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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Dmitry Markov: Лето – Sommer

    Dmitry Markov: Лето – Sommer

    Dmitry Markov, geboren 1982 in der Oblast Moskau, nahm in der russischen Fotoszene einen besonderen Platz ein. Als Dokumentarfotograf war er kein Beobachter von außen, vielmehr nahm er am Geschehen seiner Bilder und am Leben seiner Protagonisten aktiv und leidenschaftlich teil.

    Mitte der 2000er Jahre wechselte Markov aus der Journalistik in den Bereich Sozialarbeit. Sein fotografisches Thema waren Menschen in der russischen Provinz und das grausame Leben, dessen Abbildungen auf Russisch oft als tschernucha (dt. in etwa Schwarzmalerei) bezeichnet werden. Für Markov waren es aber in erster Linie Menschen, die als Menschen respektiert werden müssen.

    Bekannt wurde Markov vornehmlich durch das Internet. Als visuelle Notizen für Sozialarbeit öffnete er ein Instagram-Account, dem 2024 über 880.000 Menschen folgen. Für seine Fotos wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als erster russischer Fotograf mit dem Getty Images Instagram Grant (2015).

    Am 16. Februar 2024 ist Markov im Alter von 41 Jahren gestorben. dekoder veröffentlicht einige Aufnahmen aus seiner umfangreichen Serie vom Sommer 2018 und lässt den Fotografen in einem Interview mit The Village selber zu Wort kommen.

    (aktualisiert am 23. Februar 2024)

    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ - Fotos © Dmitry Markov
    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ – Fotos © Dmitry Markov

    The Village: Warum fotografieren Sie mit dem iPhone und nicht mit einer guten Kamera?
    Dmitry Markov: Alle wollen da immer einen Grund für finden. Warum soll ich denn bitteschön nicht mit meinem Telefon fotografieren? Es ist bequem für mich, mit dem iPhone mache ich meistens die Aufnahmen, die ich später bei Instagram hochlade. Am beliebtesten sind die Fotos, die mir persönlich ziemlich banal erscheinen. Es gibt eine Reihe recht abgedroschener Motive, die man endlos reproduzieren kann und sie bewegen die Menschen trotzdem, wenn sie sich mit Fotografie nicht besonders auskennen. Aber ich finde es langweilig, weil ich dieses Motiv schon tausendmal gesehen habe. Das, was mich interessiert, findet manchmal überhaupt keine Resonanz. Die Jungs, die Saltos von Garagen machen, sind so ein typisches, abgenutztes Motiv, das es schon tausendfach gibt. Da finde ich zum Beispiel ein Foto, das den Blick eines Jungen vor einem Häuserblock einfängt, viel interessanter.

    Bei Ihren Protagonisten handelt es sich oft um Arme, Minderjährige, Betrunkene. Denken Sie, dass ein Fotograf das Recht hat, fremdes Leben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben? Ist es ethisch vertretbar, Straßenfotografie im Netz hochzuladen? 
    Einmal war ich in Pskow in einem Sammeltaxi unterwegs, ein Fahrgast war auf Drogen und völlig fertig. Als er abgeführt wurde, habe ich reflexartig ein Bild gemacht, dieses Foto habe ich selbstverständlich nirgendwo veröffentlicht. Der Mann war nicht gerade in einem ansehnlichen Zustand und man konnte sein Gesicht erkennen. Wenn ich einfach nur Menschen auf der Straße fotografiere, gehe ich von meinen eigenen Moralvorstellungen aus: Bilder, die mir unangemessen erscheinen, veröffentliche ich nicht. Wenn ich ein Foto von einem Betrunkenen hochlade, bin ich nicht weniger betrunken als er und wir sind Freunde. Ich weiß ja: Das ist mein Kumpel Wassja und später wird er das Bild, wo man ihn mit der Schnauze auf die Haube eines Polizeiwagens drückt, als sein Profilbild übernehmen. Petja dagegen mag solche Bilder nicht, wir sind einfach Freunde, verbringen Zeit zusammen, aber Aufnahmen von einem betrunkenen Petja kommen nicht ins Netz.

    Sergej Maximischin nannte Russland einmal das am wenigsten fotografierte Land der Welt. Sehen Sie das auch so?
    Ja, genauso ist es. Klar, ich war auch in Nord- und Südamerika, aber da habe ich nichts fotografiert. Wozu soll ich schon in New York fotografieren? Da gibt es genug Leute, die das übernehmen können. Aber wenn ich durch Russland fahre, scheint mir jede weitere Aufnahme wie ein Puzzleteil für mein großes Gemälde.

    Sie sind es sicher gewohnt, dass Ihre Bilder hart kritisiert werden. Mit Ihren Augen betrachtet erscheint Pskow als eine äußerst trostlose Stadt.
    Ich denke, die Menschen sollten ihre eigenen Augen benutzen, finden Sie nicht? Die Dinge auf ihre Weise ansehen. Ich fotografiere das, was mich interessiert. Es heißt nicht umsonst, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wenn ein Mensch nur das Objekt meines Fotos sieht, beispielsweise einen Invaliden oder einen betrunkenen Soldaten, und nichts als negative Assoziationen hat – was soll ich dem schon sagen? Das Einzige, was mich stört, ist, wenn meine Follower meine Protagonisten durch den Dreck ziehen. Diese Fallschirmjäger sind, egal wie sie gerade aussehen, nach wie vor die Verteidiger unseres Vaterlandes.

    Und haben das Recht, sich manchmal gehen zu lassen?
    Genau. Auch ich bin alles andere als perfekt in dieser Hinsicht. Und der Mensch, der diese beleidigenden Kommentare schreibt, war sicher auch schon mal in so einer Situation. Und auch Obdachlose sind Bürger unseres Landes wie alle anderen. Wenn jemand schreibt: „Mit diesen Fotos entstellen Sie das Bild Russlands“, frage ich mich: Welches verf*** Bild? Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht, sie nicht verkleidet oder irgendwo ausgegraben. Sie interessieren mich, so wie Giljarowski die Leute in den Obdachlosenheimen der Chitrowka interessiert haben. Wenn das jemandem unangenehm ist, was ich gar nicht ausschließe, zwingt ihn ja niemand, sich meine Bilder anzusehen, sich zu quälen und diesen Kaktus trotzdem zu fressen. Außerdem gibt es wesentlich mehr Menschen, die mit dem, wie ich die Dinge sehe, etwas anfangen können.

    Früher haben Sie als Journalist bei Argumenty i Fakty gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie und karitativen Arbeit gekommen?
    Ich wurde mal in ein Kinderheim eingeladen, um ein paar Fotos zu machen. Ich fuhr einmal hin, dann noch ein paar Mal, und bin dabei geblieben. Das war 2005, der Freiwilligendienst in Russland war erst im Entstehen. 2007 kam ich in ein Heim in der Oblast Pskow, dort suchte man Freiwillige für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Ich meldete mich für die Gruppe der Ältesten. Kleine Kinder zu fotografieren ist ziemlich einfach, sie sind viel offener, aber mit Jugendlichen ist es schwierig, ich habe die Herausforderung gesucht. Einen Monat habe ich in dem Heim gearbeitet und bin dann noch lange dort geblieben.

    Diese Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt. Hatte das keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung?   
    Nein. Damals hatte mich das Leben dort so gepackt. Da war etwas, das ich im Journalismus lange vermisst hatte: Ich konnte mich eingehend mit einem Thema beschäftigen. Zunächst war ich freiwilliger Helfer in einem Kinderheim, danach habe ich mit den Jugendlichen, die aus dem Kinderheim herauskamen, gearbeitet. Als eine Einrichtung für diese Jugendlichen eröffnet wurde, habe ich dort als Erziehungshelfer gearbeitet. Ich fing an, viele soziale Fragen besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger.

    Es heißt oft, die Sozialfotografie sei eine Art Spekulation, man fotografiere Motive, bei denen man davon ausgeht, dass sie den Leuten ans Herz gehen.
    Das sehe ich auch so. Mein Lehrer Alexander Lapin hat meine Fotografien aus dem ersten Jahr überhaupt nicht ernst genommen. Erst als ich aufs Dorf zog und mich mit dem Leben der Waisen und benachteiligten, in Obhut genommenen Kinder wirklich vertraut gemacht hatte, nahm er mir ab, dass ich das Thema nicht einfach ausbeute, sondern es mich wirklich beschäftigt. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nett, das zu sagen, aber ich habe ein moralisches Recht, diese Kinder und Jugendlichen zu fotografieren, mit denen ich mehrere Jahre zusammengelebt habe. Es gibt viele andere und einfachere Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass es auf Instagram solche Wellen schlagen würde. Während meiner Arbeit im Internat und beim Fonds fotografierte ich mit einer einfachen Kamera, aber irgendwann kam ich in eine Sackgasse. Entweder war das Thema erschöpft oder meine Ideen. Ein Jahr lang habe ich die Kamera nicht angerührt. Instagram hatte ich mir nur zum Spaß zugelegt, einfach um an der Fotografie dranzubleiben. 


    Fotos: Dmitry Markow
    Bildauswahl: Olga Osipova / Bird in Flight
    Interview: Aljona Kork / The Village (27. Oktober 2017, gekürzt)
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 09.10.2018

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  • Fremdschämen im weißen Kleid

    Fremdschämen im weißen Kleid

    „Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenka mit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.

    „Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht’s euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.

    Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! […]“

    So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.

    „Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“

    „Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“

    Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen

    Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.

    Grafiken © Sascha Krawtschenko
    Grafiken © Sascha Krawtschenko

    An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.

    Ritual und Mobbing

    Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.

    Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung

    Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.

    Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“

    Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.

    Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.

    Witze über die Hochzeitsnacht

    „Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut‘ Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.

    „In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.

    Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“

    Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam

    Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“

    Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.

    Das ist eine Art Traumatherapie

    Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.

    In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann’s für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“

    Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“

    Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden

    Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.

    Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“

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  • „Der Geschichte sind die Augen verbunden“

    „Der Geschichte sind die Augen verbunden“

    Sandarmoch ist ein ursprünglich namenloses Waldgebiet in Karelien. In der Zeit des Großen Terrors wurde es neben Kommunarka bei Moskau und Lewaschowo bei Leningrad zu einem der größten geheimen Erschießungsplätze des NKWD. Stalins Schergen erschossen hier 1937/38 mehr als 7000 Menschen und verscharrten sie in Massengräbern. 60 Jahre später wurden sie von Memorial-Mitarbeitern unter Leitung des Lokalhistorikers Juri Dmitrijew entdeckt und zur Gedenkstätte Sandarmorch gemacht.

    Seit 1998 findet am 5. August in Sandarmoch der Tag des Gedenkens der Opfer des Stalinismus statt. In diesem Jahr wird er zugleich ein Tag der Solidarität mit Juri Dmitrijew sein. Dem Memorial-Mitarbeiter wurde erst die Herstellung von Kinderpornografie vorgeworfen. Nach seinem Freispruch im April 2018 läuft nun eine neue Ermittlung: Ihm wird der sexuelle Missbrauch seiner Ziehtochter zur Last gelegt.

    Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. Nun kommen Nachfahren derer zu Wort, die in dem Wald Sandarmoch getötet wurden und erst seit 1998 Namen bekommen. Zugehört hat ihnen Anastasija Platonowa für Takie Dela.

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Taissija Fjodorowna Makarowa, Medweshjegorsk

    Wir waren morgens schon in die Schule gegangen, unser Vater machte sich gerade für die Arbeit fertig. Er war Verwalter eines Warenlagers, das sich gegenüber von unserem Haus befand. So sahen wir ihn nie wieder. Als wir nach Hause kamen, war er nicht da, sie haben ihn direkt von der Arbeit weggeholt. Am selben Abend durchsuchten sie das Haus. Unsere Mutter hatte eine Schatulle, in der sie die Briefe unserer älteren Schwestern aufbewahrte, die in Petrosawodsk lebten. Die Ermittler haben diese Schatulle förmlich umgekrempelt, sonst hatten wir auch nichts, nur unsere Betten.

    Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut

    Das war 1937, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß noch, dass sie alle geholt haben. Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden.

    Auch abends nichts als Tränen. Papas Schwester war zu uns gekommen und meine großen Schwestern aus Petrosawodsk. Wir waren sechs Geschwister. Als unser Vater plötzlich verschwunden war, wurde es bitter. Es war hart.

    Wir haben ihn gesucht, meine Mutter fuhr nach Medweshja Gora, meine Schwestern schrieben Briefe, aber man sagte uns nichts. Nur einmal haben sie ein Päckchen entgegengenommen, mit Schuhen: Der Schnee war mittlerweile schon geschmolzen, aber als man ihn geholt hatte, hatte er noch Filzstiefel an. Ansonsten hörten wir nichts von ihm.

    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Wir lebten in Powenez, und manchmal wurden am Haus Gefangene vorbeigeführt, zum Kanal [in Powenez befinden sich die ersten Schleusen des Belomorkanals – Anm. Takie Dela], und dann setzten wir uns auf die Bank vor unserem Haus und beobachteten sie: Vielleicht würden wir ja unseren Vater sehen. Es waren viele, sie liefen und liefen und liefen.

    Aber wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er liegt. Wir hörten und wussten also nichts von ihm.

    Wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er begraben liegt

    Erst als die Ausgrabungen bei uns in Sandarmoch losgingen, erfuhren wir, dass er dort ist. Wir sahen im Gedenkbuch nach und fanden seinen Namen. Alle haben geweint, alle. Meine Schwester Raja und ich sind dorthin gefahren, nach Sandarmoch – und es war, als würde die eine Stelle uns besonders anziehen. Dort stellten wir einen Gedenkstein auf.

    Als ich erfuhr, dass mein Vater dort ist, war das bitter. Sie haben ihn nicht leben lassen! Wenn er noch gelebt hätte, wäre ja auch unser Leben ganz anders verlaufen, wir hätten eine Ausbildung machen können …

    Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist, können ihn besuchen. Ich glaube, sie haben damals nach „Parasiten“ gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. Diese Menschen hatten nichts verbrochen, sie hätten noch lange leben können …

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Ljudmila Jakowlewna Stepanowa, Medweshjegorsk

    Sie kamen nachts, klopften an die Tür. Er hat sofort gewusst, was los war: Wir lebten im Dorf, da führte nicht einmal eine richtige Straße hin, wer sollte da sonst mitten in der Nacht kommen? Schon als sie ihn das erste Mal verhaftet und wieder freigelassen hatten, hatte er zu meiner Mutter gesagt: „Dascha, wenn nachts jemand kommt, dann wollen sie zu mir.“

    Und so war es auch. Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha, den einzigen echten Nichtsnutz. Mama lebte dann mit uns Fünfen, alles Mädchen: Jahrgang 1928, 32, 34, ich von 37 und Walja von 39. Wir zwei Kleinen waren von einem anderen Vater.

    Sie haben alle Männer aus dem Dorf geholt, nur den einzigen Nichtsnutz nicht

    Als der Krieg begann, war ich vier und meine kleine Schwester zwei. Wir wurden nach Saoneshje evakuiert. Nach dem Krieg kehrten wir nach Hause zurück. Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: „Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.“

    Wir wussten gar nichts von ihm. Nach der vierten Klasse bin ich arbeiten gegangen – meine Mutter hat mich als Kindermädchen nach Medweshja Gora geschickt. Zur Schule bin ich nicht mehr gegangen. Später habe ich am Belomorkanal gearbeitet. Schon damals hat man gesagt, er sei auf Knochen errichtet.

    Schon damals hat man gesagt, der Kanal sei auf Knochen errichtet

    In den 1950er Jahren kam ein Schreiben, dass unser Fjodor in Norilsk an Bauchtyphus gestorben wäre. Dem Schreiben waren 100 Rubel beigelegt. Mama hat dieses Geld auf uns vier Schwestern aufgeteilt, jede bekam 25. Ich habe mir Wollstoff gekauft, für ein Kleid.

    Später stellte sich heraus, dass er nie in Norilsk gewesen war. In den 1990ern bekamen alle, deren Eltern erschossen wurden, sogenannte Gedenkbücher. Da haben wir ihn dann gefunden. Und nicht nur ihn, sondern alle aus dem Dorf. Da war sein Bruder und der Mann seiner Tante, Gorbatschow. Ich war erschüttert: Sie hatten uns gesagt, er wäre irgendwo in Norilsk gestorben, und plötzlich liegt er hier, ganz in der Nähe! 40 Kilometer hatte man ihn weggebracht und erschossen.

    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova
    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova

    Meiner Meinung nach liegt die Verantwortung bei der obersten Führung unseres Landes. Vollkommen unschuldige Menschen sind umgekommen. Er war Flößer – was soll er angestellt haben? Er hat Holzstämme zusammengebunden. Das war das reinste Verbrechen: Alle Männer haben sie vor dem Krieg weggeholt.

    Tamara Semjonowa Schikowa, Sosnowka

    Meine Großeltern mütterlicherseits, Alexandra Dmitrijewna und Iwan Fjodorowitsch, lebten damals im Rajon Kalinin. 1937 wurde mein Großvater geholt. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Nur von einem ehemaligen Nachbarn, dass er ihn 1941 in einem Strafbataillon gesehen habe, das in südlicher Richtung abgeführt wurde. Dort ist er auch gestorben.

    Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ihr war klar, dass sie alleine nicht überleben würde. Deshalb beschloss sie, nach Leningrad zu fahren und die Kinder dort am Bahnhof zu lassen, damit man sie in ein Kinderheim bringt.

    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova
    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova

    Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: „Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden“, sagte sie: „Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.“

    Ich habe in den Listen nach ihm gesucht, aber nichts gefunden.

    Ich habe deinen Wanja denunziert

    Was damals geschehen ist, kann ich noch immer nicht begreifen. Noch vor dem Krieg war ein Nachbar zu meiner Großmutter gekommen. Er warf sich vor ihr nieder und sagte: „Alexandra Dimitrijewna, verzeih mir. Ich war es, ich habe deinen Wanja denunziert.“ Er hatte ihn aus purem Neid angezeigt, mein Großvater war ein tüchtiger Mann, fleißig und geschickt. Dafür musste er büßen. Wie soll man sich das erklären? Der Nachbar hat alles zugegeben, hat um Verzeihung gebeten. Aber sie hat zu ihm gesagt: „Gott wird dir vergeben, ich kann das nicht.“

    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova
    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova

    Sandarmoch war schon immer ein unguter Ort. Selbst als dort noch nichts entdeckt war und wir nichts davon wussten. Einmal sind mein Mann und ich mit dem Fahrrad in die Pilze gefahren. Wir fuhren weit, bis in dieses Waldstück. Als wir anfingen Pilze zu suchen, wurde mir plötzlich ganz anders. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Edik, lass uns schnell hier weg, mir ist hier ganz unheimlich.“

    Alexandra Alexejewna Bassalajewa, Pinduschi

    Beide meiner Großväter waren Repressierte. Papas Vater war Pionier bei der Leibgarde, hatte in der Schützenbrigade beim Semjonowski-Leibgarderegiment gedient. Er wurde mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet – 1. und 4. Grades.

    In der Kolchose war er Brigadier, irgendwer hat ihn angezeigt: Man machte ihn für den Tod eines Pferdes verantwortlich, dafür kam er für zehn Jahre ins Lager nach Komi. Er hat überlebt, aber er kam als gebrochener kranker Mann zurück.

    Mamas Vater war ein Kulak: Zwei Desjatinen [circa zwei Hektar – dek] Land, Waldbestand. Sie kamen nachts. Der Vorsitzende der Kolchose hatte ihn angezeigt, und er wurde erschossen, er liegt bei Leningrad. Meine Mutter hat mir von meinem Großvater erzählt. Was für ein guter Mann im Haus er war, sehr ordentlich, ein kluges Köpfchen. Aber immer, wenn sie das erzählte, fügte sie hinzu: „Sascha, sag das nur ja niemandem.“ Außerdem sagte sie: „Der Geschichte sind die Augen verbunden, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird sich alles offenbaren. Die Leute werden erfahren, was 1937/38 vor sich ging.“

    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova
    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova

    Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat

    Als ich 1997 von Sandarmoch erfuhr, war ich erschüttert. Ich fahre seitdem jedes Jahr am 5. August dorthin. Lege Blumen an einem der Gräber nieder und denke an meine Großväter. Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat. Ich habe an den FSB geschrieben, sie haben mir beide Akten geschickt, von dem einen und dem anderen Großvater. Das ist ein einziger Witz! Stalin hat damals verkündet, der Klassenkampf werde verschärft, also haben sie angefangen, kräftige Männer mit einem gut laufenden Hof zu verhaften.

    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova
    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova

    Jelena Jerschowa, Brjuchowo:

    Irgendwie hat es meine beiden Eltern nach Brjuchowo verschlagen.

    Meine Urgroßmutter väterlicherseits erzählte, dass sie nachts gekommen sind und meinen Urgroßvater mit einem Schwarzen Raben weggebracht haben. Sie und ihre beiden Söhne wurden nach Karelien deportiert.

    Meine beiden Urgroßeltern waren Finnen. Pjotr Fjodorowitsch und Anna Dawydowna Rantanen, sie hatten im Leningrader Rajon Toksowo gelebt.

    Auch mein Opa mütterlicherseits war Repressionen ausgesetzt: Im Krieg war er gefangengenommen worden, aus dem Lager befreiten ihn die Amerikaner. Zurück in der UdSSR wurde er sofort verhaftet und ebenfalls nach Karelien deportiert.

    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova
    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova

    An meine Uroma erinnere ich mich noch deutlich. Sie sprach sehr gut Finnisch und hat sich immer von der Masse abgehoben: Sie beherrschte mehrere Sprachen, nähte außergewöhnliche Kleider, sah einfach ganz anders aus …

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war

    1956 bekam sie mit der Post eine falsche Todesurkunde. Darin hieß es, mein Urgroßvater sei 1942 in der Oblast Kirowo an einem Lungenabszess gestorben. In Wirklichkeit ist er fast direkt nach seiner Verhaftung erschossen worden. Das haben wir erst erfahren, als die Archive geöffnet wurden.

    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova
    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war. Die Menschen sind durch die Hölle gegangen. Über Sandarmoch wissen wir zumindest Bescheid, aber wie viele solcher Massengräber gibt es wohl noch entlang des Kanals, die niemals jemand finden wird?

    Die Menschen sind durch die Hölle gegangen

    Bei uns in Brjuchowo stand immer eine eingefallene Holzkirche. Schon in den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, bis 1942 fanden Gottesdienste darin statt, es gab einen Altar. Dann stand sie lange Zeit leer, war dem Verfall ausgesetzt, und uns blutete das Herz. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Diese Kirche und Sandarmoch – das ist ein und dieselbe Epoche. Wir bauen auf, was zerstört wurde, wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte – damit unsere Kinder eine Zukunft haben.


    Text: Anastasija Platonowa
    Fotos: Anna Ivantsova
    Übersetzung: Jennie Seitz
    erschienen am: 03.08.2018

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

    Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

    Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei
    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

    Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

    Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

    Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

    Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.


    Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

    Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
    Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

    Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
    Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

    Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

    Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
    Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

    Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

    Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

    Glaubst du das?

    Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
    Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

    Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

    Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

    Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

    Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

    Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

    Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

    Aber doch nicht mit Nawalny!

    In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

    Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

    Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

    Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

    Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

    Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube
    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

    Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
    Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

    Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

    Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

    Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

    Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

    Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

    Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

    Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

    Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

    Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

    Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

    Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

    Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

    Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

    Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

    Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

    Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

    Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
    Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

    Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

    Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

    Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

    Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

    Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

    Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

    In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

    Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

    Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

    Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
    Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

    Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

    Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

    In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

    Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

    Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

    Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


    https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

     

    Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Kedr Livanskiy ist das neue, weibliche Gesicht des russischen Electro, beim US-Label 2MR records unter Vertrag – und in diesem Sommer in Deutschland auf dem MELT-Festival zu sehen und zu hören. Colta.ru hat die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Jana Kedrina heißt, zum Interview getroffen.

    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Kedr Livanskiy: Ich hab schon lange kein Interview mehr gegeben, fast zwei Monate nicht.

    Dennis Bojarinow: Du hast selbst Journalismus studiert und musstest sicher selbst schon mal Interviews führen. Warum hast du seinerzeit das Studium geschmissen?

    Irgendwas muss man ja studieren. Da bin ich an die journalistische Fakultät gegangen, denn ich habe mich schon immer für Literatur, Philosophie und Kunst interessiert. Und es gab dort tolle Dozenten. Im Prinzip habe ich mich da intensiv mit Literatur beschäftigt. Ich wollte aber nie Journalistin werden, ich habe dafür kein Talent, ich kann ganz schlecht Gedanken formulieren. Einmal haben wir als Semesterarbeit eine Zeitschrift gemacht und dafür Interviews mit Studierenden und Jugendlichen gemacht. Sie hatte den schrecklichen Namen JUM, so etwas wie Jugendlicher Maximalismus. Ich stand damals auf Punk-Rock, deshalb gingen mich diese Themen etwas an.

    Die Punk-Rock-Gruppe, in der du gespielt hast, war eine Frauenband?

    Nein, außer mir waren da nur Jungs. Ich habe gesungen und die Lieder und Melodien geschrieben. Die Lieder handelten von Partys, Drogen und Alkohol, so in dem Stil, worüber jetzt die Gruppe Poschlaja Molli singt. So Pop-Punk, aber nur mit Gitarre, ohne Electro. Ich habe mich an 1,5 Kilogramma otlitschnogo Pjure und Blink-182 orientiert. Wir hatten einen total plumpen Sound – nur der Bassist konnte wirklich spielen.

    Aufmerksamkeit haben wir bekommen, weil wir auf Russisch gesungen haben – und weil ein Mädel sang. Damals gab es im Punk-Rock wenig Frauen, ja das ist immer noch so. Überall.


    Was war das größte, was eure Band zustande gebracht hat?

    Eine Tour – vier Städte haben wir abgeklappert in dem Transporter, der als „Todesbus berühmt wurde. Das war unsere einzige Tour. Nach solch einer Tour muss man ein paar Monate auf Entzug. Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch, aber deswegen sind sie ja zu den Konzerten gekommen. Ein einziges gemeinsames dionysisches Bacchanal!

    Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch

    Parallel dazu habe ich mich mit Literatur beschäftigt und der höfischen Kultur hingegeben. Viele meiner Punk-Kumpel haben nichts davon geahnt, haben gedacht, die säuft nur.

    Warum ist es für dich vorbei mit dem Punk?

    Ich glaube nicht, dass Punk stumpf ist. Aber aus dem Punk, den wir gespielt haben, bin ich rausgewachsen. Es kommt der Moment, da nervt es, wenn du immer außer dir bist. Dann will man etwas Ernsteres. Selbst als ich zu Punk- und Hardcore-Konzerten gegangen bin, habe ich weiter Alternative und Electro gehört, CocoRosie, Xiu Xiu, Boards of Canada.

    Wann hast du angefangen, elektronische Musik zu machen?

    Mit 23. Ich bin in einem Kreis von Leuten gelandet, die den Club NII betrieben und die Labels Gost Zvuk und John’s Kingdom. Die Zeit forderte einen neuen Schritt. Wir waren alle Musiker. Gingen zu Partys und auf Electro-Konzerte. Zuerst haben wir alles zusammen gemacht, dann sind wir auseinandergegangen – und jeder hat für sich allein weitergemacht.


    Moskauer Plattenbau-Meere aus Drohnenperspektive mit „Vtgnike“ von „Gost Zvuk“
    Und wie bist du in den Kreis hineingeraten?

    (Lacht.) Ich habe einfach mit dem Oberhaupt der Gruppe angebandelt, mit Pascha Miljakowy, der ist jetzt als Buttechno bekannt. Aber der hatte nichts direkt mit dem zu tun, was ich mache. Wir sind zusammen gewachsen, ich glaube, dass unsere Beziehung unseren Projekten in ihrer Entwicklung geholfen hat.

    Als ich mit Punk aufgehört habe, wollte ich unbedingt Musik machen. Aber ich kann kein Instrument spielen. Ich habe mal Gitarre gelernt, aber um so zu spielen, um es richtig ordentlich zu können, braucht man viel Geduld. Um elektronische Musik zu machen, muss man nicht unbedingt Instrumente spielen können (lacht).


    „Buttechno“-Set bei einer Party von „Boiler Room“. Das Projekt „Boiler Room“ organisiert geheime Electro-Events an verschiedenen Orten der russischen Hauptstadt

    Ja, das ist für viele verlockend.

    Das Tolle ist – ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien.
    Ich schaue immer mal wieder Tutorials auf YouTube. Aber cooler ist, jemanden zu besuchen und dann zusammen Musik zu machen, dann sehe ich wie dieser Mensch die Software benutzt.

    Mein Hauptinstrument ist beispielsweise Ableton, aber zehn Leute können das auf zehn verschiedene Arten benutzen. Du schnappst das eine oder andere auf und entdeckst dann für dich etwas Neues. Wenn ich grad mal Geld habe, kaufe ich Instrumente, Synthesizer oder Drum Machines. Aber ich benutze sie nicht bei Konzerten. Meine Musik ist sehr geeignet, um gleichzeitig zu spielen und zu singen.

    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook

    Du machst zu Hause Musik – bist eine typische Bedroom-Musikerin. Denkst du manchmal, dass du einen Schritt weiter gehen musst in ein professionelles Studio?

    So ein professionelles Niveau ist keine unbedingte Voraussetzung für gute Musik. Zum Beispiel Timati und Black Star Burger, die machen das auf so professionellem Niveau, nehmen alles im Studio auf, und? Natürlich muss man sich mit der Materie auskennen, muss mixen und mastern können. Aber du kannst auch zu Hause gute Ergebnisse erzielen, wenn du Studiomonitore hast. Und wenn nicht, dann gehst du zu Freunden, die mehr von Sound Engineering verstehen.

    Das ist jedenfalls nicht die Richtung, in die ich strebe. Mir ist schon klar, dass es für ein Massenpublikum einen anderen Sound braucht, glatter, und so. Aber ich habe nicht das Anliegen, ein großes Publikum zu erobern.

    Und welches Anliegen hast du dann?

    Mehr Musik zu machen, die sich transformiert und entwickelt und mir weiterhin Freude macht. Ich mag es, wenn alles harmonisch geschieht. Ich habe nicht das Anliegen, Ruhm und Ehre zu erwerben, vielleicht würde meine Psyche das gar nicht aushalten.

    Vor welchen Electro-Musikern aus Russland hast du ernsthaft Respekt?

    Vor allen Musikern bei den Labels Gost Zvuk und RASSVET records, das Pascha Miljakow gegründet hat, auch vor denen vom Samaraer Label Oblast. Die sind zwar nicht sehr berühmt, aber ich sehe, wie diese Jungs und Mädels leben. Nur 200 oder 300 Leute, die ins NII gehen, kennen sie, aber die sterben für die Musik. Die haben keine Ego-Motive. Das ist geil.


    „Lapti“ von „Gost Zvuk“ mit einem Video im Trashpop-Stil

    Wie kam es, dass du berühmter geworden bist als sie?

    Meine Musik ist einfacher. Sie basiert auf Melodien. Sie ist verständlich und eingängig. Aber einfacher heißt nicht schlechter.

    Um experimentelle Musik verstehen zu können, braucht es Erfahrung und Wissen. Man muss sich dahinterklemmen und lernen, Schönheit in anderen Dingen zu sehen.

    Derzeit arbeitest du mit dem US-amerikanischen Label 2MR records zusammen. Wie ist euer Verhältnis zueinander? Hast du einen Vertrag?

    Ja, ich habe einen Vertrag. Ich bin bei solchen Dingen recht leichtfertig. Erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass ich einen Vertrag über vier LPs unterschrieben habe!

    Erschienen ist bisher eine.

    Genau. Und noch eine EP, ein Mini-Album, aber das zählt nicht. Und das ist ein bisschen traurig, weil mich auch andere Label anschreiben, echt gute. Aber alles, was ich mache, muss ich 2MR geben oder zumindest mit ihnen absprechen. Und die wollen niemandem was geben. Ich bin also in einer Art Geiselhaft, aber bisher bedrückt mich das nicht.

    Ich bin leider keine sehr produktive Künstlerin. Ich kann nicht pro Jahr ein Album machen.

    Du schuldest ihnen noch drei Alben, was schulden sie dir? Wie sieht es mit einer Finanzierung aus?

    Sie können mir einen Vorschuss zahlen, pro Videoclip kriege ich beispielsweise 1000 Dollar. Aber dieses Geld wird später von der Beteiligung abgezogen, die aus dem Verkauf bei mir landet. Sie leihen mir was. Das sind keine Mäzene, das ist ein Label.

    Machen sie dir Vorschläge, wie du deine Musik besser vermarkten könntest, nach dem Motto: Wir müssen jetzt einen Clip drehen, was hältst du von diesem wunderbaren Regisseur hier?

    Zum Glück nicht. Nur manchmal schubsen sie mich ein bisschen, schreiben mir zum Beispiel: Dem und dem musst du unbedingt ein Interview geben. Oder sie schreiben: Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen – du musst unbedingt mit einer Single oder einem Clip kommen. Und ich antworte ihnen: Sorry, Leute, später (lacht).


    Dir stehen Auftritte auf großen europäischen Festivals bevor: Primavera in Barcelona und MELT in Deutschland. Willst du da irgendwas besonderes machen?

    Ich will mit Visuals, also mit Videobegleitung auftreten. Normalerweise ging das immer ohne, aber wenn da mehr als 2000 Leute im Publikum sind, kann ich nicht ganz allein auf der Bühne stehen. Außerdem will ich mich noch mit einem Tonmeister treffen und mit ihm mein Live-Programm durchgehen, vielleicht mischen wir das nochmal neu ab.

    Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen

    Ich bin schon in anderen Ländern aufgetreten, aber eher auf Partys, zu dem mein Publikum kommt, für die, die meine Musik kennen. Hier muss ich die Aufmerksamkeit eines Publikums gewinnen, das mich überhaupt nicht kennt. Das ist eine echte Herausforderung!

    In der Musik von Kedr Livanskiy steckt eine klare russische Identität, die fehlt fast überall – nicht nur in der elektronischen Musik. Du hast das: russische Texte, sogar russische Lyrik, und das Flair der New Wave aus der Spätperestroika und der Elektronik wie bei NII Kosmetika. Arbeitest du absichtlich in diese Richtung?

    Nein, nicht absichtlich. Als ich versucht habe, etwas absichtlich zu machen – Mensch, jetzt mach ich mal so was wie Stuk Bambuka w 11 Tschassow, da kam bei mir gar nichts raus (lacht). Es war einfach nur Zeug.

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  • Schanson à la russe

    Schanson à la russe

    Was den Franzosen die Liebe, ist den Russen der Knast? Zumindest ist ein wichtiger Zweig der russischen Populärmusik inspiriert von Lagergesängen, die die Gulag-Insassen einst aus den Weiten der sibirischen Steppe mitbrachten. Pawel Belosludzew hat den russischen Chanson für Batenka unter die Lupe genommen.

    Interesse an der Gefängnis-Subkultur gewann ich als Teenager, als ich einen Mitschüler dabei ertappte, wie dieser ehrfürchtig Michail Krug lauschte. Der Typ pinnte sich auch Bilder mit A.U.E.-Symbolik an die Wand, teilte Zitate von Knastbrüdern in Sozialen Medien und hatte ganz allgemein ein Faible für die Gefängnis-Mythologie. Ich kann mich sogar erinnern, dass er einmal in vollem Ernst zu mir sagte: „Vor dem Bau bist du nie sicher.“ Goldene Worte, danke dir, Wowan.

    Damals schon fragte ich mich: Wie kann es sein, dass erstens ein Kind, und zweitens eines, das – klar! – nie gesessen hat, in den Bann der brutalen Ästhetik krimineller russischer Superhelden gerät? Warum beißen Leute, die mit dieser Kultur absolut nichts zu tun haben, bei Liedern über Tattoos mit Kirchenkuppeln oder Spielkarten-Assen an? Was ist daran für sie romantisch? Ist das krankhafte Empathie oder Liebe zur Exotik? Keine Ahnung, echt. Aber dass gegenwärtig die Gefängnismusikindustrie in die Ewigkeit eingeht, muss ich und müsst ihr wohl einsehen.

    Gefängnisfolklore – erste Dokumentationen

    1908 bereiste der Volkskundler und Komponist Wilhelm Harteveld die rauen sibirischen Weiten, um erstmals die Musikkultur in den Straflagern Sibiriens zu dokumentieren. Seine Sammlung aus gut 200 Liedern über das schwere Dasein der Zwangsarbeiter nannte Harteveld dementsprechend: Lieder der Katorga.

    „Ich bin glücklich, wenn Sie anhand dieser Lieder erkennen, dass die Menschen, die sie gemacht haben, genau solche Menschen sind wie Sie“, begann Harteveld seine Vorträge und meinte das absolut ernst, denn wie wir wissen, unterschied sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gefängnisses in der Vergangenheit leider nicht sonderlich von der heutigen.

    Die Nacht vor der Strafe, aus der Sammlung Lieder der Katorga
    [bilingbox]

    Verzeih mir, Heimat, schönes Land!
    in Verbannung ich mich fand,
    Auf ewig dort, wo furchtbare Minen sind,
    Wo Türme stehen wie ein Gebirgskamm,

    Harmlosen Spaß gibt es hier nicht,
    nicht Flachland und geschmückte Felder.
    Vorwurf und Verachtung – 
    die werden dort in meine Seele dringen.

    Hier wird die Sehnsucht meine Freundin,
    weit weg von meinen Lieben leb ich als Waise
    Erinnerung und Schmerz der Trennung
    lassen mich leiden bei hundert Jahren Arbeit!~~~«Ночь перед наказанием», из сборника «Песни каторги»

    Прости отчизна, край отрадный!
    В изгнанье вечно я решён,
    Туда, где россыпи ужасны,
    Как башни, где хребты, стоят,

    Где нет невинных развлечений,
    Равнин, украшенных полей
    И где упрёки и презренья
    Должно нести душе моей.

    Там буду жить с подругой-скукой,
    Вдали от милых, сиротой,
    С воспоминаньем и разлукой
    Страдать в работе вековой![/bilingbox]

    18 Jahre später stirbt Harteveld, ohne auch nur zu ahnen, wie weit es sein ethnografisches Erbe noch bringen wird.

    Die Gefängnismusikindustrie des letzten Jahrhunderts (genauer, der Sowjetzeit) hat etwas Paradoxes. Aspekte, die gut nachvollziehbar die Straflagerexistenz aufgreifen, und mit ihr die geächtete Popularisierung und Romantisierung einer kriminellen, marginalen Lebensweise, wurden damals von bekannten Lied- und Chanson-Interpreten besungen: zum Beispiel von Leonid Utjossow:Gop so smykom S odesskogo kitschmana, Irtlatsch Strongilla:Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja, Arkadi Sewerny:Nu, ja otkinulsja, kakoi basar-woksal, Michail Gulko:Berjosy Murka. Es ist aber auch klar, dass die Musiker das nicht aus propagandistischen Motiven heraus machten, sondern wegen des Stils und der damit verbundenen Haltung. Nicht einmal um zielgerichtet Kontakt zum Gefängnis-Milieu bekommen, hatte je einer von ihnen gesessen. Nur Arkadi Sewerny hatte irgendwelche kriminellen Verbindungen, doch darum geht es hier nicht.

    Worin besteht die Problematik des Katorga-Milieus? Ganz einfach: Eine Gefängnis-Musikkultur, die die Gemeinschaft der Häftlinge als einheitliche, unabhängige Stimme hätte repräsentieren können, gab es überhaupt nicht. Sie trug die Bürde eines gesichts- und namenlosen Medienprodukts, das keine Chance hatte, auf den Markt zu gelangen, einfach weil es keine geeigneten Ressourcen und Vertriebswege gab. Durch das Fehlen von Helden und von Möglichkeiten, den Trend zu popularisieren, behielt das Knast-Producing die Form eines Ausflusses lyrischer Stilmittel, wurde aber keineswegs zu einem vollwertigen Konzept, das massentauglich gewesen wäre.

    Grauer Anzug von Alik Berison

    [bilingbox]

    Ein grauer Anzug, die neuen Stiefel knarzen
    – hab ich getauscht gegen die Jacke aus dem Knast.
    Acht Jahre hab ich nun viel Leid erlebt,
    Und nicht nur eines meiner Haare ist ergraut~~~Алик Берисон, «Костюмчик серенький»

    Костюмчик серенький, колёсики со скрипом
    Я на тюремные бушлаты променял.
    За восемь лет немало горя мыкал,
    И не один на мне волосик полинял.[/bilingbox]

    Vermutlich lag das auch an der Kriegs- und Nachkriegskrise: am enthemmten Zustand des Justizsystems und an der fehlenden Meinungsfreiheit.

    Eine neue Welle intellektueller Knast-Erzeugnisse kam in den 1950er Jahren herangerollt, als massenweise politische Gefangene freigelassen wurden. Zwar gab’s die heutigen Informationskanäle noch nicht, dafür aber die mündliche Überlieferung.

    Die Märchen aus der Gefängniswelt verbreiteten sich in Windeseile, und manche von ihnen schafften es sogar in das Liedgut, das man im Hinterhof zur Gitarre sang (Schol Stolypin). Die letzte Welle kam in den 1990ern und gewann nach dem Zerfall der sowjetischen Ordnung an Wucht, als klar wurde, dass man seine Ideen umsetzen kann, ohne bestraft und daran gehindert zu werden. So erschienen Michail Krug, Alexander Djumin, Michail Swesdinski und andere Celebrities des neuen russischen Blatnjaks, den man nun dank erfolgreicher Kommerzialisierung und kultivierter Mimikry den neuen russischen Chanson nennt. Oder den kriminellen – jeder wie er will.

    Der revolutionäre Durchbruch des Genres und dazugehöriger Persönlichkeiten der Subkultur in Radio und Fernsehen erlaubten es der Häftlingsseele, wie ein Dschinn ins Freie zu drängen und endlich der Welt ihre Werte zu lehren. In dieser Zeit wurde auserlesener Blatnjak auf allen Musikkanälen rauf- und runtergespielt, an diesem Hype kam niemand vorbei. Und im Jahr 2000 entstand eine Hochburg für einschlägige Interpreten – der Radiosender Schanson, den täglich allein in Moskau eine Million Menschen hören.

    Trotz seiner Popularität (die übrigens bis dato nicht nachlässt) treten intellektuelle Gesellschaftsschichten gegen die Popularisierung des Chanson auf und sprechen von der Geschmacklosigkeit und Minderwertigkeit des Genres.

    Eines der interessantesten Phänomene rund um den russischen Chanson ist, wie die Leute über ihn denken: die Kritiker negativ, und das Publikum positiv. Wie bei Filmen mit Jim Carrey. Das macht den Reiz aus.

    Symbolische Einsamkeit

    Man geht allgemein davon aus, dass der russische Blatnjak die Musik von Einzelpersonen ist. Dass es immer weiter Soloprojekte sind, mag an der symbolischen Einsamkeit liegen, die im Schaffen von Chansonniers und Chansonnetten häufig durchscheint, oder auch an einer charakterlichen Besonderheit moderner „Katorgaer“. Natürlich gibt es auch Ausnahmen der Regel, etwa Butyrka, Worowaiki, Zona, Pjatiletka und Belomorkanal

    Bild der Vergangenheit von Michail Swesdinski

    [bilingbox]

    Noch nie hat mich jemand Vater genannt,
    auch Ehemann sagte bisher keiner.
    Kann sein, dass mein Leben in Einsamkeit vergehen wird
    und Familiengemütlichkeit werd ich wohl kaum erleben.~~~Михаил Звездинский, «Картина прошлого»

    Меня ещё отцом никто не называл,
    Как мужем до сих пор не называли.
    Быть может, в одиночестве вся жизнь пройдёт —
    Уют семьи увижу я едва ли.[/bilingbox]

    Zum Teil liegt es sicher daran, dass das Genre gewissermaßen eine russische Form der DIY-Kultur ist. In den 1990ern war das auf jeden Fall so, als sich zahlreiche Musiker eigenständig auf den Markt hinauswagten, ohne Unterstützung von Producern, einfach indem sie ihre Alben zu Hause aufnahmen oder in Studios von Freunden. Heute wird der Chanson bereits gesponsert und gut bezahlt, wie man an der Vielzahl an Plattenlabeln sieht, die dank der neuen Beliebtheit des Genres aus dem Boden geschossen sind.

    Die Semantik des Gefängnischansons – Mama, Glaube und Tattoos

    Es ist unmöglich, eine einheitliche Antwort darauf zu finden, was genau denn nun der Kriminal-Chansonnier populär machen will und welchen Überzeugungen er anhängt. Allerdings gibt es doch Gesetzmäßigkeiten. Im Mitteilungsblatt des Kasaner Instituts für Rechtswissenschaften des russischen Innenministeriums erschien 2017 ein Aufsatz von Anton Schalagin und Olga Chrustaljowa zum Thema Gefängnisfolklore im Kontext der kriminellen Subkultur. Darin versuchen die Autoren das ideologische Profil des modernen kriminellen Helden zu klassifizieren. Aufgezählt werden Charakteristika wie: gezieltes Begehen von Finanzdelikten, demonstratives und übersteigertes Konsumverhalten, kriminelle Verbindungen und unmoralisches Verhalten, darunter Geringschätzung althergebrachter Traditionen.

    Die Themen, die die Ästhetik der Gefängnislieder ausmachen, sind dieselben wie vor hundert Jahren. Am häufigsten und typischsten finden sich:

    Die Mutter. Lesen Sie sich die Titel der Knastlieder der 1990er und 2000er Jahre durch, und sehen Sie selbst. Hallo, Mama von Krug, Mutter von Alexander Djumin, Mama von Viktor Petlura. Jeder Chansonnier, der etwas auf sich hält, singt ein Lied über die Mutter. Die Bedeutung der Texte läuft immer auf dasselbe hinaus: „Verzeih mir, Mama“, „Mamachen, schenk mir Wodka nach“. Die Mutter ist im Chanson zum ideologischen Kult erhoben.

    Interessanterweise kommt der Vater in den Liedern viel seltener vor. Vielleicht ist das einfach die Knast-Symbolik. Aber wer weiß.

    Der Glaube. Fast in jedem Lied hört man etwas, das mit der Kirche zu tun hat. Jeder anständige Chansonnier muss ein Lied über erlöschende Kerzen, Kuppeln (egal ob echte oder tätowierte) oder Gebete um die Vergebung seiner Sünden im Repertoire haben. Der Tätowierer richtet mir den Rücken – ein Kloster mit lauter Kuppeln (Alexander Djumin Blagoweschtschenski zentral), Goldene Kuppeln erfreuen mein Herz (Michail Krug Goldene Kuppeln), Gott bewahre uns vor dem Gericht (Andrej Sarja, Dialog s sowestju).

    Russian criminal tattoos und sonstige Knastmoden. Jeder anständige Chansonnier hat ein Lied über Tattoos. So will es die Seele der Kriminalität. Das Tattoo ist in der Gefängnisreligion gleichsam das Geschichtsbuch. Für jeden der persönliche Schutzengel. Ein Lied mit dem Titel Nakolotschka findet man bei mindestens zwei Interpreten: Michail Schufutinski und Alexander Udatscha.

    Ansonsten zählt zur Knastmode auch alles andere aus der Welt des russischen Gefängnisses: So gibt es Lieder über Pritschen, über Diebe im Gesetz, über im Gefängnis verlorene Freunde, Landstreicherei, kriminelle Machenschaften, Banden, Strafkolonien und dergleichen mehr.

    Die Natur. Ja, das Verbrechervolk ist auch zur Wahrnehmung der Umwelt fähig, kann auch ästhetisches und seelisches Vergnügen an der Betrachtung äußerer Schönheit empfinden. Vieles dreht sich in den Naturliedern um die Liebe zu heimatlichen Gefilden.

    Weiße Birke von Alexander Djumin

    [bilingbox]

    Überm Fluss über dem Wald ein gelockter Ahorn stand
    Verliebt war er in eine Birke mit ihrem weißen Band,
    und wenn über dem Feld der Wind sich legte,
    für die Birke sein Lied sich regte:

    Ach, weiße Birke, ick liebe dir!
    Deinen schlanken Zweig streck aus nach mir
    Verloren bin ich ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.
    Meine liebe weiße Birke, ich bin zu allem bereit!~~~Александр Дюмин, «Белая берёза»

    Над рекой над лесом рос кудрявый клён,
    В белую берёзу был тот клён влюблён.
    И когда над полем ветер затихал,
    Он берёзе песню эту напевал

    «Белая берёза, я тебя люблю.
    Ну протяни мне ветку свою тонкую.
    Без любви, без ласки пропадаю я.
    Белая берёза, ты — любовь моя»[/bilingbox]

    Die Liebe. Wie denn auch ohne? In der Knastlyrik ist sie natürlich ein wenig seltsam, und eigentlich durch und durch sexistisch (man denke nur an das berühmte Zitat von Michail Krug: „Ich mag keine Frauen, die eine eigene Meinung haben. Sobald eine Frau anfängt zu glauben, sie sei klug und habe Verstand, wie ein Mann, hört sie auf eine Frau zu sein. Wieso soll ich ihr dann in der Straßenbahn den Vortritt lassen, ihr die Hand reichen, wozu Blumen schenken?“), aber es gibt sie. Erinnerungen, romantische Oden, das war’s dann schon.

    Beim Versuch, in den Texten der Knastmusik die wichtigsten Schlüsselwörter auszumachen, erörtert Glaskowa im erwähnten Aufsatz, dass im neuen russischen Chanson drei Gefühle vereint seien, die zur russischen Seele gehören: Kränkung, Sehnsucht und Gram. Kein Wunder. Fast jedes Lied handelt von Enttäuschung vom Leben. Sogar wenn es eigentlich um Tattoos geht. Oder um schöne Mädchen.

    Das Schicksal – die Böse von Iwan Kutschin

    [bilingbox]

    Weiße Rosen blühen, die roten sind gewelkt
    Entweder hab ich den Traum versoffen 
    oder es hat ihn sich jemand gegriffen.~~~Иван Кучин, «Судьба-злодейка»

    Розы белые цветут, красные завяли,
    То ли я пропил мечту, то ль её украли.
    [/bilingbox]

    Opferdarstellung: Fake-Blatnjak

    Noch so ein aufwühlendes Phänomen ist beim russischen Chanson, ähnlich wie beim Rap, die Frage nach der Authentizität, der Glaubwürdigkeit. Während beim Rap die Polemik bei Ghetto- und Straßen-Metaphern ansetzt, lautet hier die Frage: Kann einer, der nie in Haft war, Kriminal-Chansonnier sein? Genrekönig Michail Krug, Sergej Nagowizyn – fast keiner der Blatnjak-Sänger hat je gesessen. Krug outete sich dazu sogar einmal: „Warum wollen denn alle diese Parallele ziehen: Er singt Knastlieder, also hat er gesessen – ich hab nicht gesessen!“

    Ein interessanter Fall war die Sängerin Katja Ogonjok, die zu Lebzeiten (sie starb 2007 im Alter von 30 Jahren) behauptete, sie sei zwei Jahre in Haft gewesen. Im Nachhinein dementierte ihr Producer Wladimir Tschernjakow die Legende. Was ist die Logik dahinter? Warum tun die Leute so, als wären sie kriminelle Autoritäten? Für das Show-Business oder aus Sympathie für die Subkultur? Das Phänomen der Glaubwürdigkeit ist in soziokultureller Hinsicht nicht ausreichend erforscht.

    Gefängnis-Underground

    Kehren wir zur Kriminallyrik als Konzept zurück, so zeichnet sich innerhalb des Gefängnisakademismus auch ein Underground ab – im wörtlichen Sinn das, was nicht aus den Zellen dringt, was nicht kommerzialisiert wird: radikale Selfmades, Amateur-Sänger hinter Gittern und Randerscheinungen aller Art. Sucht man auf Youtube nach „Gefängnismusik“ oder „Blatnjak“, erhält man einen Haufen Nonames, mit alten Handys aufgenommene Videos, in denen Alltagsszenen aus dem Häftlingsleben abgespult werden.

    Die Knastepoche: ein langes, glückliches Leben

    Der Knast braucht keinen Harteveld mehr. Das Internet ermöglicht es den Menschen, ungehindert und selbständig für ihre Ideen und Werte einzustehen. Das betrifft auch die Gefängnisfolklore: Das 21. Jahrhundert ist mit seinem Siegeszug der digitalen Technologien zumindest für jene Leute ein Goldschatz, die in strengen Vollzugsanstalten ein schweres Dasein fristen und keine richtige Gelegenheit zur Selbstverwirklichung haben.

    Sieht man auf dem Bildschirm die Gesichtslosigkeit derer, die vom schweren Los des Gaunerlebens singen, und denkt über die Bedeutung der globalen Knastlyrik nach, dann ist man verwirrt und verunsichert: Welche Art von Mitgefühl ist hier angebracht? Und was das russische Chanson angeht: Wird es weiter bestehen? Dieser Frage kann man nur mit Empirie beikommen, mit einfachen Worten: Warten wir mal hundert Jahre – dann wird man sehen. Zu die Bude.


    In dieser Übersetzung wurden Ausschnitte folgender Lieder zitiert:
    Leonid Utjossow Gop so smykom und S odesskogo kitschmana; Irtlatsch Strongilla: Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja; Arkadi Sewerny: Nu, ja otkinulsja, kakoj basar-woksal; Michail Gulko: Berjosy und Murka; Jelena Entina: Shol Stolypin; Michail Krug: Hallo, Mama; Alexander Djumin: Mama und Blagoweschtschenski zentral; Viktor Petlura Mama; Iwan Kutschin: Sudba-Slodejka

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    Editorial: Der Urknall des Gnosmos

    Der Urknall des Gnosmos,

    liebe Leserinnen und Leser, war ein eher geräuschloser. Die Materie, das geballte Russland-Wissen aus den dekoder-Gnosen, existierte ja bereits, sie suchte nur einen neuen Raum. Den gibt es nun hier: gnosmos.dekoder.org.

    Im April hatte ich in Hamburg eine Fortbildung zum Thema Datenjournalismus besucht. Die neu erworbenen Fähigkeiten wollten natürlich im Feld erprobt werden. Schnell waren die 270 dekoder-Gnosen mit ihren 1465 Verlinkungen in ein solches Bild verwandelt: 

    Ich war elektrisiert. Dieses Spinnennetz, gewoben aus dekoder-Gnosen, erinnerte mich an Ideen, die dekoder-Gründer Martin Krohs immer wieder in unseren Planungskonferenzen auf den Tisch gebracht hatte, die aber, weil scheinbar zu kompliziert, vorerst in der mentalen Schublade „schön, aber aktuell nicht realisierbar“ gelandet waren.

    Ich schickte das Bild zu Martin herüber, und ein paar Augenblicke später kam von ihm die Antwort: „Super! Der Gnosmos!“

    Es war von Anfang an Teil von Martins dekoder-Vision, dass unsere Plattform nicht nur Hintergrundkompetenzen und aktuelle Artikel liefern sollte, sondern auch die Bezüge zwischen diesen Inhalten zeigen – das, so sein Ansatz, wäre mindestens ebenso wichtig, um Russland zu entschlüsseln. In seiner Idealvorstellung vom Gnosmos, dem „Kosmos der Gnosen“, sollte es eine grafische Darstellung dieser Bezüge geben, die sich automatisch aktualisiert und durch die der User in einer dynamischen Art und Weise hindurchnavigieren kann.

    Mit dem obigen Spinnennetz war ich der Sache nun ein entscheidendes Stück näher gekommen. Also beschloss ich, diese Fährte wieder aufzunehmen, was mich – der ich eigentlich gar kein Programmierer bin, sondern studierter Philosoph – vor einige Herausforderungen stellte. Zum Beispiel sollte sich, dachte ich mir, die Größe der Knotenpunkte nach der Anzahl ihrer Verlinkungen richten, man bräuchte farblich unterschiedene Kategorien, eine Suchfunktion, Vorschau-Texte, und natürlich sollte das Ganze am Besten noch in 3D sein.  

    Wie ein besessener Maulwurf grub ich mich durch unzählige Tutorials (Gott schütze die Nerds und ihre Foren, in denen sie so großzügig ihr Wissen teilen!), klickte mich durch die kuriosesten Beispiele und experimentierte mit allerlei Code-Fetzen herum.

    Zwischenzeitlich drohte das Projekt zu einem riesigen Schwarzen Loch für mich und meine Freizeit zu werden. An anderen Tagen war die größere Gefahr, anstelle einer interaktiven Datenbank einen 90er-Jahre-Space-Shooter zu programmieren:

    Nun, mehrere Wochen, einige schlafdeprivierte Nächte, nicht wenige ausgerupfte Haare und gut tausend Zeilen Code später, stelle ich erleichtert fest: Draußen scheint die Sonne, ich bin nicht vollends zum Maulwurf geworden und der Gnosmos nicht zum Ballerspiel. 

    Im Russlanddiskurs geht es ja oft um gefühlte Wahrheiten oder Behauptungen, die mit Tatsachen bestenfalls noch ansatzweise zu tun haben. Umso wichtiger sind die Stimmen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die sich methodisch und über Jahre hinweg mit ihrer jeweiligen Thematik auseinandergesetzt haben, ihre vielschichtige Literatur aufs Genaueste kennen, eigene Interviews geführt, statistische Daten ausgewertet haben. Auf dekoder finden sie zu einem ständig wachsenden Wissensschatz zusammen, den man gar nicht spektakulär genug präsentieren kann.

    Erkenntnisreiche Erkundungsflüge wünscht allen Gnosmonautinnen und Gnosmonauten

    euer Daniel
    Social-Media-Redakteur und Gnosmos-Architekt

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  • Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Mutter und Kind in der Wohnung eines Moskauer Außenbezirks. Zwecks Verkauf wird die Wohnung von Menschen besichtigt. Der Vater kommt spät abends nach Hause. Die Eltern streiten. Eine Familie ist dabei, sich zu trennen. Und keiner will den Sohn zu sich nehmen. Alle haben Besseres zu tun. „Ich kann nicht mehr“, sagt der Sohn beim Frühstück. Dann ist er weg. Verschwunden. Andrej Swjaginzews Film Neljubow (engl. Loveless) erzählt von der Suche nach dem Jungen, einem Jungen in der Atmosphäre von Nichtliebe.

    Bei der Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag ist der aktuelle Film des mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Andrej Swjaginzew (Die Rückkehr, Leviathan) in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Sergej Medwedew hat ihn sich für Republic angesehen – und versteht Neljubow als Diagnose für die gesamte Gesellschaft.

    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube
    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube

    Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.

    Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.

    Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.   

    Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos

    Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an Stalker von Tarkowski erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail Kritschman verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer Schlafbezirk in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.

    Einen Gott gibt es hier nicht

    In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa Alert (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).

    Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.

    Die Leere kommt mit Macht

    Die Apotheose der Leere: ein zerstörter Kulturpalast irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert  wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.  

    Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.

    Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem Donbass mit Dimitri Kisseljow guckt.

    Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz

    Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.  

    Geht es bei Boris Godunow letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische Staatsmacht? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.

    Das  Mistkerl-Gesetz

    Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes, das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.

    Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der Krim und der Boeing vorbei war und Russland sich mit den Sanktionen abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.

    Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die Korruption und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt. 

    In der moralischen Sackgasse

    Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57, Diskussionen über häusliche Gewalt und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall Karagodin). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.

    Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende Kirche noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie Milonow und Misulina verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenkt, doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.

    Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.

    So wie Puschkins „blutender Knabe“ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.   

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  • Kulturmetropole in den nördlichen Weiten

    Kulturmetropole in den nördlichen Weiten

    In Totma im Norden Russlands, 1000 km östlich von Sankt Petersburg entfernt im Landesinneren, gibt es sechs Museen, zwei Volkstheater, zwei Kulturpaläste, einen Schachklub, ein Kinder-Kreativhaus, eine Musik- und eine Kunstschule. Und das alles für 10.000 Einwohner. An Feiertagen kommt die halbe Stadt zusammen, auf Premierenkarten hat man nie eine Chance, Vorführungen von Amateurkünstlern sind restlos ausverkauft, und alte Damen trainieren Biathlon. Ein Phänomen? Und ob!

    Sergey Maximishin, zweimaliger Preisträger beim World Press Photo Award, hat die Stadt besucht, Les zeigt seine Fotoreportage.

    Schiffsförmige Kirchen zur Rettung der Kaufmannsseelen. Uliza Lenina – Lenin Straße. Rechts: Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem, heutzutage ein Museum. Links: Christi Auferstehungskirche, eine der zwei Kirchen in Totma, die noch in Betrieb sind. Fotos © Sergey Maximishin

    In den 880 Jahren ihrer Geschichte erlangte die Stadt Totma zweimal den Gipfel des kommerziellen Erfolgs. Zunächst im 16. und 17. Jahrhundert, als die Salzförderung von Sol Wytschegodsk [heute Solwytschegodsk – dek] an ihrem Höhepunkt war und die Stadt Sol Totemskaja hieß. In den Salinen von Totma dampfte man aus unterirdischen Quellen gewonnene Sole ein – und die Stadtbevölkerung wurde reich. Totma war ein so wichtiger Ort, dass Zar Peter dreimal hier weilte und sich einmal sogar dazu herabließ, höchstselbst einen Eimer Sole aus dem Schacht zu ziehen.

    Die fetten Jahre hielten an, bis Russland die Astrachaner Steppen mit dem dort befindlichen Salzsee Baskuntschak eroberte. Das Salz von Totma war im Vergleich aufwändig in der Gewinnung und daher nicht mehr attraktiv. Mit den Salinen ging es bergab. Fast wäre Totma verarmt. Jedoch, wie Wikipedia schreibt:

    „ … den Kaufleuten von Totma gelang es, neue Ertragsquellen zu erschließen und für einen nicht weniger eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zu sorgen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahmen die Kaufleute zahlreiche Expeditionen in den Osten: nach Sibirien, Fernost und an die Küste Amerikas. Handelsgesellschaften aus Totma machten rund 20 Forschungsreisen in den Pazifik – mehr als Konzerne aus Moskau, Wologda und Weliki Ustjug zusammengenommen.“

    Iwan Kuskow aus Totma gründete – am südlichsten Punkt Russisch-Amerikas – Fort Ross, in Kalifornien. Zur Erinnerung daran sind Fort Ross und Totma heute Partnerstädte. Die Kaufleute kehrten von ihren Seefahrten mit Pelzen zurück, als besonders wertvolle Beute galt das Fell des Silberfuchses, der nur in Amerika lebte. Von den Einnahmen ließen die Kaufleute zur Rettung ihrer Seelen schiffsförmige Kathedralen bauen.

    Kirow Straße. Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem – die größte Schiffs-Kirche von Totma, erbaut von reichen Kaufleuten vom Verdienst ihrer erfolgreichen Seefahrten Richtung Osten. Die Kirchenmauern sind verziert mit Kartuschen, dem charakteristischen Bauelement des sogenannten Totmaer Barock
    Gesichter schauen durch Krusten abblätternder Ölfarbe, die Restaurierung der Fresken ist noch lange nicht vollendet – im Gebäude der Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem war zu Sowjetzeiten eine Weinkellerei untergebracht. Heutzutage ist in den beheizbaren Teil das Seefahrts-Museum eingezogen  Der Sommerflügel wurde an die Kirche zurückgegeben

    Ab Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Totma zu einem ruhigen Provinzstädtchen. Ohne Höhenflüge, aber – Gott sei Dank – auch ohne nennenswerte Abstürze. Aus den letzten zwei Jahrhunderten sind ein paar solide Steingebäude geblieben. In einem davon befindet sich jetzt das Polytechnische Lyzeum, in einem anderen, dem ehemaligen Gebäude der Handwerkerschule Peter der Große, die Mittelschule.

    Die Tür der Schule Nr. 1, untergebracht in einem edlen dreistöckigen Steingebäude, früher die Handwerksschule Peter der Große, in der junge Menschen lernten, aus dem Holz der Gegend Spielzeug zu fertigen – auf Kosten des Kaufmanns Tokarew

    Unter den Romanows wurden politische Gegner nach Totma verbannt. Berühmte Verbannte waren der Narodnik Lawrow sowie die Revolutionäre Molotow und Lunatscharski. Auf seinem Weg nach Solwytschegodsk verbrachte auch Stalin drei Tage in Totma.

    Im Heimatkundemuseum – Stalin war einst auf der Durchreise in Totma

    In der Sowjetzeit wurde auf dem Klosterareal eine Sportschule gebaut, die bis heute in Betrieb ist. In einer der Kirchen wurde eine Weinkellerei eingerichtet, in einer anderen ein Kino. Später wurde das Kino dem Städtischen Kulturzentrum übergeben. Damit begann auch meine Bekanntschaft mit der Kulturanomalie Totmas.

    In der Maske

    Ende Februar/Anfang März ist in Totma kulturelle Hochsaison: 23. Februar, 8. März, und dazwischen noch die Masleniza. Nonstop laufen Proben: Duette und Soli, Tanzensembles, Blasorchester. Kostüme werden genäht und ein letztes Mal anprobiert, und auf die Bühne darf man nur gemäß Belegungsplan.

    Blasorchesterprobe im Gewölbe der Christi-Erscheinungskirche, der größten Kirche des alten Totma. Der Leiter des Zentrums sagt voller Stolz: „Unser Blasorchester ist das einzige im Osten der Wologdaer Oblast!”
    Die Tanzgruppe „To li delo“ (dt. sinngemäß „Mit Abstand am besten!”)
    Die Tanzgruppe beim Maßnehmen
    Das mehrfach preisgekrönte Kollektiv „Romaschki” (Die Kamillenblüten)
    Probe der Kamillenblüten

    Am Tag des Konzerts dann ein Unglück – es war schlagartig warm geworden, vom Dach lief das Wasser in Strömen. Es überschwemmte die Garderobe und das Büro der Direktorin Swetlana Cholmogorowa. Die Besucher trudelten bereits ein, während die Belegschaft die nasse Bühnenkleidung auf den Heizkörpern verteilte.

    Tauwetter
    Hinter den Kulissen – gleich geht es auf die Bühne
    Wer wird denn da schmulen …
    Der Saal rappelvoll, das Publikum feingemacht, Blumen und Applaus – am Abend wird dann alles wie auf der großen Bühne 

    Die leisesten Bewohner des Kulturzentrums sind die Schachspieler. Mit der für die Region Wologda typischen o-lastigen Aussprache tröstet der Amateurtrainer einen kleinen Verlierer: „Och, wer ist denn schuld? Selbst schuld, kleiner Hornochs! Hast deinen Sieg vertrottelt! Wieso hast du denn nicht mit dem Läufer die Dame gefressen?“

    Tief versunken
    Hochstapler beim Schach?

    In Totma gibt es sechs Museen. Manche wirken eher wie Wanderausstellungen, aber trotzdem; alles zusammen heißt Museumsverband. Die Verbandsleitung sitzt im Heimatkundemuseum. Dort wohnt auch der Motor und Direktor des ganzen Betriebs Alexej Nowosjolow.

    Ausstellung zum Internationalen Frauentag
    Wo der Bär zu Hause ist
    Bestände
    Der Stolz des Museums: die Sammlung hölzerner Altarskulpturen

    Für die Musikschule reicht in dem einen Gebäude der Platz nicht. Gitarre und Akkordeon werden auf der anderen Straßenseite unterrichtet. Die Musikschule hat auch keinen eigenen Konzertsaal. Und noch ein Problem: Vor einem halben Jahr ist die Geigenlehrerin nach Wologda gezogen und es gibt in Totma keinen Ersatz für sie.    

    Ein etwa zehnjähriges Mädchen lernt Domra. Die Lehrerin streichelt ihr sanft über den Kopf. Und fragt mich:

    „Sieht sie nicht aus wie Serafima?“
    „Welche Serafima?“
    „Was heißt, welche?! Die Schöne Serafima! Aus der Serie. Die kennen sie doch?“
    „Nein“, sage ich, „kenn ich nicht. Ich habe keinen Fernseher.“
    „Wie leben Sie denn? Die müssen Sie unbedingt sehen! Da geht es um eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt!“

    Die Lehrerin hat das Mädchen im Chor der Sonntagsschule gehört und sie dann gefragt, ob sie Unterricht nehmen will. „Serafimas“ Mutter sagte, sie könne keine 400 Rubel [5,60 Euro – dek] im Monat bezahlen (das ist in Totma, wo das Durchschnittsgehalt niedriger ist als die Durchschnittsrente, viel Geld), und erst recht nich könne sie ein Instrument kaufen. So bekommt das Mädchen gratis Unterricht. Sie kam in eine Klasse für Volksmusikinstrumente – Domren und Balalaikas sind in der Schule ausreichend vorhanden.

    In der Musikschule: Notenlinie oder Garderobe? Notenschlüssel oder -schloss?
    Der Chor probt das Lied „Kinder lieben Jazz
    „Ein zehnjähriges Mädchen lernt Domra. Die Lehrerin streichelt ihr sanft über den Kopf: ‘Sieht sie nicht aus wie Serafima?’“
    Doo Reee Miii …
    Klavierunterricht am Nachmittag
    Kleines Blockflöten-Trio

    In Totma gibt es zwei Volkstheater, die in Konkurrenz zueinander stehen. Swetlana Samodurowa, Regisseurin am Volkstheater des Jugendkulturtheaters Totma, sagt, ihr Theater blicke auf 140 Jahre ununterbrochene Geschichte zurück. Derzeit proben sie Wölfe und Schafe von Ostrowski. Ein Mäzen von hier hat dem Theater 10.000 Rubel [140 Euro – dek] gegeben, für dieses Geld konnten für alle Schauspieler des Stücks Kostüme genäht werden. 

    Erste Anprobe
    Kindergarten. Frühe Spuren von Kultur an der Fassade

    In der Kunstschule gibt es vier Klassen Basisunterricht und eine fünfte, zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule.

    Malklassen
    Maler und Musen

    Vor der Revolution war Totma berühmt für sein Holzspielzeug, man nannte die Stadt sogar „russisches Nürnberg“. 

    Antike Totmaer Spielzeugfiguren aus Pappmaché
    Das ist Nadeshda Schulga und ihr Hündchen. Nadeshda war einst Erzieherin im Kindergarten und ist jetzt Hobbykünstlerin mit besonderer Handschrift: Sie bewahrt die Tradition und arbeitet mit Pappmaché

    Swetlana, die Direktorin des Städtischen Kulturzentrums, hat zur Masleniza Mütterchen Winter gespielt. Von ihr war auch das Drehbuch für die dreistündige Aufführung. Das Budget dafür betrug 3000 Rubel [ca. 42 Euro – dek]. Die ganze Stadt war auf dem zentralen Torgowaja-Platz versammelt. Dem Publikum wurde (im direkten und übertragenen Sinn) drei Stunden lang ordentlich eingeheizt. Von den typischen Masleniza-Bräuchen fehlten nur die „Pfosten mit Stiefeln”. Offenbar hatte das Budget dafür nicht gereicht.

    Masleniza-Feier auf dem zentralen Platz der Stadt
    Hobbyschauspieler hinter den Kulissen des Straßentheaters zur Masleniza. Der schwarze Fuchs ist das Wappentier von Totma. Im Jahr 1785 erließ Katharina die Große ein Dekret – Totma erhielt ein Wappen mit einem schwarzen Fuchs auf goldenem Grund: „Als Zeichen, dass die Bewohner der Stadt Fuchsjagd betreiben“
    Fürs Masleniza-Fest haben die Mitglieder des örtlichen patriotischen Klubs zur Freude der Bürger einen Schießstand organisiert
    „Dem Publikum wird (im direkten und übertragenen Sinn) drei Stunden lang ordentlich eingeheizt”

    Als Lunatscharski von seiner Verbannung in Totma zurückkehrte, erzählte er:

    „Totma ist ein bezauberndes, schmuckes Städtchen, mit Kirchen im Rokoko-Stil, am Ufer eines riesigen Flusses gelegen, hinter dem sich dunkle Wälder erstrecken. Unweit der Stadt befindet sich ein Kloster, zu dem man im Schlitten durch silberne Winterwälder fahren kann und wo man mit Brot, Kwas und Ucha bewirtet wird, wie ich sie nie zuvor und nie danach je genossen habe … Ich habe Totma in Erinnerung wie ein Wintermärchen, wie eine Kulisse für Snegurotschka.“

    Ich bin nicht im Schlitten zum Kloster gefahren, habe die Suppe nicht probiert. Doch Kwas und Brot sind in Totma immer noch köstlich. Und die Wirkung der Stadt ist ungefähr immer noch die gleiche.

     

    Text und Fotos: Sergey Maximishin
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Erschienen am 15.02.2018

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