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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein Putin – viele Memes

    Ein Putin – viele Memes

    Putin-Memes erobern das RUnet: Eine kleine Geschichte in Text und Bild von den Anfängen bis heute.

    Putin in seinen ersten Amtszeiten – das war ein Leader, der als Action Man westliche Politikexperten, ja, die ganze Welt faszinierte. Er machte sich Himmel und Meerestiefen untertan, zähmte wilde Tiere und besiegte seine Gegner in sportlichen Wettkämpfen. Er flog mit Kranichen, tauchte nach antiken Amphoren, wagte sich in den Käfig des Tigers. Obwohl diese Abenteuer zu dick aufgetragen, allzu extravagant waren und eindeutig nach PR-Aktionen rochen, enthielten die Memes damals – bei allem Sarkasmus der Internet-User ihrem Helden gegenüber – einen Hauch von Begeisterung für den jungen, sportlichen Politiker. 

    Der wohl beste Präsident – auf Erden, unter Wasser und in der Luft
    Der wohl beste Präsident – auf Erden, unter Wasser und in der Luft

    Memes sind immer ein Produkt der Lachkultur und bedeuten im Normalfall Angriff und nicht Verteidigung, doch in diesem Fall hat das Land, das die Nase voll hatte von der Altersschwäche seiner Vorgänger, Putin angesichts seiner äußerlichen Härte scheinbar das eine oder andere No-Go verziehen.

    Viele Fotos, die in Medien und Massenkultur populär wurden (etwa Putin mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, Putin am Steuer eines Kampfjets und so weiter) dienten als Schablonen für visuelle Memes – da saß Putin nicht mehr auf einem Pferd, sondern auf einem Bären, führte statt der Kraniche die Stinte zu den Laichplätzen oder verkörperte in mysteriösen dunklen Brillen die Rolle des Agenten 007. 

    Diese Memes ironisierten nicht nur die verbissene Konstruktion eines positiven Images des Politikers in der offiziellen Propaganda, sondern trugen mit dokumentarischem Bildmaterial sogar noch zusätzlich zum Vorankommen des nationalen Leaders bei – als willensstarker Mensch, der nur so strotzt vor Männlichkeit. Gleichzeitig konnte ihm das Land etliche verbale Ausrutscher, die Putins erbarmungslosen Charakter zum Vorschein brachten, nicht nachsehen. So gelangte die kurze und zynische Antwort des Präsidenten auf die Frage eines Journalisten, was mit dem U-Boot Kursk passiert sei („Es ist untergegangen“) zu trauriger Berühmtheit und wurde lange zu aggressiven verbalen Memes verarbeitet, die den Politiker charakterisierten und die Haltung der Internet-User ihm gegenüber zum Ausdruck brachten. 

    Mit der Zeit nahm das Putin-Bild in den Memes andere Züge an. Besonders deutlich wurde das in den vergangenen Jahren. Etwa 2017/2018 speiste sich die Aufmerksamkeit der RUnet-User für Putin nicht nur aus seiner täglichen Arbeit als Staatsoberhaupt, sondern auch aus seiner abermaligen Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl. Das russische Publikum reagierte auf alle Etappen von Putins Wahlkampf mit Memes, aber besonders aktiv in Bezug auf zwei Themenkreise: die Alternativlosigkeit des Politikers im Präsidentenamt und seine Unabsetzbarkeit.  

    Es war das fünfte Jahr seit Einführung der Importsubstitutionen… (Das Botox-Embargo hielt)
    Es war das fünfte Jahr seit Einführung der Importsubstitutionen… (Das Botox-Embargo hielt)

     


    Stimmzettel zu der Wahl 2018 – Haben Sie nichts dagegen, dass Putin Präsident bleibt? a) Ja, ich habe nichts dagegen b) Nein, ich habe nichts dagegen
    Stimmzettel zu der Wahl 2018 – Haben Sie nichts dagegen, dass Putin Präsident bleibt? a) Ja, ich habe nichts dagegen b) Nein, ich habe nichts dagegen


    „Sie dürfen nicht für sich selbst stimmen“ – „Ach komm schon“
    „Eine Person darf das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben“ – „Ach komm schon“
    „Der Präsident ist der Garant der Verfassung“ – „Ach komm schon“ 
    „Man sagt, dass Medwedew eine Datscha hat, die 30 Milliarden Rubel kostet“ – „Ach komm schon“

    Die offensichtliche Verärgerung der Internet-User über den ersten Themenkreis der politischen Wirklichkeit Russlands entlud sich zum Beispiel in Form der aktiven Produktion von Memes über den Stimmzettel, den die Zentrale Wahlkomission im Februar 2018 vorlegte. Das Besondere daran war, dass im Unterschied zu den anderen Kandidaten neben dem Namen des amtierenden Präsidenten keine näheren Informationen standen (Arbeitsplatz, Biografie etc.), sondern nur ein paar äußerst lakonische Sätze. „Harte Jungs brauchen nicht viele Worte“, „Zar, einfach Zar“, „Siehst du Idiot nicht, bei wem du dein Kreuz machen sollst?“, so reagierten User sozialer Netzwerke. 

    Den zweiten Themenkreis betreffend (die Unabsetzbarkeit des Staatsoberhaupts, die viele zermürbte) wurde ein Bild mit dem Slogan verbreitet: „Wer die Inauguration von Wladimir Putin als Präsident Russlands verpasst hat – macht euch nichts draus, guckt einfach die nächste“ (9. Mai 2018). 

    Ein anderes Beispiel ist ein Demotivator von Ende März 2018, basierend auf einem berühmten Bild aus dem Film Hundeherz (eine beliebte Grundlage für Memes), wo Professor Preobrashenski in komischer Verzweiflung die Stirn in die Hand stützt und Scharikow zu ihm sagt: „Gut, dass Putin wieder gewonnen hat. [sic!] Der wird aufräumen, seit 18 Jahren Korruption und Saustall im Land …“ 

    Und natürlich ist auch das Thema Zweifel an der Sauberkeit der Präsidentschaftswahl nicht vom Tisch – 3060 Likes erhielt gleich in der ersten Stunde nach Veröffentlichung (18.3.2018, Wahltag) auf Vkontakte ein scherzhaftes Tortendiagramm des Wahlergebnisses, das in zwei gleiche Hälften geteilt ist: Eine zeigt an, wie viele „Putin gewählt“ haben, die andere, wie viele „ohne es zu wissen Putin gewählt“ haben.  

    Putins Persönlichkeit erregt auch abseits von großen Ereignissen wie Präsidentschaftswahlen die Aufmerksamkeit des Internets; teils wachsen sich absolut alltägliche oder scheinbar zufällige Ereignisse seines politischen oder privaten Lebens zu Memes aus. So war Putin Held eines der berühmtesten Memes zur Fußballweltmeisterschaft 2018. Als es während der Siegerehrung in Moskau wie aus Eimern zu schütten begann, war der russische Präsident der Einzige, über den ein Schirm gespannt war (im Gegensatz zu den neben ihm stehenden Staatsoberhäuptern von Frankreich, Kroatien etc.). Virale Verbreitung fanden schon die Original-Fotos der Szene, danach wurden sie außerdem mit Photoshop zu neuen Memes verwertet; noch größerer Beliebtheit erfreuten sich dann verschiedene Messages rund um dieses Thema, die Putins mangelnde Höflichkeit beanstandeten. 

    Abgesehen von Ereignissen des politischen Lebens werden im RUnet auch die verbalen Äußerungen des Politikers Anlass zu Memes. Viel Netz-Verarsche zog zum Beispiel seine Behauptung nach sich, gewisse interessierte [ausländische] Dienste würden Biomaterial der Russen sammeln. 

    Ausgehend vom Geständnis des Präsidenten, er sei Leutnant der Artillerie (Januar 2019), entstand eine Vielzahl von Memes nach dem Muster der Fortsetzung des Satzes „Putin gestand, er sei …“: „… ein Zauberer“, „… einer von den Jungs, die einfach das Leben lieben“, und sogar „… eine Meereskönigin“. 
    Na, und in den letzten Monaten haben natürlich die Verfassungsänderungen, die Nullsetzung der Amtszeiten und die Motive aus seinen Ansprachen an die Nation (zum Beispiel die „Petschenegen und Polowzer“, die als Memes buchstäblich die sozialen Netzwerke eroberten) eine Flut von enttäuschten und witzigen Posts ausgelöst (ein populärer Tweet lautet „Wegen der Quarantäne darf Putin sein Amt nicht verlassen“). 


    Wer ist das? Unser Zar. Bei ihnen ist Zarentum? Aber was für eins.

    Das russische Publikum bildet die nichtigsten mit Putin zusammenhängenden Nachrichten, Verhaltensweisen, verbalen oder emotionalen Unachtsamkeiten in Form von visuellen und textuellen Memes (meist mit sarkastischem Unterton) nach. Das zeugt einerseits immer noch von großem Interesse für diese Figur im Netz, andererseits ist das nicht das beste Zeichen für den Präsidenten: Mangels bedeutender und ernsthafter Entscheidungen, die die Nation erwartet, triggern lokale Kinkerlitzchen die Meme-Kreativität, die ein Bild herabwürdigen, das ohnehin schon einen guten Teil seines Charismas eingebüßt hat. 

    Übrigens warnen Politikpsychologen schon lange, dass Putins Attraktivität für die Wähler immer mehr von der Lage im Land abhängt und immer weniger von seiner Fähigkeit, Eindruck beim Publikum zu schinden. Deutlich ernster sehen heutzutage allmählich Memes mit dem Staatspräsidenten aus, wenn sie nicht einfach von Putin als Politiker handeln, sondern von Putin als Verkörperung der  russischen Staatsmacht. Das ist nicht mehr nur Ironie über unvorsichtige Äußerungen oder spontane Handlungen. Sehr viel dazu, wie die Internet-User den Präsidenten sehen, sagt ein beliebtes Meme im Stil eines sowjetischen Plakats: Putin, wie er mit ausgestreckter Hand ein dickes Buch Menschenrechte in Russland von sich weist mit den Worten „Wozu diese Formalitäten?“.  

    Man kann sagen, dass Memes die Situation spiegeln, die heute in „großen“, ernsthaften Analysen untersucht wird, die sowohl Putins Rhetorik als auch seine PR-Aktionen kritisiert. Wenn man uns schon so lange seine Alternativlosigkeit für Russland eingetrichtert hat, dann ist er heute auch für alles verantwortlich, nicht nur für Erfolge, auch für Rückschläge. Besondere Erfolge sind im Land derzeit nicht zu sehen (Coronavirus, Wertverlust des Rubels, wachsende Arbeitslosigkeit und so weiter), und die Memosphäre des RUnets zeigt das an wie ein Lackmus-Teststreifen. 

    Vor ein paar Jahren fand in Moskau anlässlich von Putins Geburtstag die kurze, aber durchaus Wellen schlagende Ausstellung Putin – ein Mem statt. Ohne ihre Namen zu nennen, zitierte das Portal RIA Nowosti die Organisatoren so: „Putin ist längst über den Status des Präsidenten hinausgewachsen und wurde zu einem international bekannten Meme – einer beliebten Figur für Titelbilder, Demotivatoren, Fotomontagen und Videos. Der Wiedererkennungswert von Russlands Leader steht dem von Superman in nichts nach“. RIA Nowosti fügte hinzu, die Ausstellung solle eine Art Brücke zwischen den Generationen schlagen. 


    Um eine fachkundige Wirtschaftspolitik auf die Beine zu stellen, braucht man unbedingt einen Kopf

    Unserer Ansicht nach sind solche Aktionen der indirekte Beweis dafür, dass der Einfluss des Memes auf das breite Publikum bereits nicht nur von Theoretikern anerkannt wird, sondern auch von Praktikern der politischen Kommunikation. Wollte man jedoch eine derartige Geburtstags-Ausstellung in der heutigen Zeit machen, dann wäre frischer Content, der ein attraktives politisches Heldenbild schafft, gar nicht mehr leicht zu finden. 

     

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    „Russland ist ein einziges großes Meme“

  • Kleine Geschichte des Reisens durch Russland

    Kleine Geschichte des Reisens durch Russland

    Reisen versus Tourismus – da hat sich viel geändert über die letzten Jahrzehnte in Russland. Betrachtungen für Reise-Nostalgiker und handfeste Tipps für die, die es werden wollen. Von Ilja Bujanowski auf Perito Burrito.

    Hinkommen – einst und heute

    Bis vor zehn Jahren war das Hauptfortbewegungsmittel in Russland der Fernzug. Die Züge bestanden aus grünen Waggons, und in den langen Gängen wirbelte und schillerte dichter Staub zwischen Schlafpritschen und hervorstakenden Füßen.

    Wenn ich irgendwohin wollte, ging ich zur Bahnhofskasse und stellte mich geduldig in eine lange, nervende Schlange. 2010 war ich bereits in der Lage, die Internetseiten der Russischen Eisenbahn nach Fahrplänen und Tickets zu durchsuchen und behelligte die Ticketverkäufer daher nicht mehr mit Fragen wie: „Fährt morgens was von Urjupinsk nach Bobruisk, gibt es noch Platzkart-Tickets, und wie teuer sind die?“ Andere Leute in der Schlange waren durchaus lästig und ganz schlimm wurde es, wenn jemand am nächsten Morgen mit der ganzen Familie per Platzkart auf den unteren Liegen nach Sotschi wollte. Na, ihr seid ja lustig, dachte ich, der ich aus Erfahrung wusste, dass man gute Tickets am besten Wochen, wenn nicht einen Monat im Voraus kauft. Der elektronische Ticketkauf blieb derweil den Fortschrittlichsten vorbehalten – selbst eine Bankkarte hatte damals nicht jeder.

    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito
    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

    Platzkart war damals alles, was ich mir leisten konnte, ein Platz im Coupé kostete mitunter das Dreifache. Zugfahren war billig, und lange Zeit war meine liebste Form des Reisens der Eintagestrip: mit dem Nachtzug hin, am nächsten Abend mit dem Nachtzug zurück. Wenn der Platzkart-Wagen mal für einen ganzen Tag oder länger zu meinem Zuhause wurde, war das unvorstellbar ohne lange Gespräche, die manchmal selbst zum einprägsamsten Erlebnis der ganzen Reise wurden, wenn auch nicht immer dem positivsten.

    Manche hatten damals schon den Dreh mit dem Fliegen raus, aber insgesamt hielt sich noch hartnäckig die Vorstellung aus den 1990ern, die russischen Weiten durch die Luft zu bereisen sei nur den Reichen vorbehalten.

    Doch einmal angekommen, eröffnete sich ein weiter Raum: Aus den großen Städten fuhren Elektritschkas in die Regionen, und selbst in den kleineren Kreisstädten gab es noch große Busbahnhöfe, zwar trostlos und leicht unheimlich vom Klientel her, dafür angenehm warm im Winter. Von den vollgerotzten Bussteigen fuhren alte und unbequeme, aber immerhin geräumige Busse. Und wohin kein Bus fuhr, brachte einen das Taxi – aus heutiger Sicht für ein paar Groschen. Vorausgesetzt natürlich, man hatte gut verhandelt.

    Ab 2009 machten sich die Reformen bei der Russischen Eisenbahn bemerkbar, die Züge waren nicht mehr grün, sondern grau-rot. Innerhalb von wenigen Jahren schossen die Ticketpreise um ein Vielfaches in die Höhe, sodass sich der Eintagestrip als Konzept schlicht nicht mehr lohnte – eine Nacht im Zug kostete plötzlich mehr als eine Nacht im Hotel. Andererseits wurden die Tarife flexibler, und jetzt fahre ich fast zum selben Preis öfter Coupé als Platzkart.

    Bemerkbar machte sich auch die Smartphonisierung des Landes samt den USB-Steckdosen in den Zügen: Man konnte einen ganzen Tag unterwegs sein, ohne ein Wort mit seinem Sitznachbarn zu wechseln. Und es gab mehr Platz – ausgebuchte Züge wurden zum Alleinstellungsmerkmal der Hochsaison.

    Aber nicht nur die Fahrgäste wurden weniger, sondern auch die Züge selbst. Mit den bunten Waggons der legendären sogenannten „Luxusstrecken“ gehörten bald auch die Strecken selbst der Vergangenheit an. Auch die einst zahlreichen lustigen 600er Züge, die die Provinz mit den Dörfern verbanden, waren bald eine Seltenheit. Natürlich fahre ich trotzdem noch oft mit dem Zug, aber die frühere Eisenbahnromantik ist dahin.

    Ganz anders sieht es beim Fliegen aus. Wenn man sich geschickt anstellt, kosten die Flugtickets meistens nur unwesentlich mehr als der Zug, One-Way und Tarife ohne Gepäck mitunter sogar weniger. Die Jagd auf Billigflüge und Rabattaktionen ist, genau wie das Sammeln von Meilen, zu einem beliebten Volkssport geworden. 

    Um den öffentlichen Nahverkehr ist es hingegen deutlich schlechter bestellt: Gegen Ende des Jahrzehnts waren aus fast allen Kleinstädten die Busbahnhöfe verschwunden, eine Haltestelle am Ortsrand musste reichen. Geräumige Busse mit Gepäckabteil grenzen heute an ein Wunder. Meistens muss man sich in eine armselige, nach Benzin stinkende GAZelle quetschen, und beim Anblick eines Touristen mit großem Rucksack wird der Fahrer ausfallend und hysterisch.

    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito
    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

    Aber noch bezeichnender ist die Frage: „Bist du etwa zu Fuß unterwegs?!“, die ich ständig von anderen Touristen zu hören bekomme. Reisen durch Russland ist stillschweigend etwas geworden, das man mit dem Auto macht, ein Tourist ohne fahrbaren Untersatz kommt vielen wie ein Freak vor. Und dann gibt es ja noch BlaBlaCar, Yandex.Taxi, Carsharing und die gute alte Autovermietung, auch jenseits der Metropolen.

    Unterkunft – einst und heute

    Hier hat sich im vergangenen Jahrzehnt gewaltig was getan. Russland in den frühen 2000ern – als ich gerade anfing zu reisen – ist mir als Land der billigen und schäbigen Hotels in Erinnerung geblieben. Für 300 bis 400 Rubel [heute rund 15 Euro – dek] bekam man ein düsteres Zimmer mit abblätternden Wänden, schmutzigem Boden und einer nackten schummrigen Glühbirne, so dass man nicht genau wusste, ob man im Hotel oder in der Geschlossenen gelandet war. Gemeinschaftsklos auf dem Flur waren eher die Regel denn die Ausnahme, eine heiße Dusche bewegte sich im Bereich des Unvorstellbaren. Und in den Reiseforen rankten sich beständig Legenden um die Schrecken des inländischen Services.

    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito
    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

    Bereits Ende der 2000er Jahre wurde alles anders, und 2010 konnte ich in den meisten Städten damit rechnen, für 1000 bis 1500 Rubel [rund 30 Euro – dek] ein kleines sauberes Zimmer mit funktionierendem Bad und WLAN zu bekommen. Ich glaube, vor ungefähr zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal im russischen Kontext das Wort Hostel. Und nur wenige Jahre später entdeckte ich zu meinem Erstaunen Hostels in Workuta. Diese Form der Übernachtung verbreitete sich so rasant und umfassend, dass es einem merkwürdig erscheint, dass das nicht schon immer so war. Doch die Quantität ging auf Kosten der Qualität: Die Vorteile des Hostellebens hatten sich bald nicht nur unter den Touristen herumgesprochen. Ich weiß noch, wie ich 2018 in einem Sankt Petersburger Hostel gelandet bin, wo ich für 170 Rubel [sic; 2,30 Euro – dek] die Nacht die ganze Atmosphäre der Mietshäuser des 19. Jahrhunderts erleben durfte. Danach dachte ich viel über die Bedeutung von Mindestpreisen nach.

    Auch die Buchungsstrategien veränderten sich. Natürlich gab es booking.com schon 2009, aber in Russland erwies sich die direkte Suche übers Internet als zuverlässiger. Erst um 2015 hatte sich Booking weitgehend durchgesetzt, aber da trat schon ein neuer Trend auf den Plan: Kurzzeitappartements und die entsprechenden Vermietungsportale.

    Interessanterweise geht die zunehmende Vielfalt des Angebots mit einer erstaunlichen Preisstabilität einher – wenn ich im Vergleich zu 2009 für eine Übernachtung mehr bezahle, dann nur geringfügig. Die Unterkunft ist nicht mehr der Posten, der beim Reisen am stärksten ins Gewicht fällt.

    Verpflegung – einst und heute

    Hier sind die Veränderungen nicht so gravierend. Beziehungsweise sind sie eher quantitativ: Es gibt mehr Gastronomie, die Auswahl ist größer, in vielen Städten haben Ketten wie Burger King oder Subway Einzug gehalten, und wenn man will, findet man wie früher eine Kantine oder eine Stolowaja. In größeren Städten gibt es mittlerweile genug gute Cafés. Aber es wurde nichts grundlegend Neues erfunden, selbst die Welle der Anti-Cafés war zwar enorm, doch ebbte sie fast spurlos wieder ab.

    Der einzig erwähnenswerte Trend der 2010er Jahre ist wahrscheinlich die Verbreitung der Nationalküchen. Nicht der japanischen, usbekischen oder kaukasischen, sondern die Küchen der russländischen Ethnien. Ende der 2000er erfreuten sich höchstens das tatarische Tschak-Tschak und ossetische Piroggen gewisser Bekanntheit, Burjatien war berühmt für seine Possy, und in manchen Hauptstädten der Autonomen Regionen fand sich ein einzelnes und nicht gerade günstiges Restaurant mit der Küche der jeweiligen Ethnie. Heute ist das keine Seltenheit mehr, und auch die lokalen Variationen der russischen Küche halten Schritt. Geblieben ist jedoch die Urigkeit der kleinen Bahnhofskantinen.

    Probleme – einst und heute

    Diejenigen, die vor 20 Jahren auf russischen Straßen unterwegs waren, wird das vielleicht noch amüsieren, aber schon vor zehn Jahren lag es auf der Hand, dass Reisen in Russland gefährlich ist. Während in den meisten Ländern mit einer hohen Kriminalitätsrate die Zentren der Großstädte als besonders gefährlich gelten, ist es in Russland damals wie heute viel einfacher, in der depressiven Einöde oder den Arbeitervororten Schwierigkeiten zu bekommen. Nicht immer kann man sich von diesen Schwierigkeiten mit der Brieftasche oder dem Handy freikaufen – oft genug ist das Zusammenschlagen ein Selbstzweck. Nein, nicht vor Raubüberfällen muss man sich fürchten, sondern vor frustrierten, gelangweilten und in der Regel betrunkenen Leuten.

    Wenn ich in eine arme Kleinstadt, ein Dorf oder einen Vorort mit Arbeitersiedlungen fuhr, wusste ich, dass mich irgendwann die Gopniki anquatschen würden. Nicht, um mich zu verprügeln oder auszurauben, sondern um mit dem unbekannten und seltsamen Gast zu reden und ihm je nach Gesprächsverlauf am Ende die Hand zu geben oder das Handy zu entwenden. Ich betrachtete die Kommunikation mit diesem Publikum als eine Kunst und leitete sogar eine ganze Philosophie daraus ab, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Wenn du mit den Gopniki zu tun hast, musst du frei sein von Angst, Arroganz und Mitleid. Meine Routen plante ich so, dass ich an einem Freitagabend nicht in soziale Brennpunkte geriet.

    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito
    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

    Ein nicht weniger aktuelles Problem war die Willkür der Miliz (die damals noch nicht Polizei hieß). Brutstätten hierfür waren vor allem strategische Objekte wie Bahnhöfe, die Metro, Orte unweit großer Fabrikanlagen und Plätze vor Regierungsgebäuden. Ein harmloses Foto von einem Bahnhof oder einer alten Fabrik konnte leicht in stundenlange sinnlose Nervereien münden.

    Dass das alles nicht mehr viel mit der heutigen Zeit zu tun hat, wurde mir ein paar Jahre später bewusst, noch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Klar, das Risiko in aggressive Gesellschaft oder an einen schlecht gelaunten Unteroffizier Prischibejew zu geraten ist nicht weg. Es ist kein Geheimnis, dass jede Stadt der Welt gefährlich ist, wenn man sich bei einem Grüppchen Betrunkener im dunklen Hinterhof einer Bar erkundigt, wo man hier am besten 500 Dollar wechseln kann. Aber im Großen und Ganzen ist der Faktor Straßenkriminalität und Polizeiwillkür in den letzten zehn Jahren aus meinen Reisen so gut wie verschwunden. An den Bahnhofstüren hängen Schilder mit der Aufschrift „Fotografieren erlaubt!“, und der Fotoapparat oder das Smartphone mit der guten Kamera sind zu alltäglich geworden, als dass sie das Ziel eines Überfalls oder das Attribut eines Spions sein könnten.

    2009 wussten wir von Saratow vage, dass es da eine Brücke gibt. Von Archangelsk, dass man dort über hölzerne Gehwege läuft. Von Tjumen, dass es aus allen Nähten platzen muss vor schwarzem Gold. Von Irkutsk – dass es von dort aus ein Steinwurf zum Baikalsee ist, und die Fortgeschrittensten hatten mal irgendwo etwas von Holzbaukunst oder dem Irkutsker Barock gehört. Orenburg oder Ishewsk, Pensa oder Kurgan riefen keinerlei Assoziationen hervor.

    Selbst die Frage, warum man überhaupt durch Russland reisen sollte, war damals keine rhetorische. Zu stark war der postsowjetische Impuls des „Endlich darf man“ und Reisen verband man in erster Linie mit dem ungewohnten Ausland, der Schönheit und dem Komfort Europas, der Exotik und Expressivität Asiens … Reisen durch Russland waren was für Heimatforscher-Nerds und Tramper mit leeren Taschen, quasi der Underground des Tourismus. 

    Und dann kam die Krise, deren Höhepunkt exakt auf das Jahr 2009 fiel. In den Großstädten bildete sich eine ganze Schicht von Menschen, die sich Florenz, Venedig und Verona nicht mehr leisten konnten. Quasi über Nacht wurde der Inlandstourismus zur Mode. Das Interesse am russischen Erbe machten sich schnell ehrbare Persönlichkeiten zu eigen, wie Leonid Parfjonow mit seinem Buch Chrebtom Rossii (dt. etwa Das Rückgrat Russlands), das bei vielen schlagartig die Vorstellung davon veränderte, was der Ural ist.

    Nach dem Interesse endete die Gleichgültigkeit: Bei uns verrotten ja ganze Meisterwerke der Holzbaukunst, die Bauträger verschandeln die Altstädte mit ihren Hochhäusern, und überhaupt weiß niemand den Wert der sowjetischen Mosaiken zu schätzen! Und weil die Politiker die Emotionsregungen der Bevölkerung gerne für ihre Zwecke benutzen, schafften es plötzlich der Abriss irgendeines verlassenen Anwesens oder die misslungene Rekonstruktion einer alten Kirche in die Schlagzeilen.

    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito
    Illustration © Marina Klimowa für Perito Burrito

    Auch die Mäzene ließen nicht lange auf sich warten – so wurde das Land beispielsweise von einer ganzen Welle großer Freilichtmuseen für Technik überrollt. Oder, der aktuellste Trend: die Renaissance der Dampfeisenbahn auf regulären Strecken in Touristenorten. Das rief die Enthusiasten auf den Plan – die einen brachten die lange ausgemusterten Schmalspurloks wieder in Gang, die anderen eilten in die tschuchlomische Einöde, um Holzhütten zu restaurieren. Die Stadtverwaltungen produzierten mal reihenweise einförmige Straßenskulpturen oder wetteiferten darum, wer das absurdeste Festival veranstaltet, mal eröffneten sie ganz anständige Museen.

    Vor langer Zeit konstatierte Anton Krotow, der Guru der russischen Tramper-Szene, Reisen werde vom Tourismus abgelöst. Er meinte damit eher das ferne Ausland, während der postsowjetische Raum lange Zeit die letzte Hochburg der touristischen Terra incognita zu bleiben schien. Aber wenn man zurückblickt, stellt man plötzlich fest, dass auch diese Bastion gefallen ist. 2020 sprudelt plötzlich dort das Leben, wo 2010 noch verschlafene, weltfremde Vergessenheit herrschte. Die unermesslichen heimischen Weiten zu bereisen ist einfacher und sicherer geworden, doch das Erstentdecker-Gefühl von einst wartet längst nicht mehr hinter jeder Ecke.

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  • Winter is coming – Fest des Sommers

    Winter is coming – Fest des Sommers

    Die Republik Sacha gilt als kälteste Region Russlands. Das Klima ist gekennzeichnet von kalten, langen Wintern und einem kurzen, heißen Sommer. Der wichtigste Feiertag ist das Fest des Sommers, Ysyach – das tradtionelle Neujahrsfest der Jakuten. Im vergangenen Jahr sind Jekaterina Karpuchina (Text) und Alexej Wassiljew (Fotos) für Zapovednik hingefahren und haben mitgefeiert.

    Im Busbahnhof Jakutsk kämpfen ältere Herrschaften mit kleinen Kindern in Nationaltracht um ein Busticket. „Was ist denn hier los? Das darf doch nicht wahr sein, soll das Fest etwa ohne mich stattfinden?“ Eine ältere Dame in einem schönen weißen Kleid ist richtig sauer. „Ich war schließlich auf praktisch jedem Ysyach Oloncho bislang. Was soll das?!“

    Das jakutische Ysyach ist der Tag des Sommeranfangs, die Einwohner nennen ihn auch einfach Neujahr. Für sie ist er der wichtigste nationale Feiertag. 

    Jedes Dorf, jedes Nasleg (territoriales Teilstück innerhalb der jakutischen Kommunen – Red. Zapovednik), jedes Ulus (Rajon) und jede Stadt feiern das Fest an einem anderen Tag. Also kann man im Sommer gleich auf mehreren Ysyach tanzen. Das wichtigste Ysyach in ganz Jakutien ist jedoch das republikübergreifende Ysyach Oloncho. Es findet jedes Jahr in einem anderen Ulus statt, das von den regionalen Behörden vorab bestimmt wird. 2019 wurde dem Namski Ulus die große Ehre zuteil. Weil es ganz in der Nähe der Stadt Jakutsk ist, wollten sehr viele dorthin, und es gab nicht genügend Transportmöglichkeiten für alle.

    „Uns Einwohnern haben sie gleich ganz verboten, mit dem Auto hinzufahren“, erzählt ein Mann. „Sie haben gesagt: Geht zu Fuß, um den Gästen nicht den Weg zu versperren, oder bleibt zu Hause. Keiner will hier Scherereien, ist schließlich ein Festtag.“ 

    Das Eingangstor – die holzverkleidete Stahlkonstruktionen ist mit jakutischen Schnitzereien verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Eingangstor – die holzverkleidete Stahlkonstruktionen ist mit jakutischen Schnitzereien verziert / Foto © Alexej Wassiljew

    Das erste, was die Besucher auf dem Ysyach sehen, ist das Eingangstor Kiirija. Dahinter sind eine Reihe von Serge aufgebaut (Serge ist jakutisch für einen Pflock, an dem ein Pferd angebunden wird). Vom Tor aus führt eine lange Allee bis zur Hauptbühne, wo auch die Eröffnungszeremonie abgehalten wird. Seit dem frühen Morgen begrüßen Frauen in Nationaltracht die Besucher mit Oladji, kleinen Pfannkuchen, als Symbol der Gastfreundschaft. Klar, sie reichen nicht für alle und bis zum Mittagessen ist alles weg – bis auf die rituellen Säulen.

    Früher wurden an den rituellen Säulen die Pferde angebunden, heute lassen die Besucher ihre Autos auf dem Parkplatz stehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Früher wurden an den rituellen Säulen die Pferde angebunden, heute lassen die Besucher ihre Autos auf dem Parkplatz stehen / Foto © Alexej Wassiljew

    Es gibt kein Ysyach Oloncho ohne den heiligen Baum Aal Luuk Mas. In der jakutischen Mythologie existieren drei Welten: Eine Unterwelt, in der die bösen Geister leben, eine Oberwelt, in der die höchsten Gottheiten leben, und eine Mittelwelt, in der die Menschen leben. Aal Luuk Mas symbolisiert die Verbindung dieser drei Welten. In der jakutischen Mythologie leben in den Zweigen des Baums die guten Geister, die Ajyy, und in seinen Wurzeln verstecken sich die bösen Geister, die Abassy.

    Die Ulus konkurrieren sogar untereinander, wer den besten Aal Luuk Mas hat: höher, schöner, teurer. Im Durchschnitt geben die Rajons jedes Jahr 14 Millionen Rubel [rund 177.300 Euro – dek] aus – für einen einzigen Baum. Der teuerste Aal Luuk Mas in der gesamten Geschichte des Ysyach wurde 2015 im Tschuraptschinski Rajon aufgestellt, für 20 Millionen Rubel [etwa 253.300 Euro – dek]. 2019 haben die Namzy etwa 13 Millionen [rund 165.000 Euro – dek] ausgegeben.

    „Die denken wohl, wenn sie für ein Wahnsinnsgeld einen Aal Luuk Mas aufstellen, dann wird der gleich automatisch heilig“, höre ich die unzufriedene Stimme eines jungen Mannes in Nationaltracht hinter mir. Es hat sich schon eine lange Schlange gebildet, um vor dem heiligen Baum ein Foto zu machen.

    Damit ein Wunsch in Erfüllung geht, muss man den Stamm von Aal Luk Mas berühren und um ihn herumgehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Damit ein Wunsch in Erfüllung geht, muss man den Stamm von Aal Luk Mas berühren und um ihn herumgehen / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Besucher des Ysyach Oloncho warten auf den Beginn des Festes / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Besucher des Ysyach Oloncho warten auf den Beginn des Festes / Foto © Alexej Wassiljew

    Wegen der vielen Zuschauer kann man kaum sehen, was auf der Bühne vor sich geht. Außerdem ist die ganze Vorstellung auf Jakutisch. Mir kommt Sergej zu Hilfe. Er ist nach Namzy gekommen, um seiner Freundin auf der Bühne zuzuschauen, daher ist er mit dem Programm vertraut. „Wir sehen gleich einen Ausschnitt aus dem jakutischen Nationalepos Oloncho. Es geht um den Fürsten Mymach (Fürst der Namzy im 17. Jahrhundert, der eine entscheidende Rolle spielte bei der Eingliederung Jakutiens ins Russische Reich – Red. Zapovednik). Es geht um ihn, um die Verbindung des Menschen zur Natur, und – das ist das Wichtigste – um die Völkerfreundschaft.“

    Die Ballerinas auf dem Ysyach stellen Schwäne dar – das Symbol der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Die Ballerinas auf dem Ysyach stellen Schwäne dar – das Symbol der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Mehr als 300 Teilnehmer kamen allein aus Jakutsk auf das Ysyach Oloncho / Foto © Alexej Wassiljew
    Mehr als 300 Teilnehmer kamen allein aus Jakutsk auf das Ysyach Oloncho / Foto © Alexej Wassiljew
    Vorbereitungen für den Auftritt / Foto © Alexej Wassiljew
    Vorbereitungen für den Auftritt / Foto © Alexej Wassiljew
    Oloncho ist ein Epos über die Verbindung von Natur und Mensch. Diese Tänzerinnen stellen den Lauf des Flusses Lena dar / Foto © Alexej Wassiljew
    Oloncho ist ein Epos über die Verbindung von Natur und Mensch. Diese Tänzerinnen stellen den Lauf des Flusses Lena dar / Foto © Alexej Wassiljew

    Die Vorstellung geht mehr als zwei Stunden und findet ihren Höhepunkt im Algys. Das jakutische Wort bedeutet so viel wie „Segen, Gnade, Lobpreisung, Verheißung, Weihe“. Das Volk der Sacha sagt, dass man es nicht allein als „Segen“ übersetzen kann, da es im Jakutischen eine viel tiefere Bedeutung hat.

    Das Algys wird von einem Mann gehalten, der zu den jakutischen Gottheiten beten kann und, das ist das Wichtigste, der weiß, wie man zu den Geistern spricht.

    Der Algystschit besprenkelt Feuer und Erde mit Kumis [vergorene Stutenmilch], das hier als das irdische Bild des himmlischen Milchsees gilt / Foto © Alexej Wassiljew
    Der Algystschit besprenkelt Feuer und Erde mit Kumis [vergorene Stutenmilch], das hier als das irdische Bild des himmlischen Milchsees gilt / Foto © Alexej Wassiljew
    Während die Gäste den Ossuochai tanzen, vollziehen die Algystschiten das Reinigungsritual / Foto © Alexej Wassiljew
    Während die Gäste den Ossuochai tanzen, vollziehen die Algystschiten das Reinigungsritual / Foto © Alexej Wassiljew

    Insgesamt haben die Organisatoren des Ysyach rund 70 Veranstaltungen auf den einzelnen Tjusjulge eingeplant. So werden die kleinen Plätze zwischen den Serge und den Urassy (die traditionelle Sommerbehausung der Jakuten – Red. Zapovednik) genannt. Jedes Ulus, jedes Ministerium oder Großunternehmen muss ein Tjusjulge auf dem Ysyach haben – das ist sehr wichtig fürs Image. 

    Allein am ersten Tag sind mehr als 10.000 Besucher zum wichtigsten Fest Jakutiens angereist. Der Wald rund um das Gelände ist voller Menschen und Zelte, viele bleiben über Nacht.

    „An Ysyach kann man alle Verwandten treffen, wir wohnen ja in unterschiedlichen Ulus, da kann man sich nicht so einfach treffen. Und für uns ist das das jakutische Neujahr. Selbst unsere Oma ist dabei, sie ist 85 Jahre alt, Opa ist ein Jahr jünger. Sie wären niemals zu Hause geblieben, obwohl es so heiß ist.“

    In den geäumigen Urassy können die Gäste während der Feierlichkeiten entspannen / Foto ©  Alexej Wassilew
    In den geäumigen Urassy können die Gäste während der Feierlichkeiten entspannen / Foto © Alexej Wassilew
    Pferderennen gehören auf einem Ysyach immer dazu / Foto ©  Alexej Wassilew
    Pferderennen gehören auf einem Ysyach immer dazu / Foto © Alexej Wassilew
    Während des Ysyachs finden traditionelle Sportwettkämpfe statt - zum Beispiel das „Stockziehen“ / Foto © Alexej Wasiljew
    Während des Ysyachs finden traditionelle Sportwettkämpfe statt – zum Beispiel das „Stockziehen“ / Foto © Alexej Wasiljew

    Für die Damen ist Ysyach nicht nur ein Fest, sondern ein Schaulaufen. Extra für das Fest nähen sie sich die Nationaltracht Chaladaaj, ein trapezförmiges Kleid. Ein traditioneller Chaladaaj bedeckt den ganzen Körper der Frau, vom Hals bis zu den Zehen und Handrücken. Nicht nur, weil eine jakutische Dame keusch auszusehen hat, der Stoff schützt auch vor den Mücken, die hier in Schwärmen sind.

    Auf mich kommen vier elegante Damen um die 60 zu und bitten darum, sie zu fotografieren. Der goldene Chaladaaj einer der Damen schimmert in der Sonne: „Den Stoff habe ich in Katar gekauft, 100 Prozent Seide, extra angefertigt. Ich habe auch ein Accessoire“, sagt sie und zeigt ihr Täschchen über der Schulter.
     
    „Und ich trage sehr ungewöhnlichen Schmuck“, nimmt die Dame im weißen Kleid das Gespräch auf und zeigt ein silbernes Kreuz an einer dicken Kette. „Das ist ein Ilin Kebiser (traditioneller jakutischer Brustschmuck – Red. Zapovednik), ein Familienstück. Schon meine Mutter und Großmutter haben ihn getragen, er ist von 1915. Und jetzt trage ich ihn an Ysyach.“

    Heute werden solche Schmuckstücke nicht nur aus Silber, sondern auch aus Holz, Ton, Perlen und sogar aus Plastik hergestellt. Früher wog der Brautschmuck nicht weniger als 20 Kilogramm, heute wiegt er wegen des leichteren Materials selten mehr als 1,5 Kilo. Heute hängt auch der Preis vom Gewicht ab. Ein gewöhnlicher Chaladaaj aus dünner Baumwolle kostet ungefähr 20.000 Rubel [rund 250 Euro – dek] und Schmuck aus Nickel und Kupfer um die 3500 Rubel [rund 45 Euro – dek]. Wenn man ein Kleid aus Seide nähen lässt und Silberschmuck kauft, dann können es weit über 150.000 Rubel werden [rund 1900 Euro – dek] – es hängt alles vom Budget ab.
    „Wenn man früher für Ysyach irgendwelche Kleider aus dünnem Baumwollstoff nähte, dann war das eine große Freude. Man zeigte sich damit, und es war nicht so heiß. Und heute! Was da nicht alles zur Schau getragen wird! Sofort ist klar, wer wieviel verdient“, fügt eine der Freundinnen hinzu. 
    Die Damen bedanken sich fürs Foto und eilen weiter, ein Foto machen vor dem Aal Luuk Mas.

    Frauen in einzigartigen Chaladaaj-Kleidern  / Foto © Jekaterina Karpuchina
    Frauen in einzigartigen Chaladaaj-Kleidern / Foto © Jekaterina Karpuchina
    Cafés mit traditioneller Küche gibt es auf dem Ysyach nur wenige. Statt Kumis trinken viele Cola / Foto © Alexej Wassiljew
    Cafés mit traditioneller Küche gibt es auf dem Ysyach nur wenige. Statt Kumis trinken viele Cola / Foto © Alexej Wassiljew
    Die winterliche Nationaltracht ist immer mit Pelz verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Die winterliche Nationaltracht ist immer mit Pelz verziert / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Pferd ist für Jakuten ein Symbol für Wohlstand / Foto © Alexej Wassiljew
    Das Pferd ist für Jakuten ein Symbol für Wohlstand / Foto © Alexej Wassiljew

    Der Höhepunkt des Ysyach ist das rituelle Treffen mit der Sonne. Am Himmel über Jakutien geht sie schon um 2.30 Uhr nachts auf. Schon den allerersten Sonnenstrahlen muss man die Hände entgegenstrecken, die Handflächen nach oben. Es ist eine sehr alte Tradition, deswegen ehren die Jakuten sie sehr, aber viele ziehen es vor, die Sonne zuhause zu begrüßen.

    Am Ausgang treffe ich ein Pärchen. Die jungen Leute grüßen mich, dabei kennen wir uns nicht. „Wie gefällt euch das Fest?“, frage ich, weil man das so macht. Und bekomme eine untypische Antwort: „Wir sind gerade erst angekommen und haben noch gar nichts gesehen. Ganz ehrlich, wir sind sehr selten auf dem Ysyach, wir sind eine andere Generation, aber auch das Ysyach ist nicht mehr das, was es mal war. Heute ist es eher eine Show.“

    Wir unterhalten uns noch kurz und verabschieden uns. Aber die Worte der jungen Frau gehen mir nicht aus dem Sinn und ich denke nach über den Sinn dessen, was da vor sich geht, und darüber, ob man Traditionen ganz ohne Veränderungen überhaupt bewahren kann. Aber irgendwann wird mir klar, dass das Wichtigste an dem Fest sich über die Jahre nicht geändert hat: die Atmosphäre der Freundschaft und des Wohlwollens. Sie ist es, nicht die Sonne, die wirklich positive Energie gibt. Schauen wir mal ob die reicht für den langen jakutischen Winter. Denn der Winter naht.

    Nicht alle Gäste begrüßen die Sonne, nachts leert sich das Tal der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew
    Nicht alle Gäste begrüßen die Sonne, nachts leert sich das Tal der Namzy / Foto © Alexej Wassiljew

    Autorin: Jekaterina Karpuchina
    Fotografie: Alexej Wassiljew, Jekaterina Karpuchina
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 10.07.2020

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  • Patriotisches Vergnügen

    Patriotisches Vergnügen

    Ein Besuch im Park Patriot, dem Freizeitpark für echte Patrioten und solche, die es werden wollen.

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Patriot – Der Name des Parks ist kein Zufall. Hier ist alles durchdrungen von Patriotismus. Auf dem Parkgelände entsteht ein Flugmuseum, ein Museum für Panzertechnik, ein Artilleriemuseum, Sportanlagen, Sportgeräte, historische Ausstellungen sowie Waffen-Ausstellungen. Wir realisieren hier ein Projekt, wo junge Menschen die Exponate nicht nur anschauen, sondern in Militärgeräten fahren und fliegen, mit Feuerwaffen schießen und Fallschirmspringen können.“
     
    Sergej Schoigu, Verteidigungsminister der Russischen Föderation

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    Auf dem Gelände des Parks finden alle Großveranstaltungen des Verteidigungsministeriums Russlands statt – Ausstellungen, Gesprächsrunden, Kongresse, Briefings und Gremiensitzungen.

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    Besonders beliebt bei Besuchern ist der historische Erinnerungskomplex Partisanendorf. Der Komplex besteht aus mehr als 20 Objekten (Unterstände, Stallungen, Bunker, Sanitätsstation, Waffen- und Munitionsdepot, Sprengstoffwerkstatt, Küche, Bäckerei, Banja, die Rote Ecke, Klub und so weiter), so werden Leben und Alltag der Partisanentruppen während des Großen Vaterländischen Krieges bis ins kleinste Detail nachgestellt.

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    Anlässlich des 75. Jahrestags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg wurde auf dem Parkgelände die Hauptkirche der Streitkräfte Russlands zu Ehren von Christi Himmelfahrt erbaut. Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland weihte den Grundstein im Beisein des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des Verteidigungsministers der Russischen Föderation Sergej Schoigu.

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    Spendensammlungen für den Bau begannen im September 2018. Speziell für diese Kirche entstand das Achiropíiton Nicht von Menschenhand geschaffenes Bild Christi, das die Hauptikone der Streitkräfte der Russischen Föderation wird. Das Bild des Retters ist in einen bronzenen Flügelaltar eingelassen und wiegt rund 100 Kilogramm. Sowohl das Bild als auch der Flügelaltar wurde mit privaten Mitteln von Präsident Putin finanziert. An den Wänden der Kathedrale finden sich Fresken mit Schlachtszenen aus der Militärgeschichte und Texte aus der Heiligen Schrift.

    Einweihung der Hauptkirche der Streitkräfte Russlands im Juni 2020 / Foto © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation
    Einweihung der Hauptkirche der Streitkräfte Russlands im Juni 2020 / Foto © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation
    Foto © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation
    Foto © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation

    2020 wird auf dem Parkgelände das militärisch-patriotische Jugendbildungszentrum Avantgarde eröffnet.

    Musterungszentrum für Soldaten auf Zeit / Foto © Katya Deriglazova
    Musterungszentrum für Soldaten auf Zeit / Foto © Katya Deriglazova

    „Die Ausstellung über den Bürgerkrieg in Syrien ist ein neues Ausstellungsformat im Park Patriot.

    Unsere Ausstellung zeigt die neueste Geschichte der Friedenspolitik Russlands und seiner Streitkräfte, die zum Frieden aufrufen und eine humanitäre Mission im Interesse der gesamten Weltgemeinschaft erfüllen.“

    Offizielle Website Park Patriot

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Sehen Sie beim Ausstellungsbesuch, wie negativ sich die humanitäre Krise und die terroristischen Bedrohungen auf die friedliche Bevölkerung auswirken und wie realistisch Themenschaubilder mit echter Kriegstechnik aussehen.

    Lernen Sie die Mission des Zentrums zur Aussöhnung verfeindeter Seiten in Syrien kennen, darunter auch die neueste Beobachtungstechnik: ferngesteuerte Drohnen und Autopilot-Fluggeräte.

    In einer Sonderausstellung zu Kriegstrophäen zeigen wir zahlreiche Waffen, darunter Granatwerfer und Artilleriegeschütze terroristischer Organisationen aus handwerklicher und Fabrik-Produktion sowie aus handelsüblichen Gasflaschen hergestellte Munition. An einem weiteren Stand können Sie Schusswaffen ausländischer Produktion begutachten, die Soldaten abgenommen wurden, darunter viele Nachbauten der AK-74.

    Verfolgen Sie live die Arbeit von Minenräumtrupps und mobilen Minenräumrobotern des Typs Uran-6 – aus nur einer Armlänge Entfernung. Entminte Spielzeuge zeigen hier das wahre Gesicht des Terrors.

    Еine Ausstellung, die realistisch das Panorama der zerstörten Stadt Palmyra zeigt, wird Sie sprachlos machen, auch durch den Eindruck, man sei am Ort des Geschehens.“


    Besucherreaktionen

     „Während des Besuchs und danach hatte ich ein unerschütterliches Gefühl von Stolz und Patriotismus für mein Vaterland!“

    „Sehr interessant für die Kinder. Man kann im Zentrum für kriegstaktische Spiele Geburtstage und Firmenfeste feiern.“

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Man kann verschiedene Schusswaffen ausprobieren, in einer modernen Soldatenkantine essen, einen Schützenpanzer- und Motorboot-Simulator lenken. Unvergesslich sind die Eindrücke vom Großen Vaterländischen Krieg, inklusive Besuch eines Konzentrationslagers.“

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Das zweite Jahr hintereinander haben wir die Ausstellung Armee 2018 besucht. Und wieder positive Gefühle noch und nöcher!!! Und die Show Freundliche Menschen auf dem Truppenübungsplatz Alabino ist noch mal ein Thema für sich. Direkt vor euren Augen entwickeln sich reale Kampfhandlungen. Granaten explodieren, Hubschrauber fliegen … Der Park selbst ist auch sehr interessant. Riesenmengen an Militärtechnik. Alles kann man anfassen, überall reinklettern. Die Fotos sind unvergesslich. Das Essen ist gut organisiert. Die Preise erschwinglich für derartige Venues. Rundum eine festliche Atmosphäre.“

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung in Worte zu fassen. Gigantisch, schlecht erreichbar, grandios geschmacklos, sinnlos, kitschig, strohdumm, furchtbar, reinste Geldmacherei.“

    Foto © Katya Deriglazova
    Foto © Katya Deriglazova

    „Der Park Patriot sorgt für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung, vermittelt ein attraktives Bild des Wehrdiensts bei den Streitkräften und fördert die Entwicklung von Liebe und Ehrfurcht zum Vaterland.

    Auf dem Areal können täglich 20.000 Besucher empfangen werden.
    Eintritt 500 Rubel [6,30 Euro].

    Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, wir freuen uns auf Ihren Besuch im örtlichen Musterungszentrum!“

    Offizielle Website Park Patriot


    (Die Texte sind der offiziellen Website des Park Patriot entnommen, den Wikipedia-Seiten über den Park und der Kathedrale der Streitkräfte sowie Rezensionen bei Google.)

    Fotos: Katya Deriglazova
    Übersetzung und Redaktion: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 19.06.2020

     

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  • Vergangenes, ganz nah

    Vergangenes, ganz nah

    Ein Mann schaut aus einem Zugfenster. Er blickt den Betrachter direkt an, ganz präsent, ernst sieht er aus. Erst auf den zweiten Blick merkt man: Er trägt eine Uniform, eine historische Uniform. Und der Zug … ist auch ein historischer. Und da wird klar: Das ist nicht irgendein Zeitgenosse, das ist Zar Nikolaus II.
     
    Olga Schirnina, eine studierte Germanistin, koloriert alte Schwarzweiß-Fotos. Nicht nur Abbildungen von bekannten Persönlichkeiten, auch Alltagsszenen, Bilder aus Akademien oder auch Kriegsfotos. In Farbe wirkt das Vergangene irritierend nah, das Historische plötzlich ganz aktuell. 

    Streng dokumentarisch ist das nicht. Aber: Wie viel Wahrheit und wie viel Realität transportiert Fotografie? Es sind eben viele Wahrheiten und viele Realitäten. Auch auf den kolorierten, bunten Bildern von Olga Schirnina.

    Russisches Bauernmädchen, 1925 / Alexander Belikow
    Eine Bäuerin und ein junges Mädchen stehen auf hölzernem Flusssteg. Die Bäuerin schultert ein Tragjoch mit zwei Eimern Wasser, Russland 1900er Jahre / Samuel Hopwood
    Prinz Jussupow, Graf Sumarokow-Elston posiert dem Künstler Walentin Serow für ein Porträt mit einem Araber, 1909
    Großherzoginnen Maria und Olga Romanowa, 1912
    Kavallerie, Kosaken, Russische Armee, 1912
    Bildungsinstitut für adlige Mädchen, Irkutsk, 1912
    Iwan Pawlow (1849–1936), russischer Physiologe. Pawlow (Mitte, mit Bart) mit Assistenten und Studenten an der Kaiserlichen Militärmedizinischen Akademie in Sankt Petersburg, vor einer Demonstration seines Experiments an einem Hund, 1912–14
    11. September 1913: Beim 3. Militärflugzeugwettbewerb fiel der Motor der fliegenden Meller-II aus etwa 50 Meter Höhe auf den unten geparkten Doppeldecker Russki Witjas (dt. Russischer Ritter). Es war das einzige Exemplar dieses historischen Flugzeugs. Flugzeugbauer Igor Sikorski hat es nach dem Unfall nie wieder aufgebaut (damals befand sich schon das Flugzeug Ilja Muromez im Bau). Bei der Meller-II wurde die Tragflächenkosntruktion nicht zerstört, dem Piloten gelang eine sichere Landung.
    Der Mann auf der linken Seite ist Adam Gaber-Wlynski – Pilot der Meller-II; in der Mitte Igor Sikorski – Konstrukteur des Russki Witjaz
    Professor Wladimir Makowski im Malerei-Atelier der russischen Akademie der Künste, Sankt Petersburg, 1913
    Flugzeugbeschuss während des Ersten Weltkriegs, 14. Juli 1916
    Zar Nikolaus II., 28./29. Juli 1916
    Ankunft des Zaren Nikolaus II. am Standort der 1. Armee, geführt von Oberbefehlshaber General Alexander Litwinow, 30. Januar 1916, Bezirk Dwinsk
    Wladimir Iljitsch Lenin während des Russischen Bürgerkriegs bei der Parade der Wsewobutsch-Truppen in Moskau am 25. Mai 1919
    Priester Solodkow, der Schiffsarzt und die Katze an Deck der Kagul in Bizerta (Tunesien), 1921
    Anatoli Lunatscharski mit seiner Frau
    Moskau, Sucharew Turm, 1931
    Die ersten Fahrgäste der Moskauer Metro, 1935
    Marine-Aufklärer der Nordflotte 1942 unter dem Kommando des Unterleutnants Petrow / Jewgeni Chaldei
    Leningrad im Zweiten Weltkrieg 1944, Zuschauer des Leningrader Gorki-Theaters
    Sewastopol im Zweiten Weltkrieg, Panzer der Roten Armee, 1944 / Jewgeni Chaldei
    9. Mai 1945 in Moskau: Der Tag des Sieges

    Bildredaktion: Andy Heller
    Kolorationen: Olga Schirnina
    Veröffentlicht am 05.05.2020

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  • „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    Um Konstantin Bogomolow hat sich in Russlands liberalen Kreisen eine heftige Debatte entzündet. Bogomolow gilt neben Kirill Serebrennikow als einer der wichtigsten Theaterregisseure des Landes. Er hat außerdem die erste russische Serie gedreht, die Amazon für die Kategorie Originals and Exclusives kaufte und seit Dezember auch auf Deutsch zeigt.

    Zwar nimmt sich die Filmkritik zu Sodershanki (Russian Affairs, dt.: Mätressen) nicht so überschwänglich aus wie üblicherweise die Theaterkritik zu Bogomolows Inszenierungen, insgesamt sind die Rezensenten aber wohlwollend. Mit viel Sex erzählt die erste Staffel vom Glamour-Milieu der russischen Hauptstadt: Intrigen und Machtspiele sind hier demnach genauso an der Tagesordnung wie Geldgier und Zynismus.

    Ähnliches werfen nun einige auch Bogomolow selbst vor: Noch 2013 hatte er gegen Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin und die Ergebnisse der Moskauer Bürgermeisterwahl protestiert, 2018 aber plötzlich im Wahlteam für Sobjanin getrommelt. Bogomolow habe sich verkauft, so der häufige Vorwurf. Meduza hat mit dem Regisseur über Sodershanki gesprochen und ihn mit dem Vorwurf konfrontiert. 

    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Alexandra Serkalewa: Warum haben Sie beschlossen, eine Serie über die Moskauer High Society zu drehen? Was macht das Thema gerade jetzt aktuell und interessant für Sie?

    Konstantin Bogomolow: Ich wähle Themen nicht nach ihrer Aktualität aus. In diesem Fall wollte ich mich in der Filmbranche ausprobieren, ich habe noch nie eine Serie gedreht. Ich habe mich mit den Produzenten zusammengesetzt, und gemeinsam sind wir mögliche Themen durchgegangen. Am Ende waren wir uns einig, dass eine Serie über das moderne Leben in Moskau, innerhalb einer gewissen Moskauer Bourgeoisie, genau das Richtige für ein Debüt wäre. In diesen Kreisen kenne ich mich mehr oder weniger aus, kann mehr oder minder glaubwürdig, auf jeden Fall ehrlich, darüber berichten. Das ist alles. Dann kam das Drehbuch.

    Ich habe nur die erste Folge gesehen, darin gibt es sehr viel Sex, und der ist für russische Verhältnisse ziemlich realistisch dargestellt. Man hört von vielen russischen Schauspielern und Regisseuren, bei uns seien weder die Zuschauer noch die Filmemacher Sex auf der Leinwand gewohnt. Hatten Sie keine Schwierigkeiten damit?

    Nein. Ich finde, das ist ein echtes Problem im russischen Film und unter russischen Schauspielern. In dieser Hinsicht ist uns vielleicht sogar eine Art Durchbruch gelungen. Es stimmt, in der ersten Folge gibt es viele erotische oder explizite Szenen; in der siebten Folge gibt es eine fantastische Sex-Szene, die Seltenheitswert für den russischen Film hat.

    Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex

    Mir ging es darum, diesen natürlichen, wesentlichen, schönen Teil des menschlichen Lebens nicht in diesen verschämten Bildern zu zeigen, bei denen sie auf ihm sitzt, schnell runterklettert, und dann liegen beide erschöpft da. Oder die Lippen berühren sich, seine Hand wandert irgendwohin – und dann wird abgeblendet. Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex. Ich finde, das ist uns auch gelungen: Man hat wirklich das Gefühl von echtem Sex.

    Wenn es im russischen Film schlecht um den Sex bestellt ist, dann findet er im russischen Theater überhaupt nicht statt.

    Im Theater Sex darzustellen ist witzlos. Das Theater ist nicht die Kunstform, die das braucht. Ich bin prinzipiell gegen zu viel Körperlichkeit, zu viel physische Nacktheit auf der Bühne.

    Warum?

    Weil auf der Bühne niemand lebt und niemand stirbt. Aber damit wären wir bei ästhetischen Überlegungen, die ich ungern im Interviewmodus bespreche. Das Theater ist eben die Kunst des Bedingten, nicht des Unbedingten, verstehen Sie? Im Theater mit körperlicher Freizügigkeit zu schocken, ist dumm. Einfach dumm, so sehe ich das.

    Im Westen gibt es die #MeToo-Bewegung und im Kino den Superheldinnen-Film Captain Marvel, während bei uns zur selben Zeit der Film Ljubownizy (dt. Liebhaberinnen) und die Serie Sodershanki an den Start gehen. Ist das die russische Filmversion von starken Frauen?

    Ich denke nicht in diesen Kategorien, ganz ehrlich. Ich finde diesen ganzen Kontext furchtbar langweilig, diese ganzen Genderrollen, Feminismus und so weiter.

    Dabei haben Sie jüngst in einem Interview gesagt, Frauen seien – sowohl als Protagonistinnen sowie als Schauspielerinnen – heutzutage viel spannender als Männer.

    Ja, so ist die Zeit. In den 1970ern waren Männer spannender als Frauen. Es gab sehr unterschiedliche Protagonisten, viele komplexe Männerfiguren auf der Leinwand. Jetzt gerade gibt es sehr viel mehr energetisch interessante Frauen als Männer.

    Und womit hängt das zusammen?

    Vielleicht damit, dass in den 1970er Jahren die Vorkriegsgeneration nachwirkte, heute die Nachkriegsgeneration. Krieg, Revolution, Emigration und so weiter – das hat vor allem die männliche Linie getroffen. Die Opfer des 20. Jahrhunderts waren überwiegend Männer, deshalb ist die weibliche Linie besser erhalten. Vielleicht hat es damit zu tun. Vielleicht ist es auch nur eine Kulturperiode.

    Also sehen Sie keinen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Bewegungen?

    Ich bitte Sie, womit soll das zusammenhängen, mit welchen gesellschaftlichen Bewegungen? Soll der Feminismus etwa dafür gesorgt haben, dass es weniger energetische Männer gibt? Nein.

    Oder gibt es wegen des Feminismus mehr energetische Frauen? Das hat nichts mit gesellschaftlichen Bewegungen zu tun. Ich glaube, der Qualitätsverfall der männlichen Bevölkerung ist eine Phase, die entweder mit den Genen oder mit gesellschaftlicher Nachfrage zu tun hat.

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen. Das ist normal. Wie bei einem Tischgespräch, da will man auch mal schweigen. Vielleicht ist das so eine Phase, in der die Männer eben beschlossen haben, den Mund zu halten.

    Sie sind aktiv in Sozialen Netzwerken, schreiben auf Facebook und Instagram. 2018 haben Sie eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, wie sehr sich Moskau zum Besseren verändert habe. Kurz darauf gaben Sie bekannt, dass Sie Sobjanin als Vertrauensmann [bei der Bürgermeisterwahl – dek] unterstützen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

    Weil ich seine Arbeit in Moskau unterstütze. Ich finde, er ist ein sehr effektiver Manager, Moskau hat Glück mit diesem Mann, er hat die Stadt wieder zu einem neuen Leben erweckt, er hat sie reanimiert und vor dem Kollaps bewahrt. Einem atmosphärischen Kollaps, sozusagen. Es wurde irgendwann unerträglich, sich in der Stadt aufzuhalten. Sobjanin und seine Leute haben das Blatt gewendet, die Stadt ist wieder eine Stadt für die Menschen geworden, nicht nur Steine, ohne Grün, ohne Gehwege, ohne irgendein urbanes Leben.

    Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern

    Verstehen Sie, irgendwann ist man genervt vom Genervtsein. Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern. Da, ein kaputter Gehweg – der perfekte Grund für einen spitzfindigen Instagram-Post mit Foto, oder? Aber die Bäume auf der Twerskaja, die sind wohl kein Grund. Ganz objektiv nicht: Niemand postet ein Foto von den Bäumen auf der Twerskaja. Aber ich erinnere mich, dass da in meiner Kindheit Bäume standen, ich weiß noch, wie sie unter Lushkow zerstört und abgeholzt wurden. Und jetzt sehe ich die Twerskaja meiner Kindheit wieder.

    Aber wenn kurz vor den Wahlen auf Instagram 50 Posts mit dem Hashtag erscheinen, wie schön jetzt alles ist, dann hat das etwas Künstliches.

    Das ist wohl eher eine Frage an die Macher der Kampagne. Wahrscheinlich hätte man das Ganze komplexer gestalten sollen.

    Aber es war Ihnen nicht unangenehm, da mitzumachen?

    Nein, warum? Ich habe da aus Überzeugung mitgemacht. Mir waren meine gesellschaftlichen Aktivitäten noch nie unangenehm. Sie fragen mich ja auch nicht: War es Ihnen nicht unangenehm, gegen die KPdSU oder für Jelzin auf die Straße zu gehen? Das habe ich gemacht, ja.

    Sie sind auch 2012 auf die Straße gegangen.

    2011, 2012 und 2013, für [Alexej] Nawalny. Ja, das bin ich, ich habe kein Problem damit. Wenn mir etwas in dem Moment richtig erscheint, tue ich das aus Überzeugung.

    Würden Sie heute nicht mehr für Nawalny auf die Straße gehen?

    Nein.

    Haben Sie keine Angst, wenn Sie als Kunstschaffender Ihre Überzeugungen ändern und heute zum Beispiel die Regierung unterstützen, morgen die Gunst der Herrschaft aber in einen Zorn der Herrschaft umschlagen und man Ihnen das alles nachtragen könnte?

    Ich bitte Sie, welche Gunst der Herrschaft? Habe ich denn ein Theater? Auf welche geheimnisvolle Weise ergoss sich die Gunst der Herrschaft über mich? Wenn ich etwas mache, das mit dieser Regierung zu tun hat, dann, weil ich es für richtig halte und nicht, weil ich dafür Zuckerbrot bekomme.

    Aber Sie können sich durchaus vorstellen, dass Sie Ihre Meinung vielleicht in drei Jahren wieder ändern?

    Hören Sie, meine Ansichten verändern sich ständig, jetzt sehe ich das so, morgen vielleicht anders, heute betrachte ich Europa und Russland auf diese Weise, gestern war es eine andere. Ich kann heute mit dem Sender Spas reden, und gleichzeitig gebe ich Ihnen ein Interview. Gestern habe ich mit Doshd gesprochen. Ich habe kein Problem damit, überall das zu sagen, was ich denke. Auf Spas rede ich darüber, dass ich nicht getauft und ziemlich kirchenfern bin. Und bei Doshd sage ich, dass mir diese ganze liberale Clique auf den Geist geht, sie ist dumm und untalentiert. Ich habe kein Problem damit, zu sagen, was ich denke. Ob das jemandem gefällt oder nicht, ob man was anderes von mir erwartet oder was anderes gewohnt ist – das ist nicht mein Problem.

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  • Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

    Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

    Dem ferner rückenden Russland wieder näher kommen – das ist Ziel, Sinn, Wesenskern und Ursprung von dekoder. In fast fünf Jahren haben wir im weltweiten Internetz einen Kosmos aufgespannt aus Bildern, Berichten, Interviews, Reportagen, Kommentaren, Gnosen. Es ist ein komplexes Netz, es bedarf konzeptioneller Jonglierkunst – und wir sind die umtriebigen Jongleure für die russische Wirklichkeit. 

    Doch manchmal möchte man die Bälle ruhen lassen. Zuweilen durchzog uns ein sehnsüchtiger Seufzer, wenn wir uns ausmalten, wie wir das, was wir hier vielstimmig in den Online-Kosmos schicken, ganz ruhig und sanft und klar zwischen zwei Buchdeckel verpacken. 

    Und so machten wir uns auf den Weg. Zunächst brauchte es einen Verlag, der versteht, was dekoder will und mit dem es Freude macht, das Aus-online-mach-analog-Experiment anzugehen. Diesen Verlag gab es, er heißt Matthes & Seitz Berlin und besticht durch sein vielstimmiges und kluges, begeisterndes und modern kuratiertes Programm. Vielstimmig, klug, begeisternd und modern kuratiert – das ist auch dekoder. Das passte zusammen.

    Der nächste Schritt bestand dann darin, einen Textkörper zusammenzubauen, der die mittlerweile fast fünf Jahre dekoder abbildet: das, was in Russland passiert ist, das, was Russland ausmacht, das, was in Russland gedacht wird und nicht zuletzt das, was in Russland zu sehen ist. 

    Und jetzt ist es da: das aktuelle Vademecum zu dem Riesenland im Osten, das wir lieben, mit dem wir leben und arbeiten. Und zwar gerne, jeden Tag – und da ist es schön, wenn man mal, statt auf den Bildschirm zu starren, einfach zum dekoder #1 greifen, und darin beglückt blättern und selig lächelnd lesen kann. 

    Das Coverfoto von Anastasia Khoroshilova war übrigens als letzter Streich ein „Genau, das ist es“. Es leuchtet aromatisch und lecker. Und ist somit hoffentlich ein genaues Abbild des Buchinhalts.

    Lasst es euch gut gehen bei der Offline-Lektüre, die sich gerade dann lohnt, wenn man dekoder sonst immer online genießt … und die in Zeiten von offizieller Verwirrung einen informierten Überblick schafft.

    Have a good read!
    Das wünschen euch Tamina und Rike

    PS: Ein erstes Interview zum Buch gibt’s auf Deutschlandfunk Kultur – Lesart.

    PPS: Eine Klub-dekoderin schrieb uns: „Hier der Kommentar meines Mannes, den ich genötigt habe, das Buch zu lesen: ,Der Band hat mir jetzt ein Studium in Osteuropäischer Geschichte erspart.‘“

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  • „Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein“

    „Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein“

    Wie findet man nach einer Gewalterfahrung zurück ins Leben? Kann es nach dem Krieg eine Normalität geben? Diese Fragen lotet der 28-jährige Regisseur Kantemir Balagow in seinem Film Dylda (engl. Fassung: Beanpole) aus, der in fast gemalten Bildern eine Frauenfreundschaft in Leningrad nach der Blockade und dem Großen Vaterländischen Krieg beschreibt. 

    Der Film wurde international mehrfach ausgezeichnet. In Cannes etwa lief Dylda in der Sektion Un Certain Regard und erhielt den Preis für die Beste Regie sowie den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker. Außerdem stand er auf der Shortlist für den sogenannten Auslands-Oscar (auch wenn es am heutigen Montag keine Nominierung für ihn gab).

    Tatjana Rosenschtain hat mit dem Regisseur Kantemir Balagow für Kommersant-Ogonjok gesprochen.

    Tatjana Rosenschtain: Aufgrund Ihres Alters, Sie sind 28 [zum Zeitpunkt des Interviews und im russ. Original noch 27 – dek], werden Sie oft als Jungregisseur bezeichnet. Doch Sie wagen sich an komplexe Themen heran. Der Große Vaterländische Krieg, die Nachkriegszeit: Woher schöpfen Sie Ihre Vorstellung von dieser Zeit, Ihr Wissen darüber? Auf welche Grundlage stützen Sie sich?

    Kantemir Balagow: Alles begann mit dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Als ich es gelesen habe, eröffnete sich mir eine ganze Welt. Davor hatte ich selten über den Krieg nachgedacht und fast nie über das Schicksal der Frauen, die ihn überlebt haben. Laut Statistik ist der Zweite Weltkrieg der Krieg mit der höchsten Frauenbeteiligung. Das hat mich vor viele Fragen gestellt. Ich fragte mich: „Was passiert mit einer Frau, die von der Front zurückkehrt?“ Oder: „Wie kann eine Frau nach den Dingen, die sie im Krieg gesehen hat, neues Leben geben?“ Ich glaube, der Krieg führt zu einem erheblichen Knacks in der Psyche einer Frau. Er verstümmelt sie, und es braucht viel mehr Zeit, bis sie wieder zu einem normalen Leben zurückfindet.

    Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren

    Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren und nichts über diesen Abschnitt der Geschichte wissen. Das ist verständlich, für sie ist das längst Vergangenheit. Viele denken: „Es gab einen Krieg, na und?“ Ehrlich gesagt, habe ich bis vor Kurzem so ähnlich gedacht. Aber dann wurde mir klar, dass es meine Pflicht ist, einen Film über dieses Thema zu drehen, als Regisseur, als Mensch und als Staatsbürger. Es war mir wichtig, die Folgen des Krieges durch die Augen meiner Generation zu zeigen.

    Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen

    Anders gesagt: Einen Film für meine Altersgenossen zu machen, für junge Leute. Wahrscheinlich habe ich das Thema auch deshalb gewählt, weil sich in mir eine Art Zeitverschiebung ereignet hat: Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen. Heute glaube ich tatsächlich, dass Ija und Mascha (so heißen die beiden Protagonistinnen im Film – Ogonjok) 1945 gelebt haben. Um sie auf der Leinwand zu verkörpern, haben meine Darstellerinnen viel geprobt und sich in das Thema vertieft. Sie haben Alexijewitsch gelesen oder zum Beispiel die Erzählungen von Andrej Platonow. Es war mir wichtig, dass sie es schaffen, die Atmosphäre der Zeit einzufangen.

    Man hat den Eindruck, dass Sie Ihr Thema gefunden haben: Sie erzählen vom menschlichen Schmerz, losgelöst vom Kontext. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Hauptfigur. Man könnte Ihre Arbeit auch mit der eines Psychotherapeuten vergleichen: Sie versuchen, das Trauma mit dem Zuschauer durchzusprechen. Da ist wiederum die Frage: Woher kommt dieses Interesse an den tragischen Aspekten des Lebens?

    Ich interessiere mich für die Menschen. Ich mag es, in ihre Psychologie einzutauchen, Grenzzustände und die menschlichen Reaktionen zu beobachten. Ich möchte herausfinden, wie sich unmoralische Handlungen auf ihr späteres Leben auswirken.

    Wie wirken sich unmoralische Handlungen auf das spätere Leben aus?

    Ich glaube außerdem, dass menschliches Leid unabhängig von der Epoche, der Zeit und der Entwicklungsstufe einer Gesellschaft existiert.

    Menschliche Gefühle sind nicht transformierbar, sie verändern sich nicht mit dem Entstehen sozialer Netzwerke oder technischer Geräte. Etwas sitzt in uns, im Inneren des Menschen; dieses Etwas kann die Schattierung oder Richtung ändern, aber im Kern bleibt es gleich. 

    Ich glaube, die Russen reagieren sehr empfindlich auf Schmerz. Hier herrschten schon immer harte Lebensbedingungen, die eng mit den Gesellschaftssystemen verbunden waren. Ich kann nicht beurteilen, wie hart die Geschichte der Franzosen, Engländer oder Italiener ist. Ich bin in Russland geboren und habe keinen Vergleich. Aber mir scheint, dass die russische Geschichte komplizierter und schwieriger ist als die europäische. Repressionen, Kriege, die Härten des Alltags – das alles prägt das Weltbild. Nach so viel Leid sind die Menschen so.

    In Russland werden heutzutage viele Filme über den Krieg gedreht. Was denken Sie, was unterscheidet einen Hurra-Patriotismus von einem echten, natürlichen?

    Ich finde, man muss die Erinnerung an die Gefallenen im Stillen bewahren. Sie erforschen, kennen, sich dafür interessieren, und sie nicht an jeder Ecke herausposaunen. Das bedeutet Respekt und Würde. Der Hurra-Patriotismus mit seinem Paradigma „wir können das wiederholen“ führt zu Kriegseuphorie. Die Folgen eines solchen Patriotismus sind traurig, sogar katastrophal, sie können zu einem neuen Krieg führen.

    Ich bin überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss

    Als Regisseur bin ich überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss und sich auf das Schicksal der Menschen konzentrieren. So ist es bei Dylda – der Film erzählt von den Auswirkungen des Krieges auf Einzelschicksale, davon, wie schwer es diesen Menschen fällt, zu ihrem Leben vor dem Krieg zurückzukehren. Ich persönlich denke, eine Rückkehr ist für sie unmöglich. 

    Jemand, der als Jugendlicher, mit 17 oder 18, in den Krieg gezogen und mit 24 oder 25 zurückgekehrt ist, hat seine Jugend verpasst. Er wird diese Leerstelle, die verpassten Lebensabschnitte nie mehr füllen können. In meinem Film gibt es eine Szene, in der Mascha ein grünes Kleid anprobiert, das ihre Nachbarin, eine Schneiderin, für einen Auftraggeber näht. In dem Moment, als sich die seelisch und körperlich angeschlagene junge Frau (ihr droht Unfruchtbarkeit, ihr einziger Sohn ist gestorben) in dem festlichen Kleid vor dem Spiegel dreht, begreift sie, dass sie die verpassten Jahre nie mehr zurückholen kann. Sie wird niemals jung sein, und das ist eines der zentralen Themen in meinem Film. Warum es nie wieder Krieg geben darf.

    Mir schien, dass Mascha ihren Schmerz besonders dramatisch erlebt und ihn sogar auf ihre Freundin Ija (Dylda) überträgt. Kann man für den Schmerz eines anderes verantwortlich sein?

    Das sehe ich anders. Sie überträgt ihren Schmerz nicht, sie teilt ihn mit ihrer Freundin, weil diese bereit ist, ihn zu teilen. Die beiden Frauen zehren von ihren gegenseitigen Gefühlen. Wie Yin und Yang – sie scheinen zu verschieden, aber sie ergänzen sich perfekt. Mascha pocht darauf, dass ihre Freundin ein Kind zur Welt bringt, das ihre seelischen Wunden heilt. Ich denke nicht, dass sie damit recht hat.

    Wenn man sich die Zukunft der beiden Heldinnen vorstellt, glaube ich, dass ihre seelischen Wunden, genau wie ihre physischen, nicht heilbar sind. Ich wurde mehrfach gefragt, warum die beiden Frauen so gelassen auf den Tod, den Verlust ihrer Nächsten reagieren. Das ist die Reaktion von Menschen, die jahrelang in der Atmosphäre von Gewalt gelebt haben, sie haben sich an den Tod gewöhnt, deswegen traumatisieren sie neue Verluste nicht mehr. Wenn man ihren Zustand beschreiben wollte, dann würde ich sagen, dass beide „in Trümmern liegen“.

    Ihr Film ist wunderbar inszeniert, sehr stimmungsvoll, doch es schwingt eine gewisse Theatralik mit, die, wie ich finde, dem russischen Kino insgesamt eigen ist und durch eine starke Theatertradition genährt wird …

    Wenn Sie meinen Film als zu theatralisch empfinden, habe ich meine Aufgabe als Regisseur vermutlich nicht gut erfüllt. Wobei es einen Aspekt gibt, der mir in dem Film besonders wichtig ist: die Darstellung der Stille. In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste. In ihr lebt unsere Seele. Für mich zählt nicht so sehr der Inhalt der Dialoge, sondern das, was dazwischen geschieht, in der Stille. Der Inhalt erzeugt die Form. 

    In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste

    In meinem ersten Film Tesnota war die Heldin eine Rebellin, deshalb ist er viel dynamischer und schneller geschnitten. In Dylda geht es um eine andere Zeit, andere Menschen. Weil Ija aufgrund eines Kopftraumas immer wieder in Starre verfällt, atmet die Kamera mal, mal friert sie ein.

    Außerdem war es mir wichtig, das Leningrad der Nachkriegszeit nachzubilden: Die ganze Stadt hat die Blockade erlebt. Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen. 

    Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen

    Es war mir wichtig, die Stadt so zu zeigen, wie sie in jenen Jahren war. Die Straßenbahn war eine Leihgabe des Museums für Elektromobilität in Sankt Petersburg. Der Mercedes, den der Sohn der Parteifunktionäre fährt, wurde 1938 gebaut, der Darsteller musste eine spezielle Schulung durchlaufen, um ihn fahren zu können. Ijas Zimmer gibt die typische Atmosphäre der Nachkriegs-Kommunalwohnungen wieder, mit Wänden, an denen mindestens fünf Tapetenschichten klebten: von der vorrevolutionären Zeit bis nach dem Krieg, als man anstelle von Tapeten Zeitungen benutzte. Wir haben Archive durchforstet, haben uns von einem Historiker beraten lassen. Als er die Rekonstruktion der Petersburger Wohnung gesehen hat, war er erstaunt, wie genau sie war. 

    Bei der Arbeit an Dylda ließ ich mich von bildender Kunst inspirieren, insbesondere von holländischer Malerei. Die Farbpalette des Films wird von Rot- und Grüntönen dominiert. Die Gegenüberstellung dieser Farben kann man mit dem Gegensatz von Trauma, Schmerz und dem Leben selbst vergleichen. 


    https://www.youtube.com/watch?v=ojtukdoyWzY

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  • Playlist: Best of 2019

    Playlist: Best of 2019

    Nach den zahlreichen Konzertverboten Ende 2018 sagte Wladimir Putin, dass diese kontraproduktiv seien, sie hätten „genau den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so viel steht fest.“ Wenn man den Erfolg an den Klickzahlen festmacht, dann hat die gesellschafts- und kremlkritische Musik im Jahr 2019 in der Tat einen regelrechten Boom erlebt. Die Gegenkultur wurde damit ein Stück weit Mainstream.

    Ist der Erfolg der Gattung auf die Verbote zurückzuführen? Oder sind etwa die üblichen Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie dafür verantwortlich? 

    Während Soziologen und Musikkritiker über solche Fragen nachsinnen, hat die Colta-Redaktion traditionsgemäß die besten Alben des Jahres gekürt. Protestmusik darf hier natürlich nicht fehlen, in den Top-12 findet sich aber ein bunter Mix: von Rap mit Punchlines à la deine Mudda bis zum feingeistigen Jazz.

    1. Rap des Jahres 

    Scriptonite
    2004

    Nach seinem kryptischen Doppelalbum Uroboros, in dem es darum geht, dass Ruhm und Erfolg eine schwere Bewährungsprobe sind, verkündete Adil Zhalelov, er wolle sich aus dem Rap zurückziehen, weil er damit nichts mehr zu sagen habe. Und tatsächlich widmete er sich zunächst völlig anderen Dingen – experimentierte in seiner Band Scriptonite mit lateinamerikanischen Vibes und produzierte Alben von Künstlern seines eigenen Labels Musica36. Umso mehr schlägt 2004 ein, das kurz vor Jahresende erschien. Der Form nach ist es ein typisches Rap-Album wie zu Beginn der 2000er Jahre: mit Selbstdarstellungen, Skits, Interludes und sogar versteckten Angriffen auf die Kollegen der eigenen Zunft. Um es richtig zu würdigen, muss man die von Scriptonite im Sprachmix der wilden Vorstädte geschriebenen sarkastischen Texte Zeile für Zeile auseinandernehmen – dann erweist sich diese Zusammenstellung makellos klingender, betörend grooviger Rap-Hits als eine Sammlung von Geboten für die Gerechten.

    2. Antiutopie des Jahres

    Delfin
    Krai

    Das Album Krai (dt. Rand) lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, ebenso wie sein mehrdeutiger Titel und das enigmatische Cover. Am leichtesten erkennt man darin die Reaktion des Bürgers und Dichters Andrey Lysikov auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des vergangenen Jahres bis hin zum Moskowskoje Delo. Delfin zufolge sind die Lieder jedoch schon lange vor den besagten Ereignissen entstanden, außerdem entspräche es nicht seiner Art, Lieder über das aktuelle Zeitgeschehen zu schreiben. Allem Anschein nach haben wir es mit einem Beispiel künstlerischer Vorahnung zu tun, und wenn die Realität weiterhin das in Krai beschriebene Szenario abbildet, haben wir 2020 nichts Gutes zu erwarten – es ist ein böses und verzweifeltes Album: Eine Antiutopie, in der junge, ungestüme Herzen zu Kanonenfutter werden. Allerdings verbirgt sich in Krai auch die Antwort auf die Frage, wie man in dieser Hölle überleben kann.

    3. Non-standard Jazz des Jahres

    Makar Novikov & Hiske Oosterwijk
    Stereobass

    Das Sankt Petersburger Jazzlabel Rainy Days, 2018 vom Schlagzeuger Sascha Maschin gegründet, nahm 2019 so richtig Fahrt auf und brachte eine Reihe von Alben heraus, die von den renommiertesten Kennern auf diesem Gebiet hoch gelobt wurden. Stereobass, eingespielt von den KontrabassistInnen Makar Novikov und Daria Chernakova und der holländischen Sängerin Hiske Oosterwijk gehört zu jenen Alben, die auch für Menschen, die nicht jeder Entwicklung des Genres folgen, verständlich und interessant sind. Denn es handelt sich um eine seiner traditionellsten Spielarten – den Vocal Jazz, allerdings in modernster Form. Makar Novikov hat die markanten Melodien der Lieder von Hiske Oosterwijk über ein raffiniert konstruiertes rhythmisches Gerüst gespannt, das über zwei Stereokanäle erklingt (ein Kontrabass ertönt von links, der andere von rechts). Daneben verleihen die filigranen Soli des Pianisten Alex Iwannikow und die explosiven Beats von Sascha Maschin den Liedern eine feine Dramaturgie. Stereobass ist Vocal Jazz, wie man ihn sich für das 21. Jahrhundert wünscht.

    4. Comeback des Jahres

    Alyans
    Chotschu letat (dt. Ich will fliegen)

    Dieses Album der Moskauer Neo-Romantik-Pioniere Alyans hätte bereits Anfang der 2000er Jahre erscheinen sollen. Durch die jahrelange Reifezeit ist es wertvoller und interessanter geworden. Für diejenigen, die mit der Geschichte der Band vertraut sind, ist Chotschu letat (dt. Ich will fliegen) ein epochales Ereignis: Denn es handelt sich um die Reunion des Bandleaders von Alyans Igor Shurawljow mit dem Keyboarder Oleg Parastajew, dem Autor des größten Hits der Band Na sare (dt. Im Morgenrot) – nur dass diese ein paar Jahrzehnte länger als vermutet auf sich warten ließ. Ein zweites Morgenrot sucht man hier vergebens, aber es finden sich einige erstklassige Lieder wie der Titelsong, in dem wie in einer Zeitkapsel das Bittersüße der Romantik von Alyans bewahrt ist – der leidenschaftliche Wunsch zu Fliegen, gesteigert durch die Gewissheit, dass der Flug unweigerlich mit einem Fall enden wird.

    5. Debüt des Jahres

    Maslo tschornogo tmina
    Kensshi

    Maslo tschornogo tmina (dt. Schwarzkümmelöl) folgt der Linie des kasachischen Rap. Das Projekt des in Karaganda lebenden Aidyn Sakarija hat tatsächlich eine Hip-Hop-Genealogie und einen Sound, der an einige Scriptonite-Tracks erinnert. Doch das ist nur der Ausgangspunkt, und aus Kensshi wird deutlich, dass Sakaria einen anderen Weg einschlägt – irgendwo Richtung britischer Trip-Hop zwischen Portishead und King Krule: verdichtete Melancholie, langsame ausgedünnte Beats, ein somnambuler Bass, bittere Reime, suggestive Bilder, Jazz-Samples und das Rascheln der Nadel auf der Vinyl-Schallplatte. Mit seinen effektvollen Sound- und Textleerstellen ähnelt Kensshi der faszinierenden Skizze eines großartigen Albums, das noch folgen wird. Und was will man mehr von einem Debüt?

    6. Widerspruch des Jahres

    Shortparis
    Tak sakaljalas stal (dt. So wurde der Stahl gehärtet)

    Der Titel dieses Albums lässt sich durchaus auch auf die Geschichte von Shortparis selbst übertragen – es scheint, dass keine andere aktive russische Band so polarisiert und so heftige Diskussionen hervorruft, was die Methoden angeht. Nur wenige können von sich behaupten, gleichzeitig als größter Hoffnungsträger und absolute Luftnummer unserer Zeit bezeichnet zu werden. Doch für Shortparis ist es normal, den einen wie den anderen Ruf gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Im Prinzip ist die Arbeit mit schärfsten Widersprüchen eine der wichtigsten Fähigkeiten von Shortparis: Kaum einer kann so geschickt Folk und Industrial, Straßenjargon und ästhetisches Drama, zutiefst persönliche und verallgemeinerte soziale Aspekte miteinander verbinden, ohne dabei direkte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.

    7. Gipfelglück des Jahres

    AIGEL 
    Edem (dt. Eden)

    Aigel Gaissina kehrt nach Hause zurück und findet dort Inspiration für AIGELs eindringlichstes und emotional aufgeladenstes Album. Auf Musyka (dt. Musik), dem zweiten Album, hatte das Duo Aigel Gaissina und Ilja Baramija sich an vielen verschiedenen Themen gleichzeitig versucht und ein wenig die generelle Richtung aus den Augen verloren. Edem korrigiert den Kurs selbstbewusst: Es ist ein Album über Wurzeln und Verästelungen, darüber, wo man anfängt und wie man etwas fortschreibt, wenn man unweigerlicher Teil davon ist. Diese für jeden Menschen äußerst wichtigen Themen treiben AIGEL an. Wie ein persönliches Gipfelglück des Dichters und der Sängerin entpuppt sich Edem sowohl stimmlich als auch textlich als ein absolutes Feuerwerk.

    8. Therapie des Jahres

    Kira Lao
    Trewoshny opyt (dt. Beunruhigende Erfahrung)

    In den vier Jahren, die zwischen Trewoshny opyt und dem vorangehenden Album Woda (dt. Wasser) von Kira Lao liegen, hat sich für Kira Wainstein vieles verändert: darunter zum Beispiel der Wechsel vom Status einer Band-Sängerin zu einer Solokünstlerin. Trewoshny opyt ist zugleich ein Tagebuch dieser schwierigen Zeit und der Versuch, das Blatt zu wenden und alle Schwere von Innen nach Außen zu kehren. Das Kunststück der Erfahrung liegt darin, dass Kira für Unruhe und Chaos, für Zweifel und Ängste nicht nur Worte, sondern auch eine musikalische Sprache findet. Das Ergebnis ist  eine Session in experimenteller Klangtherapie, in der sich, denke ich, jeder erwachsene Hörer wiederfindet. Das Experiment funktioniert also nicht nur für die Künstlerin selbst, sondern für uns alle.

    9. Retro des Jahres

    Inturist (dt. Ausländischer Tourist)
    Ekonomika (dt. Ökonomie)

    Das zweite Album der Art-Jazz-Post-Punk-Formation von Jewgeni Gorbunow zeugt von unbeirrter und sinnvoller Arbeit an sich selbst. Ekonomika poliert den absurden Retrosound des ersten Albums Komandirowka (dt. Geschäftsreise) wunderbar auf und verbannt gleichzeitig kompromisslos die ihm innewohnenden Längen und Unschärfen. Im endlosen Netz der lärmenden Instrumentalimprovisationen muss der Inturist sich nicht mehr zurechtfinden – auf dem Album Ekonomika weiß die Band genau, was sie zu tun hat, und fliegt als leuchtender Pfeil in die richtige Richtung.

    10. Hilferuf des Jahres

    Foresteppe
    Karaul

    Noch eine Chronik einer beunruhigenden Erfahrung: Jegor Klotschichin hat Wehrdienst bei den Raketentruppen geleistet und unter dem Eindruck dieser Phase seines Lebens ein Album aufgenommen. Es verwundert nicht, dass Klotschichins selbstgemachter pastoraler Ambient-Sound auf dieser Platte düsterer und angespannter, unruhiger und scharfkantiger daherkommt. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Jahr viele Menschen ungefähr so gefühlt haben, deren persönliche Utopie durch die Ereignisse in den Fenstern ihrer Browser als auch beim Blick aus dem echten Fenster neue, beunruhigende Schattierungen annahm.

    11. Dancefloor des Jahres

    Samoe Bolshoe Prostoe Chislo (dt. Die größte Primzahl)
    Nawernoje, totschno (dt. Wahrscheinlich, genau)

    In den letzten gut zehn Jahren hat sich die Band von Kirill Iwanow bis zur Unkenntlichkeit verändert und ihre Musik immer wieder neu erfunden. Das Album Nawernoje, totschno gehört in die letzte Etappe dieser endlosen Transformation: Ein Gründungsmitglied, Ilja Baramija, hat die Band endgültig verlassen, um sich auf das Duo AIGEL zu konzentrieren. Dafür ist die Sängerin Jewgenija Borsych der Band beigetreten und hat die zweite, manchmal auch die Lead-Stimme übernommen. Der Idee nach macht SBPC das Gleiche wie auf den beiden vorherigen Alben: Lieder für junge tanzwütige Beine, die den besten Beispielen grooviger Musik folgen – von Old-School-Hip-Hop bis Afrobeat – aber auch für erwachsene Köpfe und Herzen: Die Texte von Kirill Iwanow sind es wie immer wert, in Aphorismen zerlegt zu werden, die unsere Wirklichkeit im Hier und Jetzt beschreiben.

    12. Kooperation des Jahres

    Sojus
    II

    Die Minsker Gruppe Sojus hat den Ruf eines Ensembles, das Musik für Musiker macht. In der Tat hört das geschulte Ohr in den makellos gespielten Stücken zahlreiche musikalische Referenzen – vom brasilianischen Samba bis zum äthiopischen Jazz; dazu geschickt, subtil, und auf einzigartige Art und Weise miteinander verwoben. Es ist sicher kein Zufall, dass Sojus auf seinem zweiten Album bei zwei Songs von den Moskauer Bands Pasosch und Inturist unterstützt wird, die einen völlig anderen kreativen Ansatz verfolgen. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft noch mehr solcher Kooperationen geben wird.

     


    Original: Colta
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am 07.01.2020

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  • „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand …“ Fotograf Andrey Ivanov entführt den Betrachter in die surreale Bildwelt russischer Märchen. Dabei entstehen seine Fotos mitten im Hier und Jetzt. Sein Fotobuch Geh hin, ich weiß nicht, wohin («Poidi tuda, ne snaju kuda») gewann den Hauptpreis beim Photobookfest 2018.

    Über das Fotoprojekt, das zwischen 2014 und 2018 entstand, schreibt der Fotograf:

    „Als ich Vater wurde, hatte ich die Idee ein Fotobuch für Kinder zu machen. Ich habe dann angefangen, Motive aus russischen Märchen zu fotografieren. Zunächst eine Serie von inszenierten Bildern, aber dann merkte ich, dass auch einige andere Sujets und Dokumentarfotos gut in diese Märchenreihe passen. Die bei der vorigen Arbeit Identitäts-Index (2012–2015) begonnene Suche nach nationaler Identität entfaltet sich in dem Spielraum zwischen Dokumentar- und inszenierter Fotografie. Das Märchen als authentischste Quelle russischer Archetypen. Nur ein Märchen war’s, nicht mehr – doch sei’s manchem eine Lehr.“ (Das Märchen vom goldenen Hahn von Alexander Puschkin)

    Plötzlich, flammend wie Gewitter, / springen dreiunddreißig Ritter / aus der Flut, in blankem Stahl, / junge Riesen allzumal, / hochgemut, von stolzer Schöne, / auserwählte Heldensöhne, / ein gewalt’ger Reckenchor.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg /  Foto © Andrey Ivanov

    Nun machte sich Zarewitsch Iwan auf, den Pfeil zu suchen. Er wanderte und wanderte und gelangte schließlich an einen Sumpf. Dort sah er einen Frosch sitzen, der seinen Pfeil hielt. Zarewitsch Iwan sprach: „Fröschlein, Fröschlein, gib mir meinen Pfeil zurück.“ Der Frosch aber antwortete: „Nur wenn du mich heiratest!“ „Wo denkst du hin! Wie kann ich einen Frosch zur Frau nehmen?“ „Nimm mich, so will es dein Schicksal.“

     

    Foto © Andrey Ivanov

    Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand, / um das weite Häusermeer / laufen weiße Mauern her, / goldne Kuppeln sieht er blitzen, / Klöster, Kirchen, Turmesspitzen.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Geh hin – ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was.

     

    Alexander Afanassjew (2010): Russische Volksmärchen, Wien, S. 29-55 / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Weht der Wind vom Meere her, / treibt ein Schifflein auf dem Meer, / das, die Segel ausgebreitet, / leicht und schnell die Flut durchgleitet. / Plötzlich ruft das Schiffsvolk laut: / „Welch ein Wunder! Kommt und schaut! / Auf dem alten Inselland / Eine neue Stadt erstand.“

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    „Wer bist du, wackerer Bursche?“, fragte sie.
    „Mach das Fenster auf, ich will es dir erzählen.“ (…)
    Nun saßen sie da und konnten sich aneinander nicht sattsehen. Dann fragte der Zarewitsch die Zarentochter, ob sie seine Frau werden wolle.
    „Ich wäre schon einverstanden”, antwortete sie, „doch ich fürchte, meine Eltern werden es nicht erlauben.“

     

    Der Holzadler
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Roman Eiwadis) / Foto © Andrey Ivanov

    Ein Mäuschen kam gelaufen und wedelte mit dem Schwanz. Das Ei fiel zu Boden und zerbrach.

     

    Das buntscheckige Hühnchen, Moskau, 1978 (aus dem Russischen übertragen von L. Majorowa) / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Gerade als er heimkehren wollte, begegnete ihm ein fremdes altes Männchen, das trug ein rotes Blümchen in der Hand.
    „Alterchen, verkauf mir die Blume!“
    „Die Blume ist nicht käuflich, es ist eine Zauberblume und du mußt geloben, daß deine jüngste Tochter meinen Sohn, den hellen Falken Finist, heiratet; dann bekommst du sie umsonst.“

     

    Das Federchen vom hellen Falken Finist / Fotos © Andrey Ivanov

    Die Hexe führte Aljonuschka zum Fluß. Dort aber stürzte sie sich auf sie, band ihr einen Stein an den Hals und stieß sie ins Wasser. (…) Nur das Böckchen wusste alles. Es ließ den Kopf hängen, aß nicht und trank nicht. Morgens und abends lief es am Ufer entlang und rief: 
    „Aljonuschka, lieb Schwesterlein!
    Steig herauf, komm heraus ans Ufer geschwind …“

     
    Schwesterlein Aljonuschka und Brüderlein Iwanuschka
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Foto © Andrey Ivanov

    Iwan-Zarewitsch dankte dem Alten und warf das Knäuel vor sich hin. Das Knäuel rollte dahin, Iwan-Zarewitsch ging hinter ihm drein… Im freien Feld draußen trifft er auf einen Bären … 

     

    Zarewna-Frosch
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Fotos © Andrey Ivanov

    Der Wolf ging zum Fluss, steckte den Schwanz ins Eisloch. Es war sehr kalt. Der Wolf saß und saß am Fluss, bis zum nächsten Morgen. Doch als er da aufstehen wollte, hatte der Frost seinen Schwanz bereits im Eis gefangen.

     


    Der Fuchs und der Wolf / Foto © Andrey Ivanov

     

    Fotos: Andrey Ivanov
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 23.12.2019

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