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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Brüder Henkin

    Die Brüder Henkin

    St. Petersburg, 1990er Jahre. Eine alte Dame stirbt und hinterlässt eine Wohnung mit allerlei Krimskrams. Neben anderem Gerümpel finden die Nachkommen zufällig einige Kästchen mit alten aufgerollten Negativstreifen. Einfache Familienfotos, die eh in alten verstaubten Fotoalben zu finden sind, mutmaßen die Erben zunächst und beachten die Rollen nicht weiter. Außerdem sind die Filme so alt, dass sie beim ersten Antasten zu Staub zu zerfallen drohen. Aus reiner Neugier entscheiden sich die Erben fast zwanzig Jahre später, die Filme doch zu scannen.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen – in jeder der in Papier gewickelten Rollen sind einige Filmschnipsel – vier, acht, fünfzehn Aufnahmen, selten alle 36. Der erste Schnipsel ist gescannt und alles wie erwartet: Es sind Fotos des Großvaters, Leningrad, 1920-30er Jahre, Familie, Bekannte, Verwandte … Ab dem zweiten wird es aber spannend – dieselbe Zeit, aber plötzlich: Berlin. Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine ganze Geschichte zweier Städte und zweier Leben, erzählt von zwei Brüdern: Jewgeni und Jakow Henkin.

    dekoder veröffentlicht einen Bruchteil dieses Fotonachlasses, einige Aufnahmen zum ersten Mal.

    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther

    Die alte Dame, die die Negative aufbewahrte, war Sofia Henkin (1910-1994), die jüngere Schwester von Jewgeni (1900–1938) und Jakow Henkin (1903–1941). Die drei Geschwister stammen aus Rostow am Don, wo sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen sind. Die Erbin Olga Maslova Walther erzählt: „Sofia erinnerte sich an lustige Geschichten, Gedichte, Liedchen und sprach nie darüber, wie dieses glückliches Leben jäh abbrach, wie die Eltern verstarben und welche Ereignisse genau sie zwangen, Rostow am Don zu verlassen.” Sicher ist nur, Ende der 1920er Jahre leben Jakow mit seiner Familie und sie in Leningrad; Jewgeni ist spätestens seit 1926 in Berlin.

    Geschichte einer untergegangenen Welt

    Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine untergegangene Welt wieder neu, eine äußerst tragische Geschichte, in der vieles noch unklar bleibt und die grundsätzlich aufgearbeitet werden muss. Zwei Städte, Berlin und Leningrad, die beide einst Hauptstädte großer europäischer Reiche waren, die beide im Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise bittere Niederlagen erlebten, entwickeln sich schrittweise zu Metropolen zweier totalitärer Regime. In die Bilder dringt oft unauffällig diese Realität ein, die beiden Brüdern zum Verhängnis wird und beide Länder in einen weiteren Krieg führt.

    Das alles wissen weder die Fotografen noch die Menschen, die fotografiert werden. Die dargestellte Welt ist von einer besonderen Atmosphäre, von scheinbarer Leichtigkeit des Daseins, von Sinnlichkeit und Freude gekennzeichnet, wie sie die hunderte, meist anonymen Gesichter auf den Fotos widerspiegeln.

    Beide Brüder waren keine hauptberuflichen Fotografen. Jakow war Wirtschaftsingenieur, Jewgeni studierte Schiffsmaschinenbau an der Technischen Universität Berlin und arbeitete danach als Musiker. Trotzdem zeugen die über 7000 Fotografien aus dem Nachlass der Brüder von ihrer großen Begeisterung für dieses Medium sowie von ihrer außergewöhnlichen fotografischen Begabung, die weit über die Grenzen der Amateurfotografie hinausgeht. Beide fotografierten hauptsächlich privat, bekamen aber immer wieder Aufträge, vor allem was die Dokumentation von Sport- und Massenereignissen anbelangte.

    Stummfilm ohne Untertitel

    Hunderte und tausende Gesichter machen den gesamten Fotobestand zu einem Gruppenportrait vor dem Hintergrund eines Zeitalters. Manche – zufällige Passanten, Bauarbeiter, Marktverkäufer – erscheinen nur einmal, um dann in Vergessenheit zu geraten. Einige tauchen mehrfach auf und erzählen kleine Geschichten – von einem Pionierlager bei Leningrad, vom Berliner Zoo, von Autorennen, Demonstrationen, Restaurants oder von einem Brand. Wenige Gesichter nur kommen immer wieder vor, werden zu lebendigen Protagonisten mit persönlichen Eigenschaften und schaffen ganze Sujetlinien.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther
    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther

    Zu diesen Menschen zählen nicht nur Familienmitglieder wie Sofia Henkin oder Jakows Ehefrau Frida, die namentlich bekannt sind. Da sind auch Freunde und Kollegen, wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin, mit denen Jewgeni zusammen einen Thereminvox baut, oder die Musiker, mit denen Jewgeni auf verschiedenen Bühnen auftrat, wie etwa im Konzerthaus Clou in Berlin-Friedrichstadt. Oder auch Lebensgefährten, wie eine schöne Berlinerin, mit der Jewgeni Ruderboot fährt, im Wald spazieren geht, verschiedene Veranstaltungen oder Freunde besucht.

    Wenn man sich lange mit diesen Fotos beschäftigt, bekommt man das seltsame Gefühl, dass all diese Leute alte und gute Bekannten seien, die aber keine Stimme und keine Namen haben. Wie ein Stummfilm ohne Untertitel.

    Bemerkenswert sind die vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen in den Bildern der beiden Brüder, obwohl die Aufnahmen völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Beide scheinen sich für ähnliche Themen zu interessieren und verwenden vergleichbare Kompositionsprinzipien, so dass es nicht immer einfach zu sagen ist, wer genau welche Fotos aufgenommen hat, und manchmal weiß man auf den ersten Blick auch nicht wo: Ist das Berlin oder Leningrad?

    Hauptthemen sind Portraits von Frauen und Kindern, Freunden und Bekannten, Straßenszenen, Massen- und Sportveranstaltungen, Tiere, Autos und Landschaften. Viele davon wurden nicht einfach spontan aufgenommen, sondern häufig unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen, etwa das Motiv Mutter mit Kind, sorgfältig ins Bild gesetzt.

    „Es lebe der große Stalin“

    An dem von ihnen fotografierten, brodelnden Leben nehmen beide Fotografen aktiv teil (manchmal lassen sie sich auch von anderen fotografieren, so dass sie auf einem Filmabschnitt sowohl Fotografen als auch Fotografierte sind), die Entwicklung zweier totalitärer Regime betrachten sie etwas aus der Ferne. Scheinbar auch ohne große Angst, eher mit Neugier. Jewgeni geht mit Freunden durch Berlin spazieren und stolpert plötzlich über eine Anzeige auf der Litfaßsäule mit dem Aufruf „Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Kauf nicht beim Juden!”. Er holt seine Kamera, macht ein Foto und geht weiter. Ein anderes Mal nimmt er die NS-Militärparade entlang der Straße Unter den Linden auf oder das Wahl-Transparent „Für den deutschen Sozialismus“ auf der Pariser Straße. Aber das alles geschieht nur unter anderem, nebenbei.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)

    Auf den Fotos von Jakow sind die Stalin- und Lenin-Portraits in einem Stadion zu sehen, manchmal auch nur an der Seite des Fotos, die riesige Aufschrift „Es lebe der große Stalin“ oder eben die Parade bewaffneter Sportler. Ob er den sozialistischen Optimismus der Stalinzeit teilte, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn, war es spätestens 1937 damit vorbei.

    Erstaunlicher als die Gemeinsamkeiten in den Bildmotiven sind die Parallelen im tragischen Schicksal der Brüder. Jakow Henkin, der das ganze Leben in Russland verbrachte, fiel 1941 unter deutschen Kugeln an der Leningrader Front. Sein Bruder Jewgeni, dessen Leben über viele Jahre hindurch eng mit Deutschland verbunden war, musste als Jude 1936 das Land verlassen, wurde aber im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, in Leningrad als deutscher Spion vom NKWD verhaftet und nach wenigen Wochen erschossen. Sein Status als „Volksfeind“ löschte seinen Namen aus der Familiengeschichte. Sofia Henkin wusste von seiner Verhaftung, doch es gelang ihr nicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Später vermied sie es, darüber zu sprechen.

    Beispiel reiner Fotokunst

    Entdeckt wurde der Fotobestand erst 2012, als keiner mehr gefragt werden konnte. Sofias Erbin Olga Maslova Walther gründete 2016 die NGO Henkin Brothers Archiv mit Sitz in Lausanne und konnte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg begeistern, diese Fotos in einer Sonderausstellung zu zeigen. Die Schau, die es im Sommer 2017 in die Bloombergs Liste der zehn besten Ausstellungen weltweit geschafft hat, verwurzelte die Fotos nicht nur im historischen, sondern auch im künstlerischen Kontext. Der Fotograf Dmitry Konradt, der den Fotobestand 2012 entdeckte, sieht die Fotos nicht nur als historische Quelle, sondern als „ein Beispiel reiner Fotokunst. Und geboren ist sie nicht aus dem Bestreben, Kunst zu machen, sondern ausschließlich dank der Begabung der Fotografen“.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Leningrad, Foto - Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina

    Text: Leonid A. Klimov
    Fotos © Olga Maslova Walther /  Henkin Brothers Archive


    Veröffentlicht am 08.02.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Debattenschau № 61: The Death of Stalin nicht im russischen Kino

    Debattenschau № 61: The Death of Stalin nicht im russischen Kino

    Plötzliches Aus für The Death of Stalin: Auf Geheiß des Kulturministeriums darf der britische Film nicht in die russischen Kinos – wegen „Verbreitung illegaler Informationen“. Der Beschluss fiel nur zwei Tage vor dem geplanten Filmstart in Russland am 25. Januar.

    Am Vorabend der Entscheidung wurde die schwarze Komödie einem auserwählten Kreis gezeigt – darunter waren Mitglieder des Kulturministeriums, der Historischen Gesellschaft Russlands, der Staatsduma sowie einzelne Filmemacher wie der Regisseur und Schauspieler Nikita Michalkow. Einige davon wandten sich laut der Nachrichtenagentur TASS nach der Vorführung in einem Brief an Kulturminister Medinski und baten ihn darum, den Film nicht in russische Kinos zu lassen.

    Am Dienstag zog das Kulturministerium die Verleiherlaubnis wieder zurück. In der Begründung hieß es, dass der Film „in Russland verbotene Informationen enthalte“. Der schottische Regisseur Armando Ianucci hat inzwischen gegenüber dem Guardian seine Hoffnung geäußert, dass die schwarze Komödie – die auf einer Graphic Novel von Fabien Nury und Thierry Robin basiert – doch noch ins russische Kino kommt.

    Verhöhnt der Film die Opfer des Stalinismus? Oder sind diese Gründe nur vorgeschoben, Russland noch immer ein „stalinistisches Land“? Wäre es nicht sogar heilsam, über die historischen Traumata zu lachen? dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.

    Rossijskaja Gaseta: Verhöhnung der Opfer

    Die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta zitiert Kulturminister Wladimir Medinski:

    [bilingbox]Ohne Frage: Viele Menschen der älteren Generation, und nicht nur sie, empfinden [den Film] als beleidigende Verspottung der gesamten sowjetischen Vergangenheit, des Landes, das den Faschismus besiegt hat, der sowjetischen Armee und der einfachen Leute und sogar – und das ist das ekelhafteste – der Opfer des Stalinismus.

    Es gibt bei uns keine Zensur. Wir haben keine Angst vor einer kritischen und unbefangenen Bewertung unserer Geschichte … Mehr noch – hohe Ansprüche, ja sogar Entschiedenheit in der Selbstbeurteilung haben in unserer Kultur Tradition. Doch es gibt eine moralische Grenze zwischen kritischer Geschichtsanalyse und Hohn.

    Das Kulturministerium hatte den Filmverleih auch auf die außerordentliche Unangemessenheit aufmerksam gemacht, einen solchen Film unmittelbar vor dem 75. Jahrestag des historischen Siegs von Stalingrad in die Kinos zu bringen. Der Verleiher hat nicht auf uns gehört.~~~Нельзя не согласиться: многие люди старшего поколения, да и не только, воспримут его как оскорбительную насмешку над всем советским прошлым, над страной, победившей фашизм, над Советской армией и над простыми людьми – и, что самое противное, даже над жертвами сталинизма.
    У нас нет цензуры. Мы не боимся критических и нелицеприятных оценок нашей истории… Более того, требовательность, даже категоричность в самооценке – традиция нашей культуры. Но есть нравственная граница между критическим анализом истории и глумлением над ней. Минкультуры обращало внимание прокатчика и на крайнюю неуместность выхода подобной картины на экраны в канун 75-летия исторической победы под Сталинградом. Нас прокатчик не услышал.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23. Januar 2018

    Republic: Über Stalin wird nicht gelacht!

    Andrej Archangelski überlegt auf dem unabhängigen Portal Republic, warum über Stalin nicht gelacht werden darf: 

    [bilingbox]Vergleichbares hat es bei uns selbst in verschleierter Form seit den 1990ern nicht gegeben. Es gab seitdem keinen Versuch, den Stalinismus distanziert zu betrachten – vom Standpunkt normaler menschlicher Reaktionen auf Gewalt, mit den Augen eines normalen Menschen und nicht denen des Staates.

    Man darf Stalin beschimpfen, aber man darf nicht über ihn lachen – das ist offenbar das größte Tabu. Die Eile des Verbotes bestätigt diese Hypothese: Als wäre Lachen über Stalin ein gefährlicher Virus, dessen Verbreitung schleunigst eingedämmt werden muss, koste es, was es wolle.

    […] denn Stalin zu verspotten heißt, die Macht als solche zu verspotten – und das ist unzulässig. ~~~[…] ничего похожего даже в иносказательной форме у нас не было с 1990-х годов. Не было с тех пор попытки посмотреть на сталинизм отстраненно – с точки зрения обычных человеческих реакций на насилие, глазами обычного человека, а не государства. Сталина можно ругать, но над ним нельзя смеяться – это, по-видимому, и есть главное табу. И стремительность запрета подтверждает эту гипотезу: словно бы смех над Сталиным – опасный вирус, чье распространение нужно немедленно купировать, не считаясь со средствами.
    […] потому насмешка над Сталиным означает насмешку над властью как таковой – что недопустимо.[/bilingbox]

     
    erschienen am 24. Januar 2018

    Moskowskij Komsomolez: Stalin bleibt Zankapfel

    Auch das Boulevardblatt Moskowski Komsomolez kann nicht verstehen, weshalb man über Stalin nicht lachen sollte:

    [bilingbox]Unsere Zuschauer sind kompliziert. Sie sind schon ohnehin bereit, über alles unbesehen ein Urteil zu fällen – und nun auch noch so eine Steilvorlage. Stalin bleibt ein Zankapfel: Ist er ein Mörder oder ein Retter? Da hat man sich bei uns noch nicht endgültig festgelegt. In den letzten Jahren gab es eine Schwemme von neuen pseudopatriotischen Werken, in denen die stalinsche Epoche in Glanz und Gloria dargestellt wird. Und die Studenten der Filmhochschulen, die sich den ganzen Schmonz angeschaut haben, setzen diese Arbeit am laufenden Band fort. Ist es denn nicht besser, die eigenen Hirngespinste durch Lachen loszuwerden?~~~Зрители у нас сложные. Не видя, уже готовы осудить все что угодно, а тут такой благодатный материал. Сталин остается яблоком раздора. Убийца он или спаситель? С этим у нас окончательно не разобрались. В последние годы валом снимаются псевдоисторические опусы, где сталинская эпоха представлена в гламуре. А студенты киновузов, насмотревшись всякой дребедени, продолжают штамповать приблизительное кино на эту тему. Не лучше ли через смех избавиться от собственных фантомов?[/bilingbox]

     

    erschienen am 23. Januar 2018

    Izvestia: Was würden denn die Briten sagen?

    In der kremlnahen Izvestia dagegen findet der Leiter der Russischen militärhistorischen Gesellschaft Wladislaw Kononow gleich mehrere gute Gründe für ein Verbot des Films:

    [bilingbox]Dieser Film ist abscheulich. […] Abscheulich gar nicht so sehr deshalb, weil es dort keine einzige positive Rolle gibt, sondern weil dies eine abscheuliche Parodie auf die ganze Zivilisation Russlands ist. Genau so stellen sich die Autoren die russische Geisteshaltung vor, so, glauben sie, arbeite unser Staatsapparat … Ich kann mir nur schwer einen ähnlichen russischen Film über die britische Königsfamilie vorstellen, der in den britischen Verleih kommt. Das Einfachste, was man in dieser Situation machen kann, ist, den Verleih zu verbieten.~~~Фильм этот откровенно мерзкий. […] Мерзкий даже не тем, что там нет ни одного положительного персонажа, а потому что это мерзкая пародия на всю российскую цивилизацию. Именно так авторы представляют себе российскую ментальность, так, по их мнению, работает наш управленческий аппарат… Мне сложно представить подобный российский фильм, снятый о британской королевской семье и выходящий в британский прокат. Самое легкое, что можно сделать в данной ситуации, — это запретить его к показу.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23. Januar 2018

    Tass: Experten haben geurteilt

    Ob der Debatte hat sich auch Kreml-Sprecher Dimitri Peskow geäußert, um die Entscheidung zu verteidigen. Die Nachrichtenagentur Tass gibt den Wortlaut wieder:

    [bilingbox]Das ist das Vorrecht des Kulturministeriums: Dort gibt es einen Expertenrat, und ausreichend viele dieser Experten haben sich den Film angesehen und sind zu einem entsprechenden Schluss gekommen. Das Kulturministerium kann die Meinungen seiner ehrenamtlichen Experten, die sich speziell dafür versammeln, nicht ignorieren. Im Übrigen ist das ein Vorrecht dieser Behörde. ~~~Это прерогатива Министерства культуры, там есть экспертный совет, эксперты в достаточно большом количестве посмотрели этот фильм и пришли к определенным выводам. Министерство культуры не может не учитывать точку зрения своих экспертов, общественников, которые для этого и собираются. В остальном это прерогатива ведомства[/bilingbox]

     

    erschienen am 24. Januar 2018

    The Insider: Ein stalinistisches Land

    Für den Filmkritiker und Chefredakteur des Filmmagazins Iskusstwo Kino, Anton Dolin, dagegen ist das Verbot ein trauriges Eingeständnis, wie er auf dem unabhängigen Portal The Insider schreibt:

    [bilingbox]Großzügig ausgelegt handelt es sich um das Eingeständnis des Staates und der in diesem Land für das Verbot verantwortlichen Staatsbeamten, dass dies ein stalinistisches Land ist, und dass ein Film, der den Diktator und den Moment seines Todes ironisch zeigt, auf unseren Leinwänden unzulässig ist. Dieser Logik zufolge muss in Deutschland Charlie Chaplins Der große Diktator verboten werden. Er war auch verboten, solange Hitler am Leben war, aber nach Kriegsende wurde er gezeigt, und es wurde gelacht wie in allen anderen Ländern.

    Was ist hier also los? Es ist doch nur Kino – ein Spielfilm, der nicht von sich behauptet, dokumentarisch zu sein, seine historische Genauigkeit ist nicht wichtig. Man kann ihn bewerten, wenn er rauskommt, Kritiken schreiben, zum Beispiel: „Er ist historisch ungenau“, oder darüber streiten, ob er genau ist oder nicht. Jedoch soll und kann das kein Grund für ein Verbot sein.~~~Расширительно можно это толковать как некое признание государства, тех чиновников, которые отвечают в стране за этот запрет, что у нас сталинистская страна, и фильм, который иронически показывает диктатора и момент его смерти, непозволителен на наших экранах. По этой логике в Германии должны запрещать «Великого диктатора» Чарли Чаплина. Его и запрещали, пока Гитлер был жив, но когда война закончилась, показывали и смеялись, как и весь остальной мир. Что тут такого? Это всего лишь кино — игровой фильм, не выдающий себя за документальный, его историческая точность совершенно не важна. Ее можно оценивать, когда картина выйдет, писать на него рецензии, например: «он исторически неточен» или спорить, точен он или нет. Однако, с моей точки зрения, это не должно и не может быть поводом для запрета.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23. Januar 2018

    Vedomosti: Totaler Krieg der Befindlichkeiten

    Pawel Aptekar warnt im Wirtschaftsblatt Vedomosti die Kritiker des Films vor den Geistern, die sie rufen:

    [bilingbox]Der Schriftsteller Juri Poljakow, die Regisseure Nikita Michalkow und Wladimir Bortko und andere nennen den Streifen in ihrem Brief an Minister Wladimir Medinski eine „böse und absolut unangebrachte ,Komödie‘, die das Gedenken an unsere Bürger beschmutzt, die den Faschismus besiegt haben“ […]
    Den Autoren des Briefes an das Kulturministerium ist vielleicht nicht klar, dass sich ihre Initiative irgendwann auch gegen sie selbst wenden könnte: Innerhalb eines totalen Krieges der Befindlichkeiten finden sich sicher welche, die bereit sind, beleidigt zu sein, nachdem sie nochmals Bortkos Hundeherz oder Michalkows Zitadelle geschaut haben oder nochmals Poljakows frühe Erzählungen lesen.~~~Писатель Юрий Поляков, режиссеры Никита Михалков и Владимир Бортко и другие в письме министру Владимиру Мединскому назвали ленту «злобной и абсолютно неуместной якобы «комедией», очерняющей память о наших гражданах, победивших фашизм» […]
    Авторы письма в Минкульт, возможно, не поняли, что их инициатива может когда-нибудь обернуться и против них самих: в рамках тотальной войны чувств наверняка найдутся готовые оскорбиться, пересмотрев «Собачье сердце» Бортко, «Цитадель» Михалкова или прочитав ранние повести Полякова.[/bilingbox]

     

    erschienen am 24. Januar 2018

    dekoder-Redaktion

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    WUNDER DES JAHRES

    AIGEL: 1190

    Die wunderbarste Erfolgsgeschichte einer Musikgruppe 2017: AIGEL ist das gemeinsame Projekt der Kasaner Dichterin und Sängerin Aigel Gaisina und des Petersburger Elektromusikers Ilja Baramija. Obwohl das Debutalbum 1190 eine Belastungsprobe ist – die Texte von Aigel Gaisina entstanden aus der Sorge um ihren Liebsten im Gefängnis, und Ilja Baramija legte einen harten Industrial Beat darunter – begann die Band augenblicklich, die größten Konzerthallen des Landes zu stürmen. Und Ende des Jahres geschah ein wahres Weihnachtswunder: Der Liebste von Aigel Gaisina kam auf Bewährung frei.


    BATTLE DES JAHRES

    Weshliwy Otkas: Wojennyje Kuplety (dt. „Kriegs-Couplets“)

    Das Vorgänger-Album Gusi-Lebedy (dt. „Gänse – Schwäne“) dieses Klassikers des Moskauer Experimental-Rocks kam vor sieben Jahren heraus – man musste also ziemlich lange warten. Dieses Mal dekonstruiert die Band unter der Führung von Roman Suslow das Genre der sowjetischen Kriegslieder und führt es über in gewohnt raffinierten, kunstvollen, ehrlichen Rock. Weshliwy Otkas ist fern jeden Verdachts, irgendeine Konjunktur bedienen zu wollen – was sie machen, ist reine Kunst; offenbar deswegen steckt in ihren klingenden Schlachtengemälden mehr russisches Leben und mehr Wahrheit als in dem, was man den Leuten derzeit im Kino oder Fernsehen zeigt.


    Nächtliches Rendezvous des Jahres

    Luna: Ostrow Swobody (dt. „Insel der Freiheit“)

    Hypnotisierender, atmosphärischer dance einer jungen ukrainischen Sängerin. Während die User in den Sozialen Medien noch die Single Tajet led (dt. „Das Eis schmilzt“) der Band ihres Mannes hörten, zog Kristina Bardasch leise ihre Kreise und nahm ein Album faszinierender Pop-Schlager auf, die in einen Klub genauso passen wie in eine Kunstgalerie, so eine schnelle Unterwasser-Diskothek ist das.


    Teamwork des Jahres

    Kubikmaggi: Things

    Kubikmaggi geht auf die Pianistin und Sängerin Xenia Fjodorowa zurück, Tochter des bekannten Leonid Fjodorow. In ihrem dritten Album hat sich die Petersburger Band in ein reifes, selbstsicheres und erfinderisches Team verwandelt, das instrumentale Stücke aufnimmt, die irgendwo zwischen Experimentaljazz, akademischem Minimalismus, blumigem Prog-Rock und romantischer Kinomusik liegen. Großzügige Musik, die von der Freude talentierter Musiker am gemeinsamen Spiel zeugt.


    Väter des Jahres

    Kasta: Tschetyrjochglawy orjot (dt. „Der vierköpfige Heuler“)

    Letzten Endes ist dies ein Album, das junge Papis geschrieben haben. Es ist das erste Album seit fast zehn Jahren der Rap-Autoritäten aus Rostow, und es stellt ein ganzes Bündel heikler Lebensfragen, beantwortet sie, und zwar so, wie es es Väter tun: ehrlich, genau, mit Humor und ausgiebig.


    Russische Marke des Jahres

    Utro: Treti Albom (dt.„Drittes Album“)

    Utro besteht aus Mitgliedern der Rostower Band Motorama, die als eine der berühmtesten russischen Indie-Rock-Bands im Ausland bekannt dafür ist, dass sie ihre Lieder auf Russisch singt. Und auf dem Treti Albom tun sie das ganz ausgezeichnet. Motorama und Utro gaben den Standard vor für existenziellen, repetitiven Post-Punk mit pulsierenden Rhythmen und dem Beigeschmack provinzieller Ausweglosigkeit, der in unseren Breiten (warum auch immer) sehr etabliert ist. Es gibt eine ganze Phalanx einander ähnlicher Bands, und ein Festival, wo sie voreinander auftreten. Utro und seine traurigen, schneebedeckten Lieder halten diese russische Marke auf Niveau.


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    Chaski: Ljubimyje pesni (woobrashajemich) ljudej (dt. „Die Lieblingslieder [ausgedachter] Leute“)

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    MORAL DES JAHRES

    LSP: Tragic City

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    PTU: A Broken Clock Is Right Twice a Day

    Wichtigste Meinungsmacherin und Propagandistin russischer Musik im Westen war auch im Jahr 2017 Nina Krawiz. Die sibirische DJane begann ihre Karriere in Berlin und veröffentlicht auf ihrem eigenen Label Trip klugen Techno und experimentelle elektronische Musik. Das größte Lob aus der Gruppe ihrer Protegés gab es für das Kasaner Duett PTU, das bei Nina Krawiz sein Album A Broken Clock Is Right Twice a Day herausbrachte. Ein leicht irrer elektronischer Sound, dessen Spektrum von Ambient bis Acid Techno reicht und zu dem man, erwiesenermaßen, hervorragend tanzen kann.


    ÜBERBLEIBSEL DES JAHRES

    Leonid Desjatnikow: Incidental

    Das russische Label Fancy Music, das für seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ernster Musik bekannt ist, beendet ein intensives Jahr mit dem heutzutage nur noch sehr selten zu hörenden und spezifischen Sound von Leonid Desjatnikow: Das Album enthält den Foxtrott aus Mischen [dt. „Zielscheibe“; ein Fantasy-Drama von 2011, zu dem Leonid Desjatnikow die Fimmusik schrieb – dek] das musikalische Thema aus einem der ersten postsowjetischen Thriller Prikosnowenije [dt. „Berührung“; ein Thriller aus dem Jahr 1992, vom Regisseur Albert Mkrtschjan – dek], Fragmente aus der Begleitmusik zum Theaterstück Shiwoi Trup [dt. „Der lebende Leichnam“, ein Stück von Lew Tolstoi – dek], einen Klezmer-Tango aus Sakat [dt. „Sonnenuntergang“, Film von Alexander Seldowitsch aus dem Jahr 1990, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Isaak Babel – dek], das frühe, auf französischen Märchentexten aus der Maghreb-Region basierende Tri Istorii Schakala  (dt. „Drei Geschichten des Schakals“), eine Romanze nach einem Brief, den Gidon Kremer als Kind schrieb, und vieles mehr. Das Album wurde drei Jahre lang aufgezeichnet, während derer man die Noten zusammensuchte, die Musiker versammelte und so weiter. Der Künstler selbst beschreibt es – gewohnt ironisch – als „Reste und Überbleibsel“, doch sind Reste dieser Art mit Gold nicht aufzuwiegen.

    Übersetzung (gekürzt): dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 03.01.2018

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  • Das Eisfach

    Das Eisfach

    Sie muss einigermaßen außergewöhnlich sein, eine Moral und ein lustiges Ende haben. Zeitlich muss sie in die Weihnachtstage fallen (auf russisch heißen die Swjatiki: die Tage von Weihnachten bis Heilige Drei Könige. Auf Deutsch sind das ungefähr die Rauhnächte) – so lässt Nikolaj Leskow, ein Klassiker der russischen Literatur, einen seiner Protagonisten die Gattung Weihnachtserzählung definieren.

    Die Blütezeit der Weihnachtserzählungen fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, Zeitungen und Zeitschriften waren voll davon, Weihnachtserzählungen wurden viel und gern gelesen. Sehr originell waren sie allerdings nicht: Die Zahl der Typen, Handlungsrahmen und Ereignisse sowie die literarischen Mittel waren begrenzt, daher wurden solche Erzählungen samt ihren zahlreichen Autoren und noch zahlreicheren Lesern vielfach verlacht und verspottet.

    Manche Kritiker prophezeiten der Gattung bereits im 19. Jahrhundert den Tod, doch sie lebte weiter. Vor allem dank großer Namen, die den einfachen Sujets etwas ganz Neues, oft Trauriges, hinzufügten, was diese Erzählungen zu großer Literatur machte und die Gattung weiterentwickelte. Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow, Vladimir Nabokov und viele andere schrieben und veröffentlichten in den Zeitungen rund um Weihnachten ihre Erzählungen, die swjatotschnyje rasskasy.

    dekoder greift diese Tradition auf und stellt eine Weihnachtserzählung des zeitgenössischen Schriftstellers Sergej Nossow vor, die zunächst in der Zeitschrift Afisha (2005) und schließlich, in etwas erweiterter Form, in dem Erzählband Buch Poltora Krolika (Anderthalb Kaninchen, 2012) erschien. Der Petersburger Schriftsteller Nossow schreibt damit die russische Tradition der Weihnachtsgeschichten fort.

    dekoder bringt seine Geschichte erstmals in deutscher Übersetzung: Eine Weihnachts- beziehungsweise Neujahrsgesellschaft findet sich zusammen, es verlangt sie nach Gruselgeschichten, und da beginnt Rostislaw Borissowitsch zu erzählen, eine erstaunliche Geschichte, die ihm selbst widerfahren ist. 

    Illustration © Anja Tchepets
    Illustration © Anja Tchepets

    Gegen zwei Uhr nachts gab’s endlich die lang erwartete Torte. Nachdem Margarita Makarowna zwei Stücke gegessen hatte – eines auf sie, eines auf ihren Mann – zog es sie zum Fernseher, hin zu ihren herzliebsten Komikern. Sie fand die Kraft, den Speisesaal zu verlassen und sogar in den ersten Stock hinaufzugehen, wo es nach Tanne duftete. Aber bis zum Fernseher schaffte sie es nicht – wehrlos ließ sie sich sieben Schritte von ihm entfernt in einen Polstersessel sinken. Sie wusste, dass sie nun zu faul sein würde, aufzustehen und den Fernseher einzuschalten. Sie holte Luft, entspannte sich und döste ein.

    Bald war die Halle von leisen Stimmen erfüllt. An die zehn Bewohner des Sanatoriums waren dorthin gekommen, um sich gegenseitig die Nerven zu kitzeln – es verlangte sie nach Gruselgeschichten, so ein Neujahrsläunchen eben. Margarita Makarowna hörte es, aber sie hörte nicht zu. Um Margarita Makarowna nur ja nicht zu wecken, sprachen sie sehr leise – obwohl, so werden Gruselgeschichten ja immer erzählt.

    Es war zu weiten Teilen eine Damengesellschaft. Leise und geheimnisvoll wurde von blutrünstigen Sektierern erzählt, von Serienmördern und maskierten Menschenfressern. Durch ihren Schlummer hindurch erahnte Margarita Makarowna die Anwesenheit Kostja Solowjows aus dem zweiten Stock, Sportjournalist eines Wochenblatts. Durch einzelne Redebeiträge verriet sich auch ihr eigener Mann, der Facharzt für Brustheilkunde Rostislaw Borissowitsch. Andere Männer waren wohl nicht dabei.

    Nein, Margarita Makarowna lauschte nicht dem düsteren Quatsch, sie fand es angenehmer, sich an die Aprikosentorte zu erinnern – ja, und der Traum, in den sie sich glücklich versenkte, war süß, fröhlich und aprikosig.

    Unterdessen schenkte Kostja Solowjow – sofern das die Kerze erlaubte, die auf den Fernseher gestellt worden war und als einzige Lichtquelle diente – den Damen Sekt ein. Das elektrische Licht hatten sie selbstverständlich ausgeschaltet.

    „Werte Damen“, wandte sich Rostislaw Borissowitsch an die kleine Versammlung und ignorierte dabei ungewollt die Gegenwart Solowjows. „Das, was Sie hier erzählen, ist alles teuflisch spannend. Jedoch erzählen Sie Erlebnisse von anderen, und nicht von sich selbst. Solange meine Angetraute schläft, werde ich Ihnen eine erstaunliche Geschichte erzählen, die mir persönlich zugestoßen ist. Ich garantiere Ihnen, es wird Ihnen kalt den Rücken hinunterlaufen, bis in die Zehenspitzen.“

    Die Damen wirkten merklich belebt. Rostislaw Borissowitsch befürchtete offenbar, die Erwähnung seiner schlafenden Frau könne die Zuhörer auf falsche Gedanken bringen. Schnell erklärte er:

    „Nein, nein, Margo kennt diese Geschichte vorzüglich. Und überhaupt bin ich für Vieles dankbar … Sie haben keine Vorstellung, wie sie mich seinerzeit unterstützte. Ich hatte nach diesem Ereignis einen furchtbaren Nervenschock. Doch sie hat mich aufgepäppelt und wieder auf die Beine gebracht. Ich scheue mich nicht zu sagen: Sie hat mich gerettet.“

    Er richtete ihre schwarze Perücke aus echtem europäischen Haar, die ein wenig zur Seite gerutscht war.

    „Lassen wir sie ruhig schlafen“, sagte Rostislaw Borissowitsch sanft. „Vor Zeiten hat sie bei mir als Krankenschwester gearbeitet.“

    „Lassen wir sie, lassen wir sie“, stimmten die Anwesenden zu. „Erzählen Sie Rostislaw Borissowitsch, es ist so interessant.“

    Rostislaw Borissowitsch begann mit seiner Geschichte:

    „Es begab sich in der Stadt Perwomaisk. Ich …“

    Sofort unterbrach Solowjow:

    „In welchem Perwomaisk? In dem, das heute Staroskudelsk heißt?“

    „Der Mann kennt sich aus“, bemerkte Rostislaw Borissowitsch zufrieden. „Staroskudelsk, das ist der historische Name der Stadt. Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie da schon mal waren.“

    „Ob ich schon mal da war? Geschuftet habe ich da, bei der dortigen Zeitung! Vor 15 Jahren.“

    „Sieh mal an“, rief Rostislaw Borissowitsch und weckte beinahe seine Frau. „Haben Sie gehört?! Genau wie ich … vor 15 Jahren bin ich in diese Situation geraten!“

    „Haben wir uns seinerzeit getroffen?“ Solowjow runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich zu erinnern.

    „Ausgeschlossen. Ich war nur wenige Stunden in Perwomaisk. Am 31. Dezember übrigens! Und ich habe dort mit niemandem gesprochen außer mit zwei Menschen. Aber sagen Sie: Wo Sie bei der Zeitung gearbeitet haben, müssten Sie doch eigentlich wissen, ob in Perwomaisk damals Menschen spurlos verschwanden?“

    „Zu dieser Zeit verschwanden in ganz Russland Menschen, überall gab’s Ärger“, antwortete Solowjow ausweichend.

    „Nein, ich meine in Perwomaisk, in Perwomaisk?“, bohrte Rostislaw Borissowitsch weiter. „Hat es dort vielleicht einen Massenmörder gegeben, oder besser gesagt mehrere Massenmörder?“ 

    Der ob der Frage verblüffte Solowjow murmelte:

    „Nun ja, ich habe dort nur vier Monate gearbeitet. Zu Neujahr hin bin ich nach Moskau gezogen …“

    „Ach so, ja“, schloss Rostislaw Borissowitsch, „dann können Sie es gar nicht wissen …“

    Die Damen waren unterdessen über alle Maßen neugierig und verlangten beinahe im Chor, umgehend mit der Geschichte zu beginnen.

    „Nun gut, es begab sich in Perwomaisk“, wiederholte Rostislaw Borissowitsch, trank dann in aller Ruhe sein Glas Sekt aus und betrachtete aufmerksam seine Frau: Margarita Makarowna schlief seelenruhig und füllte gleichmäßig das ganze Volumen des Sessels aus.

    Und er setzte die Geschichte fort.

    „Entschuldigen Sie den Vergleich, liebe Freunde, aber wer war ich denn? … Ich war eine Motte, die ins Feuer flog. Eine Motte!

    Stellen Sie sich vor, sie hieß Faina. Ich habe nie wieder eine Faina getroffen.

    Begonnen hatte alles ein bisschen früher … etwa drei Monate vor Neujahr.

    Ich werde nicht erzählen, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben, obwohl, warum eigentlich nicht? Es war in Glinsk, am Bahnhof, ich musste nach Moskau, und sie, wie ich erfuhr, nach Perwomaisk, sprich in das heutige Staroskudelsk. Wir standen an unterschiedlichen Schaltern, meine Reihe war schon fast durch, und sie hätte noch lange stehen müssen. Sie las in einem Buch. Sie sah mich nicht, obwohl ich unterdessen zweifle, wer wen zuerst bemerkt hatte, ich bin mir heute nicht einmal mehr sicher, dass sie wirklich so schön war, wie mir damals schien. Vielleicht war ich als erster bemerkt worden, ausgewählt aus der Menge – vielleicht war ich gar Opfer eines psychologischen Tricks wie bei den Darbietungen, zu denen Zigeunerinnen fähig sind. Ja, sie hatte so etwas Zigeunerisches an sich, vor allem natürlich die Augen. Die waren schwarz wie ich weiß nicht was … wie zwei Löcher ins Nichts. Aber die Augen sah ich erst einen Moment später, aus der Nähe dann. Nun gut, ich starrte sie an, was im Leben, so will ich zugeben, gewöhnlich nicht meine Art ist: Frauen in der Menge zu beäugen. Aber ich starrte wie ein Wahnsinniger, ja, drehte mich sogar in die Gegenrichtung der Schlange, in der ich anstand, nach ihr um – sehe mich um und wundere mich so bei mir: Warum schauen die anderen sie nicht an? Denn niemand schaute. Ob das wohl etwas bedeutet? … Tja, und genau darum wird es jetzt gehen.

    Die Situation war also folgende. Sie blickt ins Buch, und ich blicke sie an. Plötzlich unterbricht sie ihre Lektüre, als würde sie spüren, dass man sie beobachtet, und treffsicher, ohne jedes Suchen, feuert sie ihren Blick in meine Richtung. Und was mache ich? Ich mache ihr mit der Hand ein Zeichen, nach dem Motto, hier, Sie können herkommen, kommen Sie doch bitte vor mich, ich lasse Sie vor. Und sie wechselt, nach einer Sekunde des Zweifelns, in meine Schlange, stellt sich vor mich hin, sendet mir mit dem Blick ein Danke, und ich tauche ein in ihre Augen, sage in die Leere hinein zu irgendjemandem: ‚Wir gehören zusammen.‘ Als ich wieder auftauche, bemerke ich, dass sie das Buch wegsteckt in ihre Handtasche, und da, wissen Sie, sehe ich so ein Scheusal auf dem Umschlag und den Titel: Der Schlächter kommt am Montag. Ich frage sie: ‚Interessant?‘ ‚Ich bitte Sie‘, antwortet sie. ‚Unglaublicher Stuss!‘ ‚Und warum lesen Sie es dann?‘ Und wissen Sie, was Sie darauf geantwortet hat? Sie antwortete: ‚Ist ganz lustig.‘

    Es dauerte lange, bis ihr Fahrschein nach Perwomaisk ausgestellt war, zu jener Zeit gab es in Glinsk am Bahnhof noch keine Computer, ich bin mir nicht mal sicher, ob die jetzt welche haben. Die Fahrkartenverkäuferin telefonierte mehrmals, erkundigte sich nach freien Plätzen, und ich stand hinter ihr … aber nein, nicht hinter der Fahrkartenverkäuferin, was sollen solch dumme Fragen? Jedenfalls stand ich hinter ihr und konnte mich gerade so zusammenreißen, sie nicht zu umarmen, ihren Hals mit den Lippen zu berühren.

    Sehen Sie, ich bin ganz offen zu Ihnen. Anders wird das nichts mit der Geschichte.

    Nun, wir gingen hinaus auf den Bahnsteig, laufen zu dem kleinen Bahnhofspark, mit Getränkebuden, einem Tulpenbrunnen aus Beton, mittlerweile außer Betrieb, Ahornbäume stehen dort, und sie sagt mir: ‚Warum sind Sie so traurig? Seien Sie nicht traurig.‘ Ich halte mich wacker: ‚Wer hat Ihnen denn gesagt, dass ich traurig bin?‘ Sie sagt: ‚Das sieht man doch.‘ Ich hatte damals tatsächlich eine Pechsträhne, ich hasste den gesamten Erdball und wollte nicht mehr leben. Ich hasste meine Patientinnen und Milchdrüsen, ja überhaupt praktizierte ich in der Zeit erbärmlich wenig … ‚Seien Sie doch nicht traurig, schauen Sie, wie schön es ist.‘ Und es war, warum auch immer, einfach schön: Herbst, Blätter fallen (nur vom vollgerotzten Bahnsteig musste man absehen). Und da ging ich plötzlich aus mir heraus und begann von mir zu erzählen. Was war nur über mich gekommen? Später zog es mich dann zu ganz abstrakten Dingen: Glück, Schicksal, ich weiß nicht, was ich sonst noch faselte, Banalitäten wahrscheinlich. Jedoch hörte sie mir sehr aufmerksam zu, deswegen erzählte ich überhaupt, weil ich sah, wie sie mir zuhört.

    Ich weiß nicht, welcher Zauber dort auf mich niederging, doch sie ließ auch einen sehr beliebten kleinen Kniff nicht aus, das Täubchen. Der ist Ihnen sicher wohlbekannt, meine werten Damen: Dem Bruder kann man am besten schmeicheln, wenn man ihm sagt, wie einzigartig er ist. Im Extremfall heißt es dann: ‚Ach, mein Lieber, es war noch nie mit jemandem so schön wie mit dir‘, aber auch ein Loben unserer kleineren Vorzüge erzeugt Gegenliebe. Ich schmolz nur so dahin, als sie meine Art, Gedanken Ausdruck zu verleihen, nun ja, als einzigartig empfand. Sie gestand mir Talent zu, Geistesschärfe sozusagen, etwas Paradoxes. Noch nie hätte sie dergleichen von jemandem gehört. Ja, ich hätte ihr gleichsam die Augen geöffnet für die menschliche Natur. Nachgerade ein Glück, dass es mich gebe auf der Welt.

    Was konnte ich dazu sagen? Ja, nichts. Aber ich hatte sie auf eine Art tief berührt, so viel war klar. Irgendwie.

    Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir Telefonnummern ausgetauscht haben, ja, haben wir das überhaupt? Wie dem auch sei, meine Brieftasche mit ihrer Adresse und Telefonnummer wurde mir im Zug nach Moskau gemopst; aber sie hatte meine Nummer wohl noch.

    Nun, wir hatten uns insgesamt ungefähr 40 Minuten unterhalten. Ihr Zug kam, ich brachte sie zu ihrem Wagen. Beim Abschied küsste sie mich, als gehörte ich zur Familie. Hätte sie mich gelockt, wäre ich mit ihr nach Perwomaisk gefahren. Merkwürdig, dass ich nicht gefahren bin – in Moskau hatte ich damals nicht wirklich etwas zu tun.

    Wahrscheinlich war mir ein anderes Datum beschieden.

    Sie hatte mich hypnotisiert, das sage ich Ihnen. Verlieben konnte ich mich nicht, ich konnte nicht. Das ist nicht mein Stil. Ich kenne mich ja.

    Unterdessen geschah dann etwas mit mir, ich sage euch!

    Ich komme in Moskau an – wie ausgewechselt, nicht ich, ein anderer Mensch. Frauen interessierten mich als Frauen überhaupt nicht mehr, außer einer, der aus Perwomaisk. Und gleichzeitig überfiel mich, entschuldigen Sie, ein solch sexueller Hunger, oder Hitze? Dass ich besser nicht davon spreche, sonst werde ich noch unflätig. Sie wissen selbst, Ärzte sind Zyniker, und ich bin da keine Ausnahme, aber das hier war ein Teufelsspuk! Oh, wie ich meine Phantasien anheizte! Wie ein pickliger Gymnasiast und kein 35-jähriger Doktor der Medizin! Seien Sie so lieb und sagen Sie: War sie nach all dem zu urteilen nicht der Satan?

    Bald hörte es allerdings auf.

    Doch nicht für lange.

    Nach dem 20. Dezember ein Anruf. Ich traue meinen Ohren nicht: Faina! Lädt mich ein, in Perwomaisk mit ihr und ihrem jüngeren Bruder ins Neue Jahr zu feiern. Lädt mich einfach so ein. Als wäre es eine Straße weiter.

    Ich frage Sie: Was bedeutet diese Geste? Eindeutig bedeutet sie mehr als eine einfache Einladung. Ich erinnere mich hervorragend, wie erstaunt ich war – und ich muss zugeben, höchst angenehm erstaunt – über meine Entschiedenheit. Denn ich hatte nicht eine Sekunde Zweifel, ob ich fahren sollte. Ja mehr noch, es ergab sich sogar, dass ich die Initiative ergriff und nicht sie. Denn wie hatte sie noch gesagt? ‚Warum‘, sagte sie, ‚wollen wir nicht einfach Silvester zusammen feiern, Sie, mein jüngerer Bruder und ich?‘ Verstehen Sie, es war eine Frage, einfach nur eine Frage. Und ich presche gleich vor: ‚Oh‘, sage ich, ‚das ist ja eine großartige Idee!‘ ‚Dann kommen Sie doch. Wir freuen uns auf Sie!‘

    Und ich fuhr los. Am 31. Dezember. Was heißt hier fuhr – ich fuhr nicht, ich raste von dannen! Und hätte mir jemand damals gesagt, ich sei verhext, hätte ich dem Halunken ins Gesicht gespuckt, so wahrhaft erschien mir mein Trieb und Drang.

    Nein, ich lüge. Als ich mich Perwomaisk näherte, waren da Zweifel, ja. Das war schon alles arg glatt gelaufen. Vielleicht habe ich mir das auch später zurechtfantasiert, aber meines Erachtens, nein. Da war diese beunruhigte Gedanken-Neckerei: Wirst ja sehen, mein Täubchen. Wenn du jetzt auf den Bahnsteig trittst, steht dort statt der Schönen mit schwarzen Augen eine zahnlose buckelige Alte mit langer Nase: ‚Na, Söhnchen, hast du’s hergeschafft?‘

    Und wissen Sie, sollte mir damals tatsächlich ein derart unsinniger Gedanke gekommen sein, so muss man eingedenk des danach Erlebten zugeben, dass er nicht einfach so über mich gekommen war … Aber alles hübsch der Reihe nach!

    Ich wurde abgeholt. Ich trat auf den Bahnsteig und erblickte sie, und sie erschien mir noch anziehender als damals in Glinsk. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit zwei Reihen gigantisch großer Knöpfe, eine Kopfbedeckung trug sie nicht, und die Widerwärtigkeit, die da vom Himmel fiel und Schnee in keiner Weise glich, verwandelte sich wie durch ein Wunder in bezaubernde smaragden funkelnde Tautröpfchen in ihrem dichten schwarzen Haar. Der Winter war kein Winter, irgendein Mumpitz war das. Neujahr bei plus vier Grad!

    ‚Darf ich euch vorstellen, das ist mein Bruder Goscha.‘ Sie war also zum Du übergegangen, ohne großes Tamtam. Und ich dachte bei mir: Wunderbar!

    Aus dem Fenster eines vorsintflutlichen Wolga der ersten Serie, der schon damals als Antiquität herhalten konnte, beschaute ich das abendliche Perwomaisk. Es war gegen sechs Uhr und wurde schon dunkel. Goscha saß am Steuer. Er musste durch den ärgsten Matsch fahren, alles taute und troff. Er unterhielt sich lustig mit seinem Auto, nannte es mit Namen, liebevoll Bronka, Bronetschka, Bronjascha. ‚Vom Wort bronewik [dt. Panzerwagen]‘, sagte Faina.

    Ich fühlte mich mit ihnen unbeschwert.

    Sie fuhren mich bis an den Stadtrand. Dort lebten sie in einem zweigeschossigen Holzhaus, das ihnen von den Eltern zugekommen war. Zimmer gab es hier unzählige, auf keinen Fall weniger als sechs. Faina gab mir eine Führung. Hier war das Zimmer der verstorbenen Eltern, da nicht hineingehen, hier Goschas Zimmer, hier Goschas Fotolabor mit einem riesigen Vergrößerungsapparat, der aussah wie ein uraltes Röntgengerät … Man muss anmerken, dass ich nicht geschafft habe, Goschas Fotoarbeiten anzuschauen (ich kann mir vorstellen, was für Fotos das waren!).

    Nein, Goscha gefiel mir damals durchaus, aber unterdessen kann ich mit aller Bestimmtheit sagen, dass er einem Psychopathen mehr ähnelte als sie. Erstens bekundete er seine Zuneigung mir gegenüber fast schon überdeutlich. Zweitens hatte er einen recht vielsagenden Blick, als würde er etwas wissen, es aber nicht sagen. Drittens schielte er stark, was ihn übrigens nicht daran hinderte, Auto zu fahren, doch es störte mich beim Unterhalten: Ich wusste nie, welches Auge ich anschauen sollte, wenn ich mit ihm redete; eigentlich ja das, was dich anschaut, aber es schauten beide vorbei.

    Man muss gerechterweise anmerken, dass ich nicht viel mit Goscha sprach. Er zielte die ganze Zeit darauf ab, mich mit Faina allein zu lassen. Meiner damaligen Wahrnehmung nach lief zwischen Faina und mir auf wundersame Weise alles wie von selbst, ganz unverkrampft von beiden Seiten. Als hätten wir bislang nicht nur eine Stunde miteinander verbracht, sondern ein halbes Leben. Ganz sicher, ohne Hypnose wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen. Zwar bin ich Brust-Facharzt, doch verstehe ich auch etwas von Psychologie. Ich habe sogar eine Theorie zu dem Ereignis, aber ich werde die jetzt nicht ausbreiten. Ich fühlte mich in ihrem Haus unbefangen, und sie war nicht befangen ob meines Erscheinens. Als wäre ein Ehemann nach langer Trennung wieder bei seiner Frau. Und zwar lang erwartet. Ich gehörte in dieses Haus, obwohl ich alles hier zum ersten Mal sah.

    Goscha lärmte in der Küche mit den Töpfen, als sie mir mein Zimmer zeigte. Alles hergerichtet, alles geputzt. Ein wenig störte mich, so erinnere ich mich, die knallrote Bettdecke: Konnte diese Farbe etwas bedeuten? Doch ich gebe zu, dass mich in diesem Moment die Breite des Bettes deutlich mehr interessierte, weil man an diesem Parameter indirekt auf die Absichten der Hausherrin schließen konnte. Das Bett war keinesweg ein Einzelbett … Mir schien, als läse Faina meine Gedanken, so warf ich ihr schnell einen Blick zu – und sah, ja, sah den Schatten eines Nachtfalters auf ihren Lippen … Beinahe hätte sie sich verplappert. Und da nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Korridor. Und flüsterte mir ins Ohr: ‚Weißt du, ich bin sehr froh, dass du gekommen bist.‘ Sie lief den Flur hinunter, ich hinter ihr her, und dort schaffte ich das, was ich damals nicht geschafft hatte am Fahrkartenschalter: Ich umarmte Faina, hielt sie fest. So, um den Bauch herum. Ohne sich umzudrehen, befreite sie sich sanft aus meiner Umarmung und sagte: ‚Auf den Tisch.‘ Es hätte natürlich heißen müssen: ‚Das Essen muss auf den Tisch‘, und sie lief weiter, zog mich hinter sich her in ihrem einzigartigen Spannungsfeld ungetümer Anziehungskraft.

    Wir deckten zu dritt den Tisch, ich machte mich ehrlich gesagt eher zum Hampelmann, denn Salat Olivier und Hering im Pelz aus dem Kühlschrank zu holen, erschien mir nicht als schwere Arbeit. Sie hatten viel Essen vorbereitet. In diesem Jahr war, wenn Sie sich entsinnen, in unserem Land die Versorgungslage nicht sehr üppig. Aber ein voller Tisch zu Neujahr ist heilig. Allen. Auch ich hatte etwas mitgebracht, ich weiß noch, eine Dose Kaviar, Wodka und Sekt. Unter den Baum hatte ich unauffällig zwei Päckchen gestellt, Geschenke für die beiden. Aber Goscha entdeckte sie: ‚Sieh an, sieh an, Väterchen Frost war schon da und hat uns was gebracht.‘ Worauf sie mit Fragen antwortet: ‚Und unsere Überraschung von Väterchen Frost? Sollen wir jetzt? Oder später?‘ ‚Ach komm, jetzt‘, sagt Goscha.

    Da gebieten sie mir, im Zimmer zu bleiben, und gehen die Überraschung holen. Mir, das will ich nicht verbergen, ist angenehm zumute. Ich warte. Freue mich, wie sie miteinander umgehen.

    Gut gehen sie miteinander um. Sehr freundschaftlich. Verstehen einander fast wortlos. Kommunizieren allerdings irgendwie merkwürdig, schauen einander fast nicht an, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit, doch das ist jetzt schon sehr spitzfindig … Damals maß ich dem keine Bedeutung bei, aber jetzt denke ich: Wollten sie deswegen das volle Ausmaß ihres blinden Verständnisses füreinander vor mir verbergen, weil ich sonst den ganzen Komplott durchschaut hätte?

    Doch seinerzeit konnten mir solche Gedanken nicht kommen. Ich war so glücklich wie sonst niemand auf der Welt. Und mir schien, dass mit mir gerade etwas außerordentlich Wichtiges und Nötiges geschähe, dass ich ein anderer Mensch würde und nie mehr würde so leben können wie vorher. Eine stille Freude erfüllte mein Sein. Und die ganze Welt erschien mir in diesen Minuten sauber, schön – als wäre der Staub mit einem weichen Pinsel entfernt.

    Obwohl, ein Anflug von Merkwürdigkeit blieb, muss man zugeben. Wie auch anders? Es war alles so leicht und glatt gegangen, ohne die geringste Anstrengung.

    Ich höre: Oben geht jemand, etwas wird bewegt, die Überraschung geholt.

    Da fällt mir ein, dass ich den Wodka nicht ins Eisfach gepackt habe.

    Ich nehme die Flasche, gehe zum Kühlschrank, öffne die Kühlschranktür … (Schon einige Male war ich an diesem Abend am Kühlschrank, aber kein einziges Mal hatte ich das Eisfach geöffnet.) Kurz, ich öffnete das Eisfach.

    Nuun ja.

    Fast ein Jubiläum: Es ist genau fünfzehn Jahre her, dass ich das Eisfach öffnete. Wollte man ganz genau sein, fünfzehn Jahre und vier Stunden, plus minus zehn Minuten.

    Viel viel Wasser ist den Fluss hinuntergeflossen, und viel ist passiert! … Zum Beispiel, geheiratet habe ich. … Nun ja … Margarita Makarowna …

    Der Nervenschock … Wenn sie nicht gewesen wäre …

    Nun gut, Entschuldigung … Ich habe eine ungefähre Vorstellung, welche Gedanken Sie bezüglich des Eisfachs beschleichen – und bestimmt trifft einiges davon zu, aber nur einiges. Ich bin bereit zu wetten, um was Sie wollen, dass Sie auf keinen Fall draufkommen, was da im Eisfach war.

    Eben! Zwei Schuhe standen da! Zwei niegelnagelneue schwarze Schuhe! Reifbedeckt!

    Da sieh mal einer an!

    Ich schloss den Kühlschrank, nicht einmal den Wodka hatte ich reingestellt, setzte mich auf den Stuhl und wollte nachdenken. Völlige Starre! Kein einziger Gedanke. Keine einzige Erklärung! Theoretisch vorstellbar war, dass man im Zustand grenzwertiger Verwirrtheit einen Schuh hineinstellt … ! Aber nur einen! … Hier aber standen zwei!

    Vielleicht ein Scherz? Aber worin lag der Witz?

    Mir platzte fast der Kopf. Mir war, als würde ich durchdrehen … Das musste eine Halluzination gewesen sein. Ich traute mir selbst nicht mehr.

    Ich öffnete den Kühlschrank noch einmal … die Schuhe! Ich schaute genauer hin und erkannte Socken, die ein kleines Stück aus den Schuhen herausguckten. Ich nahm einen Schuh in die Hand und spürte, dass er keineswegs leer, dass er ausgefüllt war! Ich nahm ihn aus dem Eisfach, schaute hinein und sah eine Eisfläche auf Höhe des oberen Randes … Verstehen Sie? Ein Schnitt, ein glatter, vereister Schnitt! Unmenschliches Grauen durchströmte mich, fast verlor ich das Bewusstsein!

    Binnen eines Augenblicks fiel mir Unterschiedlichstes ein: ihr Buch über irgendeinen Schlächter, die blutrote Bettdecke, die Zweimann-Blattsäge, die ich übrigens an der Haustür gesehen hatte … Und kleine Wortwechsel fielen mir wieder ein, wie: ‚Die Tanne steht irgendwie schief.‘ ‚Weil sie schief gefällt wurde!‘ ‚Und wessen Schuld ist das?‘ ‚Wir haben die doch zusammen gefällt!‘ ‚Du bist mir ein schöner Holzfäller.‘ ‚Und du?‘

    So einiges fiel mir jetzt noch ein.

    Ihre Schritte kamen näher. Sie standen schon an der Tür – mit ihrer unseligen Überraschung. Ich hörte, wie sie einander etwas zuflüsterten, wie sie vor der Tür etwas miteinander besprachen …

    Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

    Es war, als würde mir eine Stimme sagen: ‚Rette dich, du Narr!‘

    Und ich stürzte zum Fenster – das Fenster war verschlossen! Mit voller Wucht stürzte ich mich gegen den Rahmen, ein Doppelrahmen, und zusammen mit beiden Rahmen flog ich hinaus, hinein in den Garten! Wie das ohne Schnittwunden abgehen konnte, unbegreiflich!

    Ich sprang über den Zaun und weiter durch den ganzen Perwomaisker Neujahrsmatsch ab Richtung Bahnhof! Zum Glück war das Geld in der Hosentasche – und die Jacke, die war halt dageblieben.

    Ich hatte Glück: Um viertel vor Zwölf ging ein Zug. Ich löste eine Fahrkarte für den ersten Wagen, dort feiern die Zugbegleiter Neujahr. Niemand sonst, ich bin der einzige Fahrgast! Der einzige im ganzen Zug! Sie schenkten mir Wodka ein, gekühlten. Meine Hände zitterten. Ich erzählte von meinem Erlebnis. Die Zugbegleiter waren verwundert und sagten, ich sei wohl gerade nochmal davongekommen. Das also ist die Geschichte.“

    Von Rostislaw Borissowitschs Geschichte ergriffen, verfielen die Zuhörer eine Minute in Schweigen. Die Kerzenflamme zog die Blicke magnetisch an. Man wartete, ob Rostislaw Borissowitsch dem Gesagten nicht noch etwas hinzufügen würde. Er fügte nichts hinzu. Nur ganz leise, kaum merklich schnaufte im Schlaf Margarita Makarowna.

    Das Schweigen brach Jelena Grigorjewna aus dem anderen Block, eine Steuerprüferin ersten Ranges. Sie ließ vorsichtig verlauten, dass Rostislaw Borissowitsch das Publikum arglistig düpiert, schlicht gesagt, reingelegt hätte – seine Geschichte sei ja doch recht unwahrscheinlich.

    Proteste waren zu vernehmen. Es wurde erklärt, dass die Erzählung Rostislaw Borissowitschs doch viele Details enthalte, die man sich unmöglich ausdenken könne. Beispielsweise, die Schuhe im Eisfach … Wenn er nun im Eisfach keine Schuhe, sondern … etwas Gewöhnlicheres gefunden hätte, ja dann hätte man vielleicht die Glaubwürdigkeit der Geschichte in Zweifel ziehen können … Aber Schuhe! Was soll das? Wofür ist das gut? So etwas kann man sich unmöglich ausdenken!

    Man versuchte Rostislaw Borissowitsch das Geheimnis der Schuhe zu entlocken, doch er verweigerte sich der Interpretation seiner eigenen Geschichte, hatte er zu dieser Angelegenheit doch selbst keine sinnvollen Ideen. Außerdem noch diese Überraschung … was für eine Überraschung? Wozu?

    „Hier ist vieles sehr irrational“, sagte Rostislaw Borissowitsch. „Ich bin für gewöhnlich ein denkender Mensch, aber hier sollte man das Nachdenken lieber sein lassen.“

    Ob er sich denn an die Polizei gewandt habe, wurde er gefragt.

    „Nein. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten.“

    Beklommenheit war zu spüren. Gar Empörung.

    Da erhob sich Solowjow, der bislang geschwiegen hatte. Er trat in die Mitte der Halle. Hinter seinem Rücken brannte die Kerze, sein Gesicht lag im Schatten. Doch sogar dem fast unsichtbaren Gesicht Solowjows war anzusehen, wie aufgewühlt er war.

    „Rostislaw Borissowitsch, Sie haben völlig richtig gehandelt, dass Sie das nirgends gemeldet haben.“

    Klangbild von kollektivem Unverständnis. Lärm.

    „Ich bin erschütterter als Sie alle zusammen!“, rief der Sportjournalist Solowjow. „Welch ein unglaublicher Zufall! Welch fantastische Entsprechung! Wissen Sie, wer an all dem Schuld ist? Ich! Ganz allein ich! Doch zunächst eine Bemerkung … Das, was Sie für Socken hielten, die aus den Schuhen ragten, waren Plastiktütchen, ich versichere es Ihnen! Ich will es erklären! Hören Sie bitte alle zu! Als ich bei der Zeitung gearbeitet habe, leitete ich dort das Ressort: ‚Tipps für den Haushalt‘! Die gab es in allen Zeitungen. Erinnern Sie sich? Nun, ich will es Ihnen erklären … Stühle zerkratzen den Fußboden! Was ist zu tun? Stülpen Sie einfach die Plastikdeckel von Weinflaschen über die Stuhlbeine! Oder: Sie haben Stecknadeln verschüttet? Nehmen Sie einen Magnet. Bitte sehr: Sie wollen Herrenschuhe polieren … Wunderbar! Alte Feinstrumpfhosen, und das Problem ist gelöst! Und wenn die Schuhe drücken? Nun, da fiel mir doch glatt ein, wie noch zu Schulzeiten mein Nachbar vom selben Treppenabsatz mir beigebracht hat, die Schuhe zu weiten … und ich brachte es in der Zeitung! Sehr einfach: Stopfen Sie ein Plastiktütchen in den Schuh, füllen Sie Wasser rein und stellen Sie den Schuh in das Eisfach Ihres Kühlschranks! Das Wasser gefriert und dehnt sich dabei aus.“

    „Das darf doch nicht wahr sein!“, bemerkte Rostislaw Borissowitsch laut und stand jäh auf.

    „Ich versichere es Ihnen, das ist ein physikalisches Gesetz. Das Eis dehnt sich aus, und die Schuhe weiten sich!  War es vorher Größe 40, so ist es danach Größe 41! Wir hatten dermaßen viele Reaktionen auf diesen Artikel, ich sage Ihnen! Einige wollten es auch nicht glauben, sagten, das könne doch nicht sein, vielleicht dehne sich ja das Eis aus, dafür müsse sich doch aber eigentlich das Leder zusammenziehen?! Nix da! An mir selbst erprobt! Was wollen Sie denn? Damals war nach Perwomaisk nur Größe 40 geliefert worden. Ich weiß das noch. Und was, wenn man 41 hat? Oder 42? Ja, bei uns in Perwomaisk standen nach meinem Artikel in jedem zehnten Haushalt Schuhe im Eisfach! Und Sie reden von …!“

    Die letzten Worte sprach Solowjow schon ohne Rostislaw Borissowitsch.

    Rostislaw Borissowitsch, der keinen Mucks mehr von sich gab, verließ die Halle. Niemand bemerkte es, so weggetragen waren alle von Solowjows Monolog.

    Das Licht ging an.

    Da wachte auch Margarita Makarowna auf.

    „Kaum trink ich Sekt, schlaf ich ein.“ Auf ihren Lippen war ein Lächeln entstanden: „Von einem Garten habe ich geträumt … Afrika? Alles voller Zitrus …“

    Jelena Grigorjewna, eben jene Steuerprüferin, ging an Solowjow vorbei und ließ nebenbei fallen:

    „Das war ja wohl völlig unnötig. Hätte er doch lieber weiter mit seinem Geheimnis gelebt.“

    „Wo ist denn mein Mann? Schon wieder verschwunden?“ Margarita Makarowna dämpfte mit der Hand ein unerwartetes Gähnen. „Und was läuft in der Kiste?“

    Rostislaw Borissowitsch wurde unterdessen schon in allen Stockwerken gesucht. Er war nirgends aufzufinden.

    Margarita Makarowna erhob sich schwer aus dem Sessel und schob sich langsam zum Fernseher.

    Der Bildschirm blitzte auf. Es gab die nächste Truppe von Komikern.

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  • Kino #12: Brilljantowaja Ruka

    Kino #12: Brilljantowaja Ruka

    Brilljantowaja Ruka (dt. Brillantenarm) aus dem Jahr 1969 war der größte Kassenschlager in der Kinogeschichte der Sowjetunion. Regisseur Leonid Gaidai war ohnehin ein Garant für kommerziellen Erfolg. Bei der kulturpolitischen Elite war er zwar eher gering geschätzt, galt sein Komödienfach doch zuweilen als flach und außerdem wenig geeignet, den neuen Sowjetmenschen zu formen.1 Doch er zog die Massen ins Kino, bei Brilljantowaja Ruka in eine Krimikomödie rund um einen Familienvater, der die Polizei auf die Spuren einer Schmugglerbande bringen soll.

    Gaidais Filme, die man heute wohl eher Blockbuster nennen würde, hatten ihren künstlerischen Ursprung in der exzentrischen Komödie der 1920er Jahre und verlieren bis heute nicht an Popularität.

    Im Kanon der Filmklassiker, die im heutigen Russland an Feiertagen wie dem Neujahrsfest im Fernsehen gezeigt werden, ist Brilljantowaja Ruka fest verankert. Eine Mehrheit der russischen Fernsehzuschauer wählte ihn bei einer Umfrage des Kanals RTR im Jahr 1995 gar zur besten Komödie, die jemals gedreht wurde.2 Damit hielt er auch gegen Hollywood stand.


    So einiges brachte Leonid Gaidai in Brilljantowaja Ruka wohl nur deshalb durch die sowjetische Zensur, weil die Zuständigen alle Hände voll damit zu tun hatten, eine Atombombenexplosion im Filmfinale zu verbieten. Diese Szene soll der Regisseur nicht ohne Kalkül hinzugefügt haben.3 Gaidais Komödien, ein zartes Amalgam aus Slapstick, grobmotorischem Klamauk und eingeschriebener Gesellschaftssatire, wurden nie ohne Veränderungen freigegeben. So auch diese nicht. Eine Auflage war, die Rolle der Polizei aktiver zu gestalten bei der Lösung des Kriminalfalls. Dieser dreht sich um den Familienvater und Wirtschaftsfachmann Semjon Semjonowitsch, der in einen Schmugglerring verwickelt wird und bis zur Ergreifung der Bande als Lockvogel dienen soll.

    Es beginnt schon mit einem Ungeschick: Die Sonne brennt, und Semjonowitsch irrt bei seiner ersten Auslandsreise durch die Straßen von Istanbul, bis er auf einer Melonenschale ausrutscht und deshalb von einer Verbrecherbande für den gesandten Kurier gehalten wird. Ehe er sichs versieht, wird ihm der Arm eingegipst und darin wertvoller Schmuck versteckt. „Ich bin kein Feigling, aber ich habe Angst“, sagt er nach der Rückkehr in die Sowjetunion, als er im Schutz der Dunkelheit neben seinem von nun an wichtigsten Vertrauten sitzt, dem Polizisten Michail Iwanowitsch. Seine Worte verraten bereits früh, dass wir es hier nicht mit einem heldenhaften Sowjetmenschen zu tun haben, sondern mit einem ehrlichen Kleinbürger aus einer Küstenstadt, noch dazu mit einem Tollpatsch, der seine Mission mit mehr Glück als Verstand überstehen wird.

    Die exzentrische Komödie

    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik – den Slapstick. Dabei greift er mit der exzentrischen Komödie auf ein typisches sowjetisches Genre zurück, das maßgeblich in den 1920er Jahren von der Künstlerwerkstatt FEKS mit ihrem absurd-anekdotischen Stil geprägt wurde. Sowohl diese Anfänge wie auch die Renaissance des Genres waren eng mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verwoben: Waren die 1920er Jahre eine Zeit „großer Veränderungen und Erwartungen […] eine Zeit, die im Vorgenuss der schönen neuen Welt schwelgte“; so herrschte im Tauwetter der 1950er und 1960er Jahre mit seinen inhärenten Freiheiten eine ähnliche Aufbruchstimmung.4

    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik / Foto © Mosfilm
    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik / Foto © Mosfilm

    Jedoch konnte sich die exzentrische Komödie schon in ihren Anfängen nicht in den strengen Kanon des Sozialistischen Realismus einschreiben, weil sie zu wenig ideologisch war, keine geschliffenen Helden ins Zentrum rückte und sich mit ihren Anleihen beim Zirkus oder der Pantomime5 auf den Pfad zum Unterhaltungsfilm begab. Wie die Begründer dieses Genres Jahrzehnte zuvor, orientierte sich Gaidai schließlich mit Beginn der sogenannten Stagnationszeit stärker an literarischen Vorlagen6. Hatte die Kritik bis dahin nicht viel für ihn übrig, versuchte er, sein Kino auf diese Weise an höher angesehene Kunstformen heranzuführen.7

    Slapstick-Gags eines begnadeten Clowns

    Für Viktor Schklowski, einen Formalisten mit Nähe zur FEKS, diente das Sujet in der exzentrischen Komödie lediglich als Aufhänger für „Gags, künstlerische Verfahren und Attraktionen“. Dies gilt insofern auch für Brilljantowaja Ruka, als dass die Diamanteneinfuhr in die Sowjetunion gar nicht illegal war. Das hatte sich zwar erst während der Dreharbeiten richtig herausgestellt, dennoch wurde die Story deswegen nicht abgeändert. Die absurde Triebfeder für die Handlung entsprach vielmehr dem filmischen Prinzip, das US-Kollege Alfred Hitchcock auch fürs Thriller-Fach gern praktizierte: über eine herbeigeraunte Finte zu suggerieren, es ginge um etwas ganz Großes. Das ermöglicht, die Handlung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedarf.8

    Selbst die Bösen erscheinen hier beinahe liebenswert / Foto © Mosfilm
    Selbst die Bösen erscheinen hier beinahe liebenswert / Foto © Mosfilm

    Bei den Gags und Attraktionen bediente sich Gaidai aus dem klassischen, manchmal beinahe „abgedroschenen“ Repertoire des Slapstick: Jedes Mal charmant, wenn Publikumsliebling Juri Nikulin, von Hause aus ein begnadeter Zirkusclown, in der Rolle des Semjon Semjonowitsch vor seinem eigenen Schatten erschrickt, Eiscreme ins Gesicht bekommt oder beim Fotografieren vergisst, die Klappe vom Objektiv zu entfernen. 

    Die Gegenspieler reihen sich nahtlos ein: Schurke Ljolik, der mit unglücklichem Händchen als Mittelsmann und Helfer fungiert, sowie Schönling Goscha, der ursprünglich angedachte Kurier für die Istanbuler Schmuggelaktion, der zum Sparringspartner aller Beteiligten avanciert, so sehr leidet er unter querschlagenden Armen, Angeln und Auspuffanlagen. So scheinen selbst die Bösen hier beinahe liebenswert und Semjon Semjonowitsch ist so wenig Held, dass selbst die Polizei es vorzieht, ihm keine echte Waffe zu überlassen.

    Satire mit Cowboylook und 007

    Als der Film 1969 seine Premiere hatte, war der Prager Frühling bereits Geschichte und das Tauwetter abgeklungen. Unter Leonid Breshnew machte sich Stillstand breit. Hinter dem scheinbar harmlosen Brilljantowaja Ruka steckte nichtsdestotrotz eine Satire auf die kleinbürgerliche sowjetische Gesellschaft. Im echten Leben zog es viele Menschen vom Land in die Stadt, zudem trat bescheidener Wohlstand ein.9 Vor diesem Hintergrund persiflierte Gaidai liebevoll die Konsumwünsche und Sehnsüchte der Menschen inmitten des sowjetischen Alltags. Da ist die Hausbesorgerin, die sich als treue Kommunistin inszeniert, Fehlverhalten an den Pranger stellt und doch zu gern auf mitgebrachte Souvenirs aus dem Ausland schielt. Immerhin hat Semjon Semjonowitsch, Inbegriff des Durchschnittsbürgers, geschafft, wovon andere insgeheim oder offen nur träumen konnten: Er war im Ausland, es durfte gleich eine Kreuzfahrt sein. 

    Geschafft, wovon andere nur träumen konnten – Semjon Semjonowitsch war im Ausland / Foto © Mosfilm
    Geschafft, wovon andere nur träumen konnten – Semjon Semjonowitsch war im Ausland / Foto © Mosfilm

    Stolz geht die Familie nach seiner Rückkehr an der Uferpromenade spazieren, mit dem Sohn im Cowboy-Kostüm und der Tochter im Minikleid mit Eiffelturm-Aufdruck. Ein Hauch von Coca Cola und New York schwingt ebenfalls mit, auch wenn Semjon Semjonowitsch nur in Istanbul war. Die Träume und Ziele der Sowjetbürger sind hier also nicht ideologischer, sondern materieller Natur, oder wie Semjon Semjonowitschs Frau anmerkt: „Der Pelz kann warten“ (russ. „Schuba podoshdjot“), wichtiger sei es, die Welt zu sehen. 

    Gaidai balanciert seine überzeichneten Figuren durch Gesangseinlagen, Traumsequenzen und Verfolgungsjagden, die das Tempo der Narration dirigieren und genügend Raum für ausdrucksstarke Mimik und Gestik lassen. Nicht zuletzt erfährt der Agententhriller aus dem Westen seine Referenz, wenn der Bösewicht, ganz im Stil der James-Bond-Reihe, mit (hier schwarzer) Katze auftritt, als Zigarettenschachteln getarnte Funkgeräte platziert werden und eine verführerische Blondine ins Spiel kommt, die es überraschend mit dem ersten Striptease auf sowjetischer Kinoleinwand an der Zensur vorbei geschafft hat10

    Champagner nur für Aristokraten und Degenerierte

    Vielleicht gerade weil dieser Film durch seine künstlerischen Verfahren die Grotesken des Alltags freilegt, verzeichnete Brilljantowaja Ruka nicht nur mit 76,7 Millionen Zuschauern11 die höchste Besucherzahl der Sowjetgeschichte – schon mit den beiden Vorläufer-Komödien Operazija Y i drugije Prikljutschenija Schurika (dt. Operation Y und andere Abenteuer Schuriks, 1965) und Kawkaskaja Plenniza (dt. Die Gefangene aus dem Kaukasus, 1967) brach Gaidai Rekorde – sondern prägte auch in hohem Maße die Alltagssprache. Der tadelnde Seitenhieb der Hausbesorgerin etwa, als sie Verdacht schöpft, Semjonowitsch müsse ein zusätzliches, illegales Einkommen beziehen, fällt auch heute manchmal, wenn etwas seltsam erscheint: „Die Unseren fahren nicht mit dem Taxi zum Bäcker.“ Mit der Phrase „Haben Sie diese auch mit Perlmuttknöpfen?“ lassen sich mit einem Augenzwinkern lästige Sonderwünsche ankündigen. Ein Klassiker bei Alkohol am frühen Morgen bleibt Ljoliks Ausspruch „Champagner am Vormittag trinken nur Aristokraten und Degenerierte“, als sich Goscha nach einem Besäufnis mit Semjon Semjonowitsch, kaum erwacht, erneut die Champagnerflasche an den Mund führt.

    Nicht nur mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik werden die Grotesken des Alltags freigelegt / Foto © Mosfilm
    Nicht nur mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik werden die Grotesken des Alltags freigelegt / Foto © Mosfilm

    Es ist der Film, aus dem laut Umfragen des Russischen Instituts für Kunstwissenschaft die meisten geflügelten Worte in den Sprachgebrauch übergegangen sind12 – noch mehr als aus Ironija Sudby, ebenso wie Brilljantowaja Ruka ein absoluter Klassiker im Fernsehprogramm rund ums Neujahrsfest, aber gedreht vom zweiten großen Komödienregisseur Eldar Rjasanow. 

    Text: Anna Ladinig
    Veröffentlicht am 27.12.2017


    1.vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.):  A Companion to Russian Cinema, Chichester, S. 519f.
    2.ebd.
    3.Cymbal, Evgenij  (2003): Ot smešnogo do velikogo: Vospominanija o Leonide Gajdae, in: Iskusstvo kino, 2003, Nr. 10
    4.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben: Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
    5.ebd., S. 19
    6.Dazu gehören unter anderem Dvenadcat’ stul’ev (1971, nach Il’ja Il’fs und Evgenij Petrovs gleichnamigem Roman), Ivan Vasil’evič menjaet professiju (1973, nach dem Theaterstück Ivan Vasil’evič von Michail Bulgakov) oder Ne možet byt’ (1975, nach Michail Zoščenko). Zu Verschiebungen im Schaffen von Gajdaj ab den 1970er Jahren vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.): A Companion to Russian Cinema, Chichester, West Sussex; Malden, S. 537f.
    7.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
    8.vgl. Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 24. Alfred Hitchcock hat einen solch sinnlosen Aufhänger  für die Handlung „MacGuffin“ getauft, was als Begriff auch Eingang in die Filmkritik fand: „Aber das wichtigste, was ich im Lauf der Jahre gelernt habe, ist, daß der MacGuffin überhaupt nichts ist. (…) Mein bester MacGuffin – darunter verstehe ich: der leerste, nichtigste, lächerlichste – ist der von North by Northwest.“, in: Truffaut, François (2003): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München, S. 127
    9.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
    10.Kommersant Weekend: Zakadrovaja politika 
    11.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
    12.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck,  S. 23

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    Podcast #1: Hundert Jahre Revolution

    100 Jahre Russische Revolution: Über „plombierte Züge“ und andere Mythen – und warum in Russland das Erinnern heute so schwerfällt.

    Katrin Rönicke im Gespräch mit Dr. Robert Kindler (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin) und dekoder-Wissenschaftsredakteur Leonid A. Klimov

     

     

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    Zum Weiterlesen:

    Revolutions-Dossier mit Wissenswertem rund um das Thema Revolution in Russland: 1917/2017 – 100 Jahre Revolution


    erschienen am 14.12.2017

     

    Diese Podcast-Folge wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko, geboren 1989 in Moskau, ist einer der wichtigsten russischen Fotografen seiner Generation. Seine Ausbildung machte er an der renommierten Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau; schon früh gewann er internationale Preise: Escape heißt sein Projekt, für das er Einsiedler in russischen Wäldern fotografierte und 2014 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. 
    Seine neue Serie heißt Родина – Motherland. Sie ist wahrscheinlich seine radikalste. Tkachenko hat dafür alte Holzhäuser in Brand gesteckt. Außenrum Dunkel.
    Die Serie hat in Russland für viel Aufsehen gesorgt, und nicht nur positive Resonanz gefunden. Denkmalschützer drohen gar, den Fotografen anzuzeigen. Dabei waren die Häuser unbewohnt und verfallen. Der Politologe und Historiker Sergej Medwedew mischt sich auf Facebook in die aufgebrachte Diskussion ein. 
    In Berlin ist Danila Tkachenkos Serie Родина – Motherland noch bis zum 3. Februar 2018 in der Kehrer Galerie zu sehen.

    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin
    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin

    Dieser Tkachenko ist einfach genial. Seit Malewitsch hat niemand mehr so meisterhaft mit dem russischen Raum zu arbeiten vermocht. Tkachenkos Inbrandsetzung eines Dorfes ist ein enorm tiefsitzender Archetypus: von Brandrodung bis zum Brand von Moskau 1812, von Pugatschow bis Chowanski, von Nikolai Polisskis Land Art bis zu den letzten Aktionen Pjotr Pawlenskis – doch der direkte Vergleich ist für mich das Schwarze Quadrat.

    Es genügt nicht, die Leere zu erkennen, man muss sie markieren, benennen – und genau das tut Tkachenko. Es ist eine sehr drastische Aktion (und juristisch offenbar nicht lupenrein), aber sie ist nicht schmerzhafter als der langsame Tod der Dörfer, die es auf der Landkarte gar nicht mehr gibt.

    Der Sterbeprozess dauert bereits ein halbes Jahrhundert, und irgendjemand musste ihn dokumentieren – nicht als ewige Klage der Jaroslawna, von der Dorfprosa der 1960er bis zu den heutigen Rodisten und Ökodörfern, sondern in Form einer künstlerischen Geste: Das Tote tot nennen und den Teufelskreis der Nostalgie durchbrechen. Bei uns weinen sie gern aus dem Autofenster raus der russischen Welt nach (ich nehme mich da nicht aus), betrauern das verlorene Kitesh, ach was, Atlantis gar, und leben im Zustand einer unaufhörlichen Apokalypse. Tkachenko schlägt hier einen klaren postapokalyptischen Ton an: Genug geweint, wir müssen weiterleben, wie unsere Vorfahren, die Wälder niederbrannten, Steppen und Dörfer, Einsiedeleien (manchmal sich selbst gleich mit) und Gutshöfe – und weiterzogen auf das nächste Stück Land.

    Und nicht zufällig passiert das alles im Jahr des zerknitterten 100-jährigen Revolutionsjubiläums. Mitten im Zerfall des Imperiums der Kultur 2, den Auflösungserscheinungen des späten Putinismus kommt Tkachenko (wie vor ihm Pawlenski) mit der revolutionären Botschaft der Kultur 1, der Kultur des Feuers und der Selbstzerstörung, vor der die Gesellschaft instinktiv Angst hat. Bemerkenswert, wie Denkmalschützer aus Krochino die niedergebrannten Häuser kurzerhand zum „Kulturerbe“ erklärten – genauso wie die Tür der Lubjanka zum Kulturerbe erklärt wurde, weil dort Babel und Meyerhold gefoltert wurden: Anscheinend werden bei uns die Dinge genau dann zum Kulturerbe, wenn man sie anzündet.

    Fotos: Danila Tkachenko
    Text: Sergej Medwedew
    Übersetzung: Ruth Altenhofer

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    Kino #11: Das Asthenische Syndrom

    Das asthenische Syndrom ist eine Krankheit. Der gleichnamige Film von Kira Muratowa aber ist eine Diagnose, eine katastrophale Diagnose, die Muratowa der späten Sowjetgesellschaft stellt. Der Film aus dem Jahr 1989 wurde zum letzten verbotenen Film in der UdSSR.

    Der Stein des Anstoßes war in erster Linie eine Szene, in der eine Frau im Metro-Waggon nachdenklich über einen Streit monologisiert. Dabei benutzt die elegante Frau die drastischsten Flüche, die das Russische kennt.1 In der U-Bahn fragt sich die Frau nun, warum das eigentlich alles? Alles sei doch so schön.
    Die Sprache des Mat war vorher noch nie auf der Leinwand zu hören gewesen, dennoch kann man davon ausgehen, dass der Zensurbehörde der Film als Ganzes unheimlich war.

    Die Handlung im Asthenischen Syndrom ist von Beziehungslosigkeit, wenn nicht von Brutalität im Umgang miteinander geprägt. Immer wieder mischen sich clownesque Momente unter die Beschimpfungen und Grobheiten und lassen den Sinnverlust noch absoluter erscheinen. Ende der 1980er Jahre war die sowjetische Gesellschaft weitgehend atomisiert, und im öffentlichen Raum herrschte eine feindselige Umgangsart. Die offene Gewalt, die wir im Film auch zu sehen bekommen, wird erst mit den 1990er Jahren Realität. Muratowa selbst sagte einmal über Das asthenische Syndrom, der Film sei ein Portrait des Zustandes der Menschheit.2 Und doch ist der Film, der mehrere dokumentarische Szenen enthält, auch Spiegelbild seines spezifischen Entstehungskontextes. Muratowa liefert mit dem Epos ihre brachiale Antwort auf die zerfallene Gesellschaft der späten Sowjetunion.

    Eine Kopie des Films konnte aus dem Land geschmuggelt werden und der Film erlebte im Jahr 1990 seine Premiere auf der Berlinale. Dort wurde er mit einem Silbernen Bären, dem großen Preis der Jury, ausgezeichnet. In der Sowjetunion wurden Muratowa umso mehr Vorwürfe gemacht. Nach langen Diskussionen und Verhandlungen durfte der Film schließlich sechs Monate später in den eingeschränkten Vertrieb aufgenommen werden. Das bedeutete, dass Vorführungen auf kleine Kino-Clubs beschränkt waren und sie eingebettet sein sollten in Vorträge von Soziologen oder Filmkritikern.3 1991 dann bekam der Film den Nika zugesprochen.

    Individuelles Leid als Leiden der Gesellschaft

    Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija
    Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija

    Für Das asthenische Syndrom kombiniert Muratowa zwei Drehbücher zu einem Film. Der erste, schwarzweiß gedrehte Teil des Films zeigt eine Frau, Natalja, nach dem Tod ihres Ehemanns. Dem Schmerz über den Verlust begegnet Natalja mit Ausbrüchen verbaler und körperlicher Gewalt. Die Ärztin beschimpft Freunde, Kollegen und greift mehrfach Passanten auf der Straße an. Sie nimmt sich einen Betrunkenen mit nach Hause ins Bett, nur um die ausgemergelte nackte Gestalt kurz darauf laut schreiend aus ihrer Wohnung zu jagen.

    Der Hauptteil des Films, in Farbe, zeigt lose Episoden um den Lehrer Nikolaj. Dieser begegnet uns zum ersten Mal im Kinosaal, in dem der Film über Natalja als Film im Film, vorgeführt worden ist. Ein Moderator und die Darstellerin von Natalja versuchen ein Publikumsgespräch zu führen. Die Zuschauer, so der Moderator, hätten jetzt die Möglichkeit sich mit dem „echten Kino” auseinanderzusetzen, von Regisseuren wie „German, Sokurow, Muratowa”. Doch das Publikum drängt ungeduldig nach draußen, wobei es zu Handgreiflichkeiten unter den Zuschauern kommt. Nataljas individuelles Leid und ihre Aggressionen werden im zweiten Teil des Films auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Als Bindeglied dient der Affekt. Es ist, als würde Muratowa uns sagen wollen: Das menschliche Leben ist eine Tragödie und das zeigt sich bereits darin, dass es schreckliche Unglücke wie den Tod gibt.

    „Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön."
    „Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön.“

    Das asthenische Syndrom ist der bis dahin unkonventionellste Film Muratowas. Auch wenn Muratowa schon in ihren vorangegangenen Filmen zunehmend die Handlung fragmentiert und das Verhalten ihrer Figuren verkünstelt, so wird eine durchgängige Geschichte nun komplett aufgekündigt. Anstelle von Verdichtung, Entwicklung und einem Spannungsbogen steht eine Art epischer Realismus. Dieser wird von dokumentarischen Einsprengseln unterstützt. Darunter eine erschütternde Szene verwaister Hunde in einem Hundezwinger, die Schimpftirade einer Frau über die Wohnungsnot, und der wahnsinnige Monolog eines Insassen der Irrenanstalt.4 Dabei baut die Struktur des Films oftmals auf einer Montage von kontrastierenden Erregungen oder Affekten auf. Das Fehlen dramaturgischer Bögen und ursächlicher Zusammenhänge spiegelt die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Zusammenhalts wider.

    Kann Kunst die Welt retten?

    Während sich die meisten Figuren anschreien und prügeln, leidet die Hauptfigur Nikolaj unter dem asthenischen Syndrom: chronischer Schwäche und Müdigkeit. Die scheinen ihn immer dann zu befallen, wenn die Umstände ihn überfordern – was oft der Fall ist. Das gesamte Umfeld Nikolajs scheint dem Wahn verfallen, und als Nikolaj in einer der letzten Szenen in der Irrenanstalt landet, lässt sich kein wesentlicher Unterschied zwischen den Insassen und den Menschen draußen registrieren.

    Dass auch die Kunst nicht in der Lage ist, die Menschheit zum Besseren zu erziehen, lässt uns Muratowa gleich mehrfach wissen. Über der Kinoleinwand am Beginn des zweiten Teils hängt ein Spruchband mit dem legendären Lenin-Zitat „Von allen Kunstformen ist das Kino für uns die wichtigste“. In krassem Kontrast zu dem Stellenwert, den der Film für die Bolschewiki hatte, beschweren sich die ins Foyer strömenden Zuschauer über das anstrengende Kunstkino: „Amüsieren will ich mich”, sagt ein dicker Mann zu seiner verträumt blickenden Ehefrau.

     Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme
    Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme

    Muratowa war die bedeutendste weibliche Regisseurin der Sowjetunion. Nach Abschluss der Moskauer Filmhochschule WGIK realisiert die 1934 in Bessarabien geborene Muratowa ihre Filme fast ausnahmslos am Odessaer Filmstudio in der Ukraine. Ihr Werk nimmt seinen Anfang in den 1960er Jahren, als das liberale Tauwetter gerade zu Ende geht. Fortwährende Probleme mit der Zensur, sowie mehrere Arbeitsverbote prägen Muratowas Werdegang in der Sowjetunion. Mit dem Asthenischen Syndrom findet Muratowa zu der spektakelhaften Filmsprache, mit der sie heute in Verbindung gebracht wird. Eine aufreizende Farbgestaltung, eine Vorliebe für ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen seither ihre Filme.

    Absage an das menschliche Subjekt

    Das asthenische Syndrom durchzieht ein tief greifendes Misstrauen gegenüber der Idee eines rationalen menschlichen Subjekts, dem sich selbst gewissen Ich-Bewusstsein. Während des Schulunterrichts kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Nikolaj und seinem Schüler Iwnikow. In der Szene darauf quälen zwei junge Frauen auf der Straße einen geistig Behinderten, Iwnikow eilt dem behinderten Mann zur Hilfe, doch kurz darauf jagt und schlägt er die Frauen brutal. Die nächste Szene zeigt einen Vater und seine jugendliche Tochter, die sich nach anfänglich liebevollem Umgang auf einmal einen heftigen körperlichen Kampf liefern. Die Brutalität geht, ähnlich wie im Falle Iwnikows, der dem behinderten Mischa helfen wollte, von einem Menschen aus, der gerade noch Gutes tat. Diese Figuren zeigen uns auf, wie unberechenbar, wie instabil menschliche Identität ist.

    Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen
    Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen

    Muratowa reiht sich mit diesem subjektkritischen Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen ein in die postmodern geprägte russische Kunst der 1990er Jahre, oder besser: nimmt sie vorweg. Mit der Entstehung der Sowjetgesellschaft wurde das autonome bürgerliche Subjekt der Aufklärung ausgelöscht. Doch das neue sowjetische Subjekt, der sozialistische „Neue Mensch” blieb ein ideologisches Dogma, eine Fiktion, über die man am Küchentisch lachte. Denn die Realität in der Sowjetunion war davon bestimmt, dass Staatsideologie und Alltagserfahrung weit auseinander klafften und das Leben von Absurditäten und Sinnlosigkeiten durchsetzt war. Die Menschen in der Sowjetunion waren also noch lange vor der Postmoderne in der postmodernen Haltung geübt. Sie nannten das Stjob, eine Verhöhnung jeglichen Glaubens.

    Man war sich bewusst, dass man in einer Konstruktion lebte, und somit befand man sich schon im Herzen der Postmoderne. Die Epoche der Postmoderne wurde im post-sowjetischen Raum also wie eine gute alte Bekannte begrüßt und in künstlerische Strategien integriert.

    „In meiner Kindheit, in meiner frühen Jugend dachte ich, dass wenn alle Menschen Lew Nikolajewitsch Tolstoi lesen, dann werden ausnahmslos alle alles, alles verstehen und gute, kluge Menschen werden.”5 Mit diesem Satz wenden sich am Anfang des Asthenischen Syndroms drei alte Frauen direkt an die Zuschauer. Die drei halten sich wie kleine Mädchen bei den Händen, eine hat ein dickes Tolstoi-Buch im Arm. Die Zuschauer ahnen, dass es sich bei dem dissonanten Chor der Alten um Verhöhnung, um Stjob handeln muss. Denn wer alles über die brutale Wirklichkeit versteht, fällt in den albtraumhaften Schlaf des Asthenischen Syndroms.

    Text: Isa Willinger
    Veröffentlicht am 29.11.2017


    https://www.youtube.com/watch?v=CZYJW2q2KAI
    https://www.youtube.com/watch?v=ZoOjiYdNc88


    1.Im Original: „Хуй тебе в жопу, я ему говорю, а он мне говорит, хуй тебе, а я ему отвечаю, что, ёб твою мать, я ебала твою маму, твоего папу, твоего бабушку, твоего дедушку … проститутка, сволочь, гадина, там еще как-то, а я ему говорю, а он мне говорит, сама сволочь… я ебал твою бабушку, я ебал твою дедушку […] .” Im Deutschen etwa: „Fick dich in den Arsch, sag ich zu ihm und er sagt zu mir fick dich und ich zu ihm … ich hab deine Mutter gevögelt, deinen Vater, deine Oma, deinen Opa, … und er sagt zu mir, selber Mistvieh, ich hab deine Oma gevögelt, deinen Opa […] .“ 
    2.Taubman, Jane (2005): The Filmmakers’ Companion: Kira Muratova, New York, S. 45
    3.Vasil’evna, Inna (2004): Novejšaja istorija otečestvennogo kino. 1986—2000. Kino i kontekst, Sankt Peterburg.
    4.Willinger, Isa (2013): Kira Muratova. Kino und Subversion, Konstanz
    5.Im Original: „В детстве, в ранней юности я думала, что если всем людям прочесть Льва Николаевича Толстого, и все-все всё-всё поймут и станут добрыми и умными.”

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  • „Die Vergangenheit ist uns allen im Blut”

    „Die Vergangenheit ist uns allen im Blut”

    Ein junger Autor auf der Frankfurter Buchmesse 2011. Ein großartiges Buch über den Gulag habe er geschrieben, heißt es. Wie kann das sein, mit gerade mal 30 Jahren? Es ist Sergej Lebedew, geboren 1981 in Moskau.

    Das Leben habe ihm diese Aufgabe beschert, mit zwei sehr unterschiedlichen Großvätern mütterlicherseits, sagt er. Und er hat sich ihr gestellt. 

    Mittlerweile liegen vier Romane des Autors Sergej Lebedew vor, zwei davon sind von Franziska Zwerg übersetzt auf Deutsch erschienen: Der Himmel über ihren Schultern (2013), Menschen im August (2015). Es sind Werke über seine jenseits der glatten Oberfläche komplizierte Familiengeschichte. Lebedew, Sohn von Geologen, die oft in den kalten Nordregionen Russland unterwegs waren, hat sie ausgegraben.  

    Im Interview mit Natalia Fjodorowa spricht er über die Notwendigkeit und die Grenzen des Schreibens. Gerade, wenn es um das Erinnern geht.

    Sergej Lebedew, die Literaturhistorikerin Natalia Gromowa beschrieb Sie mit den Worten: „Ein junger Schriftsteller, der über den Stalinismus in unserem Blut schreibt.“ Stimmen Sie dem zu?

    Sergej Lebedew: In dieser Formulierung ist das Schlüsselwort „Blut“. Denn eigentlich wollte ich nie Schriftsteller werden. Meine Eltern haben in der Sowjetunion als Geologen gearbeitet. Ab Mitte der 1990er Jahre war ich während acht Grabungssaisons auf geologischen Expeditionen dabei. Wir suchten seltene Mineralien für Museen, für Sammler. Fast alle Expeditionen führten uns an Orte ehemaliger Gulags, weit entfernt von Häusern und besiedelten Gegenden. Man kann sagen, es war das Gulag-Grenzland. Als in den 1960er Jahren die Lager geschlossen wurden, verließen die Menschen diese Orte. Was blieb, war ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand.

    Gibt es viele solcher Orte?

    Fast ganz Sibirien besteht daraus. Der Historiker Alexander Etkind hat die Theorie, dass der Gulag ein Instrument zur inneren Kolonisation des Landes war. Und als diese Welle der Kolonisation abebbte, blieben Ruinen von diesen Lagern, blieben Steinbrüche, Bergwerke und Straßen zurück. Das waren die Halbinsel Kola, die Republik Komi mit dem polaren und subpolaren Ural, wie auch die Region Krasnojarsk, Tschukotka, Kolyma.

    Es blieb ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand. Fast ganz Sibirien besteht aus solchen Orten

    Damals, Mitte der 1990er Jahre, hatte ich den Eindruck, wir leben in einem neuen Land. Die Geschichte hatte den richtigen Weg eingeschlagen. Das Leben war hart, schwierig, ärmlich, und doch war es ein anderes Land. Über die Straflager konnte man in Büchern lesen, bei Schalamow. Und dann stehst du auf einmal selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal. 
    Über die vielen Jahre, in denen ich dort gearbeit habe, entstand bei mir das seltsame Gefühl, dass auch ich Zeuge bin – Zeuge dieser entsetzlichen, verlassenen Post-Existenz des Gulags. Die niemand sieht, weil niemand an diese Orte kommt.

    Und wie war das für Sie? Als Privatperson, die unerwartet dieses Atlantis für sich entdeckt?

    Ich dachte nicht, dass das etwas mit meinem Leben zu tun hat. Ich wusste aus unserer Familiengeschichte, dass einige meiner Verwandten verfolgt, inhaftiert waren. Es gibt diesen bekannten Satz von Achmatowa: Es gab ein Russland, das einlochte, und ein Russland, das einsaß. Ich identifizierte mich mit jenem Russland, das einsaß. Ein beruhigendes Gefühl: Gott sei Dank, wir waren an Grausamkeit und Verbrechen nicht beteiligt, wir sind Opfer. Dadurch konnte ich die verlassenen Lager aus der Perspektive derjenigen betrachten, die dort gelitten hatten.

    Auf einmal stehst du selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal

    Aber später geschah etwas, was meine Sichtweise veränderte. Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen. Aber dann starb meine Großmutter mütterlicherseits. Ich sah ihre Sachen durch und fand eine dicke Mappe mit verschiedenen Dokumenten, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte. 

    Meine Großmutter hatte zwei Ehemänner – meinen leiblichen Großvater und einen zweiten, den sie nach dessen Tod geheiratet hatte. Beide Großväter habe ich nie gesehen, ich wurde nach ihrem Ableben geboren. Doch mein leiblicher Großvater war das Objekt meiner kindlichen Verehrung. In der Wohnung meiner Großmutter gab es eine Pralinenschachtel, in der Orden und Medaillen aus der Sowjetzeit aufbewahrt wurden: ein Lenin-Orden, ein Orden des Roten Sterns, ein Rotbannerorden.

    Ich wusste, dass mein leiblicher Großvater Offizier gewesen war, den gesamten Krieg mitgemacht hatte, vom ersten bis zum letzten Tag, und dass er die Schlacht von Stalingrad überlebt hatte. Selbstverständlich hielt ich mich als Kind der 1980er Jahre eher für seinen Enkel als für den Sohn meiner Eltern. Für mich war er ein echter sowjetischer Held, ein Mensch, der Heldentaten vollbracht hatte und dafür zu Recht ausgezeichnet worden war. Ich träumte aufrichtig davon, auch selbst einmal etwas zu vollbringen, was meines Großvaters würdig wäre. Und wenn ich allein zu Hause war, erlaubte ich mir sogar, einen dieser Orden anzuprobieren und steckte ihn mir an die Brusttasche meines Karohemds. 

    Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen

    In jener Mappe fand ich die Papiere der beiden Ehemänner meiner Großmutter, zwei Offiziersausweise. Und zu meinem größten Erstaunen stellte ich fest, dass mein leiblicher Großvater im Krieg gewesen war, bei Stalingrad gekämpft hatte, zweimal verwundet wurde, aber nie eine Auszeichnung bekommen hatte, nur die Jubiläumsmedaille Sieg über Deutschland, die alle Kriegsteilnehmer überreicht bekamen. 
    Den zweiten Offiziersausweis schlug ich mit unguter Vorahnung auf. Und ich fand heraus, dass alle Auszeichnungen, diese Objekte meiner kindlichen Träumereien, dem zweiten, nichtleiblichen Großvater gehörten – einem Oberstleutnant der Tscheka-GPU-OGPU-NKWD, der seinen Dienst im Jahr 1918 angetreten hatte, als er gerade 15 Jahre alt war. In den Ruhestand ging er 1954, nach Stalins Tod, und zwar als stellvertretender Kommandeur des Zwangsarbeitslagers in der Oblast Gorki. 
    Die meisten seiner Orden hatte er 1937 und 1938 bekommen. Das heißt, er gehörte zu denen, die an Verhaftungen und Erschießungen beteiligt gewesen waren.

    Und Sie merkten, wie das Leben Sie auf den Arm nahm.

    Ja, ich hatte gedacht, ich sei dadurch geschützt, dass es unter meinen Verwandten nur Leidtragende gab. Und nun steht man da und begreift, dass die engsten Angehörigen mit diesem Menschen zusammengelebt haben, ihn in ihre Familie aufgenommen, mit ihm an einem Tisch gesessen, mit ihm gesprochen, ihm die Hand gedrückt haben.

    Aber es hat sich in meinem Leben so ergeben, dass ich an jene Orten kam, wo dieser zweite Großvater sein Unwesen getrieben hatte. Ich sah die Spuren davon. Und auf einmal wusste ich, dass es nur einen Ausweg für mich gibt – literarisch darüber zu schreiben, einen Roman über diesen Menschen. Denn seine Akte hätte man mir nicht ausgehändigt. Ich bin kein naher Verwandter.

    Außerdem wurde mir klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken. Ich hatte es noch leichter, weil ich wusste, dass er kein Blutsverwandter von mir war. Aber gleichzeitig fühlte ich, dass diese Vergangenheit uns allen im Blut ist und man sich nicht mit einem geringen Verwandtschaftsgrad rechtfertigen kann.

    Mir wurde klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken

    Und dann begann ich zu schreiben, zu suchen. Ich stieß auf weitere Familiengeschichten. Jetzt gibt es schon drei Bücher, das vierte erscheint diesen Winter. Zusammen bilden sie eine Tetralogie – die Erforschung von Leerstellen und Stigmata in der Geschichte einer Familie. Das alles in ein einziges Buch zu stecken, war unmöglich, es gibt zu viele Narben, Verletzungen und blinde Flecken.

    Ihre Bücher stützen sich auf Fakten oder mussten Sie etwas dazuerfinden?

    Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeitet man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert. Und es gibt viele verschiedene Gesichter der Sowjetunion – das der 1920er Jahre, der 1930er Jahre, der Kriegszeit, der Nachkriegszeit – und sie alle befinden sich in einem verborgenen Widerstreit.

    Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeit man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert

    Deswegen liegt der Ausgangspunkt meiner Bücher in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht. Das letzte Buch zum Beispiel handelt von Russland und Deutschland. Wir hatten deutsche Vorfahren, aber diese Tatsache wurde während der Sowjetzeit verschwiegen. Während der Stalinzeit ein Deutscher zu sein, reichte manchmal für ein Todesurteil. Deswegen ging ein riesiger Teil unserer Familienidentität verloren. Bücher auf Deutsch wurden weggeworfen, die Verbindung zu den Verwandten im Ausland brach ab.
     
    In der „offiziellen“ Familiengeschichte taucht mein Urgroßvater erst auf, als er die Schirmmütze der Rotarmisten trug, und als er, ein Militärarzt, 1918 seinen Dienst in der Roten Armee antrat. Ich wusste nicht einmal, dass er vor der Revolution Offizier der Zarenarmee gewesen war, von hohem Rang … All das wurde wegretuschiert.

    Der Ausgangspunkt meiner Bücher liegt in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht

    Zu Sowjetzeiten wusste ich nicht, dass unsere historischen Verbindungen viel umfassender sind als das, was mir sichtbar war. Dabei wird das Schicksal einer Familie genau von diesen wesentlichen Dingen bestimmt, über die niemand spricht. Deswegen stelle ich in den Büchern, in den Romanen die Größenordnungen wieder her, die historischen Zusammenhänge und mich selbst als Mensch innerhalb der Geschichte.

    Wie sehen Sie heute, nach dieser Arbeit, den Gulag? Was war das genau?

    Zunächst einmal besteht die üble Einzigartigkeit des Gulags auch darin, dass die Straflager weit weg von jeglicher Zivilisation und Kultur lagen. Sie befanden sich also in einer Art geografischem Verschlag. Die Lager der Nazis in Deutschland dagegen sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte, man kann sie schwerlich von dort herauslösen. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo – dort gab es zuvor historisch kein Leben, dort war einfach nur Taiga, und auch jetzt gibt dort historisch kein Leben. Ihre Existenz zu einer Tatsache unseres gesellschaftlichen Lebens und Gedenkens zu machen, ist deshalb eine äußerst schwierige und keineswegs triviale Aufgabe. 

    Die Lager der Nazis in Deutschland sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo

    Zweitens: Einmal stand ich auf einem Gelände eines zerstörten Lagers, und mein erster Gedanke war, dass hier ein Denkmal stehen sollte. Und der nächste Gedanken war, dass ein Denkmal unmöglich ist. Denn ein Denkmal an sich bringt kein Gedenken hervor, es verweist nur darauf. Ein Denkmal würde dort in der Luft hängen. Denn es gibt nur kleine Inseln des Gedenkens wie die Inseln des Archipel Gulag, aber sie haben sich noch nicht zu einem Ganzen gefügt. Das liegt vor allem daran, dass die enorm vielen Tode, die es dort gegeben hat, immer noch abstrakte Tode sind. Das Sterben vollzog sich nicht innerhalb unserer Kultur und Gesellschaft, was sonst das hervorbringt, was wir als Totengedenken bezeichnen.

    Dort herrscht Permafrost. Die verstorbenen Häftlinge sind nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest

    Und ich habe gesehen, wie die, die dort umkamen, im Stich gelassen worden sind. Dort herrscht Permafrost. Und im Permafrost verwest keiner. Wie Mammuts, zum Beispiel. Die verstorbenen Häftlinge sind ebenfalls nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest. Sie sind gestorben, aber nicht zu Ende gestorben.

    Diese Situation scheint ausweglos. Es sind jetzt riesige Anstrengungen gefordert, um aus diesen Orten trotzdem Friedhöfe zu machen, sie in die Nekropole des ganzen Landes einzugliedern. Das ist es, was mir klar wurde und worum ich mich nicht nur als Autor kümmern möchte. Denn ich habe die Begrenztheit literarischer Mittel erkannt sowie ihre Unfähigkeit, an die Stelle von elementaren Dingen zu treten – ich meine Rituale, das Aufstellen von Kreuzen, Grabsteinen, Totengedenkfeiern. Das ist elementar und viel archaischer und wichtiger als die Literatur.

    Das heißt, um diese einfachen Wahrheiten zu verstehen, ist so viel innere und äußere Arbeit nötig? Und nur dann wird jeder einzelne Mensch die Notwendigkeit für ein aktives Gedenken erkennen?

    Wissen Sie, als ich meinen literarischen Weg begann, dachte ich, Literatur vermag alles. Es reicht, einen Roman zu schreiben.

    Aber dann las ich für eines meiner Bücher viele Zeitungen und Zeitschriften aus den späten 1980er Jahren, ganze Jahrgänge Ogonjok. Ich sah, wie das Thema Repressionen und stalinistische Vergangenheit aufkam, wie es sich zu einer Lawine von Veröffentlichungen auswuchs. Und ich bemerkte eine seltsame Sache – alles dies war gemäß der klassischen Vorstellung der Russen über die Wahrheit verfasst. Die Wahrheit ist ja eine Figur aus dem russischen Märchen. Es gibt die Prawda und die Kriwda (die Wahrheit und den Trug). Die Wahrheit ist ein Wesen, und man muss sie nur freilassen, damit sie alles in Ordnung bringt. In diesem Sinne besteht die Rolle des Kulturschaffenden darin, dieser Wahrheit die Tür zu öffnen.
    Aber mir wurde auf einmal klar, dass es so nicht funktioniert. Das ist zu naiv. Es hat auch auf längere Sicht nicht funktioniert, zumal sich zu dieser Zeit niemand fand, der diese Dinge gut formuliert hätte. Oder wir haben ihn nicht gehört.

    Und Juri Dmitrijew?

    Ja, mit Juri Dmitrijew habe ich endlich einen Menschen getroffen, der intuitiv einen Weg fand, wie man mit den Grabstätten umgehen muss. Wie sie gestaltet sein müssen, damit das eine persönliche Angelegenheit für eine große Zahl von Menschen wird – und nicht zu einer Initiative von oben, wo ein Denkmal aufgestellt wird und damit ist das Thema erledigt.

    Und ich denke, es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, wo man bei uns die Zeichen einer wiederkehrenden Vergangenheit deutlich erkennen kann, auf einmal so viele Menschen von Dmitrijews Geschichte erfahren. Denn es kommt vor, dass sich ein einziger Mensch der wiederkehrenden Vergangenheit in den Weg stellt und sie nicht durchlässt. Das mag pathetisch klingen, aber so ist es.

    Gibt es aus Ihrer Sicht heute in Russland überhaupt so viele Menschen und Gemeinschaften, die über dieses Thema nachdenken? Im von Ihnen erwähnten Deutschland sind, soweit ich weiß, Reflexionen zum Nazismus und offene Reue bis heute weit verbreitet, und zwar nicht nur in Schriftstellerkreisen.

    Das große Verdienst der westdeutschen Intellektuellen der 1960er bis 1980er Jahre bestand darin, dass sie verhinderten, dass Diskussionen verhallen und verstummen. Und sie formulierten gewisse Dinge, die dann, wenn auch unter Schwierigkeiten, zur offiziellen Position wurden. Das ist aus Deutschland nicht mehr wegzudenken, es ist bereits Staatsräson.

    Selbstverständlich sind deutsche Historiker und öffentliche Personen sehr sensibel gegenüber solchen Dingen. 
    Bei uns hat der Staat gar nicht die Absicht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Mehr noch, er kümmert sich äußerst aktiv um das Gegenteil.
    Aber dennoch entstehen in Russland Gruppen und Initiativen, die es vor fünf, sechs Jahren noch nicht gegeben hat. Momentan sind wir in einer historischen Situation, in der sich die Dinge zuspitzen. Es ist allzu offensichtlich, dass viele Missstände der Gegenwart ihre Ursache in der mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit haben. Ob sich das zu etwas Größerem verdichtet, weiß ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, die für bestimmte Prinzipien in der Erinnerungspolitik einsteht. Und wenn sie nur erreicht, dass es in Russland keine Denkmäler mehr gibt für Dsershinski oder Stalin. 

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  • Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917

    Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917

    Ansichtskarten gelten als banale Reiseandenken, die allenfalls zur Übermittlung von Grüßen dienen. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Postkarte zeitgleich zum Bau der Eisenbahnen, die Menschen und Dinge mobil machten. In einer Zeit vor Telefon und Email eroberte sie sich ganz unterschiedliche Funktionen. Die Ansichtskarte wurde zum Nachrichtenmedium, das erinnerungswürdige Ereignisse dokumentierte und verbreitete.

    Viele wichtige Ereignisse der russischen Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts wurden von fotografischen wie auch grafischen Postkarten begleitet. Die Revolution von 1905, der Erste Weltkrieg und natürlich die revolutionären Ereignisse von 1917 wurden zu Postkartenmotiven. Der Informationshunger war so groß, dass sich damit viel Geld verdienen ließ. Das nutzten verschiedene revolutionäre Gruppen für ihre Finanzierung.

    Ab 1907 wieder von der zaristischen Zensur unterdrückt, blühte das Genre nach der Februarrevolution 1917 erneut auf, als Propagandawerkzeug, um die Monarchie zu verspotten – und um bestimmte Deutungen der politischen Ereignisse zu etablieren.1

    Die Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen.
    Die Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen.

    Die Idee der Postkarte war eigentlich die eines amtlichen Formulars für einen Kurzbrief. Erst in den 1870er Jahren eroberten Bilder die Rückseite dieses Formulars, auf dem vorne ursprünglich nur die Adresse stand.

    In Russland hatte die Regierung das Postmonopol und ließ erst 1898 die St. Jewgenia-Gesellschaft (der Verlag des Roten Kreuzes) für die Herstellung von Postkarten zu. Bis dahin war der russische Postkarten-Markt von Importen aus Westeuropa bestimmt. 1905 erhielt Alexej Suworin, Besitzer einer der größten Verlage, eine russlandweite Lizenz für die Bahnhofskioske, die auch Postkarten verkauften.

    Revolutionäre Ereignisse im Postkartenformat

    Die zeitgenössischen Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen. Nach der Februarrevolution entfiel die Zensur, und Postkarten wurden von einer neuen Vielzahl größerer und kleinerer Hersteller und in- und ausländischer Verlage angeboten. Fotografen dokumentierten die Ereignisse und gaben häufig selbst Postkarten heraus. Teilweise erschienen dieselben Fotografien in der Presse und als Postkarten, auch bei unterschiedlichen Herstellern. Erst Anfang 1918 brachten die Bolschewiki den Markt unter ihre Kontrolle.

    Die Februarrevolution erscheint auf den Karten als Volksaufstand mit Menschenmassen in den Straßen Petrograds und abgebrannten Gebäuden in Moskau. Nach der Februarrevolution waren die Opfer und ihre Begräbnisse eines der ersten Motive der politischen Fotografie der neuen Machthaber. Allein anhand der Begräbnispostkarten ließe sich eine Chronologie der Ereignisse erstellen.

    Der Tod und die Toten sind kein Tabu

    Im März dokumentierten Postkarten die Toten und vor allem Prozessionen, welche die Form politischer Kundgebungen annahmen und die Särge zu feierlichen Begräbnissen in Gemeinschaftsgräbern auf dem Marsfeld begleiteten. Im Juli zirkulierten Postkarten mit Begräbnisprozessionen der im Zuge der bolschewistischen Juliaufstandes getöteten Kosaken mit ihren Pferden, und im November solche der (weniger zahlreichen) Opfer der Oktoberrevolution
    Aufnahmen von Begräbnissen waren ein gängiges Motiv auch in der russischen Bildkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Es war üblich, den Toten im Sarg mit der um ihn versammelten Familie für das Album zu fotografieren. In der professionellen Begräbnisfotografie wurden vor allem bei Soldatenbegräbnissen alle Stationen und Handlungen der Beisetzung dokumentiert.2 Hier wird die Postkarte zum Nachrichtenmedium. Der Tod und die Toten sind kein Tabu.

    Ikonographie der Massen

    Andere Karten zeigen politische Demonstrationen, etwa für die Rechte der Frauen oder die Unabhängigkeit Estlands. Auf den Bannern stehen als häufigste Losungen: „Es lebe die demokratische Republik!“, „Es lebe die Internationale!“ oder „Es lebe der Sozialismus“.

    Für die dargestellten „Massen“, Arbeiter, Soldaten, Frauen, war es das erste Mal, dass ihnen sichtbar Macht zugeschrieben wurde. Der Umfang der Massen suggerierte eine Art Naturgewalt, die traditionelle Orte der Macht (öffentliche Straßen und Plätze im Zentrum, Regierungsgebäude) einnahm.3

    Der 1. Mai war der erste revolutionäre Feiertag, der durch die Provisorische Regierung legalisiert wurde. Er wurde mit zahlreichen politischen Kundgebungen als Volksfest begangen. Die Regierung versuchte offenbar nicht, die zentralen Prospekte und Plätze der Stadt mit ihren eigenen Anhängern zu besetzen und sich dadurch zu legitimieren. Es ist nicht einmal klar, wer die Umzüge in Petrograd am 1. Mai 1917 organisierte. Menschenmengen mit Bannern, die Aufschriften wie Semlja i Wolja (Land und Freiheit) oder Sozialismus trugen, bewegten sich durch die Stadt und über die zentralen Plätze. Die Massen blieben auf den Postkarten führerlos, keine bekannten Revolutionäre oder Politiker tauchten auf, und die individuellen Züge der Menschen waren schwer auszumachen.

    Diese Postkarten erschienen häufig in nummerierten Serien, sie wurden zu Bildstrecken, bei denen die Bilder durch ihre Anordnung eine Geschichte erzählten. Die genauen Datierungen in den Bildunterschriften etablierten eine Chronologie bedeutender Ereignisse.4 Die Massen lassen sich nur selten bestimmten politischen Strömungen zuordnen.

    Kampf um Deutungshoheit und Ikonographie der Mächtigen

    Die Postkarten als niedrigschwelliges Nachrichtenmedium waren nicht monopolisiert und bieten somit unterschiedliche Perspektiven auf die Ereignisse. Von verschiedenen Seiten herausgegeben eröffnen sie den Kampf um Deutungshoheit.

    Die Postkarten mit bewegten Massen suggerieren die tiefe Verwurzelung des Sowjets in der Bevölkerung, Schwung und Tatkraft. Zugleich wird hier die Aneignung eines alten Ortes der Macht (Parlament) durch die neue Bewegung symbolisch ins Bild gesetzt – der Sowjet tagte in einem Flügel des Taurischen Palais, die Provisorische Regierung im anderen.

    Die Provisorische Regierung stellte den revolutionären Narrativen ihre eigene Deutung der Ereignisse gegenüber. Sie war aber in sich zerstritten und hatte keine konsistente Kultur- und Pressepolitik. 1917 erschienen dennoch mehrere Postkarten mit Porträts der Regierungsmitglieder. Bald konzentrierten sich die Postkartenhersteller auf die charismatische Persönlichkeit Kerenskis. Glaubt man den zeitgenössischen Postkarten, wandelte sich sein öffentliches Image vom verehrten Staatsmann über den volksnahen Kriegsminister in einfacher Soldatenuniform hin zum arroganten, von seiner Macht korrumpierten Politiker, der die Privilegien des Palastlebens genoss.5

    Oktoberrevolution als Leerstelle

    Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es zum Staatsstreich im Oktober keine dokumentierende Postkarte gibt. Die Oktoberrevolution bleibt zunächst in der visuellen Kultur eine Leerstelle. Die Bolschewiki inszenierten ihren Staatsstreich als Gründungsmythos, der aber erst anhand der Prozessionen zum ersten Jahrestag der Revolution 1918 sichtbar wird.6

    Von der Eroberung der Macht wurden später pseudo-dokumentarische Bilder hergestellt, die besser waren als die Wirklichkeit, da sie stürmende Massen zeigten wo es keine gegeben hatte. In einem Bildband zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution wurde ein Foto des „Sturms auf das Winterpalais“ veröffentlicht, das offensichtlich retuschiert war. Es handelte sich um die Aufnahme einer Probe für ein Massenspektakel, das 1920 zum Jahrestag der Oktoberrevolution am Originalschauplatz aufgeführt wurde. Aus der Aufnahme wurden die Zuschauer und der Regieturm wegretuschiert, aber der Sowjetstern über dem Portal verrät die nachträgliche Inszenierung.7 Die Unterscheidung zwischen Leben und Theater verwischte im Sowjetregime. Das gilt auch für Sergej Eisensteins Film Oktober. Gedreht zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, wurden die nachgestellten Aufnahmen später als authentisch wahrgenommen und zu Ikonen der Revolution. 

    Postkarte aus der Serie „Tage der Februarrevolution“. Abgebrannte Gebäude des politischen Gefängnisses „Litauer Schloss“ in Petrograd. Viele Postkarten dieser Serie haben auf der Rückseite keinen Aufdruck und sind von Hand beschriftet.
    „Prächtige Bergäbnisse der Revolutionsopfer“. Trauerprozession auf dem Newski-Prospekt in Petrograd. Nach der Februarrevolution waren die Opfer und ihre Begräbnisse eines der ersten Motive der politischen Fotografie der neuen Machthaber. Allein anhand der Begräbnispostkarten ließe sich eine Chronologie der Ereignisse erstellen.
    „Prächtige Begräbnisse der Revolutionsopfer. Gemeinschaftsgrab auf dem Marsfeld“ in Petrograd. Für die Revolutionäre sind die Begräbnisse die Möglichkeit, öffentliche Räume zu besetzen. So bestatten sie ihre Toten nahe den Orten der Macht: in Gemeinschaftsgräbern auf dem Marsfeld in Petrograd oder an der Kremlmauer in Moskau.
    Die Provisorische Regierung am Gemeinschaftsgrab auf dem Marsfeld in Petrograd. Begräbnisse bieten die Gelegenheit, die Opfer für sich und die Ziele der eigenen Bewegung zu reklamieren und zu Märtyrern zu machen.
    Begräbnisprozession der „Kämpfer für die Freiheit“ in Petrograd. Die Überschrift auf dem Gebäude des Gostini Dwor„Ihr seid als Opfer gefallen” weist auf ein Revolutionslied hin.
    Tote sind für die Postkarten kein Tabu.
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    „Imposante Frauendemonstration vor der Staatsduma“. In Petrograd markiert eine Demonstration zum Internationalen Frauentag den Auftakt zur Februarrevolution. Die Frauen fordern Brot und Frieden, daneben klagen sie aber auch grundlegende Rechte ein, wie das Wahlrecht.
    Revolutionäre Ereignisse erschüttern nicht nur Petrograd, sondern auch Moskau. Zum gewöhnlichen Postkartenmotiv der Serie „Moskau in den Tagen der Revolution“ werden abgebrannte und zerstörte Gebäude sowie die Parade auf dem Roten Platz. Diese Postkarte zeigt die „Ankunft [General] Grusinows mit seinem Stab bei der Parade“.
    Eine Massendemonstration vor dem Hotel Metropol in Moskau am 12.3.1917, während der Februarrevolution. Weitere Karten mit demselben Motiv auf anderen zentralen Plätzen der Stadt zeigen die große Beteiligung an den Aufständen.
    Revolution bedeutet auch Umwälzungen an der Peripherie des Russischen Reiches. Viele nationale Minderheiten gehen ebenso auf die Straße und fordern Unabhängigkeit. Auf der Postkarte ist eine estnische Kundgebung am 26. März 1917 in Petrograd zu sehen. „Es lebe die demokratische Republik und das autonome Estland“ steht auf dem Plakat.
    Demonstrationen mit den Bannern „Es lebe die Republik Russland, es lebe die Internationale!“ finden auch in Kleinstädten und Dörfern statt. Bilder von politischen Demonstrationen in Kleinstädten der Provinz sollen die Verwurzelung der Sowjets belegen und die neuen Machthaber legitimieren. Die Verankerung ihres Herrschaftsanspruchs jenseits der Zentren ist für die Bolschewiki in den ersten Jahren ein zentrales Problem.
    Der 1. Mai ist der erste revolutionäre Feiertag, der durch die Provisorische Regierung legalisiert wurde. Er wird mit zahlreichen politischen Kundgebungen als Volksfest auf den wichtigsten Schauplätzen der revolutionären Ereignisse begangen.
    1. Mai 1917 auf dem Schlossplatz: Auf den Bannern steht „Es lebe die demokratische Republik“ und „Es lebe der Sozialismus“. Die leuchtende Zukunft wird – im Einklang mit der sozialistischen Ikonografie – von einer Frau vor aufgehender Sonne verkörpert.
    Politische Demonstration am 18. Juni 1917 in Petrograd.
    Viele Postkarten haben eine satirische Funktion. Auf dieser Postkarte wird die Monarchie verspottet. Im Luftraum über einer Schar Soldaten schwebt das hineinmontierte Konterfei des letzten Zaren Nikolaus II.. Ein Soldat hält ein ebenfalls nachträglich hineinmontiertes Banner mit der Aufschrift: „Weg mit der Monarchie, es lebe die Revolution!“, während der Zar „zum Wohle der Menschheit auf den Thron verzichtet“. Die Karte wurde von einem vermutlich belgischen Verlag Somville herausgegeben.
    Sitzung der Provisorischen Regierung in Petrograd. Die wohlgeordneten Reihen, die Kleidung und die Porträts an den Wänden bezeugen: Hier tagt eine politische Elite.
    Im selben Gebäude tagt auch der zweite „Flügel“ der Doppelherrschaft – der Petrograder Sowjet der Arbeiter und Bauern-Deputierten. Hier gibt es scheinbar deutlich mehr Volksnähe als in den Reihen der „kapitalistischen Minister”. 
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    Die Köpfe der Provisorischen Regierung vom Februar 1917 in Petrograd.
    1917 erscheinen dennoch mehrere Postkarten mit Porträts der Regierungsmitglieder. Bald konzentrieren sich die Postkartenhersteller auf die charismatische Persönlichkeit Kerenskis.
    Nach dem Oktoberumsturz nutzen die Bolschewiki die Postkarten als wichtiges Propagandamedium. Hier haben wir es mit einer der ersten solcher Postkarten zu tun. Das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg war eines der ersten Dekrete Lenins. Die Postkarte mit den Soldaten, die jubelnd ihre Mützen schwenken dürfte gestellt sein. Die Retusche blendet den Hintergrund aus und malt einem der Soldaten eine leuchtend rote Fahne in die Hand. Die Karte wurde von Hand mit den Losungen „Fort mit dem Krieg“ und „Alle Macht den Sowjets!“ beschriftet. Auf der Adress-Seite sind, als Zeichen der staatlichen Aneignung des Postkarten-Diskurses, das Staatsemblem der RSFSR  sowie ein Emblem der Post abgedruckt. Damit wird der offizielle Status der Karte betont. Das alles weist auf eine höhere Auflagenzahl hin.
    Diese Postkarte zeigt Umzüge am ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Hier ist der Schlossplatz im Bild, der nach dem ermordeten Vorsitzenden der Tscheka in Urizki-Platz umbenannt worden ist. So werden systematisch die zentralen Orte der Macht angeeignet und besetzt, durch Umbenennungen, Dekorationen, sowie auch durch Menschenmassen.
    Aufnahme von Revolutionsführer Wladimir Lenin am Schreibtisch, die Prawda lesend. Die eigentliche Lenin-Ikonografie gewinnt erst während seiner Krankheit und nach seinem Tod an Bedeutung, also ab 1922 bzw. 1924.
    Die Aufnahme von Lenin auf der Rednertribüne aus dem Jahr 1920 hat es aus mehreren Gründen zu einiger Berühmtheit gebracht. Erstens zeigt sie Lenin in einer ikonischen Pose, die Mütze in der Hand, als Redner und aktiven Anführer der revolutionären Massen: Diese erscheinen auf zahlreichen Postkarten des Revolutionsjahres führerlos, hier gelingt nun die visuelle Verbindung der Menschenmenge mit einer visionären Führerpersönlichkeit in idealer Weise. Wegen seiner Ausdrucksstärke wurde das Bild zum Teil der kanonisierten Lenin-Ikonografie. Weil auch die Fotografie häufig reproduziert wurde, fanden mit der Zeit einige Retuschen statt, mit deren Hilfe etwa der in Ungnade gefallene Trotzki von der Treppe entfernt wurde.
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    Feiern des fünften Jahrestages der Oktoberrevolution 1922 auf dem Roten Platz in Moskau. Für die Parade werden „Dreadnought“-Schiffe der Marine nachgebaut, um die sowjetische Flotte zu repräsentieren. Der Aufdruck auf der Adress-Seite offenbart den wohltätigen Zweck der Postkarte: Sie dient dem Allrussischen Hilfs-Komitee für Kranke und Verletze der Roten Armee und der Kriegsinvaliden. Damit läuft der Zweck der Karte dem heroischen Narrativ auf der Vorderseite entgegen: Es tut sich ein Riss auf zwischen den heroischen Soldaten auf ihren Artillerieschiff-Attrappen während der Parade und der ernüchternden Realität des Kriegselends.

    Text: Monica Rüthers
    Veröffentlicht am 01.11.2017

    Die Postkarten wurden von den Sammlern Michail Woronin (St. Petersburg) und Familie Gribi (Büren a. A.) dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt.​


    Zum Weiterlesen:
    Rowley, Alison  (2013): Open Letters: Russian Popular Culture and the Picture Postcard 1880-1922, Toronto
    Hoerner, Ludwig  (1987): Zur Geschichte der fotografischen Ansichtspostkarte, in: Fotogeschichte, Heft 26, S. 29-44
    Tropper, Eva (2015):  Kontakte und Transfers: der Ort der gedruckten Fotografie in einer Geschichte der Postkarte, in: Ziehe, Irene/Hägele,Ulrich (Hrsg.): Gedruckte Fotografie: Abbildung, Objekt und mediales Format, Münster, S. 216-234

    1.bridgeman blog: The Russian Revolutions of 1917
    2.Bojcova, Ol’ga (2012): Ne smotri ich, oni plochie: fotografii pochoron v russkoj kul’ture, in: Antropologičeskij Forum № 12/2012, S. 327-330 und S. 442-463, hier S. 451
    3.Rowley, Alison (2013): Open Letters: Russian Popular Culture and the Picture Postcard 1880–1922, Toronto, S. 214
    4.Rowley, Open letters, S. 214
    5.Rowley, Open letters. S. 218-219
    6.Es existieren allerdings Bildpostkarten von Begräbnissen der Opfer in einem Gemeinschaftsgrab im Park des Forstinstitutes
    7.Neue Zürcher Zeitung: Das Verschwinden des Theaters: Wie sich eine Retusche am Bild der Oktoberrevolution als politische Allegorie lesen lässt

    Dieses Postkarten-Special wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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