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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Editorial: Das Tool

    Editorial: Das Tool

    Neulich in der dekoder-Redaktion:

    Tamina: Ich habe ja den Eindruck, viele machen sich nicht klar, dass so eine Redaktionsarbeit viel Aufwand bedeutet.

    Alena: Das Problem haben andere ja auch. Da muss man dann oft erst diese Pop-Ups wegklicken.

    Martin: Das nervt aber. Also ich will nicht genötigt werden. Eher schon würde bei mir funktionieren, glaube ich, wenn mir ein Portal sozusagen ständig meine Nutzungs-Intensität anzeigen würde. Und wenn ich dann sehe, dass ich schon viel von dem Angebot profitiert habe, dann komme ich schon selber auf den Gedanken, mal die paar Klicks zu Paypal zu machen. 

    Tamina: Ja, man verdrängt das einfach. 

    Martin: Genau, man hat ja auch besseres zu tun beim Lesen. Gerade wenn der Artikel interessant ist.

    Alena: Paradox. Je besser der Content ist, desto weniger denkt man ans Bezahlen.

    Martin: In der Tat paradox … – Was meint ihr, wenn man sowas auf dem Site integrieren würde? So eine Art Nutzungs-Barometer? Und dann, wenn das allmählich steigt, einfach mal in netter Form einen Vorschlag machen? He, cool, dass du so häufig da bist! Vergiss uns nicht, wir ackern hier hinter den Kulissen, damit es das alles gibt! Unverbindlich. Ich meine, dekoder ist immer auch kostenlos, und wer nichts zahlen will oder schlicht nicht kann, der ist ja genauso willkommen.

    … 

    Und aus einer solchen Idee ist das Tool gewachsen, das – ihr habt es vielleicht schon bemerkt – seit vergangener Woche in jedem dekoder-Artikel und in jeder dekoder-Gnose zu sehen ist:

    Gemeinsam mit unserem Entwickler-Kollegen Kim von Palasthotel haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten überlegt, wie man diese Gratwanderung zwischen „bestimmt Erinnern“ und „nicht auf die Nerven gehen“ meistern kann, haben skizziert, gefeilt und schließlich den donation encourager gebaut.

    Das Dankesagen soll freiwillig sein, unkompliziert und am besten auch noch Freude bereiten. So sind wir auf den Emoji Selector gekommen, mit dem du, liebe Leserin, lieber Leser, dein individuelles Dankeschön-Paket schnüren kannst:

    Probier es doch einfach mal aus, etwa in unserem neuen Meinungsstück von Lilija Schewzowa über Russlands Rolle auf internationaler Bühne oder gleich hier unter dem Editorial.
    Achtung, Eröffnungsrabatt, nur bis 28. November: Nimm drei Emojis und zahl nur zwei!

    Freudiges Emojipacken wünschen 

    dekoder-Coder Daniel und die anderen dekoderщiki 

    PS: Du betreibst einen Blog, ein Indie-Medium oder bild.de und möchtest den donation encourager auf deiner Seite verwenden? Kein Problem – der Code liegt frei verfügbar auf Github! Meldet euch gern dazu!

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    Hier ist er – der russische dekoder!

  • Hier ist er – der russische dekoder!

    Hier ist er – der russische dekoder!

    Vor 30 Jahren hat der Mauerfall am 9. November die Menschen überrascht – das Jubiläum in diesem Jahr ist überraschungsfrei – sollen Performances und Spektakel eine bange Leere füllen? Eine Leere, die vor 30 Jahren für uns, die wir heute bei dekoder sitzen, sofern wir alt genug waren, eine inspirierende Leerstelle war? Ein riesiger Raum für Notizen, wie die Zukunft zu gestalten sei? Ein Palast des Wunderbaren? Es war alles auf einmal. 

    „Da haben wir uns hingehockt und was ausgeheckt – den russischen dekoder!” Die dekoderщiki (bzw. ein Teil von ihnen) in guter alter Gopniki-Tradition / Foto M. Bustamante
    „Da haben wir uns hingehockt und was ausgeheckt – den russischen dekoder!” Die dekoderщiki (bzw. ein Teil von ihnen) in guter alter Gopniki-Tradition / Foto M. Bustamante

    Dieses Gefühl von damals, das trägt uns seit Jahren. Und vor vier Jahren legten wir dann los: Seitdem vermitteln wir technisch immer durchdachter auf Deutsch, was unabhängige russische Medien auf Russisch veröffentlichen.

    Und jetzt haben wir von dekoder pünktlich zum Mauerfall etwas ausgeheckt. 

    Etwas, das die Energie des positiven Aufbruchs von damals weiterträgt. Damals wurden allein in Berlin zig Brücken in beide Richtungen geöffnet, man konnte rege hin und her. Und so vollenden wir zum 9. November 2019 unseren Brückenschlag zwischen zwei Gesellschaften – zwischen Russland und Deutschland: Ab jetzt gibt es deutsche und europäische Themen für russischsprachige Leser. 

    Hier ist er – der russische dekoder: dekoder.org/ru

    Das war eine Gaudi, die letzten Monate … dekoder brauchte neue Mitarbeiter für die russische Seite, der russische dekoder brauchte Texte und Materialien – das waren völlig neue Diskussionen: Was wollen wir wem mitteilen? Welche Themen sind derzeit prägend? Aus welchen Medien wollen und können wir Texte vermitteln? Welche Texte bilden am besten die Debatten ab, um ein stimmiges Europabild zu zeichnen, zu dem natürlich Themen wie 30 Jahre Mauerfall, Migranten und Wahlerfolge populistischer Parteien gehören? 

    Himmel über Berlin – erste Redaktionssitzung mit den beiden neuen russischen dekoder-Mitarbeitern Polina Aronson und Dmitry Kartsev
    Himmel über Berlin – erste Redaktionssitzung mit den beiden neuen russischen dekoder-Mitarbeitern Polina Aronson und Dmitry Kartsev

    Nun können wir sagen: Der Anfang des Neuen ist gemacht – vor allem dank der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius! An dieser Stelle herzlichen Dank für die Unterstützung!

    Seht selbst und verliert euch gern beim Lesen und Stöbern rechts und links der dekoder-Brücke, überall gibt es auch Links zu den jeweiligen Original Texten.

    Viel Spaß beim Lesen und Teilen: Spread the news!

    Eure dekoderщiki, die sich auch an diesem 9. November mächtig darüber freuen, was alles geht!


    Der russische dekoder in sozialen Medien:



     

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    «АдГ добьётся того, что Восточная Германия снова себя потеряет»

  • Der Wortwichser am Abend

    Der Wortwichser am Abend

    Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird. 

    Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduza mit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.

    Samstag, 28. September

    Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine. 



    Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
     
    Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
     
    Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.

    Sonntag, 29. September

    Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.

    Montag, 30. September

    Solowjow reagiert per Twitter und Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant  gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.

    Am selben Tag

    Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“     

    Dienstag, 1. Oktober

    Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat … Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“

    Am selben Tag

    Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“ 

    Am selben Tag

    Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“ 



    […] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört …
    Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint …
     
    Können wir mal reinhören?
    Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
     
    Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann.
    Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie […].
    Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein […]

    2. Oktober

    Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“


    Fortsetzung folgt.

    Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?

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  • Der Kosake hat den Größten

    Der Kosake hat den Größten

    Die Liebe verbirgt sich an den unglaublichsten Orten. Sogar im Nachnamen des Snob-Korrespondenten Igor Saljubowin steckt das Wort ljubow (dt. Liebe). Prädestiniert ihn das dafür, über Russlands größte Sextoy-Fabrik zu berichten? Er hat es jedenfalls getan und schreibt auf Snob davon, wie sich in einer Kosakensiedlung ein Betrieb der Rüstungs- in einen der Liebesindustrie verwandelt hat. Schwerter zu – ja, zu was eigentlich? 

    Zuerst schuf Gott den Mann. Damit dem Mann nicht langweilig werde, machte Gott aus dessen Rippe die Frau. Dann fingen sie doch an, sich zu langweilen – und erfanden Sextoys.

    Im Jahr 7527 seit Erschaffung der Welt werden künstliche Penisse und Vaginas größtenteils in China hergestellt, doch eine kleine Fabrik in der Oblast Kuban will China Konkurrenz machen und verkauft ihre Produkte schon seit ein paar Jahrzehnten in ganz Russland.  

    Konkurrenz für die Chinesen – eine kleine Fabrik für Sextoys in Kuban / Foto © Igor Saljubowin

    Da baumelt die Mutter aller Butt-Plugs

    Michalytsch hält mit zwei Fingern einen rosa Butt-Plug an einer kleinen Schnur hoch. Hier baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in nächster Zeit in der Fabrik erzeugt werden. Ein von einem Bildhauer geformtes Wachsmodell wird in eine alte, schon hier und da rissige Plastikwanne gelegt. Kathode, Anode, Elektrolyse – die Methode ist 200 Jahre alt, aber hier in der Fabrik hält man sie für effizienter als 3D-Druck.

    An Michalytschs Fingern baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in der Fabrik erzeugt werden / Foto © Igor Saljubowin
    An Michalytschs Fingern baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in der Fabrik erzeugt werden / Foto © Igor Saljubowin

    Eine Wanne mit Modellen, die allmählich metallisiert werden, steht in einem kleinen Nebengebäude im Hinterhof der Fabrik. Die Fabrik steht am Rand einer Kosakensiedlung.   

    In der Kosakensiedlung Poltawskaja leben 25.000 Menschen. Ein Magnit-Supermarkt, eine Brotfabrik, ein geschlossenes Kino, ein ausgestellter Düsenjäger, ein Heimatkundemuseum, ein Hotel, eine dunkelhäutige Prostituierte in der Sauna des Ortes – das ist alles, was es hier an Sehenswürdigkeiten gibt. 

    Ein Auto fährt hier alle fünf Minuten vorbei. Ein Fahrrad – alle vier.

    Die Traubenkirsche blüht, die Straßen sind sauber und leer.

    Im Hinterhof der Fabrik steht die Wanne mit den Gussformen / Foto © Igor Saljubowin

    Die Provinz schleicht sich in die Schlafzimmer der Hauptstadt

    Fabrikdirektor Wadim Kanunow hat in seinem Leben so viele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner von Rumänien reichen würden, oder je vier für jeden Einwohner von Kuban, oder 800 Stück pro Bewohner der Kosakensiedlung Poltawskaja, wo seine Fabrik steht. Kanunows Phallusse werden auf der umstrittenen Krim verkauft, im prorussischen Donbass und in der antirussischen Ukraine. Auf der Krim ganz offen, in die Ukraine schmuggelt sie eine Bande durch die Donezker Volksrepublik. Eine spezielle Person holt von Kanunow einen Schwung Sexspielzeug für Tschetschenien und Inguschetien ab. Dort passiert der Handel im Geheimen.

    In der Provinz, wo man traditionell mit der Hauptstadt nicht kann, und in Moskau, das abfällig über den Moskauer Autobahnring hinausspäht, wird Kanunows Spielzeug etwa in gleicher Menge verkauft. Im ganzen Land sind seine Dildos erhältlich, aber in Poltawskaja gibt es keinen Sex-Shop. Die Fabrik am Ortsrand hat nicht mal ein Schild.    

    Fabrikdirektor Kanunow hat in seinem Leben soviele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner Rumäniens reichen würden / Foto © Igor Saljubowin

    Die künstlichen Schwänze werden nach Gutdünken designt

    „Ich möchte nicht, dass zum Beispiel in der Schule die Lehrer meiner Kinder davon erfahren. Aber die Verwandten wissen Bescheid“, sagt eine Fabrikarbeiterin. Ein Lagerarbeiter bittet uns, nicht sein Gesicht zu fotografieren. Ich mache von ihm eine Aufnahme von hinten, an seinem Schreibtisch. In die Kamera blickt ein Lenin, der seit der Sowjetzeit hier hängt.  

    Keiner nimmt die Produkte aus eigener Herstellung mit nach Hause. „Sie trauen sich nicht“, meint Kanunow. Dem Thema, wie neue Modelle denn getestet werden, weicht er selbst allerdings auch aus. In seiner Fabrik gibt es keine Testpersonen. 

    „Manchmal teste ich ein Spielzeug pro Woche, manchmal weniger, wenn ich gar keine Zeit oder Lust habe“, erzählt eine professionelle Sextoy-Testerin in einem Interview des Onlinemagazins FurFur. „Das glaubt man nur, dass das immer angenehm ist. Ist es gar nicht. Manchmal ist mir einfach nicht nach Sex, da will ich in der Badewanne liegen und Remarque lesen – Gleitgel oder neue Dildos können mir dann gestohlen bleiben.“ 
    Normalerweise arbeiten Testpersonen im Auftrag der Sex-Shops, testen also bereits fertige Ware. Insofern werden die künstlichen Schwänze Poltawskajas praktisch nach Gutdünken designt.

    Dildo-Design nach Gutdünken / Foto © Igor Saljubowin


    Ab Frühling ist Flaute 

    Die meisten Gießer sagen, sie hätten in der Fabrik angefangen, weil man im Ort sonst schwer einen Job findet. „Das mittlere Einkommen ist hier rund 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek], und wir kriegen 30.000 Rubel [etwa 420 Euro – dek] oder sogar mehr. Aber ich versuche auch, die Wochenenden durchzuarbeiten, wenn ich kann. In Handyshops darf man das gar nicht. Dadurch verdienen wir hier mehr“, sagt Anton. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen macht es ihm überhaupt nichts aus, dass er jeden Tag Phallusse herstellt. Viel mehr Sorgen bereitet ihm, dass die Nachfrage saisonal schwankt. „Von August bis Silvester schuften wir wie die Berserker, sind eingedeckt mit Aufträgen, und im Frühling und Sommer ist Flaute“, erklären die Gießer. „Im Frühling und Sommer gehen die Leute raus“, versucht er, Gründe für diese saisonalen Schwankungen zu erklären. „Aber im Herbst und im Winter – was sollen sie denn sonst tun?“

    Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger / Foto © Igor Saljubowin

    Wir haben uns das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen

    Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger. Die Amerikaner sind etwas kleiner als die Kosaken, aber immer noch dicker und länger als die durchschnittlichen dreizehn Zentimeter. Die Realisten sind näher an der Wahrheit, aber gefragt sind die einen genauso wie die anderen. „Wir hatten uns einfach das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen“, erzählt Direktor Kanunow, wie die Idee zum Kosaken entstand. „Wir hatten das eher als Scherzartikel gedacht. Aber dann sind sie ihrem eigentlichen Verwendungszweck entsprechend gekauft worden.“ Das weiß Kanunow nicht aus einer Umfrage in der Fokusgruppe – die gibt es genauso wenig wie die Testpersonen –, das haben ihm Verkäufer in Sex-Shops erzählt.     

    Die ersten Vibratoren waren mit Motoren ausgestettet, die für militärische Zwecke gedacht waren / Foto © Igor Saljubowin
    Die ersten Vibratoren waren mit Motoren ausgestettet, die für militärische Zwecke gedacht waren / Foto © Igor Saljubowin

    Der 23-jährige Shenja ist der Jüngste in der Fabrik. Er fährt allein zur Arbeit und sitzt in einem Extrazimmer. In der Penisproduktion ist er, seit er vierzehn ist, sein Vater, der seit Ende der Nullerjahre bei Kanunow arbeitet, hat ihn in die Fabrik geholt. „Ich habe mich von klein auf für Mechanik interessiert, hab die Schule abgeschlossen, eine Elektrikerlehre gemacht und arbeite seitdem hier.“

    Shenja bezieht ein Gießergehalt, in seiner Freizeit tüftelt er an neuen Herstellungsmethoden und Materialien, mit denen man noch vollkommenere Dildos machen kann, dabei kommen zur Schwanzproduktion umgemodelte sowjetische Maschinen und die technischen Ressourcen der Kosakensiedlung zum Einsatz. 

    Die ersten Vibratoren waren mit Militär-Motoren ausgestattet

    Der ehemalige sowjetische Gynäkologe Wadim Kanunow produziert seit Anfang der 1990er Jahre Sexspielzeug. Die ersten zehn Jahre seines Lebens als Geschäftsmann lassen darauf schließen, dass die Produktion zunächst mit Unternehmensplünderungen und in enger Zusammenarbeit mit der in den Perestroika-Jahren zerstörten Rüstungsindustrie zusammenhing. Die ersten Vibratoren hatte er mit Motoren ausgestattet, die für militärische Zwecke gedacht waren. 
    Nostalgische Gefühle kommen bei Kanunow nicht auf, wenn er an diese Zeit zurückdenkt, genauso wenig wie große Gefühle bei dem Gedanken daran, dass seine Waren Millionen Menschen im Land sexuelle Befriedigung bringen. Nur einmal habe er so eine Art Nostalgie empfunden, sagt er: „Da kam vor einigen Jahren ein alter Mann in einen Sex-Shop und zog einen uralten Dildo aus der Tasche und fragt: ‚Können Sie mir den reparieren?‘ Man rät ihm: Komm, Opa, wir suchen Dir einen neuen aus. Aber er bleibt unbeirrt: Nein, ich mag den, ich komme gut mit ihm zurecht. Als der Sex-Shop-Inhaber den Dildo sah, griff er gleich zum Hörer und rief mich an: ‚Komm her, das wird dir gefallen.‘ Das war einer unserer ersten Vibratoren, noch echtes Handwerk.“

    Sein Business sei eine Mission zur Rettung des Landes, sagt Fabrikdirektor Kanunow / Foto © Igor Saljubowin
    Sein Business sei eine Mission zur Rettung des Landes, sagt Fabrikdirektor Kanunow / Foto © Igor Saljubowin

    „Alle unsere Mitarbeiter sind die erste Zeit mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, und jetzt mit dem Auto“, erzählt Wadim Kanunow. „Nicht nur das, manche haben sogar Motorräder. In unserem Ort, und überhaupt in Russland, wird jetzt weniger getrunken, und ich glaube, das ist unser Verdienst. Mit meinem Business erfülle ich eine Mission zur Rettung des Landes. Alle wollten das, und wir haben’s geschafft. Wir exportieren mittlerweile sogar. In Poltawskaja wird nicht gesoffen.“  

    Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch

    Es wird Abend in der Kosakensiedlung; die Gießer sind wohl schon zu Hause – ruhen sich aus, um morgen früh zur Arbeit zu fahren und eine ordentliche Partie Vaginas anzufertigen. Monteurinnen sitzen noch da, über die Arbeit gebeugt. Die Uhr zeigt schon sieben, aber Anka, die seit 12 Stunden hier ist, weiß noch nicht, wann sie geht. Sie muss heute noch hundert Slips in Schächtelchen verpacken. „Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch. Das wird bei jedem anders sein, aber bei mir ist es so. Und du, Larissa, woran denkst du meistens?“ Larissa bepinselt schweigend den hundertsten Schwanz heute. „Hm, Larissa?“ Larissa zieht mit einem Schminkstift langsam blaue Venen. Die Hälfte der Belegschaft ist schon weg. „Komm schon, sag!“, Anka lässt nicht locker.

    „Mann, woran denke ich? Ich gehe und denke, wie verdammt *** (müde) ich bin!“, sagt Larissa und macht sich an die Bemalung der Eicheln.

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  • Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Linearer Text hält sich wacker in Online-Zeiten. Wo das Internet ausufert, zieht er irgendwie auch Grenzen, hegt ein, reduziert (wenn es gut läuft). Doch schöpft er die Möglichkeiten nicht aus. 
    Wie können Wissen und Inhalte unter digital getriebenen Arbeits- und Rezeptionsmustern generiert und aufbereitet werden? Das war eine der Kernfragen, die sich Studierende zusammen mit dekoder in einem Projektseminar an der Universität Hamburg gestellt haben. Die Studierenden haben sich dafür mit dem Truppenabzug der vormals Roten Armee aus Ostdeutschland beschäftigt. Ein Prozess, der sich bei rund einer halben Million Menschen, Militärs mit ihren Angehörigen, über knapp vier Jahre zog. Die Soldaten waren plötzlich ein Relikt des Kalten Krieges, mitgerissen vom Strom der Geschichte und von den rasanten Umbrüchen von 1990

    Wie lässt sich das Thema aufgreifen und für ein Online-Magazin aufbereiten? Dafür ist dekoder ein Semester lang an die Uni gekommen, und die Studierenden der Fachbereiche Geschichte und Osteuropastudien haben sich darauf eingelassen und ausprobiert. Wo sonst wissenschaftliche Hausarbeiten ihren Alltag dominieren, begannen sie, in Formaten zu denken, die völlig anders funktionieren, sei es eine Online-Presseschau oder ein Visual. 
    Dabei gehen Wissenschaft und Journalismus ineinander über. Nicht umsonst kooperiert das vom Lehrlabor der Universität Hamburg geförderte innovative Lehrformat eng mit dem Projekt Wissenstransfer hoch zwei: Russlandstudien, an dem dekoder mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen arbeitet. Die Materialien erscheinen zum Jahrestag des Truppenabzugs am 31. August auf dekoder.org. 

    Einige der Studierenden sagten, allein schon die Art des gemeinsamen on-offline-Arbeitens sei neu für sie gewesen: mit Redaktionskonferenzen in Gruppen oder im Plenum, per Email oder im Chat, außerdem mit kollaborativem Schreiben. Das erzeugt auch eine ständige Pseudo-Nähe, die gerade im digitalen Zeitalter zu vielen Berufsfeldern gehört, doch macht man sie sich selten bewusst. Andere überraschte, dass der Weg, Russland für ein online-Publikum zu entschlüsseln, ganz klassisch offline beginnt: mit der Wühlarbeit im Archiv über dicken, angegilbten Zeitungsstapeln – auch wenn das Internet suggeriert, alles sei nur ein paar Klicks entfernt (bei einigen Blättern, wie der Prawda und der Izvestia stimmt das sogar).

    dekoder stößt damit Fragen an: Was bedeutet die digitale Gesellschaft? Welche Kompetenzen braucht es? Wie verändert sich die Wissenschaft, das Leben und Arbeiten von Wissenschaftlern? Wie funktioniert wissenschaftsbasierter Journalismus im Internet? 

    Die Diskussion im Seminar zeigte, wie divers privater Medienkonsum aussieht: mit Podcasts, Videos und einer Faszination für Virtual Reality. WhatsApp nutzen alle durch die Bank. Doch als Produzenten hängen viele am klassisch linearen Text, der immer noch geläufigsten Form für Publikationen. Wie gesagt, er hält sich wacker. Warum auch nicht, Schreiben ist ein Teil des Digitalen, wird im Netz jedoch auf immer neue Weise ergänzt und transformiert. 
    So ist es für die Studierenden neues Terrain, mit der verzweigten dekoder-Struktur zu arbeiten, mit den Erklärungen in Pop-ups und den Hyperlinks zu den Gnosen, im besten Fall sogar interaktiven Karten (daran basteln wir noch) Was sie von ihren Erfahrungen sonst zu berichten haben, erzählen sie übrigens in einem begleitenden Seminarblog
    Mit den Materialien zum Truppenabzug aus Ostdeutschland geht es unterdessen auf die Zielgerade. Und wir sind selbst am meisten gespannt.

    Aus der Uni grüßen

    Monica Rüthers 
    Mandy Ganske-Zapf

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  • Städte-Trips: Wetten, da waren Sie noch nie!

    Städte-Trips: Wetten, da waren Sie noch nie!

    Nach Moskau?! Neeee, Blogger Michail Drabkin bereist lieber das unbekannte Russland. Auf der Plattform discours stellt er sein Best-of der schönsten kleinen Städte vor: subjektiv, geschichtsträchtig und fernab der Touristenrouten.

    Keine kleine Stadt: Moskau mit den Wolkenkratzern von Moskwa-City im Hintergrund / Fotos: Michail Drabkin
    Keine kleine Stadt: Moskau mit den Wolkenkratzern von Moskwa-City im Hintergrund / Fotos: Michail Drabkin

    Die meisten meiner kleinen Lieblingsstädte liegen merkwürdigerweise nicht auf dem Goldenen Ring, der eine der wenigen echten Kultur-Tourismus-Routen Russlands darstellt.
    Vielleicht ist das aber auch gar nicht merkwürdig – denn touristische Beliebtheit schadet oft der ursprünglichen Atmosphäre einer Stadt. Insbesondere in unserem Land, wo der Massentourist noch nicht gelernt hat, Aspekte wie Authentizität zu schätzen. Und dann oft etwas Grelleres oder Effektvolleres möchte als das Alltagsleben einer kleinen altehrwürdigen Stadt und die Überreste ihres langen Lebens mit ihrem wahren Antlitz.

    Vor hundert Jahren – zu dem Zeitpunkt, als sich das architekturhistorische Gesicht der russischen Städte im Großen und Ganzen herausgebildet hatte – waren die Städte im Westen des Landes insgesamt größer, wohlhabender und bevölkerungsreicher als die Städte östlich von Moskau. Trotz alledem liegen mittlerweile alle gut erhaltenen historischen Städte auf dem Längengrad der Hauptstadt oder östlich davon – denn westlich davon verlief der Große Vaterländische Krieg.

    Die kleineren Städte hatten besonders stark unter dem Krieg gelitten – sie wurden weniger erbittert verteidigt und später weniger achtsam wiederaufgebaut; das Leben dort war einfacher, aber auch prekärer, die Menschen kehrten nach der Zerstörung und Verwüstung weniger gern dorthin zurück.

    Hier nun die drei authentischsten, besterhaltenen, mir herzensliebsten kleinen Städte Russlands. Das Ergebnis von dutzenden Reisen durch Zentralrussland. Wundervolle kleine Städte gibt es mehr als ein Dutzend, die drei, die hier vorgestellt werden, sind die aller-, allertollsten.

    Torshok

    Torshok ist die schönste Stadt in der Oblast Twer, die insgesamt reich ist an schönen kleine Städten: Kaschin, Beshezk, Stariza, Toropez gibt es da auch noch.

    Von den zehn vollständig erhaltenen vorrevolutionären Stadtvierteln, hier der pittoreske Fluss Twerza.

    Gebäude, die vor dem 17. Jahrhundert errichtet wurden, gibt es in Torshok nicht. Doch Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert in dieser Konzentration sind genauso beeindruckend wie altrussische Kirchen und Wohnhäuser.

    Praktisch direkt durch die Stadt verläuft die Autostraße Moskau – Sankt Petersburg. Insofern könnte es hier theoretisch mehr als genug Touristen geben. Man müsste sie nur mal herholen.

    Kassimow

    Kassimow ist eine der wenigen Dutzend Flussstädte, an steilem Ufer über großem Wasser.
    Solche Städte gibt es gar nicht mal so sehr im Zentrum des Landes, sondern eher an der Wolga und den großen Flüssen des Wolgabeckens.

    Da ist der quadratische Hauptplatz mit Kirche und Handelsreihen und noch die Kaufmannsvillen, doch in Kassimow hat alles auch eine asiatische Note: Im 15. Jahrhundert wurden die Stadt und die umliegenden Ländereien dem tatarischen Zarensohn Kassim geschenkt, als Auszeichnung für wichtige, dem Moskauer Fürsten erwiesene Dienste. So entstanden in der Stadt tatarische Siedlungen und die älteste Moschee in einer nicht-muslimischen Region.

    Die Atmosphäre in Kassimow ist auch insofern so besonders, als es weit abgelegen ist von den wichtigen Zentren und Hauptstraßen des Landes. 

    Die Abgelegenheit in Verbindung mit einer recht guten wirtschaftlichen Lage ließ Kassimow zu einem lokalen Zentrum werden, zu einem Anziehungspunkt für die nord-östlichen Gebiete der Oblast Rjasan.

    Gorochowez

    Gorochowez ist eine wenig bekannte Stadt zwischen Wladimir und Nishni Nowgorod. Wladimir ist ein traditionelles Zentrum auf dem Goldenen Ring, und Nishni Nowgorod ein in den letzten Jahren an Fahrt aufnehmendes Zentrum des Massentourismus.

    Gorochowez dagegen bleibt ein eher lokales touristisches Zentrum, das mehr von Menschen aus Nishni Nowgorod besucht wird. Gorochowez liegt praktisch am östlichen Rand von Zentralrussland. Was die Zahl an altrussischen Bürgerhäusern und Palästen angeht, liegt es mit Moskau und Pskow jedoch ganz weit vorn.
    Es ist insgesamt eine recht kleine Stadt, kleiner als Torshok und Kassimow. 

    Bei den städtebaulichen Umgestaltungen unter Katharina der Großen erhielten praktisch alle russischen Provinz- und Gouvernementsstädtchen ein in Rechtecken angelegtes Straßennetz.
    Es gibt sehr wenige Orte, wo die verwinkelte pittoreske mittelalterliche Stadtstruktur erhalten geblieben ist. Einer dieser Orte ist Gorochowez.
    Das historische Zentrum unterscheidet sich hier durch extreme Kompaktheit, die Altstadt misst nur 500 mal 500 Meter.
    Die Stadt befindet sich genau an dem Ort, wo die Hochebene von Wladimir und Susdal auf den Fluss Kljasma zuläuft. Für die Altstadt blieb nur eine kleine Terrasse zwischen Hügeln und Fluss.

    Daher kommt auch eine andere Besonderheit der Stadt: Das Zentrum liegt hier nicht auf einer Anhöhe, wie das in der Rus üblich war, sondern vor allem in einer Niederung, und nur die Ränder laufen den Hang der Hügel hinauf. Die Hügel werden hier natürlich Berge genannt.

    Die verhältnismäßig wohlhabende Oblast Wladimir in Verbindung mit der Nähe zu Nishni Nowgorod plus der Lage an der M7 mit ihrem regen Verkehr lassen Gorochowez gepflegter aussehen als Torshok und sogar Kassimow.

    Interessant ist, dass alle drei Städte am Rand von Zentralrussland liegen.

    Die Lieblingsstädte des Bloggers Michail Drabkin liegen am Rand von Zentralrussland
    Die Lieblingsstädte des Bloggers Michail Drabkin liegen am Rand von Zentralrussland

    Torshok – an der vormaligen Grenze des Nowgoroder Gebiets zu den südlich davon gelegenen Fürstentümern war ein Schlüsselpunkt der historischen Korntransporte in den Norden. 

    Kassimow war die südöstliche Festung der Wladimirer Rus, zwischen den Wäldern der Meschora am rechten Ufer der Oka und den Mordwinischen Wäldern am linken.

    Gorochowez ist auch eine Grenzfestung, und zwar des Fürstentums Wladimir-Susdal, östlich und südöstlich davon lagen bulgarische, mongolisch-tatarische und tatarische Besitzungen.

    Alle drei Städte entstanden ungefähr Mitte des 12. Jahrhunderts – damals erlebte die nord-östliche Rus eine Blüteperiode, alle paar Jahre wurden neue Städte gegründet, und schließlich wurde die Hauptstadt der Rus von Kiew nach Wladimir verlegt.

    Text und Fotos: Michail Drabkin/discours
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 04.07.2019

     

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  • Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.

    Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. 
    Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom.   
    Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.

    Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich 

    Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte. 

    Das Idyll der himmlischen Sowjetunion

    Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen. 

    Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.  

    Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge

    Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.   

    Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität

    Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.    

    Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu

    Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er … 

    Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend. 

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen  

    Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht. 

    Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.  

    Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor

    So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. 
    Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben. 

    Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs. 

    In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren. 

    Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl

    Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient. 

    Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.  

    Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist. 

    Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.

     

    Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD

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  • Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen Film Kolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.

    Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.  

    Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.

    Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur

    Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:

    [bilingbox]Es ist ein guter Aufklärungsfilm. Davon sollte es viele geben, und das wäre übrigens auch möglich. […] Er füllt eine Leerstelle, eine Leerstelle an der Stelle des Wortes „Stalin“. Stalin kennen alle, 100 Prozent. Aber was ist das bitteschön, was steht hinter dem Wort? Nicht alle wissen doch, dass es eine besondere Bestialität war, derer sich die Staatsmacht bediente, und zwar – ich würde sogar sagen – unter persönlichem Druck von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dass er der Autor des Ganzen war, dass er persönlich wie am Fließband Dokumente durchsah und entschied: „Plattmachen!“ Wer weiß diese Dinge?~~~Это хороший просветительский фильм, я думаю. Таких должно быть много, между прочим, и могло быть много <…>.
    [Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit

    In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:

    [bilingbox]Juri Dud hat mit Kolyma einen grandiosen Film gemacht. Auf dieser Feststellung bestehe ich. Juri Dud hat ein Filmereignis geschaffen. 70 Prozent der Russen heißen die Taten Stalins gut. Die Intelligenzija sagt dazu Ach! und Oh!. Und Dud dreht einen Film. Einen klugen Film. Sehenswert. Ernst.
    Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt. 
    Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. […]
    Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System. ~~~Юрий Дудь снял выдающийся фильм „Колыма“. Я настаиваю на этом определении. Юрий Дудь снял картину-событие. 70% россиян одобряют деятельность Сталина. Интеллигенция заахала. Дудь снял кино. Талантливое. Зримое. Серьезное. 
    Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. […] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.

    […]
    … автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: „Колыма“ – это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм – о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.[/bilingbox]

    erschienen am 05.05.2019, Original

    Livejournal/Arkadi Babtschenko: Hipper Jüngling in teuren Klamotten

    Der oppositionelle Journalist Arkadi Babtschenko sieht auf Livejournal ein Authentizitätsproblem der Doku:

    [bilingbox]Sieh an: in Kolyma ist es kalt. Wer hätte das gedacht. Moskau hat für sich den Einfluss der Kälte entdeckt: als das Vernichtende all des Menschlichen im Menschen. Eine übersättigte Community, die es fertiggebracht hat, sich aus allen Erschütterungen, Kriegen, Naturkatastrophen herauszuhalten, die das Land in den letzten 30 Jahren umfänglich mitgemacht hat, hört jetzt zu, wie ein hipper Jüngling in teuren Klamotten ihnen etwas über die Kälte erzählt. […]
    Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos.
    Nehmt eure Kinder mit.
    Und lest.~~~На Колыме, оказывается, холодно. Кто бы мог подумать. Москва открыла для себя уничтожающее в человеке все человеческое влияние холода. Сытая тусовка, умудрившаяся остаться в стороне от всех потрясений, войн, катаклизмов, которые последние тридцать лет несла их страна по всему периметру, слушают, как им про холод рассказывает модный мальчик в дорогой одежде. <…>
    Идите в библиотеки, инфантилы. 
    Детей своих ведите. 
    Читайте.[/bilingbox]

    erschienen am 03.05.2019, Original

    Swobodnaja Pressa: Wir klauen euch eure Zukunft

    Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:

    [bilingbox]Der Sinn des Films ist so banal, dass einem leicht übel wird. Der Autor sagt: Kinder, jetzt erzähle ich euch, warum ihr diesem fiesen Land nichts schuldig seid, in dem in vergangenen Zeiten solche wie ihr, nämlich Kinder, für’s Eisessen ins Lager gesteckt wurden. […]
    Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke.
    ~~~Смысл фильма банален до легкой тошноты. Автор говорит: дети, сейчас я вам расскажу, почему вы ничего не должны этой мерзкой стране, где в былые времена таких же, как вы, детей сажали за съеденное мороженое. <…>
    Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    The New Times: Guter Grund für Optimismus!

    Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden: 

    [bilingbox]Der Streit zwischen Prilepin und Dud ist grundlegend: Es geht darum, wer die Jugendlichen in die Zukunft führt und wie diese Zukunft einst werden wird. […]
    Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!~~~Спор Прилепина и Дудя принципиален, и он о том, кто поведет молодежь в будущее и каким это будущее станет. <…>
    Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма![/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2019, Original

    Spektr: Wenn man lange in einen Abgrund schaut …

    Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:

    [bilingbox]Kolyma ist in Duds Film ein Gebiet von schönster Natur und absoluter Hoffnungslosigkeit, was das Leben angeht. So kann man nicht leben. Hier kann man nicht leben. Hier herrscht ewiges Eis. Ewiges Eis und die ewige Scheußlichkeit der Verwüstung in den Seelen von Millionen Russen. Dieser Film und die Reaktion darauf ergeben ein Blutbild – es ist der Versuch der Russen, öffentlich über ihre schlimmste Tragödie zu sprechen. 
    In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.~~~Колыма в фильме Дудя предстает территорией красоты природы и абсолютной безнадежности уклада жизни. Так жить нельзя. Здесь жить нельзя. Это вечная мерзлота. Но мерзлота и мерзость запустения в душах миллионов россиян. Этот фильм и реакция на него дают «общий анализ крови» — становятся попыткой россиян публично проговаривать свою самую главную трагедию. В российской истории всегда лилось много крови. Власть всегда считала людей «человеческим материалом», «личным составом», теперь вот еще «электоратом». Этот фильм, вроде бы почти развлекательный, спокойный, с элементами обычной нормальной жизни, оказался способом для нации заглянуть в бездну. И увидеть там свое отражение.[/bilingbox]

    erschienen am 07.05.2019, Original

    dekoder-Redaktion

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  • Haltet durch, Freunde vom Kommersant!

    Haltet durch, Freunde vom Kommersant!

    Am 20. Mai wurde bekannt, dass zwei Journalisten der Tageszeitung Kommersant ihren Arbeitgeber verlassen. Daraufhin haben alle Mitglieder der Politikredaktion geschlossen ihre Kündigung eingereicht. 

    Der Sprecher des Verlagseigentümers Alischer Usmanow legt den zwei Journalisten zur Last, einen „bestellten“ Artikel geschrieben und damit gegen die redaktionellen Standards verstoßen zu haben. Beweise dafür bleiben bislang aus, sowohl die Journalisten als auch der stellvertretende Chefredakteur von Kommersant bestreiten den Vorwurf. 

    Viele unabhängige Journalisten sind bestürzt über den Vorgang, sie sehen darin einen weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Sie erinnern sich an das Schicksal des Onlinemediums Lenta.ru und des Investigativ-Portals RBC. Tenor damals: Diese beiden Medien hätten die „Verkehrsregeln“ des russischen Journalismus verletzt und dabei eine gewisse „durchgezogene Linie“ überschritten. Gemeint ist vor allem Selbstzensur. Russland nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 149 ein – von insgesamt 180.

    Die Redaktion von Meduza äußerte ihr Mitgefühl gegenüber den 13 Kollegen vom Kommersant.

    Der Unternehmer und Eigentümer der Zeitung Kommersant Alischer Usmanow hat die Kündigung zweier Journalisten der Zeitung erzwungen: Iwan Safronow und Maxim Iwanow. Dem Aktionär gefiel ein Artikel nicht, in dem es darum ging, dass Valentina Matwijenko womöglich den Posten als Sprecherin des Föderationsrates aufgibt und der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ihren Platz einnimmt.

    Der Chefredakteur und Generaldirektor von Kommersant Wladimir Shelonkin sagte gegenüber Vedomosti: „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, da beim Erstellen des Artikels die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt wurden.“ Unter anderen Umständen – sprich zu anderen Zeiten oder außerhalb von Russland – hätte Shelonkin wahrscheinlich erklären müssen, gegen welche redaktionellen Standards genau verstoßen wurde. Denn unmittelbar nach Safronow und Iwanow hat die gesamte Belegschaft der Politikredaktion von Kommersant ihre Kündigung eingereicht – als Zeichen, dass sie mit der „Entscheidung des Aktionärs“ nicht einverstanden sei.

    Es ist erstaunlich, dass sich Shelonkin ausgerechnet auf redaktionelle Standards beruft: Denn seitdem Usmanow die Zeitung gekauft hat, mischt er sich regelmäßig und, allem Anschein nach, durchaus effektiv in ihre Arbeit ein – will sagen, ein Verstoß gegen redaktionelle Standards ist eher dem Eigentümer und Chef vorzuwerfen. Aber der Kommersant hat eine phänomenale Anziehungskraft. So arbeiten trotz allem dort immer noch dutzende hochprofessionelle Mitarbeiter, für die, davon sind wir überzeugt, Zensur inakzeptabel ist. Von außen zuzusehen, wie es mit einer Zeitung schrittweise den Bach runtergeht, tut ziemlich weh; mit denen, die Teil davon sind, nicht mitzufühlen, ist unmöglich. In all den Jahren haben sowohl Mitarbeiter des Kommersant als auch ihre Leser und Konkurrenten gehofft, dass die Krise auf magische Weise enden wird – doch das ist, oh weh, nicht passiert.

    Von Quellen aus dem Verlagshaus Kommersant wissen wir, dass die Veröffentlichung über Matwijenko einen solch starken Unmut eines Aktionärs ausgelöst hat, dass sogar die Kündigung des Chefs diskutiert wurde. Stattdessen hat man jedoch den Autoren des Artikels nahegelegt zu gehen und ihnen zudem die Verletzung von Standards angelastet. Allein der Gedanke daran, wie so etwas abgelaufen sein mag, ist beschämend.

    In der Meduza-Redaktion arbeiten ehemalige Kommersant-Mitarbeiter, doch nicht nur ihnen ist es schwer ums Herz. Der russische Journalismus verliert seine Profis mit erschreckender Geschwindigkeit: Die Leute gehen nicht, um bei anderen angesagten Medien anzuheuern, sondern sie gehen in den meisten Fällen in angrenzende Berufszweige, das heißt ins Nirgendwo. Und doch trauern wir heute nicht um unseren Beruf, sondern um eine konkrete Redaktion in einer konkreten Zeitung. Wir wissen, der Kommersant ist eine Familie. Und in dieser Familie ist ein Unglück geschehen. Haltet durch, Freunde! 

    Die Redaktion von Meduza

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  • Shortparis – die Band, die immer dagegen sein wird

    Shortparis – die Band, die immer dagegen sein wird

    Musikvideos aus Russland entwickeln sich derzeit zu Exportschlagern. So haben etwa bei den Berlin Music Video Awards 2018 gleich drei Clips aus Russland abgeräumt: Leningrad (Best Music Video & Best Narrative), Aigel (Best Editor) und Little Big (Most Trashy).
    2019 stehen Shortparis auf der Nominierungsliste für Best Director – eine 2012 in Sankt Petersburg gegründete Band. Ihr Clip Straschno (Angst) vom letzten Dezember sammelte auf YouTube bislang zwar nur zweieinhalb Millionen Aufrufe, vor allem in sozialen Netzwerken sorgte er aber für großes Aufsehen.

    Straschno kam am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Kurze Zeit später veröffentlichte die Band das Video dazu, wohl zufällig parallel zu einer Reihe von Konzertverboten in Russland. Erst danach gingen Shortparis auf Tournee. 

    Derzeit spielen sie in Westeuropa, ihr Berliner Konzert am 26. April ist schon seit einigen Wochen ausverkauft. Am 16. September geben Shortparis dort aber ein Zusatzkonzert. dekoder nimmt die Tournee zum Anlass für eine Einordnung ihres viel diskutierten Videos und bringt Zitate aus Meduza sowie dem Musikmagazin Muzstorona.

    Kulturen prallen bunt aufeinander, dass es nur so kracht. Die ästhetisierte Performance der Jungs von Shortparis zeigt Wege und Lösungen des Politischen – jenseits von Worten. Shortparis selbst erklären ihr Video auf Meduza so:

    [bilingbox]Der Clip will den Zustand eines Teils der heutigen Generation festhalten. Er ist natürlich provokativ und spielt auf einige soziale Tragödien an, die aus irgendeinem Grund bis heute nicht in unserer visuellen Kultur reflektiert worden sind.
    Im Verlauf werden Trigger aufgezeigt, schmerzliche Assoziationen, gesellschaftliche Tabus, Ängste: Arabische Schriftzüge, auch wenn damit Wörter wie „Freundschaft” oder „Liebe” geschrieben sind, verbinden sich unweigerlich mit Terrorismus, rasierte Köpfe mit Neonazismus und so weiter.
    Aber erhalten bleibt nach diesem Gedankenspiel in der Trockenmasse eines: Der Zustand einer nicht artikulierten, aber wachsenden Alarmiertheit, die allen gemein ist.~~~Клип, безусловно, пытается манифестировать состояние части нынешнего поколения. Он, конечно, провокационен и намекает на ряд социальных трагедий, почему-то не отрефлексированных до сих пор в нашей визуальной культуре. По ходу вскрываются триггеры, болезненные ассоциации, общественные табу, страхи: арабская вязь, пусть ею написано слово «Дружба» или «Любовь» неминуемо связывается с терроризмом, бритые головы — с неонацизмом, и так далее. Но после этой игры смыслов в сухом остатке остается одно — состояние не артикулированной, но нарастающей тревоги, общей для всех.[/bilingbox]


    Original, 19.12.2018

    Mit ihren Clips entlarven Shortparis eine Leerstelle, meint zumindest der Musikkritiker Pjotr Poleschtschuk auf Muzstorona:

    [bilingbox]Von Shortparis stammt folgende Äußerung: „Das Politische sitzt heutzutage tief in uns, es ist nicht mehr nur etwas Soziales, sondern auch etwas tief Psychologisches.”
    Die Gesellschaft, vielmehr das, was sie ausmacht, ist einer irrationalen Angst gleichzusetzen. Die Reaktionen auf die Umwelt sind mittlerweile Gefühlsausbrüche von Zeichen, die Reflektionen und Analysen irgendwo tief unter dem Eis eingemauert haben. Ironischerweise haben Shortparis als eine Art visueller Transformation das Fehlen positiver Transformationen demonstriert.~~~Высказывание Shortparis – о том, что сегодня политическое сидит глубоко в нас, это уже не только социальное явление, но и глубоко психологическое. Содержимое социума приравнивается к иррациональному страху. А реакции на окружающий мир стали сводится к всплескам эмоций от знаков, замуровав рефлексию и аналитику где-то глубоко подо льдом. Иронично, как путем визуальных трансформаций Shortparis продемонстрировали отсутствие каких-либо позитивных трансформаций вокруг.[/bilingbox]


    Original, 27.12.2018

    Die Band aus Sankt Petersburg sei „full of revolutionary potential“, befand die britische Musikzeitschrift The Quietus, noch bevor die Fünf Straschno herausbrachten. 
    Gerade über das revolutionäre Potential von Shortparis sprach man nach der Veröffentlichung des Clips. Genauer gesagt – man rätselte, denn Shortparis arbeiten mit vielschichtigen Symbolen, mit Andeutungen und Anklängen. Was dabei herauskommt, ist mehr Konzeptkunst als Musikvideo: 
     

    [bilingbox]Die Bacchanalien von Symbolen gipfeln in der arabischen Zierschrift vor dem Hintergrund der russischen Nationalflagge. Wie stur auch immer der Major marschiert – hinter seiner gekünstelten Ernsthaftigkeit entblößt Shortparis, wie relativ und schmerzhaft anekdotisch soziale und kulturelle Vorurteile sind. 

    Bislang spiegeln Post-Punk-Gruppen die Welt als Chaos, das zu nichts Konkretem führt. Shortparis gehen weiter, zeichnen und geben dem Chaos Konturen.~~~Вакханалия символов завершается надписью арабской вязью на фоне флага России (что в итоге придало смысл выпуску сингла именно 12 числа, если вы понимаете). Как бы упрямо ни шагал майор, но за его напускной серьезностью Shortparis обнажают условность и болезненную анекдотичность социальных и культурных предрассудков. Пока большинство пост-панк групп отражает мир, как несводящийся ни к чему конкретному хаос, Shortparis идут дальше и вырисовывают хаосу контур.[/bilingbox]


    Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018

    Eine klare politische Botschaft fehlt in Straschno, dafür ist das Video gespickt mit offensichtlich unvereinbaren Symbolen: Wenn die Protagonisten eine terroristische Gruppierung mimen, die in eine Schule eindringt, kann das als Anspielung auf die Geiselnahme von Beslan verstanden werden, oder auf den Amoklauf von Kertsch im Oktober 2018, bei dem ein College-Student 20 Menschen und schließlich sich selbst erschoss. 

    Auch die massiven Jugendproteste werden damit assoziiert sowie Pogrome gegen Gastarbajtery. Sehen die Terroristen für viele etwa deshalb wie Neonazis aus? Doch warum ist das Video dann auf Arabisch untertitelt? Und dann auch als Karaoke? Warum diese abrupten Szenenwechsel und die Anklänge an eine brausende Gay-Party?

    Solche Widersprüche scheinen Shortparis auch zu leben: Mit dem russischen Jugendschutzgesetz hätten ihre Konzerte im Dezember leichterdings verboten werden können, wie die zahlreicher anderer Musiker auch. Im Februar traten die fünf Männer aus Sankt Petersburg mit Straschno aber in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant auf, im Staatssender Erster Kanal. Irgendwie sind sie Underground, gleichzeitig zieren sie aber die Cover von populären Magazinen. 

    [bilingbox]Gibt es Grund für die Annahme, dass die Botschaft von Shortparis etwas grundlegend Neues ist? Kaum. Jedoch ist es in dem stickigen Raum schwierig – sogar der Hip-Hop kommt nicht mit deutlich politischer Kritik klar (und das als zweitbeliebtestes Genre beim Publikum) – , etwas stilistisch Besseres zu entdecken als Straschno. Möglicherweise ist in der Welt politischer und kultureller Analphabeten ein solcher Ästhetizismus im Verbund mit Dreistigkeit gar nicht die schwächste Reaktion. Und das ist keineswegs ein Zugeständnis.

    Im Endeffekt liegt bei Shortparis das interessante Paradox nicht im Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ästhetik und nicht in der merkwürdigen Verbindung von Avantgarde und Pop. Das Paradox besteht darin, dass Shortparis es schafft, gleichzeitig allem und nichts Konkretem ähnlich zu sein. Denn es ist bekannt, „dass am Genie wundervoll ist, dass es allen ähnelt, ihm aber niemand.” Inwiefern das auf Shortparis zutrifft, wird die Zeit zeigen.~~~Есть ли основания считать, что высказывание Shortparis — это нечто беспрецедентно новое? Едва ли. Аналогии с небезызвестной «This is America» напрашиваются неспроста (но надо отметить, что цели у работ абсолютно разные). Однако в душном пространстве, где даже хип-хоп не справляется с внятной политической критикой (будучи вторым по популярности национальным жанром), трудно вспомнить более стильную работу, чем «Страшно». Возможно, в мире политической и культурной безграмотности эстетизм вкупе с дерзостью оказывается не самым слабым контрударом. И это ни в коем случае не скидка.
    В итоге самый главный парадокс Shortparis открывается не в столкновении противоположной эстетики и не в странном сочетании авангардной и поп музыки. Парадокс в том, что Shortparis умудряются напоминать одновременно всех и никого конкретного. И акцент здесь стоит делать все-таки на второй части предложения. Ведь, как известно, «в гении то прекрасно, что он похож на всех, а на него — никто». Насколько справедливо это в отношении Shortparis – время покажет.[/bilingbox]


    Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018


     

    Shortparis covern David Bowie – aus dem Film Leto von Kirill Serebrennikow

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