oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus
Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt.
Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern.
Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1
Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus.
Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.
S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki! Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!
eure Rike Übersetzungsredakteurin bei dekoder
1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet. Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. ↑
2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? ↑
„Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“
Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.
Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.
Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.
Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)
Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.
Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)
Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.
Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)
Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)
Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka. In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.
Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)
Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt.
Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)
Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.
Naviband: Inschymi (Als andere)
Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.
Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)
Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus.
Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)
Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste. Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.
N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)
N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik. Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.
N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk
Peremen
Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.
Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum zweiten Advent hat Heleen Gerritsen, Festivalleiterin bei goEast, Tipps für ultimative sowjetische und russische Filmerlebnisse – nicht nur im Advent. Und Geschenktipps gibt’s gratis dazu.
Von Dsiga Wertow bis Marina Rasbeshkina: Mehr noch als vom klassischen Erzählkino, bin ich ein großer Fan der verschiedenen russischen Dokumentarfilmströmungen. Das Erzählen in Bildern, die kluge Anwendung von Montagetechniken und die Offenheit vieler Protagonist*innen im russischsprachigen Raum sorgen dafür, dass der Dokumentarfilm in Russland seit jeher weit über das Niveau von informativen Fernsehreportagen hinausgeht. Anders als in Deutschland beteiligt das Fernsehen sich kaum an „kreativen“ Dokumentarfilmprojekten – auch dadurch wird der Dokumentarfilm an russischen Filmschulen heutzutage immer noch als Teil der Filmkunst und nicht als Journalismus betrachtet.
Aber wo kann man diese Filme in Deutschland sehen? Bei den Filmfestivals natürlich! goEast zeigt jedes Jahr eine Auswahl an neuen und älteren Werken, aber auch Dok Leipzig stellt traditionell viele interessanten Filme aus dem russischsprachigen Raum vor.
Und für einen anspruchsvollen Filmabend allein zu Haus im Corona-Advent: Eine Adresse für gute (osteuropäische) Dokumentarfilme ist die Online-Plattform dafilms, wo Filme im Original mit englischen Untertiteln angeboten werden. Momentan steht unter anderem eine Viktor Kossakowski-Retrospektive zur Verfügung, inklusive einer Masterclass mit dem bekannten Petersburger Filmemacher. In den letzten Jahren hat der Altmeister (mit Ausnahme von GUNDA) nach meinem Geschmack vor allem größenwahnsinnige, allzu metaphysische Filme gemacht. Auf dafilms stehen die früheren Perlen seines Filmschaffens zur Verfügung, wie BELOWY (Die Belows), LOSEV oder SWJATO, in dem Kossakowskis zweijähriger Sohn Swjatoslaw zum ersten mal sein eigenes Spiegelbild entdeckt. Außerdem auf dafilms: einer meiner absoluten Favoriten DURAKAM SDES NE MESTO (No Place for Fools) von Oleg Mawromatti, ein Film, der das Motiv des heiligen Tors (jurodiwy) ins 21. Jahrhundert katapultiert, mit einem Protagonisten voller interessanter Widersprüche.
Tipp für untern Weihnachtsbaum: Geschenkgutscheine für dafilms können online erworben werden.
Online-Filme schauen ist gut und schön. Ich würde dennoch immer dafür plädieren, dass man, falls man glücklich genug ist, ein Kino in seiner Umgebung zu haben, dass gute eigene Programme gestaltet, diesen Ort auch während der Pandemie unterstützt – soweit möglich. Für Russophile in der Hauptstadt ist dies das Kino Krokodil. In dem kleinen Ladenkino in der Greifenhagener Straße sollte in diesem Monat zum Beispiel der exzellente (wenn auch grausame) Dokumentarfilm SPACE DOGS von Elsa Kremser und Levin Peter auf dem Programm stehen. Sollte die Kinotour nach der Pandemie wieder fortgesetzt werden, ist dieser Film absolut zu empfehlen.
Auch Gutscheine für das Kino Krokodil können per Mail bestellt werden.
Wer findet, dass Hunde im Schnee besser aufgehoben sind als im Weltall, dem sei der süße Kinderklassiker WARESHKA (dt. Fäustling) empfohlen. Auf dem Youtube-Kanal des sowjetischen Animationsfilmstudios Sojusmultfilm steht der Kurzfilm, zusammen mit vielen anderen Klassikern, kostenlos zur Verfügung.
Oder schaut mal im Programmkino um die Ecke, wenn es wieder geöffnet ist. Es braucht euch jetzt mehr denn je!
Heleen Gerritsen ist Leiterin des Filmfestival goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Die Filmproduzentin und Kuratorin studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und VWL in Amsterdam und Sankt Petersburg und leitete unter anderem das europäische Dokumentarfilmfestival dokumentART in Neubrandenburg.
In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.
Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.
Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt. Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit.
Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet
Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit.
Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?
Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen.
Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung
Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.
Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?
Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus.
Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus?
Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.
Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich
Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.
War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?
Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.
Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?
Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen.
Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija
Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele. Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.
Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?
Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk. Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.
Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?
Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück.
Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus
Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben.
Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?
Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet.
Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats.
Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf.
Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama
Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes.
Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?
Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind. Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich. Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen.
Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?
Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.
Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?
Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.
Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben.
Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine
Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.
Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?
Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große.
Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen.
Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.
Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen.
Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird
Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird.
Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann.
Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?
Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?
Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.
In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.
Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten.
Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert
Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf.
Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.
Fotografin Stanislava Novgorodtseva kennt die Krim aus ihrer sowjetischen Kindheit. Heute trifft sie auf der Halbinsel auf alte Mythen und neue politische Tatsachen. Zu ihrem Fotoessay, den Coltaveröffentlicht hat, schreibt sie:
„In der Kindheit war die Krim für mich ein heiliger, unpolitischer Ort, eine Insel mit ganz eigener Mythologie, mit Spuren antiker Zivilisationen. Hier habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen. Im Schmelztiegel der Völker hat die Halbinsel Krim eine eigene Identität entwickelt. Im Jahr 1783 wurde dieser Kreuzungspunkt unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Kulturen Teil des Russischen Reichs. Mit Entstehen der UdSSR entwickelte sich die Krim mit ihrer Zarenresidenz zu einem erschwinglichen Erholungsgebiet für den Sowjetmenschen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte die Krim zur Ukraine, im März 2014 stand die Krim plötzlich im Zentrum politischer Auseinandersetzungen. Die neuen Realitäten führten auch bei mir zu Korrekturen im Verhältnis zu diesem Ort. In die Welt der Kindheit und der dortigen Mythologie mischte sich eine neue politische Ebene.“
Treffen sich zwei intellektuelle Schwergewichte und treten in den Ring, die Schriftsteller Boris Akunin und Dimitri Bykow: Wie das denn nun sei mit dem heutigen Russland und der Sowjetunion und ob man beide Staaten vergleichen könne. Wie aus einem Interview für die Novaya Gazeta fast ein Streitgespräch wird, in dem für Sowjetnostalgie nicht viel Platz bleibt …
Im Gespräch mit Ihnen möchte ich etwas für mich Wichtiges aussprechen. Ich will nicht sagen, dass ich die UdSSR liebe, vieles an ihr hasse ich, aber jetzt ist es hier schlimmer. Und ich versuche zu verstehen, warum es schlimmer ist. Stimmen Sie mir zu? Und falls es jetzt besser ist, dann inwiefern?
Ich verstehe ja, warum andere Leute nostalgisch sind, wenn sie sich an die Sowjetunion oder einzelne ihrer Aspekte erinnern: Sie waren damals jünger, gesünder, glücklicher, der Himmel war blauer oder sie lebten damals besser als die anderen, und jetzt leben sie schlechter als die anderen, oder sie haben (ich spreche von den ganz jungen Menschen) irgendwelche Filme gesehen und so weiter. Aber für Sie, als freiheitsliebenden Dichter, der damals in der Sowjetzeit gelebt hat und zu dem wurde, der er ist, was ist daran für Sie verlockend? Was vermissen Sie?
Drei Dinge. Erstens, dass Nationalismus verpönt war und Internationalismus zumindest proklamiert wurde, auch wenn er niemals irgendwo ideal umgesetzt wird, auch nicht in den USA, doch man hatte ihn sich immerhin auf die Fahnen geschrieben. Zweitens, die Religion stand an der ihr gebührenden Stelle. Und drittens der Kult der Aufklärung, des Intellekts, der in der UdSSR herrschte. Das heißt, die Sowjetunion orientierte sich mehr oder weniger an Werten des späten 18. Jahrhunderts, an Werten der Aufklärung, und nicht plump an Werten angeborener Gegebenheiten wie Geburtsort, Alter, Geschlecht, Nation et cetera.
Mit einer Blutsaugerin kann man immerhin diskutieren. Aber der [heutige – dek] Räuber wird erstens auch leicht zum Blutsauger, und zweitens hat er überhaupt keine Prinzipien, er bringt dich für seinen eigenen Vorteil einfach um, und Schluss. Die Sowjetunion war kein Monolith, sie bestand aus mindestens vier Teilen: Es gab die Sowjetunion der 1930er, der 1940er, der 1960er und der 1970er Jahre – das sind absolut verschiedene Länder. Mir gefällt die Sowjetunion vom Anfang der 1970er Jahre.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie sehnen sich in die Zeit zurück, „als das ans Ufer schlagende Wasser klirrte und rauchte“ …
Nein, den Zeiten der Bolschewiki trauert keiner nach.
Gott sei Dank. Das heißt, versuchen wir mal, die zweite Hälfte, die – nennen wir sie, „vegetarischen“ – zweiten 35 Jahre mit dem heutigen Russland zu vergleichen. Ich habe dafür ein Stufensystem, weil ich gern alles in Würfelchen, Quadrate und Skalen einteile, damit fällt es mir leichter, die anders nicht messbare Realität zu begreifen.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute
So habe ich ein fixes Kriterium, an dem ich die Qualität einer Gesellschaft oder eines Staates festmache. Es gibt zwei Parameter: Parameter Nummer eins ist die Freiheit, mit der die Menschen, die hier leben, ihren Lebensweg wählen können. Die Freiheit, ein Leben zu leben, das man sich selbst ausgesucht hat und das einem nicht von außen aufgedrückt wurde. Je höher der Grad dieser Freiheit für den Einzelnen in einer Gesellschaft, desto besser ist meiner Ansicht nach die Qualität dieser Gesellschaft. Der zweite Parameter ist auch sehr wichtig, das ist das Niveau der staatlichen Fürsorge für jene, die es im Leben aus welchen Gründen auch immer schwer haben.
Menschen mit Behinderung, alte Menschen …
Es ist klar, dass ein vernünftig organisierter kapitalistischer Staat besser fertig wird mit der Erfüllung der ersten Aufgabe – mit der zweiten müsste ein sozialistischer Staat besser fertig werden. Doch die Sowjetunion hat, wie wir wissen, dabei ziemlich versagt. Ich kann mich sehr gut an diese sowjetischen Polikliniken erinnern, die sowjetischen Medikamente, die berühmten Kindergärten, in die ich ging wie zur Zwangsarbeit, das Essen, das die armen Kinderchen dort vorgesetzt bekamen. Und da sehe ich keinen besonderen Unterschied: Die Polikliniken waren damals reinster Horror und sind heute reinster Horror. Sehen wir uns den ersten Parameter an, die freie Wahl des Lebenswegs: Wenn ich an mich selbst zurückdenke als Kind, als Teenager, der in der Sowjetunion lebte. Wie hoch war da der Grad an Freiheit? Bei jeder Bewegung stieß man zuerst auf sein persönliches Datenblatt, in dem es zig Stolpersteine gab: Man hatte entweder die falsche Nationalität oder die falschen Verwandten: Solche, die seinerzeit [während des Zweiten Weltkriegs] in okkupierten Gebieten gewohnt hatten, oder solche, die im Ausland lebten …
Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl
Und es gab noch eine sehr schwerwiegende und für viele Leute (auch für mich) absolut unüberwindbare Hürde, die in Michail Schischkins Roman Venushaar heißt: „Bekenne dich dazu, ein Härchen in des Teufels Pelz zu sein.“ Die Wahl vieler Berufe, jede Art von Karriere hing grob gesagt davon ab, ob man Mitglied der KPdSU wurde oder nicht. Das hatte einen zutiefst rituellen, widerwärtigen Sinn, man musste in diesen Versammlungen sitzen, musste für irgendeinen Blödsinn stimmen oder für Sauereien wie den Einmarsch in die Tschechoslowakei, oder für die Verurteilung eines weiteren Ausreißers und Dissidenten. Für mich zum Beispiel war das absolut unmöglich. Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl. Daher trat ich mit 23 Jahren [nach Ende des Studiums – dek] hinaus ins große Leben, schmiedete keine Pläne, dachte überhaupt nicht an morgen, das war zwecklos.
Was ist das für ein Land, wo ein 23-Jähriger mit Hochschulabschluss keine Pläne hat und nichts werden will, weil er weiß, dass er in diesem Land nichts wird, wenn er nicht etwas tut, was ihm zutiefst zuwider ist?
Wie Sie bestimmt schon erraten haben, gefällt mir Putins Regime nicht, und zwar so sehr nicht, dass ich einfach nicht in dem Land leben will, über das er bestimmt. Und doch, wenn Sie sich das Bündel von Lebensentscheidungen ansehen, vor dem der Mensch jetzt steht, der junge Mensch genauso wie der nicht mehr junge, dann ist das etwas völlig anderes.
Das ist aber deswegen etwas völlig anderes, weil es bei Ihnen in der Sowjetunion, besser gesagt bei uns in der Sowjetunion, noch Berufe gab, aber der heutige Mensch kann seinen Beruf gar nicht mehr wählen. Es gibt noch genau zwei Berufe: Ölförderer und Ölwächter. Außer Ölraffern und Silowiki gibt es nichts mehr im heutigen Russland. Die Perspektive, nach der Universität arbeitslos zu werden, ist viel hundertprozentiger, drängt sich viel stärker auf als in der Sowjetzeit. Niemand wurde zum Parteibeitritt gezwungen, im Gegenteil, für manche Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel für Beamte, war der Eintritt in die Partei gar nicht so einfach: Da gab es äußerst strenge Filter. Um Chef zu werden, musste man der Partei beitreten, aber um ein rechtschaffener Journalist zu sein, war das vollkommen unnötig, und in der Literaturnaja Gaseta gab es solche massenhaft.
Ich habe selbst in einer Redaktion gearbeitet. Der rechtschaffene Journalist von 1982 war einer, der keinen Plunder schrieb. Aber auch keiner, der die Wahrheit schrieb und das, was er wirklich dachte, nicht wahr? Dazu, dass es heute keine Berufe mehr gibt außer zwei: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, aber von den Landsleuten, die ich persönlich kenne, gehört da kein einziger dazu. Und alle haben Berufe und arbeiten in den verschiedensten Bereichen.
In welchen denn zum Beispiel?
Der eine schreibt, die andere programmiert Software, der Nächste verfolgt sonst irgendeine ordentliche Tätigkeit.
Grigori Schalwowitsch, wer zahlt denn diese Informatiker, für wen programmieren sie denn? Zu 90 Prozent sind das staatliche Behörden. Was gibt es denn in Russland sonst? Waffen und Rohstoffe.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen … Eines der positivsten Phänomene, die sich im heutigen Russland beobachten lassen, ist, dass in diesem Land trotz allem der Kapitalismus funktioniert. Die Gesetze von Privateigentum und privater Unternehmerschaft. Enorm viele Leute sind selbständig. Das ist ein Land, in dem sich auf unglaubliche, fantastische Art und Weise ein Dienstleistungssektor entwickelt hat, in dem eine Menge Leute beschäftigt sind.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen …
Und viele schreiben nicht auf Befehl von oben … Zum Beispiel äußern Sie sich abfällig über Internet-Journalismus, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das ist eine Szene, aus der regelmäßig sehr starke, talentierte Leute hervortreten, die keine Redaktion reinlassen würde.
Grigori Schalwowitsch, ich habe größten Respekt für den YouTuber Juri Dud, aber Dud ist ein Abklatsch von Parfjonow, und Parfjonow ist, so schlimm das auch sein mag, ein Produkt der Sowjetunion. So wie auch Sie ein Produkt der Sowjetunion sind. Denn, wissen Sie, man muss ein Imperium nach seinem Output beurteilen. Der Output dieses Imperiums waren zwei Generationen sowjetischer Intelligenzija der Extraklasse.
Erstens sind Sie selbst ein Produkt der Sowjetzeit. Zweitens hat sie mich in professioneller und kreativer Hinsicht überhaupt nicht beeinflusst. Im Gegenteil, während ich in der Sowjetunion lebte, dachte ich mit Befremden daran, dass es, sowas aber auch, Leute gibt, die Schriftsteller werden, in meinen Augen war das damals fast ein ehrloser Beruf. Ich wurde erst ungefähr zehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion Schriftsteller, zu einer Zeit, in der ich schon zu vergessen begann, was das gewesen ist. Dazu brauchte es eine sehr gründliche innerliche Befreiung. Weil, wie Sie wissen, ein Schriftsteller, der innerlich unfrei ist, wird niemals etwas Brauchbares zustandebringen. Nicht wahr?
Da bin ich mir nicht so sicher. Wer ist schon innerlich frei? Für mich ist innere Freiheit ein zu abstrakter Begriff. Erinnern Sie sich, Pasternak sagte: Unfrei ist der Apfelbaum, der Früchte trägt, unfrei ist der Verliebte … Ja, was soll innere Freiheit sein? Ein abstrakter, absoluter Begriff. Natürlich war ich, als ich im sowjetischen Russland lebte, unfrei, aber in Putins Russland hab ich viel mehr Angst. Weil, wie Maria Rosanowa ganz richtig sagte: Im sowjetischen Russland gab es Ufer, wir wussten, was sie mit uns machen können. Aber was die heute mit uns machen können, wissen wir nicht, das kann alles sein. Wissen Sie, die Sowjetunion war ein Gewächshaus, ein entsetzliches, aber immerhin ein Gewächshaus, eng und schwül, aber ein Gewächshaus. Wissen Sie, woran mich die Sowjetunion erinnert? An eine alte, dumme, unfähige Lehrerin, der es aber immer noch gelang, den einen oder anderen in der Klasse von der Kriminalität abzuhalten. Doch dann haben Banditen die Macht ergriffen, freie und fortschrittliche, bewaffnet bis an die Zähne.
Seltsam. Ich habe gegen die Sowjetunion, gegen dieses ganze System, abgesehen von den rationalen Einwänden, die ich Ihnen schon genannt habe, auch noch Einwände emotionaler Natur, und wenn ich anfange, darüber nachzudenken, dann … Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist.
Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung, in der ihr Leben verlief, ist absolut unverzeihlich und unerträglich. Dieses System, das in den Menschen das Gefühl der eigenen Würde zertrampelte – das Wertvollste, was die Evolution hervorgebracht hat –, und noch dazu völlig absichtlich, das scheut für mich jeden Vergleich.
Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist. Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung
Schauen Sie … Gut, im heutigen Russland, wenn du da deine eigene Weltanschauung hast und dich darüber äußern möchtest, dann hast du es schwer im Leben, ja? Aber es ist eine Frage des persönlichen Mutes und der persönlichen Entscheidung, und in Wahrheit wird dir wahrscheinlich gar nichts so wahnsinnig Schlimmes …
Nein, Grigori Schalwowitsch, dann haben sie keine Ahnung von dem Delo Seti. Wenn Sie Ahnung hätten, wüssten Sie, dass es schlimmer ist als in den 1970ern.
Ich habe Ahnung von Delo Seti. Ich verstehe und sehe diese Tendenz sehr wohl, wie die Spezialeinheiten die ganze Zeit versuchen, ihre Möglichkeiten auszuweiten, sie versuchen es die ganze Zeit: Können wir dies schon machen, können wir jenes schon machen? Und das autoritäre System gesteht ihnen permanent zu: Ja, jetzt könnt ihr auch dies, und jetzt auch jenes. Diesen Prozess sehe ich genau, das ist ein grauenhafter und sehr gefährlicher Prozess. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass sich diese Frage den Tschekisten in der Sowjetzeit nicht einmal gestellt hat, weil sie sowieso alles tun konnten, und niemand auch nur einen Mucks machte.
Ich sage jetzt etwas ganz Trauriges. Natürlich gab es in der Sowjetunion zwei Lebenssphären: Es gab die Hölle für alle und die Scharaschki, eine Art Fegefeuer, für einige wenige. Scharaschki gab es in der UdSSR mitunter als so kleine Inselchen intellektueller Aktivität.
Na ja, ich weiß nicht, ich kann das schwer beurteilen, immerhin lebe ich schon ziemlich lange [seit 2014 – dek] nicht mehr in Russland und bin nicht auf dem Laufenden. Aber weiß der Teufel, also, die Behauptung, dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Ich habe den Eindruck, die heutige junge Generation ist viel besser als wir damals. Ich erinnere mich an mich selbst, ab dem Moment, wo ich eine eigene Meinung hatte, da war ich wahrscheinlich 14 oder so, weil bis zu diesem Alter glaubt man ja irgendwie alles. Man wächst auf in einem Kindergarten, wo ein Porträt von Opa Lenin hängt, dann ist man Pionier, man marschiert durch die Straße und denkt: „Wenn uns Wladimir Iljitsch jetzt nur sehen könnte, wie wir herrlich und fein leben, und wie schlecht es die armen Kinder in Amerika haben.“ Dann kommt die Pubertät, und im Kopf beginnt sich etwas zu rühren. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, wo das bei mir passiert ist, aus einem nichtigen Anlass. Im Englischunterricht mussten wir Hamlets Monolog auswendig lernen: To be or not to be — that is the question. Whether it is nobler in the mind to suffer … und so weiter. Und plötzlich begriff ich den Sinn dessen, was Shakespeare schrieb: dass nämlich die philosophische Hauptfrage des Seins nicht die Frage ist, was zuerst da war: die Materie oder das Bewusstsein, sondern die Frage, ob dieses Leben mit all seinen Hässlichkeiten es wert ist, sich diesen Film zu Ende anzusehen.
Ja, stimmt absolut.
Das war mein erster eigenständiger Gedanke im Leben, und ich war so dermaßen stolz darauf, dass ich begann, alles rundherum einer Bewusstmachung und Neubewertung zu unterziehen. Und sofort in der ersten Schulstunde zog ich in Zweifel, was unsere Lehrerin sagte, da ging es gerade um Leninismus oder Ähnliches.
Dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er-Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Zu der Zeit, nach der zehnten Klasse, war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte und wusste: Das, was man denkt, darf man nicht laut sagen. Und als ich mein Studium begann, war ich nur von solchen jungen Leuten umgeben, das waren die Studierenden der 1970er Jahre. Das war ein unglaublich abgebrühter, berechnender Zynismus. Ich habe manchmal Online-Gesprächsrunden mit Studierenden oder Schülern, ich lese in sozialen Netzwerken und ich sehe: Die sind viel besser als wir damals, mein lieber Herr Gesangsverein.
Nach der zehnten Klasse war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte
Grigori Schalwowitsch, eine Frage, die mir sehr wichtig ist. Ich habe sehr auf Ihr Buch gewartet, auf Ihren Band über die Petrinische Epoche, und habe mit Schrecken festgestellt, dass Ihre Meinung über Peter den Großen generell vorwiegend negativ ist. Mir schien, dass das mit Ihrer Einstellung zur Sowjetunion zusammenhängt. War denn nicht das ganze russische 19. Jahrhundert, das goldene Zeitalter, ein Produkt Peters des Großen?
Wissen Sie, ich habe auch immer gedacht, Peter hat ein Fenster nach Europa aufgestoßen und Russland in Richtung irgendwelcher vor-aufklärerischer Werte gerückt. In der näheren Auseinandersetzung sah ich, dass das gar nicht wahr ist. Also, er hat natürlich ein Fenster aufgestoßen, aber die Tür hat er zugelassen. Das war ein vergittertes Fenster, durch das jene hinaussehen durften, denen das gestattet war. Was hat Peter gemacht? Er hat das zermürbte Moskauer Zarenreich des 17. Jahrhunderts übernommen, in dem es eigentlich keine richtige Vertikale gab und das nach der Zeit der Wirren völlig am Ende war. Tatsächlich hat Peter eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, ähnlich wie in der Goldenen Horde, eine absolute Vertikale, in der alle Entscheidungen ausschließlich an einer Stelle getroffen wurden, die sich im Kopf des Herrschers befand, und alle Entscheidungen kamen nur von dort. Das ist keine Europäisierung, das ist eine absolute Asiatisierung, getarnt mit Perücken, Miedern und Spangenschuhen. Was das 19. Jahrhundert betrifft und damit die russische Literatur, also jene Kultur, aus der wir alle hervorgegangen sind, so verdanken wir sie, wie mir jetzt klar ist, nicht Peter, sondern Katharina, sie entstand also wesentlich später.
Na ja, Katharina ist ja auch eine etwas blassere Variante von Peter, sein Spiegelbild.
Aber nein, gar nicht, überhaupt nicht. An Katharina ist, wie mir scheint, in historischer Hinsicht das Interessanteste, dass sie erstmals in der russischen Geschichte Soft Power effektiv eingesetzt hat.
Peter der Große hat eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, eine absolute Vertikale
Katharina hat ein unglaublich produktives und faszinierendes Know-how entdeckt: Sie hat demonstriert, dass man die besten Ergebnisse erzielen kann, nicht indem man mit Enthauptung oder Pfählen droht, sondern indem man Belohnungen verspricht, und dass der Zarenthron kein Horrording ist wie unter Iwan dem Schrecklichen, sondern eine Art Sonne, zu der man hinstreben soll, um sich an ihren Strahlen zu wärmen. Und wie sich herausstellte, funktionierte das wunderbar.
Wissen Sie, es geht doch immer um dieses Verhältnis zwischen dem Russischen und dem Sowjetischen. Für manche ist das Sowjetische die Fortsetzung des Russischen, doch für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe, und man weiß nicht, ob besser oder schlechter. Wie sehen Sie das?
Für mich geht es da um das Verhältnis vertikal oder horizontal. Der russische Staat wurde als superzentralisiertes vertikales Modell errichtet, von oben nach unten wie bei Dschingis Khan, wo alle Entscheidungen oben getroffen und wie ein Staffelstab nach unten weitergegeben wurden.
Wenn der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern
Ich sehe nichts Nationales und Fatales in diesem Schema, jedes Volk, das man in dieses Schema presst, wird so. Ich bin überzeugt, wenn Russland in ein paar Jahren aufhört, ein superzentralisierter Staat zu sein, und zu einer normalen Föderation wird, wo alle oder 90 Prozent der Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen, vor Ort gefällt werden und der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern.
Was ich noch gern verstehen würde: Derzeit entwickelt sich in Russland, wie bei uns geschrieben wurde, ja eine Art Föderalismus, und zwar aus einer Richtung, wo man es nicht erwartet hat. Putin erlaubt den Regionen, autonom zu entscheiden. Daraus wird nichts werden, weil sie so oder so auf die Signale von oben hören. Glauben Sie denn, dass die Pandemie in Russland eine Horizontalisierung bringt?
Ich glaube, für Putin ist das ein gefährliches Experiment, das davon zeugt, dass er die Natur des Staates, den er errichtet hat, nicht wirklich durchschaut. Jede Schwächung der Vertikale und Delegierung realer Macht in die Regionen ist ein Risiko. Weil in vielen Regionen unfähige Gouverneure sitzen, die nichts erreichen. Aber es kann durchaus die eine oder andere aktive Person auf den Plan treten, die ihre Verantwortung spürt, etwas in Angriff nimmt und sich als besser erweist als die Zentralmacht – und sich damit eine gewisse Beliebtheit, ein gewisses Vertrauen der Bevölkerung verdient.
Und sofort eins auf die Mütze kriegt.
Alle kriegen eins auf die Mütze, aber wenn sich die Spielregeln ändern, tauchen diese Mützen oft wieder auf. So ist der Mensch beschaffen. In der Sowjetunion bekamen es alle so dermaßen auf die Mütze, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Aber sobald dieses System in die Binsen ging, ins Schlingern geriet, waren sofort unglaublich viele eindrucksvolle, ehrenhafte, mutige Leute da, erinnern Sie sich.
Der sowjetische Patriotismus basierte auf Überzeugungen, darauf, dass wir ein Land sind, das anders tickt. Der Patriotismus in Putins Epoche basiert zur Gänze auf Ressentiments: Ja, wir sind so und so, und wir sind stolz und glücklich, dass wir nicht anders sein können, und die ganze Welt wird uns, sorry, in den Arsch kriechen. So ungefähr. Finden Sie nicht auch, dass der sowjetische Patriotismus weniger militarisiert war, nicht so großspurig, so unverfroren, dass er anders war?
Reden wir jetzt vom offiziellen Patriotismus oder vom Patriotismus im Massenbewusstsein? „Wir zogen durch die halbe Welt, wenn‘s sein muss, gerne wieder“ – soll das eine friedliche Rhetorik sein? Dass bei uns in der Schule im Wehrkundeunterricht an der einen Wand eine Atombomben- und an der anderen eine Wasserstoffbombenexplosion hing und unsere Mädchen brav dasaßen und Kalaschnikows zerlegten – war das friedliche Rhetorik?
Ich glaube, ein anständiger Mensch soll das tun, was seinem Anstand nicht zuwiderläuft. Wir sind alle verschieden, jeder von uns hat erstens andere Lebensumstände und zweitens ein anderes öffentliches Auftreten. Aber ich glaube, jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören.
Erwartet Russland das Schicksal der UdSSR, und wann?
Sie meinen offenbar den Zerfall? Ich halte das für absolut nicht ausgeschlossen, weil das aktuelle Regime, auch wenn es glaubt, die Einheit des Staates mit allen Kräften zusammenzuhalten, diese meiner Meinung nach untergräbt. Weil ein Staat, der sich nur an einer Schraube hält, ein sehr schwaches Modell ist: Wenn diese Schraube abbricht, zerfällt alles in Stücke.
Jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören
Wie realisierbar ist Ihrer Einschätzung nach die Utopie der Föderalisierung, die Sie in Glückliches Russland beschreiben?
Durchaus realisierbar. Ich glaube, das eigentliche Hauptproblem, die Hauptkrankheit der russischen Staatlichkeit, wird sich auflösen, wenn Russland zu den Vereinigten Staaten von Russland wird. Zu einer echten Föderation mit mehreren profilierten Hauptstädten, mit Möglichkeiten für die Menschen vor Ort, die eigenen Behörden besser zu kontrollieren, sodass im Zentrum nur die vereinigenden Vorrechte verbleiben, internationale Beziehungen, Verteidigung, einige große, landesweite Projekte. Und das genügt vollauf. In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden. Behandle einen Menschen wie einen Erwachsenen, und er wird anfangen, sich zu benehmen wie ein Erwachsener.
Wenn diese wichtigste Schraube abbricht, wird es dann besser?
Nach den Grauen kommen normalerweise die Schwarzen. Lang werden sie sich natürlich nicht halten können, weil sie unfähig sind, irgendwas zu verwalten oder auf den Weg zu bringen.
Aber eine gewisse Zeit halten sie sich?
Ja, das ist möglich und sehr bedrückend.
Hätte die Sowjetunion alternative Entwicklungsmöglichkeiten gehabt? Ich meine, hätte die Katastrophe der 1990er Jahre verhindert werden können?
Ich glaube, eine große verpasste Chance war die nicht erfolgte Unterzeichnung des Vertrags von Nowo-Ogarjowo über die Union Souveräner Staaten, das, was der eigentliche Grund für den Putsch war. Weil die Leute, die den Putsch unternahmen, richtige Horden-Etatisten waren, denen klar geworden war, dass dieses System am Ende war.
In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden
Wenn die Sowjetunion im August 1991 anstatt zu zerfallen zu einer solchen Konföderation geworden wäre, ähnlich der Europäischen Union, nur eben im eurasischen Raum, dann hätte, glaube ich, alles anders kommen können.
Viele fragen: Haben Sie nicht das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, dem heutigen Russland den Rücken zu kehren und ein eigenständiges Leben zu beginnen?
Na ja, also, ich sage das jetzt ohne Schmeichelei. Ich glaube, Russland ist ein enorm interessantes und großes Land, nicht im imperialen Sinn, sondern im Hinblick auf sein energetisches und kulturelles Potenzial, das über unzählige Generationen angesammelt wurde. Es ist ein Land mit unglaublichem Potenzial und unglaublichen Möglichkeiten. Es macht schwere Zeiten durch, wird vielleicht noch schwerere durchmachen, aber mir scheint, Russland hat gute Chancen, irgendwann endlich ein glückliches Russland zu werden.
Putin-Memes erobern das RUnet: Eine kleine Geschichte in Text und Bild von den Anfängen bis heute.
Putin in seinen ersten Amtszeiten – das war ein Leader, der als Action Man westliche Politikexperten, ja, die ganze Welt faszinierte. Er machte sich Himmel und Meerestiefen untertan, zähmte wilde Tiere und besiegte seine Gegner in sportlichen Wettkämpfen. Er flog mit Kranichen, tauchte nach antiken Amphoren, wagte sich in den Käfig des Tigers. Obwohl diese Abenteuer zu dick aufgetragen, allzu extravagant waren und eindeutig nach PR-Aktionen rochen, enthielten die Memes damals – bei allem Sarkasmus der Internet-User ihrem Helden gegenüber – einen Hauch von Begeisterung für den jungen, sportlichen Politiker.
Memes sind immer ein Produkt der Lachkultur und bedeuten im Normalfall Angriff und nicht Verteidigung, doch in diesem Fall hat das Land, das die Nase voll hatte von der Altersschwäche seiner Vorgänger, Putin angesichts seiner äußerlichen Härte scheinbar das eine oder andere No-Go verziehen.
Viele Fotos, die in Medien und Massenkultur populär wurden (etwa Putin mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, Putin am Steuer eines Kampfjets und so weiter) dienten als Schablonen für visuelle Memes – da saß Putin nicht mehr auf einem Pferd, sondern auf einem Bären, führte statt der Kraniche die Stinte zu den Laichplätzen oder verkörperte in mysteriösen dunklen Brillen die Rolle des Agenten 007.
Diese Memes ironisierten nicht nur die verbissene Konstruktion eines positiven Images des Politikers in der offiziellen Propaganda, sondern trugen mit dokumentarischem Bildmaterial sogar noch zusätzlich zum Vorankommen des nationalen Leaders bei – als willensstarker Mensch, der nur so strotzt vor Männlichkeit. Gleichzeitig konnte ihm das Land etliche verbale Ausrutscher, die Putins erbarmungslosen Charakter zum Vorschein brachten, nicht nachsehen. So gelangte die kurze und zynische Antwort des Präsidenten auf die Frage eines Journalisten, was mit dem U-Boot Kursk passiert sei („Es ist untergegangen“) zu trauriger Berühmtheit und wurde lange zu aggressiven verbalen Memes verarbeitet, die den Politiker charakterisierten und die Haltung der Internet-User ihm gegenüber zum Ausdruck brachten.
Mit der Zeit nahm das Putin-Bild in den Memes andere Züge an. Besonders deutlich wurde das in den vergangenen Jahren. Etwa 2017/2018 speiste sich die Aufmerksamkeit der RUnet-User für Putin nicht nur aus seiner täglichen Arbeit als Staatsoberhaupt, sondern auch aus seiner abermaligen Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl. Das russische Publikum reagierte auf alle Etappen von Putins Wahlkampf mit Memes, aber besonders aktiv in Bezug auf zwei Themenkreise: die Alternativlosigkeit des Politikers im Präsidentenamt und seine Unabsetzbarkeit.
„Sie dürfen nicht für sich selbst stimmen“ – „Ach komm schon“ „Eine Person darf das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben“ – „Ach komm schon“ „Der Präsident ist der Garant der Verfassung“ – „Ach komm schon“ „Man sagt, dass Medwedew eine Datscha hat, die 30 Milliarden Rubel kostet“ – „Ach komm schon“
Die offensichtliche Verärgerung der Internet-User über den ersten Themenkreis der politischen Wirklichkeit Russlands entlud sich zum Beispiel in Form der aktiven Produktion von Memes über den Stimmzettel, den die Zentrale Wahlkomission im Februar 2018 vorlegte. Das Besondere daran war, dass im Unterschied zu den anderen Kandidaten neben dem Namen des amtierenden Präsidenten keine näheren Informationen standen (Arbeitsplatz, Biografie etc.), sondern nur ein paar äußerst lakonische Sätze. „Harte Jungs brauchen nicht viele Worte“, „Zar, einfach Zar“, „Siehst du Idiot nicht, bei wem du dein Kreuz machen sollst?“, so reagierten User sozialer Netzwerke.
Den zweiten Themenkreis betreffend (die Unabsetzbarkeit des Staatsoberhaupts, die viele zermürbte) wurde ein Bild mit dem Slogan verbreitet: „Wer die Inauguration von Wladimir Putin als Präsident Russlands verpasst hat – macht euch nichts draus, guckt einfach die nächste“ (9. Mai 2018).
Ein anderes Beispiel ist ein Demotivator von Ende März 2018, basierend auf einem berühmten Bild aus dem Film Hundeherz (eine beliebte Grundlage für Memes), wo Professor Preobrashenski in komischer Verzweiflung die Stirn in die Hand stützt und Scharikow zu ihm sagt: „Gut, dass Putin wieder gewonnen hat. [sic!] Der wird aufräumen, seit 18 Jahren Korruption und Saustall im Land …“
Und natürlich ist auch das Thema Zweifel an der Sauberkeit der Präsidentschaftswahl nicht vom Tisch – 3060 Likes erhielt gleich in der ersten Stunde nach Veröffentlichung (18.3.2018, Wahltag) auf Vkontakte ein scherzhaftes Tortendiagramm des Wahlergebnisses, das in zwei gleiche Hälften geteilt ist: Eine zeigt an, wie viele „Putin gewählt“ haben, die andere, wie viele „ohne es zu wissen Putin gewählt“ haben.
Putins Persönlichkeit erregt auch abseits von großen Ereignissen wie Präsidentschaftswahlen die Aufmerksamkeit des Internets; teils wachsen sich absolut alltägliche oder scheinbar zufällige Ereignisse seines politischen oder privaten Lebens zu Memes aus. So war Putin Held eines der berühmtesten Memes zur Fußballweltmeisterschaft 2018. Als es während der Siegerehrung in Moskau wie aus Eimern zu schütten begann, war der russische Präsident der Einzige, über den ein Schirm gespannt war (im Gegensatz zu den neben ihm stehenden Staatsoberhäuptern von Frankreich, Kroatien etc.). Virale Verbreitung fanden schon die Original-Fotos der Szene, danach wurden sie außerdem mit Photoshop zu neuen Memes verwertet; noch größerer Beliebtheit erfreuten sich dann verschiedene Messages rund um dieses Thema, die Putins mangelnde Höflichkeit beanstandeten.
Abgesehen von Ereignissen des politischen Lebens werden im RUnet auch die verbalen Äußerungen des Politikers Anlass zu Memes. Viel Netz-Verarsche zog zum Beispiel seine Behauptung nach sich, gewisse interessierte [ausländische] Dienste würden Biomaterial der Russen sammeln.
Ausgehend vom Geständnis des Präsidenten, er sei Leutnant der Artillerie (Januar 2019), entstand eine Vielzahl von Memes nach dem Muster der Fortsetzung des Satzes „Putin gestand, er sei …“: „… ein Zauberer“, „… einer von den Jungs, die einfach das Leben lieben“, und sogar „… eine Meereskönigin“. Na, und in den letzten Monaten haben natürlich die Verfassungsänderungen, die Nullsetzung der Amtszeiten und die Motive aus seinen Ansprachen an die Nation (zum Beispiel die „Petschenegen und Polowzer“, die als Memes buchstäblich die sozialen Netzwerke eroberten) eine Flut von enttäuschten und witzigen Posts ausgelöst (ein populärer Tweet lautet „Wegen der Quarantäne darf Putin sein Amt nicht verlassen“).
Wer ist das? Unser Zar. Bei ihnen ist Zarentum? Aber was für eins.
Das russische Publikum bildet die nichtigsten mit Putin zusammenhängenden Nachrichten, Verhaltensweisen, verbalen oder emotionalen Unachtsamkeiten in Form von visuellen und textuellen Memes (meist mit sarkastischem Unterton) nach. Das zeugt einerseits immer noch von großem Interesse für diese Figur im Netz, andererseits ist das nicht das beste Zeichen für den Präsidenten: Mangels bedeutender und ernsthafter Entscheidungen, die die Nation erwartet, triggern lokale Kinkerlitzchen die Meme-Kreativität, die ein Bild herabwürdigen, das ohnehin schon einen guten Teil seines Charismas eingebüßt hat.
Übrigens warnen Politikpsychologen schon lange, dass Putins Attraktivität für die Wähler immer mehr von der Lage im Land abhängt und immer weniger von seiner Fähigkeit, Eindruck beim Publikum zu schinden. Deutlich ernster sehen heutzutage allmählich Memes mit dem Staatspräsidenten aus, wenn sie nicht einfach von Putin als Politiker handeln, sondern von Putin als Verkörperung der russischen Staatsmacht. Das ist nicht mehr nur Ironie über unvorsichtige Äußerungen oder spontane Handlungen. Sehr viel dazu, wie die Internet-User den Präsidenten sehen, sagt ein beliebtes Meme im Stil eines sowjetischen Plakats: Putin, wie er mit ausgestreckter Hand ein dickes Buch Menschenrechte in Russland von sich weist mit den Worten „Wozu diese Formalitäten?“.
Man kann sagen, dass Memes die Situation spiegeln, die heute in „großen“, ernsthaften Analysen untersucht wird, die sowohl Putins Rhetorik als auch seine PR-Aktionen kritisiert. Wenn man uns schon so lange seine Alternativlosigkeit für Russland eingetrichtert hat, dann ist er heute auch für alles verantwortlich, nicht nur für Erfolge, auch für Rückschläge. Besondere Erfolge sind im Land derzeit nicht zu sehen (Coronavirus, Wertverlust des Rubels, wachsende Arbeitslosigkeit und so weiter), und die Memosphäre des RUnets zeigt das an wie ein Lackmus-Teststreifen.
Vor ein paar Jahren fand in Moskau anlässlich von Putins Geburtstag die kurze, aber durchaus Wellen schlagende Ausstellung Putin – ein Mem statt. Ohne ihre Namen zu nennen, zitierte das Portal RIA Nowostidie Organisatoren so: „Putin ist längst über den Status des Präsidenten hinausgewachsen und wurde zu einem international bekannten Meme – einer beliebten Figur für Titelbilder, Demotivatoren, Fotomontagen und Videos. Der Wiedererkennungswert von Russlands Leader steht dem von Superman in nichts nach“. RIA Nowosti fügte hinzu, die Ausstellung solle eine Art Brücke zwischen den Generationen schlagen.
Um eine fachkundige Wirtschaftspolitik auf die Beine zu stellen, braucht man unbedingt einen Kopf
Unserer Ansicht nach sind solche Aktionen der indirekte Beweis dafür, dass der Einfluss des Memes auf das breite Publikum bereits nicht nur von Theoretikern anerkannt wird, sondern auch von Praktikern der politischen Kommunikation. Wollte man jedoch eine derartige Geburtstags-Ausstellung in der heutigen Zeit machen, dann wäre frischer Content, der ein attraktives politisches Heldenbild schafft, gar nicht mehr leicht zu finden.
Reisen versus Tourismus – da hat sich viel geändert über die letzten Jahrzehnte in Russland. Betrachtungen für Reise-Nostalgiker und handfeste Tipps für die, die es werden wollen. Von Ilja Bujanowski auf Perito Burrito.
Hinkommen – einst und heute
Bis vor zehn Jahren war das Hauptfortbewegungsmittel in Russland der Fernzug. Die Züge bestanden aus grünen Waggons, und in den langen Gängen wirbelte und schillerte dichter Staub zwischen Schlafpritschen und hervorstakenden Füßen.
Wenn ich irgendwohin wollte, ging ich zur Bahnhofskasse und stellte mich geduldig in eine lange, nervende Schlange. 2010 war ich bereits in der Lage, die Internetseiten der Russischen Eisenbahn nach Fahrplänen und Tickets zu durchsuchen und behelligte die Ticketverkäufer daher nicht mehr mit Fragen wie: „Fährt morgens was von Urjupinsk nach Bobruisk, gibt es noch Platzkart-Tickets, und wie teuer sind die?“ Andere Leute in der Schlange waren durchaus lästig und ganz schlimm wurde es, wenn jemand am nächsten Morgen mit der ganzen Familie per Platzkart auf den unteren Liegen nach Sotschi wollte. Na, ihr seid ja lustig, dachte ich, der ich aus Erfahrung wusste, dass man gute Tickets am besten Wochen, wenn nicht einen Monat im Voraus kauft. Der elektronische Ticketkauf blieb derweil den Fortschrittlichsten vorbehalten – selbst eine Bankkarte hatte damals nicht jeder.
Platzkart war damals alles, was ich mir leisten konnte, ein Platz im Coupé kostete mitunter das Dreifache. Zugfahren war billig, und lange Zeit war meine liebste Form des Reisens der Eintagestrip: mit dem Nachtzug hin, am nächsten Abend mit dem Nachtzug zurück. Wenn der Platzkart-Wagen mal für einen ganzen Tag oder länger zu meinem Zuhause wurde, war das unvorstellbar ohne lange Gespräche, die manchmal selbst zum einprägsamsten Erlebnis der ganzen Reise wurden, wenn auch nicht immer dem positivsten.
Manche hatten damals schon den Dreh mit dem Fliegen raus, aber insgesamt hielt sich noch hartnäckig die Vorstellung aus den 1990ern, die russischen Weiten durch die Luft zu bereisen sei nur den Reichen vorbehalten.
Doch einmal angekommen, eröffnete sich ein weiter Raum: Aus den großen Städten fuhren Elektritschkas in die Regionen, und selbst in den kleineren Kreisstädten gab es noch große Busbahnhöfe, zwar trostlos und leicht unheimlich vom Klientel her, dafür angenehm warm im Winter. Von den vollgerotzten Bussteigen fuhren alte und unbequeme, aber immerhin geräumige Busse. Und wohin kein Bus fuhr, brachte einen das Taxi – aus heutiger Sicht für ein paar Groschen. Vorausgesetzt natürlich, man hatte gut verhandelt.
Ab 2009 machten sich die Reformen bei der Russischen Eisenbahn bemerkbar, die Züge waren nicht mehr grün, sondern grau-rot. Innerhalb von wenigen Jahren schossen die Ticketpreise um ein Vielfaches in die Höhe, sodass sich der Eintagestrip als Konzept schlicht nicht mehr lohnte – eine Nacht im Zug kostete plötzlich mehr als eine Nacht im Hotel. Andererseits wurden die Tarife flexibler, und jetzt fahre ich fast zum selben Preis öfter Coupé als Platzkart.
Bemerkbar machte sich auch die Smartphonisierung des Landes samt den USB-Steckdosen in den Zügen: Man konnte einen ganzen Tag unterwegs sein, ohne ein Wort mit seinem Sitznachbarn zu wechseln. Und es gab mehr Platz – ausgebuchte Züge wurden zum Alleinstellungsmerkmal der Hochsaison.
Aber nicht nur die Fahrgäste wurden weniger, sondern auch die Züge selbst. Mit den bunten Waggons der legendären sogenannten „Luxusstrecken“ gehörten bald auch die Strecken selbst der Vergangenheit an. Auch die einst zahlreichen lustigen 600er Züge, die die Provinz mit den Dörfern verbanden, waren bald eine Seltenheit. Natürlich fahre ich trotzdem noch oft mit dem Zug, aber die frühere Eisenbahnromantik ist dahin.
Ganz anders sieht es beim Fliegen aus. Wenn man sich geschickt anstellt, kosten die Flugtickets meistens nur unwesentlich mehr als der Zug, One-Way und Tarife ohne Gepäck mitunter sogar weniger. Die Jagd auf Billigflüge und Rabattaktionen ist, genau wie das Sammeln von Meilen, zu einem beliebten Volkssport geworden.
Um den öffentlichen Nahverkehr ist es hingegen deutlich schlechter bestellt: Gegen Ende des Jahrzehnts waren aus fast allen Kleinstädten die Busbahnhöfe verschwunden, eine Haltestelle am Ortsrand musste reichen. Geräumige Busse mit Gepäckabteil grenzen heute an ein Wunder. Meistens muss man sich in eine armselige, nach Benzin stinkende GAZelle quetschen, und beim Anblick eines Touristen mit großem Rucksack wird der Fahrer ausfallend und hysterisch.
Aber noch bezeichnender ist die Frage: „Bist du etwa zu Fuß unterwegs?!“, die ich ständig von anderen Touristen zu hören bekomme. Reisen durch Russland ist stillschweigend etwas geworden, das man mit dem Auto macht, ein Tourist ohne fahrbaren Untersatz kommt vielen wie ein Freak vor. Und dann gibt es ja noch BlaBlaCar, Yandex.Taxi, Carsharing und die gute alte Autovermietung, auch jenseits der Metropolen.
Unterkunft – einst und heute
Hier hat sich im vergangenen Jahrzehnt gewaltig was getan. Russland in den frühen 2000ern – als ich gerade anfing zu reisen – ist mir als Land der billigen und schäbigen Hotels in Erinnerung geblieben. Für 300 bis 400 Rubel [heute rund 15 Euro – dek] bekam man ein düsteres Zimmer mit abblätternden Wänden, schmutzigem Boden und einer nackten schummrigen Glühbirne, so dass man nicht genau wusste, ob man im Hotel oder in der Geschlossenen gelandet war. Gemeinschaftsklos auf dem Flur waren eher die Regel denn die Ausnahme, eine heiße Dusche bewegte sich im Bereich des Unvorstellbaren. Und in den Reiseforen rankten sich beständig Legenden um die Schrecken des inländischen Services.
Bereits Ende der 2000er Jahre wurde alles anders, und 2010 konnte ich in den meisten Städten damit rechnen, für 1000 bis 1500 Rubel [rund 30 Euro – dek] ein kleines sauberes Zimmer mit funktionierendem Bad und WLAN zu bekommen. Ich glaube, vor ungefähr zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal im russischen Kontext das Wort Hostel. Und nur wenige Jahre später entdeckte ich zu meinem Erstaunen Hostels in Workuta. Diese Form der Übernachtung verbreitete sich so rasant und umfassend, dass es einem merkwürdig erscheint, dass das nicht schon immer so war. Doch die Quantität ging auf Kosten der Qualität: Die Vorteile des Hostellebens hatten sich bald nicht nur unter den Touristen herumgesprochen. Ich weiß noch, wie ich 2018 in einem Sankt Petersburger Hostel gelandet bin, wo ich für 170 Rubel [sic; 2,30 Euro – dek] die Nacht die ganze Atmosphäre der Mietshäuser des 19. Jahrhunderts erleben durfte. Danach dachte ich viel über die Bedeutung von Mindestpreisen nach.
Auch die Buchungsstrategien veränderten sich. Natürlich gab es booking.com schon 2009, aber in Russland erwies sich die direkte Suche übers Internet als zuverlässiger. Erst um 2015 hatte sich Booking weitgehend durchgesetzt, aber da trat schon ein neuer Trend auf den Plan: Kurzzeitappartements und die entsprechenden Vermietungsportale.
Interessanterweise geht die zunehmende Vielfalt des Angebots mit einer erstaunlichen Preisstabilität einher – wenn ich im Vergleich zu 2009 für eine Übernachtung mehr bezahle, dann nur geringfügig. Die Unterkunft ist nicht mehr der Posten, der beim Reisen am stärksten ins Gewicht fällt.
Verpflegung – einst und heute
Hier sind die Veränderungen nicht so gravierend. Beziehungsweise sind sie eher quantitativ: Es gibt mehr Gastronomie, die Auswahl ist größer, in vielen Städten haben Ketten wie Burger King oder Subway Einzug gehalten, und wenn man will, findet man wie früher eine Kantine oder eine Stolowaja. In größeren Städten gibt es mittlerweile genug gute Cafés. Aber es wurde nichts grundlegend Neues erfunden, selbst die Welle der Anti-Cafés war zwar enorm, doch ebbte sie fast spurlos wieder ab.
Der einzig erwähnenswerte Trend der 2010er Jahre ist wahrscheinlich die Verbreitung der Nationalküchen. Nicht der japanischen, usbekischen oder kaukasischen, sondern die Küchen der russländischen Ethnien. Ende der 2000er erfreuten sich höchstens das tatarische Tschak-Tschak und ossetische Piroggen gewisser Bekanntheit, Burjatien war berühmt für seine Possy, und in manchen Hauptstädten der Autonomen Regionen fand sich ein einzelnes und nicht gerade günstiges Restaurant mit der Küche der jeweiligen Ethnie. Heute ist das keine Seltenheit mehr, und auch die lokalen Variationen der russischen Küche halten Schritt. Geblieben ist jedoch die Urigkeit der kleinen Bahnhofskantinen.
Probleme – einst und heute
Diejenigen, die vor 20 Jahren auf russischen Straßen unterwegs waren, wird das vielleicht noch amüsieren, aber schon vor zehn Jahren lag es auf der Hand, dass Reisen in Russland gefährlich ist. Während in den meisten Ländern mit einer hohen Kriminalitätsrate die Zentren der Großstädte als besonders gefährlich gelten, ist es in Russland damals wie heute viel einfacher, in der depressiven Einöde oder den Arbeitervororten Schwierigkeiten zu bekommen. Nicht immer kann man sich von diesen Schwierigkeiten mit der Brieftasche oder dem Handy freikaufen – oft genug ist das Zusammenschlagen ein Selbstzweck. Nein, nicht vor Raubüberfällen muss man sich fürchten, sondern vor frustrierten, gelangweilten und in der Regel betrunkenen Leuten.
Wenn ich in eine arme Kleinstadt, ein Dorf oder einen Vorort mit Arbeitersiedlungen fuhr, wusste ich, dass mich irgendwann die Gopniki anquatschen würden. Nicht, um mich zu verprügeln oder auszurauben, sondern um mit dem unbekannten und seltsamen Gast zu reden und ihm je nach Gesprächsverlauf am Ende die Hand zu geben oder das Handy zu entwenden. Ich betrachtete die Kommunikation mit diesem Publikum als eine Kunst und leitete sogar eine ganze Philosophie daraus ab, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Wenn du mit den Gopniki zu tun hast, musst du frei sein von Angst, Arroganz und Mitleid. Meine Routen plante ich so, dass ich an einem Freitagabend nicht in soziale Brennpunkte geriet.
Ein nicht weniger aktuelles Problem war die Willkür der Miliz (die damals noch nicht Polizei hieß). Brutstätten hierfür waren vor allem strategische Objekte wie Bahnhöfe, die Metro, Orte unweit großer Fabrikanlagen und Plätze vor Regierungsgebäuden. Ein harmloses Foto von einem Bahnhof oder einer alten Fabrik konnte leicht in stundenlange sinnlose Nervereien münden.
Dass das alles nicht mehr viel mit der heutigen Zeit zu tun hat, wurde mir ein paar Jahre später bewusst, noch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Klar, das Risiko in aggressive Gesellschaft oder an einen schlecht gelaunten Unteroffizier Prischibejew zu geraten ist nicht weg. Es ist kein Geheimnis, dass jede Stadt der Welt gefährlich ist, wenn man sich bei einem Grüppchen Betrunkener im dunklen Hinterhof einer Bar erkundigt, wo man hier am besten 500 Dollar wechseln kann. Aber im Großen und Ganzen ist der Faktor Straßenkriminalität und Polizeiwillkür in den letzten zehn Jahren aus meinen Reisen so gut wie verschwunden. An den Bahnhofstüren hängen Schilder mit der Aufschrift „Fotografieren erlaubt!“, und der Fotoapparat oder das Smartphone mit der guten Kamera sind zu alltäglich geworden, als dass sie das Ziel eines Überfalls oder das Attribut eines Spions sein könnten.
2009 wussten wir von Saratow vage, dass es da eine Brücke gibt. Von Archangelsk, dass man dort über hölzerne Gehwege läuft. Von Tjumen, dass es aus allen Nähten platzen muss vor schwarzem Gold. Von Irkutsk – dass es von dort aus ein Steinwurf zum Baikalsee ist, und die Fortgeschrittensten hatten mal irgendwo etwas von Holzbaukunst oder dem Irkutsker Barock gehört. Orenburg oder Ishewsk, Pensa oder Kurgan riefen keinerlei Assoziationen hervor.
Selbst die Frage, warum man überhaupt durch Russland reisen sollte, war damals keine rhetorische. Zu stark war der postsowjetische Impuls des „Endlich darf man“ und Reisen verband man in erster Linie mit dem ungewohnten Ausland, der Schönheit und dem Komfort Europas, der Exotik und Expressivität Asiens … Reisen durch Russland waren was für Heimatforscher-Nerds und Tramper mit leeren Taschen, quasi der Underground des Tourismus.
Und dann kam die Krise, deren Höhepunkt exakt auf das Jahr 2009 fiel. In den Großstädten bildete sich eine ganze Schicht von Menschen, die sich Florenz, Venedig und Verona nicht mehr leisten konnten. Quasi über Nacht wurde der Inlandstourismus zur Mode. Das Interesse am russischen Erbe machten sich schnell ehrbare Persönlichkeiten zu eigen, wie Leonid Parfjonow mit seinem Buch Chrebtom Rossii (dt. etwa Das Rückgrat Russlands), das bei vielen schlagartig die Vorstellung davon veränderte, was der Ural ist.
Nach dem Interesse endete die Gleichgültigkeit: Bei uns verrotten ja ganze Meisterwerke der Holzbaukunst, die Bauträger verschandeln die Altstädte mit ihren Hochhäusern, und überhaupt weiß niemand den Wert der sowjetischen Mosaiken zu schätzen! Und weil die Politiker die Emotionsregungen der Bevölkerung gerne für ihre Zwecke benutzen, schafften es plötzlich der Abriss irgendeines verlassenen Anwesens oder die misslungene Rekonstruktion einer alten Kirche in die Schlagzeilen.
Auch die Mäzene ließen nicht lange auf sich warten – so wurde das Land beispielsweise von einer ganzen Welle großer Freilichtmuseen für Technik überrollt. Oder, der aktuellste Trend: die Renaissance der Dampfeisenbahn auf regulären Strecken in Touristenorten. Das rief die Enthusiasten auf den Plan – die einen brachten die lange ausgemusterten Schmalspurloks wieder in Gang, die anderen eilten in die tschuchlomische Einöde, um Holzhütten zu restaurieren. Die Stadtverwaltungen produzierten mal reihenweise einförmige Straßenskulpturen oder wetteiferten darum, wer das absurdeste Festival veranstaltet, mal eröffneten sie ganz anständige Museen.
Vor langer Zeit konstatierte Anton Krotow, der Guru der russischen Tramper-Szene, Reisen werde vom Tourismus abgelöst. Er meinte damit eher das ferne Ausland, während der postsowjetische Raum lange Zeit die letzte Hochburg der touristischen Terra incognita zu bleiben schien. Aber wenn man zurückblickt, stellt man plötzlich fest, dass auch diese Bastion gefallen ist. 2020 sprudelt plötzlich dort das Leben, wo 2010 noch verschlafene, weltfremde Vergessenheit herrschte. Die unermesslichen heimischen Weiten zu bereisen ist einfacher und sicherer geworden, doch das Erstentdecker-Gefühl von einst wartet längst nicht mehr hinter jeder Ecke.
Die Republik Sacha gilt als kälteste Region Russlands. Das Klima ist gekennzeichnet von kalten, langen Wintern und einem kurzen, heißen Sommer. Der wichtigste Feiertag ist das Fest des Sommers, Ysyach – das tradtionelle Neujahrsfest der Jakuten. Im vergangenen Jahr sind Jekaterina Karpuchina (Text) und Alexej Wassiljew (Fotos) für Zapovednikhingefahren und haben mitgefeiert.
Im Busbahnhof Jakutsk kämpfen ältere Herrschaften mit kleinen Kindern in Nationaltracht um ein Busticket. „Was ist denn hier los? Das darf doch nicht wahr sein, soll das Fest etwa ohne mich stattfinden?“ Eine ältere Dame in einem schönen weißen Kleid ist richtig sauer. „Ich war schließlich auf praktisch jedem Ysyach Oloncho bislang. Was soll das?!“
Das jakutische Ysyach ist der Tag des Sommeranfangs, die Einwohner nennen ihn auch einfach Neujahr. Für sie ist er der wichtigste nationale Feiertag.
Jedes Dorf, jedes Nasleg (territoriales Teilstück innerhalb der jakutischen Kommunen – Red. Zapovednik), jedes Ulus (Rajon) und jede Stadt feiern das Fest an einem anderen Tag. Also kann man im Sommer gleich auf mehreren Ysyach tanzen. Das wichtigste Ysyach in ganz Jakutien ist jedoch das republikübergreifende Ysyach Oloncho. Es findet jedes Jahr in einem anderen Ulus statt, das von den regionalen Behörden vorab bestimmt wird. 2019 wurde dem Namski Ulus die große Ehre zuteil. Weil es ganz in der Nähe der Stadt Jakutsk ist, wollten sehr viele dorthin, und es gab nicht genügend Transportmöglichkeiten für alle.
„Uns Einwohnern haben sie gleich ganz verboten, mit dem Auto hinzufahren“, erzählt ein Mann. „Sie haben gesagt: Geht zu Fuß, um den Gästen nicht den Weg zu versperren, oder bleibt zu Hause. Keiner will hier Scherereien, ist schließlich ein Festtag.“
Das erste, was die Besucher auf dem Ysyach sehen, ist das Eingangstor Kiirija. Dahinter sind eine Reihe von Serge aufgebaut (Serge ist jakutisch für einen Pflock, an dem ein Pferd angebunden wird). Vom Tor aus führt eine lange Allee bis zur Hauptbühne, wo auch die Eröffnungszeremonie abgehalten wird. Seit dem frühen Morgen begrüßen Frauen in Nationaltracht die Besucher mit Oladji, kleinen Pfannkuchen, als Symbol der Gastfreundschaft. Klar, sie reichen nicht für alle und bis zum Mittagessen ist alles weg – bis auf die rituellen Säulen.
Es gibt kein Ysyach Oloncho ohne den heiligen Baum Aal Luuk Mas. In der jakutischen Mythologie existieren drei Welten: Eine Unterwelt, in der die bösen Geister leben, eine Oberwelt, in der die höchsten Gottheiten leben, und eine Mittelwelt, in der die Menschen leben. Aal Luuk Mas symbolisiert die Verbindung dieser drei Welten. In der jakutischen Mythologie leben in den Zweigen des Baums die guten Geister, die Ajyy, und in seinen Wurzeln verstecken sich die bösen Geister, die Abassy.
Die Ulus konkurrieren sogar untereinander, wer den besten Aal Luuk Mas hat: höher, schöner, teurer. Im Durchschnitt geben die Rajons jedes Jahr 14 Millionen Rubel [rund 177.300 Euro – dek] aus – für einen einzigen Baum. Der teuerste Aal Luuk Mas in der gesamten Geschichte des Ysyach wurde 2015 im Tschuraptschinski Rajon aufgestellt, für 20 Millionen Rubel [etwa 253.300 Euro – dek]. 2019 haben die Namzy etwa 13 Millionen [rund 165.000 Euro – dek] ausgegeben.
„Die denken wohl, wenn sie für ein Wahnsinnsgeld einen Aal Luuk Mas aufstellen, dann wird der gleich automatisch heilig“, höre ich die unzufriedene Stimme eines jungen Mannes in Nationaltracht hinter mir. Es hat sich schon eine lange Schlange gebildet, um vor dem heiligen Baum ein Foto zu machen.
Wegen der vielen Zuschauer kann man kaum sehen, was auf der Bühne vor sich geht. Außerdem ist die ganze Vorstellung auf Jakutisch. Mir kommt Sergej zu Hilfe. Er ist nach Namzy gekommen, um seiner Freundin auf der Bühne zuzuschauen, daher ist er mit dem Programm vertraut. „Wir sehen gleich einen Ausschnitt aus dem jakutischen Nationalepos Oloncho. Es geht um den Fürsten Mymach (Fürst der Namzy im 17. Jahrhundert, der eine entscheidende Rolle spielte bei der Eingliederung Jakutiens ins Russische Reich – Red. Zapovednik). Es geht um ihn, um die Verbindung des Menschen zur Natur, und – das ist das Wichtigste – um die Völkerfreundschaft.“
Die Vorstellung geht mehr als zwei Stunden und findet ihren Höhepunkt im Algys. Das jakutische Wort bedeutet so viel wie „Segen, Gnade, Lobpreisung, Verheißung, Weihe“. Das Volk der Sacha sagt, dass man es nicht allein als „Segen“ übersetzen kann, da es im Jakutischen eine viel tiefere Bedeutung hat.
Das Algys wird von einem Mann gehalten, der zu den jakutischen Gottheiten beten kann und, das ist das Wichtigste, der weiß, wie man zu den Geistern spricht.
Insgesamt haben die Organisatoren des Ysyach rund 70 Veranstaltungen auf den einzelnen Tjusjulge eingeplant. So werden die kleinen Plätze zwischen den Serge und den Urassy (die traditionelle Sommerbehausung der Jakuten – Red. Zapovednik) genannt. Jedes Ulus, jedes Ministerium oder Großunternehmen muss ein Tjusjulge auf dem Ysyach haben – das ist sehr wichtig fürs Image.
Allein am ersten Tag sind mehr als 10.000 Besucher zum wichtigsten Fest Jakutiens angereist. Der Wald rund um das Gelände ist voller Menschen und Zelte, viele bleiben über Nacht.
„An Ysyach kann man alle Verwandten treffen, wir wohnen ja in unterschiedlichen Ulus, da kann man sich nicht so einfach treffen. Und für uns ist das das jakutische Neujahr. Selbst unsere Oma ist dabei, sie ist 85 Jahre alt, Opa ist ein Jahr jünger. Sie wären niemals zu Hause geblieben, obwohl es so heiß ist.“
Für die Damen ist Ysyach nicht nur ein Fest, sondern ein Schaulaufen. Extra für das Fest nähen sie sich die Nationaltracht Chaladaaj, ein trapezförmiges Kleid. Ein traditioneller Chaladaaj bedeckt den ganzen Körper der Frau, vom Hals bis zu den Zehen und Handrücken. Nicht nur, weil eine jakutische Dame keusch auszusehen hat, der Stoff schützt auch vor den Mücken, die hier in Schwärmen sind.
Auf mich kommen vier elegante Damen um die 60 zu und bitten darum, sie zu fotografieren. Der goldene Chaladaaj einer der Damen schimmert in der Sonne: „Den Stoff habe ich in Katar gekauft, 100 Prozent Seide, extra angefertigt. Ich habe auch ein Accessoire“, sagt sie und zeigt ihr Täschchen über der Schulter.
„Und ich trage sehr ungewöhnlichen Schmuck“, nimmt die Dame im weißen Kleid das Gespräch auf und zeigt ein silbernes Kreuz an einer dicken Kette. „Das ist ein Ilin Kebiser (traditioneller jakutischer Brustschmuck – Red. Zapovednik), ein Familienstück. Schon meine Mutter und Großmutter haben ihn getragen, er ist von 1915. Und jetzt trage ich ihn an Ysyach.“
Heute werden solche Schmuckstücke nicht nur aus Silber, sondern auch aus Holz, Ton, Perlen und sogar aus Plastik hergestellt. Früher wog der Brautschmuck nicht weniger als 20 Kilogramm, heute wiegt er wegen des leichteren Materials selten mehr als 1,5 Kilo. Heute hängt auch der Preis vom Gewicht ab. Ein gewöhnlicher Chaladaaj aus dünner Baumwolle kostet ungefähr 20.000 Rubel [rund 250 Euro – dek] und Schmuck aus Nickel und Kupfer um die 3500 Rubel [rund 45 Euro – dek]. Wenn man ein Kleid aus Seide nähen lässt und Silberschmuck kauft, dann können es weit über 150.000 Rubel werden [rund 1900 Euro – dek] – es hängt alles vom Budget ab. „Wenn man früher für Ysyach irgendwelche Kleider aus dünnem Baumwollstoff nähte, dann war das eine große Freude. Man zeigte sich damit, und es war nicht so heiß. Und heute! Was da nicht alles zur Schau getragen wird! Sofort ist klar, wer wieviel verdient“, fügt eine der Freundinnen hinzu. Die Damen bedanken sich fürs Foto und eilen weiter, ein Foto machen vor dem Aal Luuk Mas.
Der Höhepunkt des Ysyach ist das rituelle Treffen mit der Sonne. Am Himmel über Jakutien geht sie schon um 2.30 Uhr nachts auf. Schon den allerersten Sonnenstrahlen muss man die Hände entgegenstrecken, die Handflächen nach oben. Es ist eine sehr alte Tradition, deswegen ehren die Jakuten sie sehr, aber viele ziehen es vor, die Sonne zuhause zu begrüßen.
Am Ausgang treffe ich ein Pärchen. Die jungen Leute grüßen mich, dabei kennen wir uns nicht. „Wie gefällt euch das Fest?“, frage ich, weil man das so macht. Und bekomme eine untypische Antwort: „Wir sind gerade erst angekommen und haben noch gar nichts gesehen. Ganz ehrlich, wir sind sehr selten auf dem Ysyach, wir sind eine andere Generation, aber auch das Ysyach ist nicht mehr das, was es mal war. Heute ist es eher eine Show.“
Wir unterhalten uns noch kurz und verabschieden uns. Aber die Worte der jungen Frau gehen mir nicht aus dem Sinn und ich denke nach über den Sinn dessen, was da vor sich geht, und darüber, ob man Traditionen ganz ohne Veränderungen überhaupt bewahren kann. Aber irgendwann wird mir klar, dass das Wichtigste an dem Fest sich über die Jahre nicht geändert hat: die Atmosphäre der Freundschaft und des Wohlwollens. Sie ist es, nicht die Sonne, die wirklich positive Energie gibt. Schauen wir mal ob die reicht für den langen jakutischen Winter. Denn der Winter naht.
Ein Besuch im Park Patriot, dem Freizeitpark für echte Patrioten und solche, die es werden wollen.
„Patriot – Der Name des Parks ist kein Zufall. Hier ist alles durchdrungen von Patriotismus. Auf dem Parkgelände entsteht ein Flugmuseum, ein Museum für Panzertechnik, ein Artilleriemuseum, Sportanlagen, Sportgeräte, historische Ausstellungen sowie Waffen-Ausstellungen. Wir realisieren hier ein Projekt, wo junge Menschen die Exponate nicht nur anschauen, sondern in Militärgeräten fahren und fliegen, mit Feuerwaffen schießen und Fallschirmspringen können.“
Sergej Schoigu, Verteidigungsminister der Russischen Föderation
Auf dem Gelände des Parks finden alle Großveranstaltungen des Verteidigungsministeriums Russlands statt – Ausstellungen, Gesprächsrunden, Kongresse, Briefings und Gremiensitzungen.
Besonders beliebt bei Besuchern ist der historische Erinnerungskomplex Partisanendorf. Der Komplex besteht aus mehr als 20 Objekten (Unterstände, Stallungen, Bunker, Sanitätsstation, Waffen- und Munitionsdepot, Sprengstoffwerkstatt, Küche, Bäckerei, Banja, die Rote Ecke, Klub und so weiter), so werden Leben und Alltag der Partisanentruppen während des Großen Vaterländischen Krieges bis ins kleinste Detail nachgestellt.
Anlässlich des 75. Jahrestags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg wurde auf dem Parkgelände die Hauptkirche der Streitkräfte Russlands zu Ehren von Christi Himmelfahrt erbaut. Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland weihte den Grundstein im Beisein des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des Verteidigungsministers der Russischen Föderation Sergej Schoigu.
Spendensammlungen für den Bau begannen im September 2018. Speziell für diese Kirche entstand das Achiropíiton Nicht von Menschenhand geschaffenes Bild Christi, das die Hauptikone der Streitkräfte der Russischen Föderation wird. Das Bild des Retters ist in einen bronzenen Flügelaltar eingelassen und wiegt rund 100 Kilogramm. Sowohl das Bild als auch der Flügelaltar wurde mit privaten Mitteln von Präsident Putin finanziert. An den Wänden der Kathedrale finden sich Fresken mit Schlachtszenen aus der Militärgeschichte und Texte aus der Heiligen Schrift.
2020 wird auf dem Parkgelände das militärisch-patriotische Jugendbildungszentrum Avantgarde eröffnet.
„Die Ausstellung über den Bürgerkrieg in Syrien ist ein neues Ausstellungsformat im Park Patriot.
Unsere Ausstellung zeigt die neueste Geschichte der Friedenspolitik Russlands und seiner Streitkräfte, die zum Frieden aufrufen und eine humanitäre Mission im Interesse der gesamten Weltgemeinschaft erfüllen.“
Offizielle Website Park Patriot
„Sehen Sie beim Ausstellungsbesuch, wie negativ sich die humanitäre Krise und die terroristischen Bedrohungen auf die friedliche Bevölkerung auswirken und wie realistisch Themenschaubilder mit echter Kriegstechnik aussehen.
Lernen Sie die Mission des Zentrums zur Aussöhnung verfeindeter Seiten in Syrien kennen, darunter auch die neueste Beobachtungstechnik: ferngesteuerte Drohnen und Autopilot-Fluggeräte.
In einer Sonderausstellung zu Kriegstrophäen zeigen wir zahlreiche Waffen, darunter Granatwerfer und Artilleriegeschütze terroristischer Organisationen aus handwerklicher und Fabrik-Produktion sowie aus handelsüblichen Gasflaschen hergestellte Munition. An einem weiteren Stand können Sie Schusswaffen ausländischer Produktion begutachten, die Soldaten abgenommen wurden, darunter viele Nachbauten der AK-74.
Verfolgen Sie live die Arbeit von Minenräumtrupps und mobilen Minenräumrobotern des Typs Uran-6 – aus nur einer Armlänge Entfernung. Entminte Spielzeuge zeigen hier das wahre Gesicht des Terrors.
Еine Ausstellung, die realistisch das Panorama der zerstörten Stadt Palmyra zeigt, wird Sie sprachlos machen, auch durch den Eindruck, man sei am Ort des Geschehens.“
Besucherreaktionen
„Während des Besuchs und danach hatte ich ein unerschütterliches Gefühl von Stolz und Patriotismus für mein Vaterland!“
„Sehr interessant für die Kinder. Man kann im Zentrum für kriegstaktische Spiele Geburtstage und Firmenfeste feiern.“
„Man kann verschiedene Schusswaffen ausprobieren, in einer modernen Soldatenkantine essen, einen Schützenpanzer- und Motorboot-Simulator lenken. Unvergesslich sind die Eindrücke vom Großen Vaterländischen Krieg, inklusive Besuch eines Konzentrationslagers.“
„Das zweite Jahr hintereinander haben wir die Ausstellung Armee 2018 besucht. Und wieder positive Gefühle noch und nöcher!!! Und die Show Freundliche Menschen auf dem Truppenübungsplatz Alabino ist noch mal ein Thema für sich. Direkt vor euren Augen entwickeln sich reale Kampfhandlungen. Granaten explodieren, Hubschrauber fliegen … Der Park selbst ist auch sehr interessant. Riesenmengen an Militärtechnik. Alles kann man anfassen, überall reinklettern. Die Fotos sind unvergesslich. Das Essen ist gut organisiert. Die Preise erschwinglich für derartige Venues. Rundum eine festliche Atmosphäre.“
„Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung in Worte zu fassen. Gigantisch, schlecht erreichbar, grandios geschmacklos, sinnlos, kitschig, strohdumm, furchtbar, reinste Geldmacherei.“
„Der Park Patriot sorgt für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung, vermittelt ein attraktives Bild des Wehrdiensts bei den Streitkräften und fördert die Entwicklung von Liebe und Ehrfurcht zum Vaterland.
Auf dem Areal können täglich 20.000 Besucher empfangen werden. Eintritt 500 Rubel [6,30 Euro].
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, wir freuen uns auf Ihren Besuch im örtlichen Musterungszentrum!“
Offizielle Website Park Patriot
(Die Texte sind der offiziellen Website des Park Patriot entnommen, den Wikipedia-Seiten über den Park und der Kathedrale der Streitkräfte sowie Rezensionen bei Google.)
Fotos: Katya Deriglazova Übersetzung und Redaktion: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 19.06.2020