medien gesetzlichverboten. Der stellenweise Gebrauch von Mat ist im Original durch Sternchen gekennzeichnet. ↑
Dmitry Markov, geboren 1982 in der Oblast Moskau, nahm in der russischen Fotoszene einen besonderen Platz ein. Als Dokumentarfotograf war er kein Beobachter von außen, vielmehr nahm er am Geschehen seiner Bilder und am Leben seiner Protagonisten aktiv und leidenschaftlich teil.
Mitte der 2000er Jahre wechselte Markov aus der Journalistik in den Bereich Sozialarbeit. Sein fotografisches Thema waren Menschen in der russischen Provinz und das grausame Leben, dessen Abbildungen auf Russisch oft als tschernucha (dt. in etwa Schwarzmalerei) bezeichnet werden. Für Markov waren es aber in erster Linie Menschen, die als Menschen respektiert werden müssen.
Bekannt wurde Markov vornehmlich durch das Internet. Als visuelle Notizen für Sozialarbeit öffnete er ein Instagram-Account, dem 2024 über 880.000 Menschen folgen. Für seine Fotos wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als erster russischer Fotograf mit dem Getty Images Instagram Grant (2015).
Am 16. Februar 2024 ist Markov im Alter von 41 Jahren gestorben. dekoder veröffentlicht einige Aufnahmen aus seiner umfangreichen Serie vom Sommer 2018 und lässt den Fotografen in einem Interview mit The Village selber zu Wort kommen.
(aktualisiert am 23. Februar 2024)
The Village: Warum fotografieren Sie mit dem iPhone und nicht mit einer guten Kamera? Dmitry Markov: Alle wollen da immer einen Grund für finden. Warum soll ich denn bitteschön nicht mit meinem Telefon fotografieren? Es ist bequem für mich, mit dem iPhone mache ich meistens die Aufnahmen, die ich später bei Instagram hochlade. Am beliebtesten sind die Fotos, die mir persönlich ziemlich banal erscheinen. Es gibt eine Reihe recht abgedroschener Motive, die man endlos reproduzieren kann und sie bewegen die Menschen trotzdem, wenn sie sich mit Fotografie nicht besonders auskennen. Aber ich finde es langweilig, weil ich dieses Motiv schon tausendmal gesehen habe. Das, was mich interessiert, findet manchmal überhaupt keine Resonanz. Die Jungs, die Saltos von Garagen machen, sind so ein typisches, abgenutztes Motiv, das es schon tausendfach gibt. Da finde ich zum Beispiel ein Foto, das den Blick eines Jungen vor einem Häuserblock einfängt, viel interessanter.
Bei Ihren Protagonisten handelt es sich oft um Arme, Minderjährige, Betrunkene. Denken Sie, dass ein Fotograf das Recht hat, fremdes Leben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben? Ist es ethisch vertretbar, Straßenfotografie im Netz hochzuladen? Einmal war ich in Pskow in einem Sammeltaxi unterwegs, ein Fahrgast war auf Drogen und völlig fertig. Als er abgeführt wurde, habe ich reflexartig ein Bild gemacht, dieses Foto habe ich selbstverständlich nirgendwo veröffentlicht. Der Mann war nicht gerade in einem ansehnlichen Zustand und man konnte sein Gesicht erkennen. Wenn ich einfach nur Menschen auf der Straße fotografiere, gehe ich von meinen eigenen Moralvorstellungen aus: Bilder, die mir unangemessen erscheinen, veröffentliche ich nicht. Wenn ich ein Foto von einem Betrunkenen hochlade, bin ich nicht weniger betrunken als er und wir sind Freunde. Ich weiß ja: Das ist mein Kumpel Wassja und später wird er das Bild, wo man ihn mit der Schnauze auf die Haube eines Polizeiwagens drückt, als sein Profilbild übernehmen. Petja dagegen mag solche Bilder nicht, wir sind einfach Freunde, verbringen Zeit zusammen, aber Aufnahmen von einem betrunkenen Petja kommen nicht ins Netz.
Sergej Maximischin nannte Russland einmal das am wenigsten fotografierte Land der Welt. Sehen Sie das auch so? Ja, genauso ist es. Klar, ich war auch in Nord- und Südamerika, aber da habe ich nichts fotografiert. Wozu soll ich schon in New York fotografieren? Da gibt es genug Leute, die das übernehmen können. Aber wenn ich durch Russland fahre, scheint mir jede weitere Aufnahme wie ein Puzzleteil für mein großes Gemälde.
Sie sind es sicher gewohnt, dass Ihre Bilder hart kritisiert werden. Mit Ihren Augen betrachtet erscheint Pskow als eine äußerst trostlose Stadt. Ich denke, die Menschen sollten ihre eigenen Augen benutzen, finden Sie nicht? Die Dinge auf ihre Weise ansehen. Ich fotografiere das, was mich interessiert. Es heißt nicht umsonst, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wenn ein Mensch nur das Objekt meines Fotos sieht, beispielsweise einen Invaliden oder einen betrunkenen Soldaten, und nichts als negative Assoziationen hat – was soll ich dem schon sagen? Das Einzige, was mich stört, ist, wenn meine Follower meine Protagonisten durch den Dreck ziehen. Diese Fallschirmjäger sind, egal wie sie gerade aussehen, nach wie vor die Verteidiger unseres Vaterlandes.
Und haben das Recht, sich manchmal gehen zu lassen? Genau. Auch ich bin alles andere als perfekt in dieser Hinsicht. Und der Mensch, der diese beleidigenden Kommentare schreibt, war sicher auch schon mal in so einer Situation. Und auch Obdachlose sind Bürger unseres Landes wie alle anderen. Wenn jemand schreibt: „Mit diesen Fotos entstellen Sie das Bild Russlands“, frage ich mich: Welches verf*** Bild? Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht, sie nicht verkleidet oder irgendwo ausgegraben. Sie interessieren mich, so wie Giljarowski die Leute in den Obdachlosenheimen der Chitrowka interessiert haben. Wenn das jemandem unangenehm ist, was ich gar nicht ausschließe, zwingt ihn ja niemand, sich meine Bilder anzusehen, sich zu quälen und diesen Kaktus trotzdem zu fressen. Außerdem gibt es wesentlich mehr Menschen, die mit dem, wie ich die Dinge sehe, etwas anfangen können.
Früher haben Sie als Journalist bei Argumenty i Fakty gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie und karitativen Arbeit gekommen? Ich wurde mal in ein Kinderheim eingeladen, um ein paar Fotos zu machen. Ich fuhr einmal hin, dann noch ein paar Mal, und bin dabei geblieben. Das war 2005, der Freiwilligendienst in Russland war erst im Entstehen. 2007 kam ich in ein Heim in der Oblast Pskow, dort suchte man Freiwillige für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Ich meldete mich für die Gruppe der Ältesten. Kleine Kinder zu fotografieren ist ziemlich einfach, sie sind viel offener, aber mit Jugendlichen ist es schwierig, ich habe die Herausforderung gesucht. Einen Monat habe ich in dem Heim gearbeitet und bin dann noch lange dort geblieben.
Diese Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt. Hatte das keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung? Nein. Damals hatte mich das Leben dort so gepackt. Da war etwas, das ich im Journalismus lange vermisst hatte: Ich konnte mich eingehend mit einem Thema beschäftigen. Zunächst war ich freiwilliger Helfer in einem Kinderheim, danach habe ich mit den Jugendlichen, die aus dem Kinderheim herauskamen, gearbeitet. Als eine Einrichtung für diese Jugendlichen eröffnet wurde, habe ich dort als Erziehungshelfer gearbeitet. Ich fing an, viele soziale Fragen besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger.
Es heißt oft, die Sozialfotografie sei eine Art Spekulation, man fotografiere Motive, bei denen man davon ausgeht, dass sie den Leuten ans Herz gehen. Das sehe ich auch so. Mein Lehrer Alexander Lapin hat meine Fotografien aus dem ersten Jahr überhaupt nicht ernst genommen. Erst als ich aufs Dorf zog und mich mit dem Leben der Waisen und benachteiligten, in Obhut genommenen Kinder wirklich vertraut gemacht hatte, nahm er mir ab, dass ich das Thema nicht einfach ausbeute, sondern es mich wirklich beschäftigt. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nett, das zu sagen, aber ich habe ein moralisches Recht, diese Kinder und Jugendlichen zu fotografieren, mit denen ich mehrere Jahre zusammengelebt habe. Es gibt viele andere und einfachere Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass es auf Instagram solche Wellen schlagen würde. Während meiner Arbeit im Internat und beim Fonds fotografierte ich mit einer einfachen Kamera, aber irgendwann kam ich in eine Sackgasse. Entweder war das Thema erschöpft oder meine Ideen. Ein Jahr lang habe ich die Kamera nicht angerührt. Instagram hatte ich mir nur zum Spaß zugelegt, einfach um an der Fotografie dranzubleiben.
Fotos: Dmitry Markow Bildauswahl: Olga Osipova / Bird in Flight Interview: Aljona Kork / The Village (27. Oktober 2017, gekürzt) Übersetzung: Maria Rajer Veröffentlicht am 09.10.2018
„Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenkamit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.
„Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht’s euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.
Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! […]“
So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.
„Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“
„Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“
Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen
Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.
An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.
Ritual und Mobbing
Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.
Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung
Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.
Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“
Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.
Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.
Witze über die Hochzeitsnacht
„Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut‘ Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.
„In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.
Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“
Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam
Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“
Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.
Das ist eine Art Traumatherapie
Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.
In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann’s für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“
Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“
Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden
Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.
Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“