Linearer Text hält sich wacker in Online-Zeiten. Wo das Internet ausufert, zieht er irgendwie auch Grenzen, hegt ein, reduziert (wenn es gut läuft). Doch schöpft er die Möglichkeiten nicht aus. Wie können Wissen und Inhalte unter digital getriebenen Arbeits- und Rezeptionsmustern generiert und aufbereitet werden? Das war eine der Kernfragen, die sich Studierende zusammen mit dekoder in einem Projektseminar an der Universität Hamburg gestellt haben. Die Studierenden haben sich dafür mit dem Truppenabzug der vormals Roten Armee aus Ostdeutschland beschäftigt. Ein Prozess, der sich bei rund einer halben Million Menschen, Militärs mit ihren Angehörigen, über knapp vier Jahre zog. Die Soldaten waren plötzlich ein Relikt des Kalten Krieges, mitgerissen vom Strom der Geschichte und von den rasanten Umbrüchen von 1990.
Wie lässt sich das Thema aufgreifen und für ein Online-Magazin aufbereiten? Dafür ist dekoder ein Semester lang an die Uni gekommen, und die Studierenden der Fachbereiche Geschichte und Osteuropastudien haben sich darauf eingelassen und ausprobiert. Wo sonst wissenschaftliche Hausarbeiten ihren Alltag dominieren, begannen sie, in Formaten zu denken, die völlig anders funktionieren, sei es eine Online-Presseschau oder ein Visual. Dabei gehen Wissenschaft und Journalismus ineinander über. Nicht umsonst kooperiert das vom Lehrlabor der Universität Hamburg geförderte innovative Lehrformat eng mit dem Projekt Wissenstransfer hoch zwei: Russlandstudien, an dem dekoder mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen arbeitet. Die Materialien erscheinen zum Jahrestag des Truppenabzugs am 31. August auf dekoder.org.
Einige der Studierenden sagten, allein schon die Art des gemeinsamen on-offline-Arbeitens sei neu für sie gewesen: mit Redaktionskonferenzen in Gruppen oder im Plenum, per Email oder im Chat, außerdem mit kollaborativem Schreiben. Das erzeugt auch eine ständige Pseudo-Nähe, die gerade im digitalen Zeitalter zu vielen Berufsfeldern gehört, doch macht man sie sich selten bewusst. Andere überraschte, dass der Weg, Russland für ein online-Publikum zu entschlüsseln, ganz klassisch offline beginnt: mit der Wühlarbeit im Archiv über dicken, angegilbten Zeitungsstapeln – auch wenn das Internet suggeriert, alles sei nur ein paar Klicks entfernt (bei einigen Blättern, wie der Prawdaund der Izvestiastimmt das sogar).
dekoder stößt damit Fragen an: Was bedeutet die digitale Gesellschaft? Welche Kompetenzen braucht es? Wie verändert sich die Wissenschaft, das Leben und Arbeiten von Wissenschaftlern? Wie funktioniert wissenschaftsbasierter Journalismus im Internet?
Die Diskussion im Seminar zeigte, wie divers privater Medienkonsum aussieht: mit Podcasts, Videos und einer Faszination für Virtual Reality. WhatsApp nutzen alle durch die Bank. Doch als Produzenten hängen viele am klassisch linearen Text, der immer noch geläufigsten Form für Publikationen. Wie gesagt, er hält sich wacker. Warum auch nicht, Schreiben ist ein Teil des Digitalen, wird im Netz jedoch auf immer neue Weise ergänzt und transformiert. So ist es für die Studierenden neues Terrain, mit der verzweigten dekoder-Struktur zu arbeiten, mit den Erklärungen in Pop-ups und den Hyperlinks zu den Gnosen, im besten Fall sogar interaktiven Karten (daran basteln wir noch) Was sie von ihren Erfahrungen sonst zu berichten haben, erzählen sie übrigens in einem begleitenden Seminarblog. Mit den Materialien zum Truppenabzug aus Ostdeutschland geht es unterdessen auf die Zielgerade. Und wir sind selbst am meisten gespannt.
Nach Moskau?! Neeee, Blogger Michail Drabkin bereist lieber das unbekannte Russland. Auf der Plattform discours stellt er sein Best-of der schönsten kleinen Städte vor: subjektiv, geschichtsträchtig und fernab der Touristenrouten.
Die meisten meiner kleinen Lieblingsstädte liegen merkwürdigerweise nicht auf dem Goldenen Ring, der eine der wenigen echten Kultur-Tourismus-Routen Russlands darstellt. Vielleicht ist das aber auch gar nicht merkwürdig – denn touristische Beliebtheit schadet oft der ursprünglichen Atmosphäre einer Stadt. Insbesondere in unserem Land, wo der Massentourist noch nicht gelernt hat, Aspekte wie Authentizität zu schätzen. Und dann oft etwas Grelleres oder Effektvolleres möchte als das Alltagsleben einer kleinen altehrwürdigen Stadt und die Überreste ihres langen Lebens mit ihrem wahren Antlitz.
Vor hundert Jahren – zu dem Zeitpunkt, als sich das architekturhistorische Gesicht der russischen Städte im Großen und Ganzen herausgebildet hatte – waren die Städte im Westen des Landes insgesamt größer, wohlhabender und bevölkerungsreicher als die Städte östlich von Moskau. Trotz alledem liegen mittlerweile alle gut erhaltenen historischen Städte auf dem Längengrad der Hauptstadt oder östlich davon – denn westlich davon verlief der Große Vaterländische Krieg.
Die kleineren Städte hatten besonders stark unter dem Krieg gelitten – sie wurden weniger erbittert verteidigt und später weniger achtsam wiederaufgebaut; das Leben dort war einfacher, aber auch prekärer, die Menschen kehrten nach der Zerstörung und Verwüstung weniger gern dorthin zurück.
Hier nun die drei authentischsten, besterhaltenen, mir herzensliebsten kleinen Städte Russlands. Das Ergebnis von dutzenden Reisen durch Zentralrussland. Wundervolle kleine Städte gibt es mehr als ein Dutzend, die drei, die hier vorgestellt werden, sind die aller-, allertollsten.
Torshok
Torshok ist die schönste Stadt in der Oblast Twer, die insgesamt reich ist an schönen kleine Städten: Kaschin, Beshezk, Stariza, Toropez gibt es da auch noch.
Von den zehn vollständig erhaltenen vorrevolutionären Stadtvierteln, hier der pittoreske Fluss Twerza.
Gebäude, die vor dem 17. Jahrhundert errichtet wurden, gibt es in Torshok nicht. Doch Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert in dieser Konzentration sind genauso beeindruckend wie altrussische Kirchen und Wohnhäuser.
Praktisch direkt durch die Stadt verläuft die Autostraße Moskau – Sankt Petersburg. Insofern könnte es hier theoretisch mehr als genug Touristen geben. Man müsste sie nur mal herholen.
Kassimow
Kassimow ist eine der wenigen Dutzend Flussstädte, an steilem Ufer über großem Wasser. Solche Städte gibt es gar nicht mal so sehr im Zentrum des Landes, sondern eher an der Wolga und den großen Flüssen des Wolgabeckens.
Da ist der quadratische Hauptplatz mit Kirche und Handelsreihen und noch die Kaufmannsvillen, doch in Kassimow hat alles auch eine asiatische Note: Im 15. Jahrhundert wurden die Stadt und die umliegenden Ländereien dem tatarischen Zarensohn Kassim geschenkt, als Auszeichnung für wichtige, dem Moskauer Fürsten erwiesene Dienste. So entstanden in der Stadt tatarische Siedlungen und die älteste Moschee in einer nicht-muslimischen Region.
Die Atmosphäre in Kassimow ist auch insofern so besonders, als es weit abgelegen ist von den wichtigen Zentren und Hauptstraßen des Landes.
Die Abgelegenheit in Verbindung mit einer recht guten wirtschaftlichen Lage ließ Kassimow zu einem lokalen Zentrum werden, zu einem Anziehungspunkt für die nord-östlichen Gebiete der Oblast Rjasan.
Gorochowez
Gorochowez ist eine wenig bekannte Stadt zwischen Wladimir und Nishni Nowgorod. Wladimir ist ein traditionelles Zentrum auf dem Goldenen Ring, und Nishni Nowgorod ein in den letzten Jahren an Fahrt aufnehmendes Zentrum des Massentourismus.
Gorochowez dagegen bleibt ein eher lokales touristisches Zentrum, das mehr von Menschen aus Nishni Nowgorod besucht wird. Gorochowez liegt praktisch am östlichen Rand von Zentralrussland. Was die Zahl an altrussischen Bürgerhäusern und Palästen angeht, liegt es mit Moskau und Pskow jedoch ganz weit vorn. Es ist insgesamt eine recht kleine Stadt, kleiner als Torshok und Kassimow.
Bei den städtebaulichen Umgestaltungen unter Katharina der Großen erhielten praktisch alle russischen Provinz- und Gouvernementsstädtchen ein in Rechtecken angelegtes Straßennetz. Es gibt sehr wenige Orte, wo die verwinkelte pittoreske mittelalterliche Stadtstruktur erhalten geblieben ist. Einer dieser Orte ist Gorochowez. Das historische Zentrum unterscheidet sich hier durch extreme Kompaktheit, die Altstadt misst nur 500 mal 500 Meter. Die Stadt befindet sich genau an dem Ort, wo die Hochebene von Wladimir und Susdal auf den Fluss Kljasma zuläuft. Für die Altstadt blieb nur eine kleine Terrasse zwischen Hügeln und Fluss.
Daher kommt auch eine andere Besonderheit der Stadt: Das Zentrum liegt hier nicht auf einer Anhöhe, wie das in der Rus üblich war, sondern vor allem in einer Niederung, und nur die Ränder laufen den Hang der Hügel hinauf. Die Hügel werden hier natürlich Berge genannt.
Die verhältnismäßig wohlhabende Oblast Wladimir in Verbindung mit der Nähe zu Nishni Nowgorod plus der Lage an der M7 mit ihrem regen Verkehr lassen Gorochowez gepflegter aussehen als Torshok und sogar Kassimow.
Interessant ist, dass alle drei Städte am Rand von Zentralrussland liegen.
Torshok – an der vormaligen Grenze des Nowgoroder Gebiets zu den südlich davon gelegenen Fürstentümern war ein Schlüsselpunkt der historischen Korntransporte in den Norden.
Kassimow war die südöstliche Festung der Wladimirer Rus, zwischen den Wäldern der Meschora am rechten Ufer der Oka und den Mordwinischen Wäldern am linken.
Gorochowez ist auch eine Grenzfestung, und zwar des Fürstentums Wladimir-Susdal, östlich und südöstlich davon lagen bulgarische, mongolisch-tatarische und tatarische Besitzungen.
Alle drei Städte entstanden ungefähr Mitte des 12. Jahrhunderts – damals erlebte die nord-östliche Rus eine Blüteperiode, alle paar Jahre wurden neue Städte gegründet, und schließlich wurde die Hauptstadt der Rus von Kiew nach Wladimir verlegt.
Text und Fotos: Michail Drabkin/discours Übersetzung: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 04.07.2019
Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.
Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom. Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.
Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich
Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte.
Das Idyll der himmlischen Sowjetunion
Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen.
Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.
Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge
Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.
Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität
Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.
Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu
Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er …
Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.
Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend.
Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen
Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht.
Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.
Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor
So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben.
Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs.
In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren.
Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl
Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient.
Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.
Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist.
Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.
Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD
Manch einen erinnern die Fotos von Sergej Nowikow vielleicht an die Jugend im örtlichen Fußballverein, manch einen an Flughäfen auf Inseln weitab von Metropolen.
Der Fotograf ist im Vorfeld der WM 2018 durch Russland gereist und hat Plätze wahrer Leidenschaft und Spielfreude gefunden. dekoder bringt die Fotografien von Sergej Nowikow und seine Kurzbetrachtung zur Kluft zwischen der Welt der Profis und Amateure.
Von 2012 bis 2018 habe ich an diesem Projekt gearbeitet. Es ging um Amateurfußball in Russland und wie er funktioniert. Betrachtet habe ich dabei die Kluft zwischen professionellem und Hobby-Fußball. Sei es aus fehlendem Zugang zum Profi-Status, sei es aus Verlust desselben, kopieren die Hobbymannschaften eifrig entsprechende Attribute. Die Kluft ist eine Welt aus Bildern, universalen Mustern, Verhaltensweisen, Ritualen, wiederholten Akten, die im großen offiziellen Sport vorkommen.
Das Streben der Amateure, aufzusteigen und einen höheren Status zu erlangen, erweist sich als vergeblich – dafür muss man ganz andere, nicht-sportliche Aufgaben erfüllen, eher ökonomische und politische. Der Raum, in dem in begrenztem Maß Aufstieg stattfindet, ist ein geschlossener Liebhaber-Kreis, der das Image des Leistungssports zur Definition des Spiels per se macht. Das ursprünglich stärker Spielerische beim Amateurfußball überträgt sich auch auf die Teilnehmer, die Regeln bei Amateurturnieren sind nicht in Stein gemeißelt, es gibt Raum für Interpretation.
Historisch ist das Stadion (die Sportarena) als eines der bedeutendsten sozialen, kulturellen und politischen Objekte der urbanen Infrastruktur anzusehen. Als Bühne für offizielle Veranstaltungen, sportliche und Unterhaltungsevents ist das Stadion – stärker als andere Bauten – fest eingewebt in den sozialen und physischen Stoff unserer Städte. In der modernen Welt sind neue Stadien, die beispielsweise anlässlich lauter und bedeutender internationaler Turniere gebaut werden, ebenfalls eine politische Machtdemonstration und ermöglichen eine Einflussnahme auf die Wählermassen. Jedoch bleiben nach wie vor – vor dem Hintergrund fetter Schlagzeilen über den Bau riesiger Stadien, über verrückte Verträge und Rochaden in den Lagern der Top-Mannschaften – die körperlichen Ertüchtigungen tausender Zeitgenossen im Schatten.
Fotos und Text: Sergej Nowikow Übersetzung: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 23.05.2019
Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen FilmKolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.
Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.
Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.
Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur
Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:
[bilingbox]Es ist ein guter Aufklärungsfilm. Davon sollte es viele geben, und das wäre übrigens auch möglich. […] Er füllt eine Leerstelle, eine Leerstelle an der Stelle des Wortes „Stalin“. Stalin kennen alle, 100 Prozent. Aber was ist das bitteschön, was steht hinter dem Wort? Nicht alle wissen doch, dass es eine besondere Bestialität war, derer sich die Staatsmacht bediente, und zwar – ich würde sogar sagen – unter persönlichem Druck von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dass er der Autor des Ganzen war, dass er persönlich wie am Fließband Dokumente durchsah und entschied: „Plattmachen!“ Wer weiß diese Dinge?~~~Это хороший просветительский фильм, я думаю. Таких должно быть много, между прочим, и могло быть много <…>. [Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?[/bilingbox]
Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit
In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:
[bilingbox]Juri Dud hat mit Kolyma einen grandiosen Film gemacht. Auf dieser Feststellung bestehe ich. Juri Dud hat ein Filmereignis geschaffen. 70 Prozent der Russen heißen die Taten Stalins gut. Die Intelligenzija sagt dazu Ach! und Oh!. Und Dud dreht einen Film. Einen klugen Film. Sehenswert. Ernst. Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt. Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. […] Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System. ~~~Юрий Дудь снял выдающийся фильм „Колыма“. Я настаиваю на этом определении. Юрий Дудь снял картину-событие. 70% россиян одобряют деятельность Сталина. Интеллигенция заахала. Дудь снял кино. Талантливое. Зримое. Серьезное. Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. […] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.
[…] … автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: „Колыма“ – это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм – о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.[/bilingbox]
[bilingbox]Sieh an: in Kolyma ist es kalt. Wer hätte das gedacht. Moskau hat für sich den Einfluss der Kälte entdeckt: als das Vernichtende all des Menschlichen im Menschen. Eine übersättigte Community, die es fertiggebracht hat, sich aus allen Erschütterungen, Kriegen, Naturkatastrophen herauszuhalten, die das Land in den letzten 30 Jahren umfänglich mitgemacht hat, hört jetzt zu, wie ein hipper Jüngling in teuren Klamotten ihnen etwas über die Kälte erzählt. […] Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos. Nehmt eure Kinder mit. Und lest.~~~На Колыме, оказывается, холодно. Кто бы мог подумать. Москва открыла для себя уничтожающее в человеке все человеческое влияние холода. Сытая тусовка, умудрившаяся остаться в стороне от всех потрясений, войн, катаклизмов, которые последние тридцать лет несла их страна по всему периметру, слушают, как им про холод рассказывает модный мальчик в дорогой одежде. <…> Идите в библиотеки, инфантилы. Детей своих ведите. Читайте.[/bilingbox]
Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:
[bilingbox]Der Sinn des Films ist so banal, dass einem leicht übel wird. Der Autor sagt: Kinder, jetzt erzähle ich euch, warum ihr diesem fiesen Land nichts schuldig seid, in dem in vergangenen Zeiten solche wie ihr, nämlich Kinder, für’s Eisessen ins Lager gesteckt wurden. […] Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke. ~~~Смысл фильма банален до легкой тошноты. Автор говорит: дети, сейчас я вам расскажу, почему вы ничего не должны этой мерзкой стране, где в былые времена таких же, как вы, детей сажали за съеденное мороженое. <…> Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.[/bilingbox]
Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden:
[bilingbox]Der Streit zwischen Prilepin und Dud ist grundlegend: Es geht darum, wer die Jugendlichen in die Zukunft führt und wie diese Zukunft einst werden wird. […] Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!~~~Спор Прилепина и Дудя принципиален, и он о том, кто поведет молодежь в будущее и каким это будущее станет. <…> Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма![/bilingbox]
Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:
[bilingbox]Kolyma ist in Duds Film ein Gebiet von schönster Natur und absoluter Hoffnungslosigkeit, was das Leben angeht. So kann man nicht leben. Hier kann man nicht leben. Hier herrscht ewiges Eis. Ewiges Eis und die ewige Scheußlichkeit der Verwüstung in den Seelen von Millionen Russen. Dieser Film und die Reaktion darauf ergeben ein Blutbild – es ist der Versuch der Russen, öffentlich über ihre schlimmste Tragödie zu sprechen. In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.~~~Колыма в фильме Дудя предстает территорией красоты природы и абсолютной безнадежности уклада жизни. Так жить нельзя. Здесь жить нельзя. Это вечная мерзлота. Но мерзлота и мерзость запустения в душах миллионов россиян. Этот фильм и реакция на него дают «общий анализ крови» — становятся попыткой россиян публично проговаривать свою самую главную трагедию. В российской истории всегда лилось много крови. Власть всегда считала людей «человеческим материалом», «личным составом», теперь вот еще «электоратом». Этот фильм, вроде бы почти развлекательный, спокойный, с элементами обычной нормальной жизни, оказался способом для нации заглянуть в бездну. И увидеть там свое отражение.[/bilingbox]
Am 20. Mai wurde bekannt, dass zwei Journalisten der Tageszeitung Kommersant ihren Arbeitgeber verlassen. Daraufhin haben alle Mitglieder der Politikredaktion geschlossen ihre Kündigung eingereicht.
Der Sprecher des Verlagseigentümers Alischer Usmanow legt den zwei Journalisten zur Last, einen „bestellten“ Artikel geschrieben und damit gegen die redaktionellen Standards verstoßen zu haben. Beweise dafür bleiben bislang aus, sowohl die Journalisten als auch der stellvertretende Chefredakteur von Kommersant bestreiten den Vorwurf.
Viele unabhängige Journalisten sind bestürzt über den Vorgang, sie sehen darin einen weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Sie erinnern sich an das Schicksal des Onlinemediums Lenta.ru und des Investigativ-Portals RBC. Tenor damals: Diese beiden Medien hätten die „Verkehrsregeln“ des russischen Journalismus verletzt und dabei eine gewisse „durchgezogene Linie“ überschritten. Gemeint ist vor allem Selbstzensur. Russland nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 149 ein – von insgesamt 180.
Die Redaktion von Meduza äußerte ihr Mitgefühl gegenüber den 13 Kollegen vom Kommersant.
Der Unternehmer und Eigentümer der Zeitung Kommersant Alischer Usmanow hat die Kündigung zweier Journalisten der Zeitung erzwungen: Iwan Safronow und Maxim Iwanow. Dem Aktionär gefiel ein Artikel nicht, in dem es darum ging, dass Valentina Matwijenko womöglich den Posten als Sprecherin des Föderationsrates aufgibt und der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ihren Platz einnimmt.
Der Chefredakteur und Generaldirektor von Kommersant Wladimir Shelonkin sagte gegenüber Vedomosti: „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, da beim Erstellen des Artikels die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt wurden.“ Unter anderen Umständen – sprich zu anderen Zeiten oder außerhalb von Russland – hätte Shelonkin wahrscheinlich erklären müssen, gegen welche redaktionellen Standards genau verstoßen wurde. Denn unmittelbar nach Safronow und Iwanow hat die gesamte Belegschaft der Politikredaktion von Kommersant ihre Kündigung eingereicht – als Zeichen, dass sie mit der „Entscheidung des Aktionärs“ nicht einverstanden sei.
Es ist erstaunlich, dass sich Shelonkin ausgerechnet auf redaktionelle Standards beruft: Denn seitdem Usmanow die Zeitung gekauft hat, mischt er sich regelmäßig und, allem Anschein nach, durchaus effektiv in ihre Arbeit ein – will sagen, ein Verstoß gegen redaktionelle Standards ist eher dem Eigentümer und Chef vorzuwerfen. Aber der Kommersant hat eine phänomenale Anziehungskraft. So arbeiten trotz allem dort immer noch dutzende hochprofessionelle Mitarbeiter, für die, davon sind wir überzeugt, Zensur inakzeptabel ist. Von außen zuzusehen, wie es mit einer Zeitung schrittweise den Bach runtergeht, tut ziemlich weh; mit denen, die Teil davon sind, nicht mitzufühlen, ist unmöglich. In all den Jahren haben sowohl Mitarbeiter des Kommersant als auch ihre Leser und Konkurrenten gehofft, dass die Krise auf magische Weise enden wird – doch das ist, oh weh, nicht passiert.
Von Quellen aus dem Verlagshaus Kommersant wissen wir, dass die Veröffentlichung über Matwijenko einen solch starken Unmut eines Aktionärs ausgelöst hat, dass sogar die Kündigung des Chefs diskutiert wurde. Stattdessen hat man jedoch den Autoren des Artikels nahegelegt zu gehen und ihnen zudem die Verletzung von Standards angelastet. Allein der Gedanke daran, wie so etwas abgelaufen sein mag, ist beschämend.
In der Meduza-Redaktion arbeiten ehemalige Kommersant-Mitarbeiter, doch nicht nur ihnen ist es schwer ums Herz. Der russische Journalismus verliert seine Profis mit erschreckender Geschwindigkeit: Die Leute gehen nicht, um bei anderen angesagten Medien anzuheuern, sondern sie gehen in den meisten Fällen in angrenzende Berufszweige, das heißt ins Nirgendwo. Und doch trauern wir heute nicht um unseren Beruf, sondern um eine konkrete Redaktion in einer konkreten Zeitung. Wir wissen, der Kommersant ist eine Familie. Und in dieser Familie ist ein Unglück geschehen. Haltet durch, Freunde!
Musikvideos aus Russland entwickeln sich derzeit zu Exportschlagern. So haben etwa bei den Berlin Music Video Awards 2018 gleich drei Clips aus Russland abgeräumt: Leningrad (Best Music Video & Best Narrative), Aigel (Best Editor) und Little Big (Most Trashy). 2019 stehen Shortparis auf der Nominierungsliste für Best Director – eine 2012 in Sankt Petersburg gegründete Band. Ihr Clip Straschno (Angst) vom letzten Dezember sammelte auf YouTube bislang zwar nur zweieinhalb Millionen Aufrufe, vor allem in sozialen Netzwerken sorgte er aber für großes Aufsehen.
Straschno kam am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Kurze Zeit später veröffentlichte die Band das Video dazu, wohl zufällig parallel zu einer Reihe von Konzertverboten in Russland. Erst danach gingen Shortparis auf Tournee.
Derzeit spielen sie in Westeuropa, ihr Berliner Konzert am 26. April ist schon seit einigen Wochen ausverkauft. Am 16. September geben Shortparis dort aber ein Zusatzkonzert. dekoder nimmt die Tournee zum Anlass für eine Einordnung ihres viel diskutierten Videos und bringt Zitate aus Meduza sowie dem Musikmagazin Muzstorona.
Kulturen prallen bunt aufeinander, dass es nur so kracht. Die ästhetisierte Performance der Jungs von Shortparis zeigt Wege und Lösungen des Politischen – jenseits von Worten. Shortparis selbst erklären ihr Video auf Meduza so:
[bilingbox]Der Clip will den Zustand eines Teils der heutigen Generation festhalten. Er ist natürlich provokativ und spielt auf einige soziale Tragödien an, die aus irgendeinem Grund bis heute nicht in unserer visuellen Kultur reflektiert worden sind. Im Verlauf werden Trigger aufgezeigt, schmerzliche Assoziationen, gesellschaftliche Tabus, Ängste: Arabische Schriftzüge, auch wenn damit Wörter wie „Freundschaft” oder „Liebe” geschrieben sind, verbinden sich unweigerlich mit Terrorismus, rasierte Köpfe mit Neonazismus und so weiter. Aber erhalten bleibt nach diesem Gedankenspiel in der Trockenmasse eines: Der Zustand einer nicht artikulierten, aber wachsenden Alarmiertheit, die allen gemein ist.~~~Клип, безусловно, пытается манифестировать состояние части нынешнего поколения. Он, конечно, провокационен и намекает на ряд социальных трагедий, почему-то не отрефлексированных до сих пор в нашей визуальной культуре. По ходу вскрываются триггеры, болезненные ассоциации, общественные табу, страхи: арабская вязь, пусть ею написано слово «Дружба» или «Любовь» неминуемо связывается с терроризмом, бритые головы — с неонацизмом, и так далее. Но после этой игры смыслов в сухом остатке остается одно — состояние не артикулированной, но нарастающей тревоги, общей для всех.[/bilingbox]
Mit ihren Clips entlarven Shortparis eine Leerstelle, meint zumindest der Musikkritiker Pjotr Poleschtschuk auf Muzstorona:
[bilingbox]Von Shortparis stammt folgende Äußerung: „Das Politische sitzt heutzutage tief in uns, es ist nicht mehr nur etwas Soziales, sondern auch etwas tief Psychologisches.” Die Gesellschaft, vielmehr das, was sie ausmacht, ist einer irrationalen Angst gleichzusetzen. Die Reaktionen auf die Umwelt sind mittlerweile Gefühlsausbrüche von Zeichen, die Reflektionen und Analysen irgendwo tief unter dem Eis eingemauert haben. Ironischerweise haben Shortparis als eine Art visueller Transformation das Fehlen positiver Transformationen demonstriert.~~~Высказывание Shortparis – о том, что сегодня политическое сидит глубоко в нас, это уже не только социальное явление, но и глубоко психологическое. Содержимое социума приравнивается к иррациональному страху. А реакции на окружающий мир стали сводится к всплескам эмоций от знаков, замуровав рефлексию и аналитику где-то глубоко подо льдом. Иронично, как путем визуальных трансформаций Shortparis продемонстрировали отсутствие каких-либо позитивных трансформаций вокруг.[/bilingbox]
Die Band aus Sankt Petersburg sei „full of revolutionary potential“, befand die britische Musikzeitschrift The Quietus, noch bevor die Fünf Straschno herausbrachten. Gerade über das revolutionäre Potential von Shortparis sprach man nach der Veröffentlichung des Clips. Genauer gesagt – man rätselte, denn Shortparis arbeiten mit vielschichtigen Symbolen, mit Andeutungen und Anklängen. Was dabei herauskommt, ist mehr Konzeptkunst als Musikvideo:
[bilingbox]Die Bacchanalien von Symbolen gipfeln in der arabischen Zierschrift vor dem Hintergrund der russischen Nationalflagge. Wie stur auch immer der Major marschiert – hinter seiner gekünstelten Ernsthaftigkeit entblößt Shortparis, wie relativ und schmerzhaft anekdotisch soziale und kulturelle Vorurteile sind.
Bislang spiegeln Post-Punk-Gruppen die Welt als Chaos, das zu nichts Konkretem führt. Shortparis gehen weiter, zeichnen und geben dem Chaos Konturen.~~~Вакханалия символов завершается надписью арабской вязью на фоне флага России (что в итоге придало смысл выпуску сингла именно 12 числа, если вы понимаете). Как бы упрямо ни шагал майор, но за его напускной серьезностью Shortparis обнажают условность и болезненную анекдотичность социальных и культурных предрассудков. Пока большинство пост-панк групп отражает мир, как несводящийся ни к чему конкретному хаос, Shortparis идут дальше и вырисовывают хаосу контур.[/bilingbox]
Eine klare politische Botschaft fehlt in Straschno, dafür ist das Video gespickt mit offensichtlich unvereinbaren Symbolen: Wenn die Protagonisten eine terroristische Gruppierung mimen, die in eine Schule eindringt, kann das als Anspielung auf die Geiselnahme von Beslan verstanden werden, oder auf den Amoklauf von Kertsch im Oktober 2018, bei dem ein College-Student 20 Menschen und schließlich sich selbst erschoss.
Auch die massiven Jugendproteste werden damit assoziiert sowie Pogrome gegen Gastarbajtery. Sehen die Terroristen für viele etwa deshalb wie Neonazis aus? Doch warum ist das Video dann auf Arabisch untertitelt? Und dann auch als Karaoke? Warum diese abrupten Szenenwechsel und die Anklänge an eine brausende Gay-Party?
Solche Widersprüche scheinen Shortparis auch zu leben: Mit dem russischen Jugendschutzgesetz hätten ihre Konzerte im Dezember leichterdings verboten werden können, wie die zahlreicher anderer Musiker auch. Im Februar traten die fünf Männer aus Sankt Petersburg mit Straschno aber in der Late-Night-Show Wetscherni Urgantauf, im Staatssender Erster Kanal. Irgendwie sind sie Underground, gleichzeitig zieren sie aber die Cover von populären Magazinen.
[bilingbox]Gibt es Grund für die Annahme, dass die Botschaft von Shortparis etwas grundlegend Neues ist? Kaum. Jedoch ist es in dem stickigen Raum schwierig – sogar der Hip-Hop kommt nicht mit deutlich politischer Kritik klar (und das als zweitbeliebtestes Genre beim Publikum) – , etwas stilistisch Besseres zu entdecken als Straschno. Möglicherweise ist in der Welt politischer und kultureller Analphabeten ein solcher Ästhetizismus im Verbund mit Dreistigkeit gar nicht die schwächste Reaktion. Und das ist keineswegs ein Zugeständnis.
Im Endeffekt liegt bei Shortparis das interessante Paradox nicht im Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ästhetik und nicht in der merkwürdigen Verbindung von Avantgarde und Pop. Das Paradox besteht darin, dass Shortparis es schafft, gleichzeitig allem und nichts Konkretem ähnlich zu sein. Denn es ist bekannt, „dass am Genie wundervoll ist, dass es allen ähnelt, ihm aber niemand.” Inwiefern das auf Shortparis zutrifft, wird die Zeit zeigen.~~~Есть ли основания считать, что высказывание Shortparis — это нечто беспрецедентно новое? Едва ли. Аналогии с небезызвестной «This is America» напрашиваются неспроста (но надо отметить, что цели у работ абсолютно разные). Однако в душном пространстве, где даже хип-хоп не справляется с внятной политической критикой (будучи вторым по популярности национальным жанром), трудно вспомнить более стильную работу, чем «Страшно». Возможно, в мире политической и культурной безграмотности эстетизм вкупе с дерзостью оказывается не самым слабым контрударом. И это ни в коем случае не скидка. В итоге самый главный парадокс Shortparis открывается не в столкновении противоположной эстетики и не в странном сочетании авангардной и поп музыки. Парадокс в том, что Shortparis умудряются напоминать одновременно всех и никого конкретного. И акцент здесь стоит делать все-таки на второй части предложения. Ведь, как известно, «в гении то прекрасно, что он похож на всех, а на него — никто». Насколько справедливо это в отношении Shortparis – время покажет.[/bilingbox]
Mit den gigantischen Monumenten und spektakulären Bilderstürmen der Wendezeit hielt sich Fotograf Igor Mukhin nur kurz auf. Stattdessen erkundete er in seinem Langzeitprojekt seit den späten 1980er Jahren bis ins Jahr 2017 die Reste der sowjetischen Utopie in der Provinz. Hier fand er auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern das untere Ende der sozrealistischen Kunstproduktion: billige, kleine Gipskopien bekannter Werke, die ihren ursprünglichen Kontext der Erholungsparks oder Pionierpaläste verloren hatten und sich selbst überlassen dahindämmerten.
Was Denkmalstürzer in den Zentren des Landes publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Mukhin holt die Überreste der sowjetischen Zukunftsmärchen ins Bild, zukunftsfrohe Fußballer in Aktion, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen … Dabei lassen Mukhins Bilder die üppigen Reize, die Sinnlichkeit und Lebensfreude der antik anmutenden Figuren, mit denen die sowjetische Zukunft ausstaffiert war,1 durchaus ihre Wirkung entfalten: Die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie ist beklemmend oder poetisch. In der späten Sowjetunion war allen klar, dass die Antike im Laufe von Jahrhunderten zerfiel, aber die sowjetische Ewigkeit schon nach 20 oder 30 Jahren den Charakter von Ruinen angenommen hatte.
In den krisengeschüttelten 1990er Jahren sprachen die Menschen in Metaphern des Zerfalls über den Niedergang des Sozialismus: in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Die bröckelnden Körper der Götter und Helden, der Milchmädchen, Speerwerferinnen und Mütter, der Kosmonauten und Parteiführer hatten ihre Aura schon vor der Wende verloren. 1991 schien sich in ihnen der Bogen vom Aufbau des Sozialismus bis zu seinem Fall zu verkörpern. Doch der Fall war nicht endgültig, schon Ende der 1990er kehrten einige auf ihre Sockel zurück.
Igor Mukhins Fotografien sind eine Hommage an die sichtbar werdende Zeitlichkeit des Sozialistischen Realismus, auch an seinen Hang zu Vervielfältigung und Serialität. Das Auge seiner Kamera richtet sich nicht auf die Bilderstürze in den Hauptstädten, sondern auf den langsamen Verfall der für alle Ewigkeit mit ausgestrecktem Arm in die Zukunft weisenden Leninstatuen in Provinzstädten, im wuchernden Gebüsch von Plattenbausiedlungen oder aus der Zeit gefallen vor aktuellen Werbeballonen. Er spürt abblätternde Grüppchen von Müttern mit Kindern vor Kleinstadt-Krankenhäusern auf und Pioniere, die sich in peripheren Grünanlagen auf ihre Speere stützen. Die Helden von gestern fristen ein vergessenes Dasein auf dezentralen Straßenkreuzungen. Nicht nur das Material, auch die Gesten wirken müde.
liebe Leserinnen und Leser, und was Ihr weniger mögt – das wollen wir natürlich wissen. Und so haben wir im Januar eine Umfrage gestartet. Kein Zettelchen mit „Ja-nein-weiß nicht-bitte-ankreuzen“ wie aus Grundschultagen. Sondern einen für uns sehr aufschlussreichen Fragebogen, mit dem Ziel, von euch zu erfahren: Was können wir besser machen? 213 LeserInnen haben mitgemacht, dafür einen riesengroßen Dank!
Und wir waren erstmal überwältigt von so vielen Ja-Kreuzchen, sprich Zuspruch. „Bleibt so wie Ihr seid!“, „Einfach großartig“, „Huhu, Ihr seid doch fehlerfrei“, „Was ich schätze? Einfach alles!“, „Behaltet einen langen Atem und einen kühlen Kopf in den hitzigen Debatten um Russland. Danke für Eure Arbeit und Euren Elan!“, „Großes Lob! Empfehle euch sehr oft weiter“, „Führen Sie die vorzügliche und wissenschaftlich basierte Arbeit weiter“ – regnete es auf uns wie tausend rote Rosen.
Die kamen nicht nur von Russland-Checkern: Mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) gab an, beruflich gar nichts mit Russland zu tun zu haben, knapp die Hälfte (43 Prozent) spricht auch kein Russisch. So legt die Umfrage nahe, dass dekoder russlandinteressierte Lesende ganz gut „abholt“, wie das im Medienjargon heißt, und zwar sowohl die Auskenner als auch die Noch-nicht-Auskenner, die sich erstmal einfach nur interessieren.
Das will auch so sein, schließlich ist dekoder für alle da. Und will raus aus den Kategorisierungen und polarisierten Debatten – und auch da gab’s Leserlob: Eine große Mehrheit (76 Prozent) schätzt, dass dekoder viel Kontext bietet. Im freien Bereich nannte einer „die Unaufgeregtheit“, andere lobten die „Neutralität“ der Redaktion als großes dekoder-Plus.
Dass wir uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen sollten, legen andere Werte nahe: Wenn es auch tonnenweise Lob gab, von dem wir zehren, und wenn auch die Mehrheit der Befragten just keine Schwächen an dekoder nennen wollte, so merkten manche dennoch ein paar Punkte an, die weh tun. Weil sie stimmen. Die öffentliche Wahrnehmung könnte größer sein, hieß es etwa. Das liegt natürlich nicht nur an uns: Kooperationen mit reichweitenstarken Medien sind für uns nicht so einfach, gerade weil wir uns eben nur auf Russland konzentrieren und das für die Auslandsseiten klassischer Medien mitunter zu wenig ist. So umgarnen wir den coolen BMX-Fahrer aus der 4b weiter und hoffen, dass er auf dem „Willst du mit mir gehen?“-Zettel bald sein Kreuzchen macht beim Ja.
Die gute Nachricht ist, dass zum Beispiel die NZZ regelmäßig Beiträge von dekoder übernimmt. Und wir versuchen, noch weitere Medien für uns zu gewinnen. Außerdem geben wir fleißig Interviews, moderieren Fach-Panels, Workshops et cetera, um unsere Präsenz zu stärken. Jedenfalls: Wir sind bereit! Gelobt wurde dekoder auch als „Themenfundus“: Liebe Journalisten, wenn Sie Themen bei uns finden, verlinken Sie uns gerne auch im Beitrag!
Und schließlich: Es ist es keine On-Off-Beziehung, die die Befragten zu dekoder pflegen. Die meisten lesen dekoder sehr regelmäßig: insgesamt mehr als die Hälfte einmal (33 Prozent) oder mehrmals (29 Prozent) pro Woche. Allerdings würden uns viele gerne noch öfter, am liebsten täglich lesen. Der Wunsch nach mehr Veröffentlichungen und einer höheren Schlagzahl an Artikeln wurde mehrfach geäußert. Das ist mit unseren aufwändigen Redaktionsprozessen (wir checken jede Veröffentlichung in mehreren Redaktionsgängen gegen) und dem kleinen Team (sechs Redakteure, davon nur eine volle Stelle) nicht ganz ohne, wir bemühen uns aber verstärkt, täglich auf aktuelle Ereignisse zu reagieren.
Angemerkt wurde auch eine gewisse Unübersichtlichkeit der Seite. Das Geniale an Site und Design sehen viele, aber Genie ist oft unpraktisch. Also arbeiten wir mit unseren Grafikern an ein paar Tools, die euch bald schick und schnell durch das virtuelle dekoder-Russland-Buch navigieren!
Ein Thema, das wir gar nicht abgefragt hatten, das aber immer wieder zur Sprache kam: ob dekoder auch kremlfreundliche Stimmen abbilden soll – oder nicht. Unsere Leser brachten das von allein aufs Tapet, waren sich da aber nicht ganz einig.
Derzeit bewegt sich dekoder sowieso erstmal in andere Richtungen weiter: Wir entwickeln gerade neue, multimediale Formate für den Wissenstransfer (unsere Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern), und der dekoder wird 2019 – zumindest teilweise – erstmals auch in die andere Richtung dekodieren: Artikel und Gnosen auf Russisch für russischsprachige Leser.
Wir sind gespannt, wie euch das gefallen wird, sind jederzeit für euer konstruktives Feedback offen und dankbar!
Wir schließen mit einem der vielen LeserInnen-Kommentare:
„dekoder – liebe ich!“
Wir euch auch!
Eure dekoderschtschiki
PS: Du hast das gerade gelesen und dir fällt noch was Wichtiges ein? Schreib uns an umfrage@dekoder.org. Danke!