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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin auf Ebay

    Putin auf Ebay

    Batenka-Autor Alexej Sinjakow sucht nach Gegenständen, die Putin berührt hat. Und stellt fest: Der Onlinehandel blüht.

    In Russland gibt es zwei Besonderheiten: Putin wird gefürchtet, und er wird verkauft. Und je mehr man ihn fürchtet, desto teurer verkauft man ihn – diese seltsame Dynamik kann man auf Online-Kleinanzeigenseiten wie Avito und Jula beobachten. Es ist alarmierend: Anscheinend verliert und vergisst der Präsident ständig Dokumente, Papiere, Geschirr, Wäsche und Sportgeräte. Manchmal finden Leute diese Sachen und verkaufen sie. 
    Wenn man zum Beispiel in die Suchmaschinen dieser Online-Märkte „Putin“ eingibt, findet man: „Luftballon für Sammler mit Putin-Portrait. Preis: 10.000 Rubel [ca. 115 Euro – dek].“ Selbst ein schwarzes Baumwoll-T-Shirt mit ordentlich gekämmtem Präsidenten und Kampfjet über der Bauchspeicheldrüse kostet in der Boutique Armija Rossii an der Küste des Ferienortes Anapa nur ein Sechstel – wahrscheinlich deswegen, weil diese T-Shirts in Massen hergestellt werden, während der Verkäufer auf Avito eine extreme Sammlerrarität verspricht.

    Auf dem Foto sind drei unaufgeblasene Luftballons drapiert, alle mit demselben Aufdruck: der lächelnde Präsident in satten Zeiten, während der Rochade zwischen Wladimir Putin und Dimitri Medwedew. 

    Bläht sich Putins Gesicht nicht auf, wenn man den Ballon aufbläst?

    Ich rufe den Verkäufer an. Es meldet sich Maria. 
    „Wie viele Luftballons kriegt man für 10.000 Rubel?“, frage ich und hoffe auf alle.
    „Einen.“
    „Warum sind die so teuer?“
    „Ich habe mir gedacht, der Ballon selber kostet ja nicht viel. Aber wenn der Präsident drauf ist, kann man ihn doch nicht für drei Rubel verkaufen …“
    Diese Logik ist bestechend, doch in unserem Gespräch entsteht eine peinliche Pause. Dann erzählt die geschickte und sanfte Verkäuferin sogleich, wie sie zu diesen Luftballons gekommen ist: Als Studentin habe sie „bei der ersten Wahlkampagne von WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] gearbeitet“ und die Ballons an Moskauer Passanten verteilt.
    „Solche Luftballons werden Sie nirgendwo mehr finden“, setzt sie angesichts meines Schweigens fort. „Ich habe nämlich gehört, nicht alle bekommen die Erlaubnis Porträts von Wladimir Putin zu drucken.“
    „???“
    „Ja, auch auf T-Shirts und Tassen: Auf billigen und schlechten Sachen ist das verboten“, beteuert die Frau.
    „Na gut, aber wenn man den Luftballon aufbläst, bläht sich dann nicht Putins Gesicht auf? Die Backen zum Beispiel?“
    „Aber nein! Ich habe Putin schon so oft aufgeblasen! Auch mein Sohn hat ihn einmal aufgeblasen – bei einem Fest im Kindergarten. War alles in bester Ordnung.“
    Auf mein Schweigen hin bietet Maria an, mit dem Preis auf 3000 [ca. 35 Euro – dek] pro Stück herunterzugehen. Ich lege auf.

     

    Illustrationen © Julia Prokopowa

    Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht

    Die Russen verkaufen alles, was der Präsident berührt haben könnte. Was sie dazu bewegt, ist schwer zu sagen und schon gar nicht, ob sie wirklich mit Erfolg rechnen. Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht, dann bringen sie ein astronomisches Preisschild an und warten geduldig. Da bietet einer eine schwarze Sportsocke feil, die, wie er behauptet, Putin in der Hektik einer anstrengenden Dienstreise in einem Petersburger Hotel vergessen hat – für 60.000 Rubel [knapp 700 Euro – dek]. Ein kariertes Freizeitsakko – der Verkäufer versichert, es habe Putin gehört. Es lässt sich gut bei Weinverkostungen und in Zigarrenlounges tragen, oder auch bei harmlosen, feuchtfröhlichen Betriebsfeiern in der Regionalstelle irgendeiner großen Eisenbahnfirma. Oder man tut damit einfach so, als wäre man reich.

    Oder das Hockeyshirt von Dynamo Moskau. Am Telefon, meldet sich ein höflicher, gebildeter Mann.
    „Sagen Sie, hat Putin in diesem T-Shirt wirklich gespielt?“
    „Das ist kein T-Shirt, sondern ein Trikot“, erklärt der Verkäufer geduldig. „Dieses Trikot wurde eigens für Putin hergestellt, als er für den HK Dynamo Moskau aufs Eis gehen sollte. Das war, als Andrej Safronow Präsident des Clubs war – vor 2014.“
    Der Verkäufer kennt sich offenbar gut aus mit Eishockey, wahrscheinlich arbeitet er in dem Bereich. Seine Antworten klingen trocken und gewichtig, wie Zitate aus dem Lexikon. Außerdem hat er mehrere Dutzend Anzeigen geschaltet: von einfachen Buttons über Eishockeyschläger bis hin zu Eislaufschuhen, manche davon mit Autogrammen von Spitzensportlern, etwa Wjatscheslaw Fetissow. 
    „Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an diesem Trikot?“
    „Putin kam damals gar nicht zum Match. Das Trikot habe dann ich bekommen.“
    Allein die Herstellung eines Trikots koste 12.000 bis 14.000 Rubel [ca. 150 Euro], erzählt der Verkäufer weiter, aber solche Sachen würden ab 1000 Dollar zum Verkauf angeboten. „Das ist nämlich etwas auf seine Art Einzigartiges“, sagt er mit hörbarer Kennermiene.

    Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an dem Trikot?

    „Warum einzigartig?“
    „Es steht ‚Putin‘ drauf.“
    „Das kann doch jeder draufschreiben …“
    „Hören Sie, Sie verstehen das wohl nicht ganz: Das Trikot ist von der Firma Lutsch. Und solche Namen werden ohne Abstimmung mit dem FSO nicht aufgedruckt. Lutsch wird ja nicht seinen Ruf und seinen Kopf riskieren – deswegen muss es da eine Genehmigung von oben gegeben haben.“
    „Es ist also kein Tropfen Präsidentenschweiß dran?“
    Der Mann willigt ein, das Trikot für 50.000 Rubel [580 Euro – dek] herzugeben, dann geht er runter auf 30.000 Rubel [350 Euro – dek].
    Da wird es höchste Zeit, sich die Frage zu stellen: Warum 30.000 für ein Trikot ausgeben, das Putin gar nicht getragen hat, wenn man sich genauso gut ein neues bestellen kann? Ich versuchte mehrmals, mit der Firma Lutsch Kontakt aufzunehmen, aber dort taten sie mehrere Monate angestrengt so, als hätten sie meine Aufträge zur Herstellung eines Trikots, wie es der Präsident hat, nicht bekommen. 

    Ein spezielles Genre in diesem Warenkult sind Visitenkarten, Dokumente und Papiere, die der Präsident in verschiedenen Lebensjahren unterschrieben hat (oder auch nicht). Zum Beispiel: „Firmengründung 1993. Sankt Petersburg. Mit Putins Unterschrift. Preis 99.000.“ Mit der Anmerkung: „Bitte keine Anrufe mit dummen Fragen.“
    Ich rufe an.
    „Das Dokument hat meine Mutter bei der Firmengründung bekommen“, sagt Anton aus dem Mikrorayon Dubinki in Krasnodar und fügt sofort hinzu: „Aber fast wäre es auf dem Müll gelandet.“
    „Wieso das?“
    „Als die Firma aufgelöst wurde, blieb bei uns zu Hause eine ganze Aktentasche voller Dokumente zurück“, erinnert sich Anton. „Vor dem Wegwerfen wollte ich sie durchsehen – und fand auf einmal ein Dokument mit Putins Unterschrift. Damals in den 1990ern hat meine Mutter gemeinsam mit einem Geschäftspartner ein Unternehmen gegründet, und WWP war zu dieser Zeit Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen in Sankt Petersburg. Er hat dieses Dokument eigenhändig unterschrieben. Kriminelle oder korrupte Machenschaften sind mir persönlich in dieser Sache nicht bekannt.“

    ‚Wie kann die Echtheit der Visitenkarte bestätigt werden?‘ ‚Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.‘

    Am teuersten sind Visitenkarten. 
    Nach langem Suchen stoße ich endlich auf etwas Lohnendes: eine Visitenkarte, die aussieht wie jene, deren Echtheit im Jahr 2019 vom Pressesprecher des Präsidenten kommentiert werden musste. Allerdings kostet sie 1.100.000 Rubel [ca. 12.700 Euro – dek]. Für diesen Betrag bekommt man in Orechowo-Sujewo eine ganze Wohnung. 
    Beim x-ten Versuch erreiche ich schließlich die Verkäuferin Olga über WhatsApp. Olgas Profilbild ist eine Fünf-Kopekenmünze von 1916.
    „Sind Sie Journalist?“, fragt statt Olga eine Männerstimme aus dem Hörer.
    „Nein“, sage ich und lüge, ich sei Eventmanager und suche Geschenke für eine Betriebsfeier.
    „Mich rufen nämlich dauernd Journalisten an“, ärgert sich der Mann über bisherige Interessenten.
    „Wie können Sie garantieren, dass die Visitenkarte echt ist?“
    „Die Visitenkarte hat mein Vater bekommen. Er war im Komitee für öffentliche Kommunikation tätig.“
    „Wie kann ihre Echtheit bestätigt werden?“
    „Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.“ Die Telefonnummer des Mannes beginnt mit 995, und Yandex gibt sofort preis, dass sie nicht in Sankt Petersburg registriert ist, sondern von der tschetschenischen Wainach Telekom stammt. 
    „Na gut, aber kann ich ein persönliches Treffen mit Ihrem Vater vereinbaren, immerhin geht es um eine Million Rubel?“
    „Nein, er ist verstorben.“
    Das Gespräch ähnelt immer weniger einem Dialog, und ich entschuldige mich, so gut ich kann. 
    „Aber mein Vater ist auf Fotos drauf – sogar zusammen mit Putin und Peskow.“
    „Kann ich bei einem Treffen diese Fotos sehen?“
    „Nein.“
    „Warum nicht?“
    „Weil alle Fotos im Besitz von Verwandten sind, die sie nicht herzeigen wollen.“
    „Aber …“
    Der Mann meint, ich könne das Foto der Visitenkarte jedem zeigen, der lange mit Putin zusammenarbeitet, und fügt hinzu, eine solche Karte nachzumachen sei einfach unmöglich – sie sei echt. 

    Ich gehe auf Jula und finde dort etwas Billigeres, das der nationale Leader berührt haben könnte. „Souvenir-Medaille Sotschi von Präsident Putin“, 7000 Rubel [80 Euro – dek]. 
    „Erzählen Sie mal, hat die der Präsident persönlich überreicht? Ich muss wissen, ob Putin sie in der Hand hatte oder nicht.“
    „Aber ich bitte Sie, wieso der Präsident?! Glauben Sie, ich würde sie dann noch zu so einem Preis verkaufen? Da würde sie doch 100.000 kosten! Die Medaille wurde in China produziert und für weniger als 1.000 Rubel gekauft.“ 
    „Verstehen Sie, ich brauche Dinge, die Putin berührt hat. Haben Sie solche?“
    „Ja, hab ich. Die Putinmedaille.“
    „…“
    „Für 7.000“, er spricht noch immer von derselben Medaille.
    „Wie beweisen Sie, dass sie echt ist?“
    „Es steht drauf, dass sie vom Präsidenten ist. Solche Medaillen hat Putin nach der Olympiade den Sportlern überreicht.“

    „Und wem konkret hat er diese Medaille überreicht?“
    „Selbst wenn ich Ihnen den Namen nennen würde, würde er Ihnen ohnehin nichts sagen.“
    „Aber so könnte ich immerhin im Internet nachschauen.“
    „Sage ich nicht.“

    Aber eigentlich, warum habe ich überhaupt beschlossen, dass es einen Unterschied macht, ob der Präsident Sachen berührt hat oder nicht? Wer sagt denn, dass das wichtig ist? Und für wen? Die Leute sammeln diese bedeutungsgeladenen Horkruxe in der Hoffnung, dass sie so dem Präsidenten näher sind, und halten das Ersehnte für die Wirklichkeit. 
    Und irgendwann finde ich die Antwort auf diese Frage: Ich entdecke ein Inserat mit Kopien alter Visitenkarten von Putin – 100 Stück zum Preis eines Humpens Importbier. Ich kaufte sie und verkaufte sie sofort weiter, zuerst zu einem durchschnittlichen Avito-Preis von 800.000 Rubel [etwa 8.800 Euro – dek], und dann schrieb ich mit Feststelltaste: GRATIS ABZUGEBEN. Innerhalb eines Tages riefen acht Personen an, aber wie ich die Echtheit des Dokuments beweise, das hat nur einer gefragt. 

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  • 3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum dritten Advent empfiehlt die Slawistin Olga Caspers ihren musikalischen Favoriten 2020. … und stellt eine neue Ästhetik vor, die derzeit die russische Jugendkultur prägt.

    Allen, die für die Feiertage nach einer Alternative zu Stille Nacht & Co. suchen, möchte ich die russische Band Cream Soda empfehlen. In der Pandemiezeit wirken ihre stimmungsvollen Musikvideos sehr inspirierend. 

    Das bekannteste von ihnen – Platschu na techno (dt. Ich weine auf einer Technoparty) – ist mitten im Lockdown erschienen. Es zeigt Raver in Moskau, die in Selbstisolation auf Balkonen exzessive Partys feiern – im Drag Queen- und Voguing-Style. Das Video ging viral (40 Millionen Aufrufe) und rief zahlreiche Flashmobs hervor, die Balkon-Raves auf der Datscha oder in Plattenbauten zelebrierten. 

    Nahezu prophetisch kamen Cream Soda daher, als sie bereits neun Monate vor der Pandemie gesagt hatten, dass die Zeit der Partys vorbei sei: Das Motiv verbotener Partys prägte ihr Video Nikakich bolsche wetscherinok (dt. Keine Partys mehr). Versteckt im Wald schmissen darin vier Männer eine queere Party, auf der sie in Seide, Glitzer und Feder gekleidet tanzten.  

    Tipp: Über „Einstellungen“ werden in diesem Video ganz passable englische Untertitel angezeigt

    Hinter den Videos steht Alexander Gudkow: Showman, Moderator und Drehbuchautor. Durch seine zahlreichen extravaganten Medienauftritte avancierte der Macher einiger sehr bekannter Fernsehshows zu der prägenden Figur der neuen russischen Popkultur. Seine Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der Synthese der queeren Ästhetik, Selbstironie und Nostalgie der 1990er Jahre. In Platschu na techno tritt Gudkow in seiner provokanten Manier neben den Drag-Queens und Voguing Tänzern in einem Eiskunstläuferin-Kostüm auf. Wie in vielen seiner Videos, spielt Gudkow auch in Nikakich bolsche wetscherinok mit.

    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube
    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube

    Platschu na techno ist die gleichnamige Coverversion eines Songs der Band Chleb (dt. Brot) und greift so  vorsichtig das Thema der Grenzen der Autorenrechte in der Zeit des Internets und digitaler Technologien auf. Dieser Umgang mit fremden Kompositionen gilt neben der Neuen Aufrichtigkeit und Selbstironie als die wichtigste Komponente der neuen – von Gudkow propagierten – Ästhetik. 

    Das Video korrespondiert mit dem Interview, das Juri Dud im November 2020 mit einem anderen bekannten Showman – dem derzeit erfolgreichsten Rapper Russlands – gemacht hat: Morgenshtern. Es sorgte ebenfalls für viel Resonanz (rund 21 Millionen Aufrufe), vor allem weil der Musiker darin zugespitzt die wichtigsten Aspekte der jugendlichen Popkultur verdeutlichte. 

    In diesem Stil ist auch das dritte Musikvideo von Cream Soda gedreht: Serdze led (dt. Eisherz), es kam im Juli raus. Auf dem Höhepunkt der Verbreitung von pandemischen Verschwörungsmythen macht es allgemeine Ängste zum Thema: Die Moskauer Untergrundwelt ist von menschenähnlichen Reptiloiden bewohnt, die ausgiebig feiern und sich vermehren, um später die Welt zu erobern.  

    Diese drei Musikvideos bilden zusammen einen visuellen Hypertext, der ironisch mit den Ereignissen des Pandemie-Jahres umgeht. Neben Unterhaltung und guter Tanzmusik bildet er aber auch die wichtigsten Tendenzen der aktuellen russischen Popkultur ab. Die Videos bieten sich außerdem gut an, um sich entweder auf ein schmales Festprogramm einzustimmen oder einen Balkon-Rave zu veranstalten, ohne gegen die Corona-Regeln zu verstoßen.


    Olga Caspers ist promovierte Slawistin und Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkten gehören inter- und transkulturelle Medienanalyse, moderne russische Kultur (insbesondere Pop-Kultur) und Fashion Studies.

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  • Leichter Atem

    Leichter Atem

    Am 9. November 1933 sitzt Iwan Bunin in einem Pariser Kino. Plötzlich, inmitten der Vorführung, durchschneidet der Strahl einer Taschenlampe die Dunkelheit des Kinosaals: Man sucht Bunin. Jemand berührt seine Schulter und sagt mit leiser Stimme, aufgeregt, aber feierlich: „Ein Anruf aus Stockholm.“

    Die Nachricht, dass der Emigrant Bunin als erster russischsprachiger Schriftsteller den Literaturnobelpreis bekommt, wird im „Russland jenseits der Grenzen“, wie man die russische Emigration nach der Revolution bezeichnete, euphorisch aufgenommen: „Er ist gekrönt. Ja, endlich zu Recht gekrönt, in aller Welt. Aber wir auch, wir sind auch irgendwie belohnt, gütig behandelt, entgolten“, schreibt ein Kritiker. Bunins Heimat, die seit der Oktoberrevolution unter bolschewistischer Fahne stand, lässt dieses historische Ereignis jedoch lautlos vorüberziehen. Bunins Texte durften in Russland erst wieder nach seinem Tod 1953 publiziert werden.

    Zum 150. Geburtstag Iwan Bunins veröffentlicht dekoder seine Erzählung Leichter Atem, die Dorothea Trottenberg für die deutsche Werkausgabe Bunins im Dörlemann Verlag neu ins Deutsche übertrug. Bunin kleidet ein äußerst simples Sujet in meisterhafte Form – dafür wurde die Erzählung schon von Zeitgenossen „zu einem der besten Werke der Erzählkunst“ (Lew Wygotski) erklärt. Sie ist am 10. April 1916 erstmals in der Moskauer Zeitung Russkoje Slowo erschienen, heute gehört sie zum Kanon der klassischen russischen Literatur.

    Auf dem Friedhof, über einem frisch aufgeschütteten Lehmhügel, steht ein neues Kreuz aus Eiche, fest, schwer und glatt, eines, das schön anzusehen ist.

    Es ist April, aber die Tage sind grau: Die Grabmale des Friedhofs, eines weitläufigen, richtigen Kreisstadtfriedhofs, sind zwischen den kahlen Bäumen noch weithin zu sehen, und der kalte Wind klirrt in einem fort mit dem Porzellankranz am Fuße des Kreuzes.

    In das Kreuz eingelassen ist ein vergleichsweise großes, bronzenes Medaillon, und darin befindet sich das photographische Portrait einer adretten, reizenden Gymnasiastin mit freudestrahlenden, verblüffend lebendigen Augen.

    Das ist Olja Meschtscherskaja.

    Als kleines Mädchen hatte sie sich durch nichts hervorgetan in der lärmenden Menge brauner Kleidchen, die so dissonant und jung durch Korridore und Klassenzimmer hallte; was konnte man sagen über sie, abgesehen davon, dass sie zu den hübschen, reichen und glücklichen Mädchen zählte, dass sie begabt, aber mutwillig war und die Ermahnungen der Klassendame geflissentlich überhörte? Später erblühte sie, entwickelte sich nicht in Tagen, sondern in Stunden. Mit vierzehn Jahren zeichneten sich, bei zarter Taille und schlanken Beinen, bereits deutlich die Brüste und all jene Formen ab, deren Zauber noch kein menschliches Wort je auszudrücken vermochte; mit fünfzehn galt sie als Schönheit. Wie sorgfältig einige ihrer Freundinnen sich das Haar legten, wie reinlich sie waren, wie sehr sie darauf achteten, sich sittsam zu bewegen! Sie aber fürchtete nichts – weder Tintenflecke an den Fingern oder ein rot angelaufenes Gesicht noch zerzauste Haare oder ein entblößtes Knie, wenn sie beim Laufen stürzte. Ohne Zutun und Bemühen ihrerseits und gewissermaßen unmerklich fiel ihr all das zu, was sie in den letzten beiden Jahren unter all den Mädchen am Gymnasium so hervorhob: Eleganz, Anmut, Geschick und der heitere, aber hellwache Glanz ihrer Augen. Niemand tanzte wie Olja Meschtscherskaja, niemand lief Schlittschuh wie sie, niemand wurde auf dem Ball so eifrig umworben, und niemand war, warum auch immer, bei den unteren Klassen so beliebt wie sie. Unmerklich wuchs sie zu einer jungen Frau heran, unmerklich festigte sich ihr Ruf am Gymnasium, und schon gingen Gerüchte, sie sei leichtfertig, sie könne ohne Verehrer nicht leben, der Gymnasiast Schtschenschin sei bis zum Wahnsinn verliebt in sie und sie liebe ihn ebenfalls, sei aber so flatterhaft im Umgang mit ihm, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen …

    In ihrem letzten Winter hatte Olja Meschtscherskaja vor Übermut nachgerade den Verstand verloren, wie man im Gymnasium erzählte. Der Winter war schneereich, sonnig und frostkalt, die Sonne versank früh, aber gleichbleibend schön und strahlend hinter dem hohen Fichtenhain im verschneiten Garten des Gymnasiums und versprach für den folgenden Tag erneut Frost und Sonne, Flanieren auf der Sobornaja-Straße, Schlittschuhlaufen im Stadtgarten, einen blaßroten Abend, Musik und jene in alle Richtungen gleitende Menge, in der Olja Meschtscherskaja die Anmutigste, Sorgloseste und Glücklichste schien. Eines Tages, in der großen Pause, als sie wie ein Wirbelwind durch die Aula stürmte und den Schülerinnen der ersten Klasse zu entkommen versuchte, die verzückt kreischend hinter ihr herliefen, wurde sie unverhofft zur Schulvorsteherin gerufen. Sie blieb abrupt stehen, tat einen einzigen tiefen Seufzer, ordnete mit raschem, geübtem Griff ihr Haar, zog die Zierecken ihrer Schürze zu den Schultern hin auseinander und lief mit blitzenden Augen nach oben. Die Vorsteherin, eine kleine, noch jugendliche, aber schon weißhaarige Frau, saß mit einer Strickarbeit in der Hand ruhig an ihrem Schreibtisch unter einem Portrait des Zaren.

    „Guten Tag, Mademoiselle Meschtscherskaja“, sagte sie auf französisch, ohne den Blick von ihrer Strickarbeit zu heben. „Ich sehe mich leider nicht zum ersten Mal veranlasst, Sie herzurufen, um mit Ihnen über Ihr Benehmen zu sprechen.“

    „Ich höre Ihnen zu, Madame“, erwiderte die Meschtscherskaja und trat näher zum Tisch, wobei sie die Vorsteherin klar und wach, aber mit völlig ausdruckslosem Gesicht anblickte und so leicht und graziös knickste, wie nur sie es verstand.

    „Zuhören werden Sie mir schlecht, davon konnte ich mich zu meinem Leidwesen bereits überzeugen“, sagte die Vorsteherin, zupfte an ihrem Wollfaden, so dass das Knäuel über den lackierten Fußboden rollte, was die Meschtscherskaja neugierig beobachtete, und hob die Augen: „Ich werde mich nicht wiederholen, mich nicht in langen Reden ergehen“, sagte sie.

    Der Meschtscherskaja gefiel dieses bemerkenswert saubere, große Kabinett sehr gut, in dem der blanke Kachelofen an frostkalten Tagen wohlige Wärme verbreitete und die Maiglöckchen auf dem Schreibtisch einen frischen Duft verströmten. Sie blickte auf den jungen Zaren, der in voller Lebensgröße mitten in einem glanzvollen Saal gemalt war, auf den geraden Scheitel in dem milchweißen, akkurat in Wellen gelegten Haar der Vorsteherin und schwieg abwartend.

    „Sie sind kein kleines Mädchen mehr“, begann die Vorsteherin, die sich insgeheim schon ärgerte, vielsagend.

    „Ja, Madame“, erwiderte die Meschtscherskaja schlicht, fast heiter.

    „Aber auch noch keine Frau“, fuhr die Vorsteherin noch vielsagender fort, und ihr fahles Gesicht rötete sich leicht. „Zunächst einmal: Was soll diese Frisur? Das ist die Frisur einer erwachsenen Frau!“

    „Ich bin nicht schuld, Madame, dass ich schöne Haare habe“, erwiderte die Meschtscherskaja und berührte mit beiden Händen flüchtig ihren apart coiffierten Kopf.

    „Ach so ist das, Sie sind nicht schuld!“ versetzte die Vorsteherin. „Sie sind nicht schuld an der Frisur, nicht schuld an diesen teuren Kämmen, nicht schuld, dass Sie Ihre Eltern mit Schuhen für zwanzig Rubel ruinieren! Aber ich sage Ihnen noch einmal, Sie lassen vollkommen außer Acht, dass Sie vorläufig nur eine Gymnasiastin sind …“

    Da fiel die Meschtscherskaja, ohne ihre Bescheidenheit und Gelassenheit zu verlieren, ihr unvermittelt ins Wort und sagte höflich:

    „Verzeihen Sie, Madame, Sie irren sich: Ich bin eine Frau. Und wissen Sie, wer schuld daran ist? Papas Freund und Nachbar – Ihr Bruder, Alexej Michajlowitsch Maljutin. Es geschah im vergangenen Sommer auf dem Lande …“

    Einen Monat nach diesem Gespräch hatte ein Kosakenoffizier von hässlichem, plebejischem Aussehen, der rein gar nichts gemein hatte mit jenem Kreis, zu dem Olja Meschtscherskaja gehörte, sie auf dem Bahnsteig erschossen, inmitten einer großen Menge von Menschen, die soeben mit dem Zug eingetroffen waren. Und Olja Meschtscherskajas unglaubliches Bekenntnis, das die Schulvorsteherin so erschüttert hatte, erwies sich als vollkommen richtig: Der Offizier erklärte dem Untersuchungsrichter, die Meschtscherskaja habe ihn verführt, in einer intimen Beziehung mit ihm gestanden und geschworen, seine Frau zu werden, aber am Tag des Mordes, als sie ihn zum Bahnhof begleitete, wo er nach Nowotscherkassk abreisen wollte, habe sie ihm plötzlich eröffnet, dass sie niemals auch nur daran gedacht habe, ihn zu lieben, und all das Gerede von Ehe ihrerseits blanker Hohn gewesen sei, woraufhin sie ihm jene Seite ihres Tagebuchs zu lesen gegeben habe, in der von Maljutin die Rede war.

    „Ich überflog diese Zeilen, trat hinaus auf den Bahnsteig, wo sie auf und ab ging und wartete, dass ich zu Ende las, und schoss auf sie“, sagte der Offizier. „Das Tagebuch ist noch in der Tasche meines Uniformmantels, schauen Sie nach, was da am zehnten Juli des vergangenen Jahres geschrieben steht.“

    Der Untersuchungsrichter las etwa Folgendes:

    „Es ist nach ein Uhr in der Nacht. Ich war fest eingeschlafen, bin aber sofort wieder erwacht … Heute bin ich zur Frau geworden! Papa, Mama und Tolja, sie alle waren in die Stadt gefahren, und ich blieb allein zu Hause. Ich war so glücklich, allein zu sein, daß ich es gar nicht sagen kann! Am Morgen ging ich allein spazieren, im Garten, über die Felder, im Wald, mir schien, ich sei ganz allein auf der Welt, ich war in tiefes Nachdenken versunken, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich aß auch allein zu Mittag und spielte danach eine ganze Stunde Klavier, und ich hatte das Gefühl, dass ich ewig leben und so glücklich sein würde wie nie zuvor! Dann schlief ich ein, in Papas Kabinett, und um vier Uhr weckte mich Katja und sagte, Alexej Michajlowitsch sei gekommen. Ich freute mich sehr, es war schön, ihn zu empfangen und zu unterhalten. Er hatte zwei Wjatkapferde vorgespannt, sehr schöne Tiere, sie blieben an der Vortreppe stehen, aber er kam herein und blieb, weil es regnete und er hoffte, dass es zum Abend hin aufhören würde. Es tat ihm sehr leid, daß er Papa nicht antraf, er war sehr lebhaft, verhielt sich mir gegenüber wie ein Kavalier und scherzte, er sei seit langem verliebt in mich. Als wir vor dem Tee im Garten spazierengingen, war wieder schönstes Wetter, die Sonne glitzerte durch den nassen Garten, aber es war sehr kühl geworden, und er führte mich am Arm und sagte, wir seien Faust und Gretchen. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt, aber noch sehr gutaussehend und stets gut angezogen – nur dass er einen Havelock trug, gefiel mir nicht –, er duftet nach englischem Eau de Cologne und hat ganz junge, schwarze Augen, und sein Bart ist elegant in zwei lange Hälften geteilt und ganz silbrig. Zum Tee saßen wir auf der verglasten Veranda, und da mir war, als wäre ich nicht ganz gesund, legte ich mich auf die Ottomane, er rauchte und setzte sich zu mir, sagte mir wieder allerlei Liebenswürdigkeiten, besah sich dann meine Hand und küsste sie. Ich bedeckte das Gesicht mit einem seidenen Tuch, und er küsste mich mehrmals durch das Tuch hindurch auf den Mund … Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte, ich habe den Verstand verloren, ich hätte nie gedacht, daß ich so eine sein könnte! Jetzt bleibt mir nur ein Ausweg … Ich empfinde eine solche Abscheu ihm gegenüber, dass ich nicht mehr leben kann! …“

    Die Stadt ist in diesen Apriltagen wieder sauber und trocken, die Steine sind wieder weiß, es ist bequem und angenehm, auf ihnen zu gehen. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst geht eine kleine Frau in Trauerkleidung, mit schwarzen Glacéhandschuhen und einem Schirm mit Ebenholzgriff über die Sobornaja-Straße, die zur Stadt hinausführt. Sie passiert die Feuerwache, überquert den schmutzigen Platz, an dem etliche rauchgeschwärzte Schmieden stehen und vom Feld her ein frischer Wind weht; zwischen dem Mönchskloster und dem Gefängnis schimmern weiß der bewölkte Himmelsbogen und grau das Frühlingsfeld; schlüpft man dann hindurch zwischen den Pfützen an der Klostermauer und wendet sich nach links, sieht man eine Art großen, niedrigen Garten, eingefasst von einer weißen Mauer, über deren Tor die Entschlafung der Gottesmutter gemalt ist. Die kleine Frau bekreuzigt sich diskret und geht der Gewohnheit folgend die Hauptallee hinunter. Wenn sie die Bank gegenüber dem Eichenkreuz erreicht, setzt sie sich, Wind und Frühlingskälte trotzend, für ein, zwei Stunden hin, bis ihre Füße in den leichten Schuhen und die Hände in den schmalen Handschuhen völlig durchfroren sind. Während sie den Frühlingsvögeln lauscht, die auch in der Kälte lieblich singen, und dem Klang des Windes im Porzellankranz, denkt sie zuweilen, dass sie ihr halbes Leben geben würde, wenn sie dafür nicht diesen Totenkranz vor Augen haben müsste. Der Gedanke, daß man Olja Meschtscherskaja in diesem Lehm vergraben hat, versetzt sie in ein an Apathie grenzendes Erstaunen: Wie soll man die sechzehnjährige Gymnasiastin, die noch vor zwei, drei Monaten so voller Leben, Liebreiz und Heiterkeit war, zusammenbringen mit diesem Lehmhügel und diesem Eichenkreuz? Ist es möglich, dass darunter diejenige liegt, deren Augen aus diesem bronzenen Medaillon heraus so unsterblich strahlen, und wie lässt sich mit diesem klaren Blick jenes Entsetzliche in Einklang bringen, das nun mit dem Namen Olja Meschtscherskaja verbunden ist? In der Tiefe ihrer Seele aber ist die kleine Frau glücklich, so wie alle verliebten oder überhaupt einem leidenschaftlichen Wunschtraum ergebenen Menschen.

    Diese Frau ist Olja Meschtscherskajas Klassendame, ein Fräulein jenseits der dreißig, die seit langem mit ihren Phantasien lebt, die ihr das wirkliche Leben ersetzen. Zuerst war ihr Bruder der Gegenstand ihrer Phantasie, ein armer, unscheinbarer Fähnrich – sie hatte ihre ganze Seele mit ihm verbunden, mit seiner Zukunft, die sich ihr, warum auch immer, in leuchtenden Farben darstellte, und in der seltsamen Erwartung gelebt, ihr Schicksal würde dank ihres Bruders eine märchenhafte Wendung nehmen. Nachdem er in der Schlacht bei Mukden gefallen war, hatte sie sich eingeredet, dass sie zu ihrem großen Glück anders sei als die anderen, dass Geist und höhere Interessen ihr Schönheit und Weiblichkeit ersetzten und sie eine Arbeiterin des Geistes sei.

    Der Tod von Olja Meschtscherskaja hält sie mit einem neuen Traum in Bann. Nun ist Olja Meschtscherskaja der Gegenstand ihres unablässigen Sinnens und Trachtens, ihrer Begeisterung und Freude. Sie geht an jedem Sonn- und Feiertag zu Oljas Grab – die Gewohnheit, zum Friedhof zu gehen und Trauer zu tragen, hat sie nach dem Tod des Bruders angenommen –, blickt stundenlang unverwandt auf das Eichenkreuz, denkt an Olja Meschtscherskajas bleiches Gesichtchen im Sarg, inmitten von Blumen, und daran, was sie einmal zufällig mitangehört hatte: Einmal in der großen Pause, als sie im Garten des Gymnasiums spazierengingen, hatte Olja Meschtscherskaja ihrer besten Freundin, der fülligen, hochgewachsenen Subbotina, hastig zugeflüstert:

    „In einem von Papas Büchern – er hat viele altertümliche, komische Bücher – habe ich gelesen, was die Schönheit einer Frau ausmacht … Weißt du, da steht so allerlei, man kann sich gar nicht alles merken: schwarze Augen natürlich, wie siedendes Pech – wahrhaftig, so steht es da: siedendes Pech! –, nachtschwarze Wimpern und ein zart schimmerndes Wangenrot, eine schlanke Statur, außergewöhnlich lange Hände – verstehst du: außergewöhnlich lange! –, ein kleiner Fuß, eine ausreichend große Büste, eine ebenmäßig gerundete Wade, das Knie in der Farbe von Muschelschalen, abfallende, aber kräftige Schultern – vieles weiß ich fast auswendig, so sehr trifft das alles zu! – vor allem aber, weißt du was? – ein leichter Atem! Den habe ich doch – höre nur, wie ich atme – nicht wahr, den habe ich?“

    Nun ist dieser leichte Atem wieder verweht in der Welt, in diesem wolkenverhangenen Himmel, in diesem kalten Frühlingswind …


    Die Übersetzung ist mit freundlicher Zustimmung des Dörlemann Verlags AG, Zürich, übernommen aus dem Buch: Iwan Bunin, Leichter Atem. Erzählungen 1916–1919. Deutsch von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob. Zürich: Dörlemann 2020. Copyright deutschsprachige Ausgabe © 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich
    Erste Veröffentlichung der Erzählung: Zeitschrift
    Russkoje Slowo, 1916, Nr. 83
     

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  • Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

    Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

     „Liebes Tagebuch, übrigens ist gerade irgendwas mit der Wiedervereinigung mit der Ex-DDR. Was genau versteh ich nicht ganz, geht mir zu schnell. Ciao Bussi“
    Das schrieb ich am 3.10.1990 als 13-Jährige teenie-cool ins Tagebuch. Dennoch, die Ereignisse von 1989 bis 1991 waren gefühlstechnisch eine zumindest bei mir ziemlich nachhaltige Mischung aus Exotik, Euphorie und Verheißung, die mich in gewisser Weise 30 Jahre später zu dekoder katapultieren sollte. 

    In der dekoder-Textlandschaft zum Jahrestag der Deutschen Einheit geben wir den Russlanddeutschen einen besonderen Platz. Weil bis heute rund 2,4 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland kamen, der größte Teil seit den 1990er Jahren. Sie haben sich mit-vereinigt in das, was Deutschland heute ist und ausmacht. Und weil man an dieser extrem vielseitigen Gruppe viel übers Deutschsein lernen kann. Zum Beispiel:

    Warum man Deutscher sein kann, aber irgendwie auch Russe oder zumindest ein Kind der Sowjetunion
    Warum man Deutscher sein kann, der in Russland lebt und kein Deutsch spricht
    Warum man Deutscher sein kann und gleichzeitig Migrant, der nach Deutschland kommt

    Zu 30 Jahren Deutsche Einheit dekonstruiert unser Dossier Russlanddeutsches Diarama in zunächst sechs unterschiedlichen Beiträgen essentialistische Konzepte vom (Russland-)Deutschsein. Auf Deutsch und auf Russisch. Gestaltet haben wir das Dossier zusammen mit dem IKGN und Studierenden eines Lehrprojekts der Universität Hamburg, gefördert wurde es vom BKM.


    Ach, du Deutsche Einheit, Zweiheit, Dreiheit, du Europäische Vielheit, ick liebe dir.
    So viel Pathos darf heute doch mal sein, oder?
    Ciao Bussi
    Eure Tamina und die anderen dekoderщiki

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    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    Hier ist er – der russische dekoder!

    Editorial: Das Tool

    Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

    Editorial: Erinnerung

  • Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus

    Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt. 

    Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern. 

    Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. 
    Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1

    Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus. 

    Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.

    S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki!
    Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!

    eure Rike
    Übersetzungsredakteurin bei dekoder


    1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet.
    Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. 
    2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? 

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    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Hier ist er – der russische dekoder!

    Editorial: Das Tool

    Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

    Editorial: Erinnerung

  • Sound des belarussischen Protests

    Sound des belarussischen Protests

    „Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“ 

    Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.

    Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.

    Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.  

    Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)

    Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.



    Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)

    Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.

    Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)

    Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

    Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)

    Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka.  
    In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.

    Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)

    Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt. 

    Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)

    Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.

    Naviband: Inschymi (Als andere)

    Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.

    Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)

    Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus. 



    Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)

    Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste.  
    Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.



    N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)

    N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik.   
    Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.




    N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk

    Peremen

    Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.



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  • 2. Advent: Kossakowski, Mawromatti & Hunde im Weltall

    2. Advent: Kossakowski, Mawromatti & Hunde im Weltall

    Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum zweiten Advent hat Heleen Gerritsen, Festivalleiterin bei goEast, Tipps für ultimative sowjetische und russische Filmerlebnisse – nicht nur im Advent. Und Geschenktipps gibt’s gratis dazu.

    Von Dsiga Wertow bis Marina Rasbeshkina: Mehr noch als vom klassischen Erzählkino, bin ich ein großer Fan der verschiedenen russischen Dokumentarfilmströmungen. Das Erzählen in Bildern, die kluge Anwendung von Montagetechniken und die Offenheit vieler Protagonist*innen im russischsprachigen Raum sorgen dafür, dass der Dokumentarfilm in Russland seit jeher weit über das Niveau von informativen Fernsehreportagen hinausgeht. Anders als in Deutschland beteiligt das Fernsehen sich kaum an „kreativen“ Dokumentarfilmprojekten – auch dadurch wird der Dokumentarfilm an russischen Filmschulen heutzutage immer noch als Teil der Filmkunst und nicht als Journalismus betrachtet.

    Animationsfilm „Wareshka“
    Animationsfilm „Wareshka“



    Aber wo kann man diese Filme in Deutschland sehen? Bei den Filmfestivals natürlich! goEast zeigt jedes Jahr eine Auswahl an neuen und älteren Werken, aber auch Dok Leipzig stellt traditionell viele interessanten Filme aus dem russischsprachigen Raum vor.

    Und für einen anspruchsvollen Filmabend allein zu Haus im Corona-Advent: Eine Adresse für gute (osteuropäische) Dokumentarfilme ist die Online-Plattform dafilms, wo Filme im Original mit englischen Untertiteln angeboten werden. Momentan steht unter anderem eine Viktor Kossakowski-Retrospektive zur Verfügung, inklusive einer Masterclass mit dem bekannten Petersburger Filmemacher. In den letzten Jahren hat der Altmeister (mit Ausnahme von GUNDA) nach meinem Geschmack vor allem größenwahnsinnige, allzu metaphysische Filme gemacht. Auf dafilms stehen die früheren Perlen seines Filmschaffens zur Verfügung, wie BELOWY (Die Belows), LOSEV oder SWJATO, in dem Kossakowskis zweijähriger Sohn Swjatoslaw zum ersten mal sein eigenes Spiegelbild entdeckt.
    Außerdem auf dafilms: einer meiner absoluten Favoriten DURAKAM SDES NE MESTO (No Place for Fools) von Oleg Mawromatti, ein Film, der das Motiv des heiligen Tors (jurodiwy) ins 21. Jahrhundert katapultiert, mit einem Protagonisten voller interessanter Widersprüche. 

    Tipp für untern Weihnachtsbaum: Geschenkgutscheine für dafilms können online erworben werden. 

    Online-Filme schauen ist gut und schön. Ich würde dennoch immer dafür plädieren, dass man, falls man glücklich genug ist, ein Kino in seiner Umgebung zu haben, dass gute eigene Programme gestaltet, diesen Ort auch während der Pandemie unterstützt – soweit möglich. Für Russophile in der Hauptstadt ist dies das Kino Krokodil. In dem kleinen Ladenkino in der Greifenhagener Straße sollte in diesem Monat zum Beispiel der exzellente (wenn auch grausame) Dokumentarfilm SPACE DOGS von Elsa Kremser und Levin Peter auf dem Programm stehen. Sollte die Kinotour nach der Pandemie wieder fortgesetzt werden, ist dieser Film absolut zu empfehlen.

    Auch Gutscheine für das Kino Krokodil können per Mail bestellt werden. 

    Wer findet, dass Hunde im Schnee besser aufgehoben sind als im Weltall, dem sei der süße Kinderklassiker WARESHKA (dt. Fäustling) empfohlen. Auf dem Youtube-Kanal des sowjetischen Animationsfilmstudios Sojusmultfilm steht der Kurzfilm, zusammen mit vielen anderen Klassikern, kostenlos zur Verfügung. 

    Oder schaut mal im Programmkino um die Ecke, wenn es wieder geöffnet ist. Es braucht euch jetzt mehr denn je!


    Heleen Gerritsen ist Leiterin des Filmfestival goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Die Filmproduzentin und Kuratorin studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und VWL in Amsterdam und Sankt Petersburg und leitete unter anderem das europäische Dokumentarfilmfestival dokumentART in Neubrandenburg.

     

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    Kino #1: Ironija Sudby

    Kino #2: Aelita

    Kino #6: Letjat Shurawli

    Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    Kino #10: Oktober

    Kino #12: Brilljantowaja Ruka

  • „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. 
    Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
    Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.  

    Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.

    Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt.   
    Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit. 

    Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet

    Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. 
    Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. 
    Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit. 

    Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?

    Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen. 

    Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung

    Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.  

    Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?

    Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus. 
     
    Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus? 

    Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.

    Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich

    Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. 
    Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. 
    Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.  

    War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?

    Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.

    Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?

    Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 
    1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen. 

    Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija

    Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele.
    Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.

    Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?

    Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk.  
    Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. 
    Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.

    Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?

    Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück. 

    Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus

    Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben. 

    Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?

    Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. 
    Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet. 

    Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats. 

    Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf. 

    Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama

    Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes. 

    Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?

    Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind.  
    Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich.  
    Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. 
    Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen. 

    Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?

    Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.

    Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?

    Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.  

    Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben. 

    Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine

    Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. 
    Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.

    Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?

    Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große. 

    Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen. 

    Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.

    Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen. 

    Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird

    Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird. 

    Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann. 

    Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?

    Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?

    Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.  

    In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.       

    Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten. 

    Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert       

    Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf. 

    Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.   

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Krim. Sommer

    Krim. Sommer
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin Stanislava Novgorodtseva kennt die Krim aus ihrer sowjetischen Kindheit. Heute trifft sie auf der Halbinsel auf alte Mythen und neue politische Tatsachen.
    Zu ihrem Fotoessay, den Colta veröffentlicht hat, schreibt sie:

    „In der Kindheit war die Krim für mich ein heiliger, unpolitischer Ort, eine Insel mit ganz eigener Mythologie, mit Spuren antiker Zivilisationen. Hier habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen.
    Im Schmelztiegel der Völker hat die Halbinsel Krim eine eigene Identität entwickelt. Im Jahr 1783 wurde dieser Kreuzungspunkt unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Kulturen Teil des Russischen Reichs. Mit Entstehen der UdSSR entwickelte sich die Krim mit ihrer Zarenresidenz zu einem erschwinglichen Erholungsgebiet für den Sowjetmenschen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte die Krim zur Ukraine, im März 2014 stand die Krim plötzlich im Zentrum politischer Auseinandersetzungen. Die neuen Realitäten führten auch bei mir zu Korrekturen im Verhältnis zu diesem Ort. In die Welt der Kindheit und der dortigen Mythologie mischte sich eine neue politische Ebene.“

    Badende am Stadtstrand in Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Open-air Festival im Tal von Tscherkes-Kermen. Vor ihrer Deportation 1944 lebten hier mehrere hundert Krimtataren / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Der Golizyn-Pfad führt am Wasser entlang durch das Naturschutzgebiet Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     

    Holocaust-Gedenktag in der Jüdischen Gemeinde. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Verlassenes Sanatorium am Ufer des Moinakskoje Osero, dem große Heilkraft zugeschrieben wird / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schlafbezirk von Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Orthodoxe Gläubige an Ostern. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Von 2001 bis 2014 fand hier das internationale Open-Air-Festival KaZantip statt. Popowka / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Weinprobe während einer Exkursion durch die Sektkellerei in Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schönheitssalon mit Fischpeeling. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Bad in der Schwefelquelle. Dshankoiski Rajon, Nowaja Shisn/Nowaja Shittja / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das alte Schwimmbecken des Internationalen Kinderferienlagers Artek. Seit dem Umbau ist das Gelände komplett verändert, nur wenige Elemente erinnern noch an die sowjetische Vergangenheit. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schulabsolventinnen an ihrem letzten Schultag, dem „Tag des letzten Klingelns“. Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Amateurteleskope auf dem Gelände der Astrophysikalischen Sternwarte der Krim. Dorf Nautschny / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Feriengäste am Strand. Badesaison in Sudak / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Kopie eines britischen Schiffes aus dem 17. Jahrhundert in der Bugas Bucht, Kap Meganom / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Nationales Weltraum-Kontroll- und Testzentrum. Von hier aus wurden zu Sowjetzeiten die ersten Flüge in den Weltraum überwacht. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das Kap Meganom ist ein beliebtes Kletter- und Wandergebiet. Es gilt als Kraftort, der viele Pilger und spirituelle Menschen anzieht. Kap Meganom  / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Am Kap Fiolent. Der Ort ist beliebt bei wilden Campern und spirituell praktizierenden Touristen / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Vergnügungsparks, Bars und Unterhaltungsgeschäfte, die nur während der Saison geöffnet sind. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin: Stanislava Novgorodtseva
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Colta.ru
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 06.08.2020

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  • „Russland hat gute Chancen, irgendwann glücklich zu werden“

    „Russland hat gute Chancen, irgendwann glücklich zu werden“

    Treffen sich zwei intellektuelle Schwergewichte und treten in den Ring, die Schriftsteller Boris Akunin und Dimitri Bykow: Wie das denn nun sei mit dem heutigen Russland und der Sowjetunion und ob man beide Staaten vergleichen könne. Wie aus einem Interview für die Novaya Gazeta fast ein Streitgespräch wird, in dem für Sowjetnostalgie nicht viel Platz bleibt …

    Dimitri Bykow: Guten Tag, Grigori Schalwowitsch.

    Boris Akunin: Guten Tag, Dimitri Lwowitsch.

    Sie sehen wunderbar aus.

    Ich bin voller Antikörper.

    Im Gespräch mit Ihnen möchte ich etwas für mich Wichtiges aussprechen. Ich will nicht sagen, dass ich die UdSSR liebe, vieles an ihr hasse ich, aber jetzt ist es hier schlimmer. Und ich versuche zu verstehen, warum es schlimmer ist. Stimmen Sie mir zu? Und falls es jetzt besser ist, dann inwiefern?

    Ich verstehe ja, warum andere Leute nostalgisch sind, wenn sie sich an die Sowjetunion oder einzelne ihrer Aspekte erinnern: Sie waren damals jünger, gesünder, glücklicher, der Himmel war blauer oder sie lebten damals besser als die anderen, und jetzt leben sie schlechter als die anderen, oder sie haben (ich spreche von den ganz jungen Menschen) irgendwelche Filme gesehen und so weiter. 
    Aber für Sie, als freiheitsliebenden Dichter, der damals in der Sowjetzeit gelebt hat und zu dem wurde, der er ist, was ist daran für Sie verlockend? Was vermissen Sie? 

    Drei Dinge. Erstens, dass Nationalismus verpönt war und Internationalismus zumindest proklamiert wurde, auch wenn er niemals irgendwo ideal umgesetzt wird, auch nicht in den USA, doch man hatte ihn sich immerhin auf die Fahnen geschrieben. Zweitens, die Religion stand an der ihr gebührenden Stelle. Und drittens der Kult der Aufklärung, des Intellekts, der in der UdSSR herrschte. Das heißt, die Sowjetunion orientierte sich mehr oder weniger an Werten des späten 18. Jahrhunderts, an Werten der Aufklärung, und nicht plump an Werten angeborener Gegebenheiten wie Geburtsort, Alter, Geschlecht, Nation et cetera.

    Ist Ihnen die Blutsaugerin Sowjetunion also doch angenehmer?

    Mit einer Blutsaugerin kann man immerhin diskutieren. Aber der [heutige – dek] Räuber wird erstens auch leicht zum Blutsauger, und zweitens hat er überhaupt keine Prinzipien, er bringt dich für seinen eigenen Vorteil einfach um, und Schluss. 
    Die Sowjetunion war kein Monolith, sie bestand aus mindestens vier Teilen: Es gab die Sowjetunion der 1930er, der 1940er, der 1960er und der 1970er Jahre – das sind absolut verschiedene Länder. Mir gefällt die Sowjetunion vom Anfang der 1970er Jahre.

    Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie sehnen sich in die Zeit zurück, „als das ans Ufer schlagende Wasser klirrte und rauchte“ … 

    Nein, den Zeiten der Bolschewiki trauert keiner nach.

    Gott sei Dank. Das heißt, versuchen wir mal, die zweite Hälfte, die – nennen wir sie, „vegetarischen“ – zweiten 35 Jahre mit dem heutigen Russland zu vergleichen. Ich habe dafür ein Stufensystem, weil ich gern alles in Würfelchen, Quadrate und Skalen einteile, damit fällt es mir leichter, die anders nicht messbare Realität zu begreifen. 

    Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute

    So habe ich ein fixes Kriterium, an dem ich die Qualität einer Gesellschaft oder eines Staates festmache. Es gibt zwei Parameter: Parameter Nummer eins ist die Freiheit, mit der die Menschen, die hier leben, ihren Lebensweg wählen können. Die Freiheit, ein Leben zu leben, das man sich selbst ausgesucht hat und das einem nicht von außen aufgedrückt wurde. Je höher der Grad dieser Freiheit für den Einzelnen in einer Gesellschaft, desto besser ist meiner Ansicht nach die Qualität dieser Gesellschaft. Der zweite Parameter ist auch sehr wichtig, das ist das Niveau der staatlichen Fürsorge für jene, die es im Leben aus welchen Gründen auch immer schwer haben. 

    Menschen mit Behinderung, alte Menschen …

    Es ist klar, dass ein vernünftig organisierter kapitalistischer Staat besser fertig wird mit der Erfüllung der ersten Aufgabe – mit der zweiten müsste ein sozialistischer Staat besser fertig werden. Doch die Sowjetunion hat, wie wir wissen, dabei ziemlich versagt. Ich kann mich sehr gut an diese sowjetischen Polikliniken erinnern, die sowjetischen Medikamente, die berühmten Kindergärten, in die ich ging wie zur Zwangsarbeit, das Essen, das die armen Kinderchen dort vorgesetzt bekamen. Und da sehe ich keinen besonderen Unterschied: Die Polikliniken waren damals reinster Horror und sind heute reinster Horror
    Sehen wir uns den ersten Parameter an, die freie Wahl des Lebenswegs: Wenn ich an mich selbst zurückdenke als Kind, als Teenager, der in der Sowjetunion lebte. Wie hoch war da der Grad an Freiheit? Bei jeder Bewegung stieß man zuerst auf sein persönliches Datenblatt, in dem es zig Stolpersteine gab: Man hatte entweder die falsche Nationalität oder die falschen Verwandten: Solche, die seinerzeit [während des Zweiten Weltkriegs] in okkupierten Gebieten gewohnt hatten, oder solche, die im Ausland lebten … 

    Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl

    Und es gab noch eine sehr schwerwiegende und für viele Leute (auch für mich) absolut unüberwindbare Hürde, die in Michail Schischkins Roman Venushaar heißt: „Bekenne dich dazu, ein Härchen in des Teufels Pelz zu sein.“ Die Wahl vieler Berufe, jede Art von Karriere hing grob gesagt davon ab, ob man Mitglied der KPdSU wurde oder nicht. Das hatte einen zutiefst rituellen, widerwärtigen Sinn, man musste in diesen Versammlungen sitzen, musste für irgendeinen Blödsinn stimmen oder für Sauereien wie den Einmarsch in die Tschechoslowakei, oder für die Verurteilung eines weiteren Ausreißers und Dissidenten. Für mich zum Beispiel war das absolut unmöglich. Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl. Daher trat ich mit 23 Jahren [nach Ende des Studiums – dek] hinaus ins große Leben, schmiedete keine Pläne, dachte überhaupt nicht an morgen, das war zwecklos. 

    Was ist das für ein Land, wo ein 23-Jähriger mit Hochschulabschluss keine Pläne hat und nichts werden will, weil er weiß, dass er in diesem Land nichts wird, wenn er nicht etwas tut, was ihm zutiefst zuwider ist? 

    Wie Sie bestimmt schon erraten haben, gefällt mir Putins Regime nicht, und zwar so sehr nicht, dass ich einfach nicht in dem Land leben will, über das er bestimmt. Und doch, wenn Sie sich das Bündel von Lebensentscheidungen ansehen, vor dem der Mensch jetzt steht, der junge Mensch genauso wie der nicht mehr junge, dann ist das etwas völlig anderes. 

    Der kremlkritische Schriftsteller Boris Akunin emigrierte 2014 aus Russland / Foto ©  A. Savin / Wikimedia CC BY-SA 3.0
    Der kremlkritische Schriftsteller Boris Akunin emigrierte 2014 aus Russland / Foto © A. Savin / Wikimedia CC BY-SA 3.0

    Das ist aber deswegen etwas völlig anderes, weil es bei Ihnen in der Sowjetunion, besser gesagt bei uns in der Sowjetunion, noch Berufe gab, aber der heutige Mensch kann seinen Beruf gar nicht mehr wählen. Es gibt noch genau zwei Berufe: Ölförderer und Ölwächter. Außer Ölraffern und Silowiki gibt es nichts mehr im heutigen Russland. 
    Die Perspektive, nach der Universität arbeitslos zu werden, ist viel hundertprozentiger, drängt sich viel stärker auf als in der Sowjetzeit. Niemand wurde zum Parteibeitritt gezwungen, im Gegenteil, für manche Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel für Beamte, war der Eintritt in die Partei gar nicht so einfach: Da gab es äußerst strenge Filter. Um Chef zu werden, musste man der Partei beitreten, aber um ein rechtschaffener Journalist zu sein, war das vollkommen unnötig, und in der Literaturnaja Gaseta gab es solche massenhaft. 

    Ich habe selbst in einer Redaktion gearbeitet. Der rechtschaffene Journalist von 1982 war einer, der keinen Plunder schrieb. Aber auch keiner, der die Wahrheit schrieb und das, was er wirklich dachte, nicht wahr?
    Dazu, dass es heute keine Berufe mehr gibt außer zwei: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, aber von den Landsleuten, die ich persönlich kenne, gehört da kein einziger dazu. Und alle haben Berufe und arbeiten in den verschiedensten Bereichen. 

    In welchen denn zum Beispiel?

    Der eine schreibt, die andere programmiert Software, der Nächste verfolgt sonst irgendeine ordentliche Tätigkeit.

    Grigori Schalwowitsch, wer zahlt denn diese Informatiker, für wen programmieren sie denn? Zu 90 Prozent sind das staatliche Behörden. Was gibt es denn in Russland sonst? Waffen und Rohstoffe.

    Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen … Eines der positivsten Phänomene, die sich im heutigen Russland beobachten lassen, ist, dass in diesem Land trotz allem der Kapitalismus funktioniert. Die Gesetze von Privateigentum und privater Unternehmerschaft. Enorm viele Leute sind selbständig. Das ist ein Land, in dem sich auf unglaubliche, fantastische Art und Weise ein Dienstleistungssektor entwickelt hat, in dem eine Menge Leute beschäftigt sind. 

    Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen …

    Und viele schreiben nicht auf Befehl von oben … Zum Beispiel äußern Sie sich abfällig über Internet-Journalismus, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das ist eine Szene, aus der regelmäßig sehr starke, talentierte Leute hervortreten, die keine Redaktion reinlassen würde.

    Grigori Schalwowitsch, ich habe größten Respekt für den YouTuber Juri Dud, aber Dud ist ein Abklatsch von Parfjonow, und Parfjonow ist, so schlimm das auch sein mag, ein Produkt der Sowjetunion. So wie auch Sie ein Produkt der Sowjetunion sind. Denn, wissen Sie, man muss ein Imperium nach seinem Output beurteilen. Der Output dieses Imperiums waren zwei Generationen sowjetischer Intelligenzija der Extraklasse.

    Erstens sind Sie selbst ein Produkt der Sowjetzeit. Zweitens hat sie mich in professioneller und kreativer Hinsicht überhaupt nicht beeinflusst. Im Gegenteil, während ich in der Sowjetunion lebte, dachte ich mit Befremden daran, dass es, sowas aber auch, Leute gibt, die Schriftsteller werden, in meinen Augen war das damals fast ein ehrloser Beruf. Ich wurde erst ungefähr zehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion Schriftsteller, zu einer Zeit, in der ich schon zu vergessen begann, was das gewesen ist. Dazu brauchte es eine sehr gründliche innerliche Befreiung. Weil, wie Sie wissen, ein Schriftsteller, der innerlich unfrei ist, wird niemals etwas Brauchbares zustandebringen. Nicht wahr?

    Da bin ich mir nicht so sicher. Wer ist schon innerlich frei? Für mich ist innere Freiheit ein zu abstrakter Begriff. Erinnern Sie sich, Pasternak sagte: Unfrei ist der Apfelbaum, der Früchte trägt, unfrei ist der Verliebte … Ja, was soll innere Freiheit sein? Ein abstrakter, absoluter Begriff. 
    Natürlich war ich, als ich im sowjetischen Russland lebte, unfrei, aber in Putins Russland hab ich viel mehr Angst. Weil, wie Maria Rosanowa ganz richtig sagte: Im sowjetischen Russland gab es Ufer, wir wussten, was sie mit uns machen können. Aber was die heute mit uns machen können, wissen wir nicht, das kann alles sein.
    Wissen Sie, die Sowjetunion war ein Gewächshaus, ein entsetzliches, aber immerhin ein Gewächshaus, eng und schwül, aber ein Gewächshaus. Wissen Sie, woran mich die Sowjetunion erinnert? An eine alte, dumme, unfähige Lehrerin, der es aber immer noch gelang, den einen oder anderen in der Klasse von der Kriminalität abzuhalten. Doch dann haben Banditen die Macht ergriffen, freie und fortschrittliche, bewaffnet bis an die Zähne. 

    Seltsam. Ich habe gegen die Sowjetunion, gegen dieses ganze System, abgesehen von den rationalen Einwänden, die ich Ihnen schon genannt habe, auch noch Einwände emotionaler Natur, und wenn ich anfange, darüber nachzudenken, dann … Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist.

    Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung, in der ihr Leben verlief, ist absolut unverzeihlich und unerträglich. Dieses System, das in den Menschen das Gefühl der eigenen Würde zertrampelte – das Wertvollste, was die Evolution hervorgebracht hat –, und noch dazu völlig absichtlich, das scheut für mich jeden Vergleich. 

    Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist. Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung

    Schauen Sie … Gut, im heutigen Russland, wenn du da deine eigene Weltanschauung hast und dich darüber äußern möchtest, dann hast du es schwer im Leben, ja? Aber es ist eine Frage des persönlichen Mutes und der persönlichen Entscheidung, und in Wahrheit wird dir wahrscheinlich gar nichts so wahnsinnig Schlimmes … 

    Nein, Grigori Schalwowitsch, dann haben sie keine Ahnung von dem Delo Seti. Wenn Sie Ahnung hätten, wüssten Sie, dass es schlimmer ist als in den 1970ern.

    Ich habe Ahnung von Delo Seti. Ich verstehe und sehe diese Tendenz sehr wohl, wie die Spezialeinheiten die ganze Zeit versuchen, ihre Möglichkeiten auszuweiten, sie versuchen es die ganze Zeit: Können wir dies schon machen, können wir jenes schon machen? Und das autoritäre System gesteht ihnen permanent zu: Ja, jetzt könnt ihr auch dies, und jetzt auch jenes. 
    Diesen Prozess sehe ich genau, das ist ein grauenhafter und sehr gefährlicher Prozess. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass sich diese Frage den Tschekisten in der Sowjetzeit nicht einmal gestellt hat, weil sie sowieso alles tun konnten, und niemand auch nur einen Mucks machte. 

    Ich sage jetzt etwas ganz Trauriges. Natürlich gab es in der Sowjetunion zwei Lebenssphären: Es gab die Hölle für alle und die Scharaschki, eine Art Fegefeuer, für einige wenige. Scharaschki gab es in der UdSSR mitunter als so kleine Inselchen intellektueller Aktivität. 

    Na ja, ich weiß nicht, ich kann das schwer beurteilen, immerhin lebe ich schon ziemlich lange [seit 2014 – dek] nicht mehr in Russland und bin nicht auf dem Laufenden. Aber weiß der Teufel, also, die Behauptung, dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er Jahre, hm … Meinen Sie das ernst? 

    Ich habe den Eindruck, die heutige junge Generation ist viel besser als wir damals. Ich erinnere mich an mich selbst, ab dem Moment, wo ich eine eigene Meinung hatte, da war ich wahrscheinlich 14 oder so, weil bis zu diesem Alter glaubt man ja irgendwie alles. Man wächst auf in einem Kindergarten, wo ein Porträt von Opa Lenin hängt, dann ist man Pionier, man marschiert durch die Straße und denkt: „Wenn uns Wladimir Iljitsch jetzt nur sehen könnte, wie wir herrlich und fein leben, und wie schlecht es die armen Kinder in Amerika haben.“ 
    Dann kommt die Pubertät, und im Kopf beginnt sich etwas zu rühren. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, wo das bei mir passiert ist, aus einem nichtigen Anlass. Im Englischunterricht mussten wir Hamlets Monolog auswendig lernen: To be or not to be — that is the question. Whether it is nobler in the mind to suffer … und so weiter. Und plötzlich begriff ich den Sinn dessen, was Shakespeare schrieb: dass nämlich die philosophische Hauptfrage des Seins nicht die Frage ist, was zuerst da war: die Materie oder das Bewusstsein, sondern die Frage, ob dieses Leben mit all seinen Hässlichkeiten es wert ist, sich diesen Film zu Ende anzusehen. 

    Ja, stimmt absolut.

    Das war mein erster eigenständiger Gedanke im Leben, und ich war so dermaßen stolz darauf, dass ich begann, alles rundherum einer Bewusstmachung und Neubewertung zu unterziehen. Und sofort in der ersten Schulstunde zog ich in Zweifel, was unsere Lehrerin sagte, da ging es gerade um Leninismus oder Ähnliches. 

    Dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er-Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?

    Zu der Zeit, nach der zehnten Klasse, war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte und wusste: Das, was man denkt, darf man nicht laut sagen. Und als ich mein Studium begann, war ich nur von solchen jungen Leuten umgeben, das waren die Studierenden der 1970er Jahre. Das war ein unglaublich abgebrühter, berechnender Zynismus. 
    Ich habe manchmal Online-Gesprächsrunden mit Studierenden oder Schülern, ich lese in sozialen Netzwerken und ich sehe: Die sind viel besser als wir damals, mein lieber Herr Gesangsverein. 

    Nach der zehnten Klasse war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte

    Grigori Schalwowitsch, eine Frage, die mir sehr wichtig ist. Ich habe sehr auf Ihr Buch gewartet, auf Ihren Band über die Petrinische Epoche, und habe mit Schrecken festgestellt, dass Ihre Meinung über Peter den Großen generell vorwiegend negativ ist. Mir schien, dass das mit Ihrer Einstellung zur Sowjetunion zusammenhängt. War denn nicht das ganze russische 19. Jahrhundert, das goldene Zeitalter, ein Produkt Peters des Großen?

    Wissen Sie, ich habe auch immer gedacht, Peter hat ein Fenster nach Europa aufgestoßen und Russland in Richtung irgendwelcher vor-aufklärerischer Werte gerückt. In der näheren Auseinandersetzung sah ich, dass das gar nicht wahr ist. Also, er hat natürlich ein Fenster aufgestoßen, aber die Tür hat er zugelassen. Das war ein vergittertes Fenster, durch das jene hinaussehen durften, denen das gestattet war. Was hat Peter gemacht? Er hat das zermürbte Moskauer Zarenreich des 17. Jahrhunderts übernommen, in dem es eigentlich keine richtige Vertikale gab und das nach der Zeit der Wirren völlig am Ende war.
    Tatsächlich hat Peter eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, ähnlich wie in der Goldenen Horde, eine absolute Vertikale, in der alle Entscheidungen ausschließlich an einer Stelle getroffen wurden, die sich im Kopf des Herrschers befand, und alle Entscheidungen kamen nur von dort. Das ist keine Europäisierung, das ist eine absolute Asiatisierung, getarnt mit Perücken, Miedern und Spangenschuhen. 
    Was das 19. Jahrhundert betrifft und damit die russische Literatur, also jene Kultur, aus der wir alle hervorgegangen sind, so verdanken wir sie, wie mir jetzt klar ist, nicht Peter, sondern Katharina, sie entstand also wesentlich später. 

    Na ja, Katharina ist ja auch eine etwas blassere Variante von Peter, sein Spiegelbild.

    Aber nein, gar nicht, überhaupt nicht. An Katharina ist, wie mir scheint, in historischer Hinsicht das Interessanteste, dass sie erstmals in der russischen Geschichte Soft Power effektiv eingesetzt hat. 

    Peter der Große hat eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, eine absolute Vertikale

    Katharina hat ein unglaublich produktives und faszinierendes Know-how entdeckt: Sie hat demonstriert, dass man die besten Ergebnisse erzielen kann, nicht indem man mit Enthauptung oder Pfählen droht, sondern indem man Belohnungen verspricht, und dass der Zarenthron kein Horrording ist wie unter Iwan dem Schrecklichen, sondern eine Art Sonne, zu der man hinstreben soll, um sich an ihren Strahlen zu wärmen. Und wie sich herausstellte, funktionierte das wunderbar.

    Wissen Sie, es geht doch immer um dieses Verhältnis zwischen dem Russischen und dem Sowjetischen. Für manche ist das Sowjetische die Fortsetzung des Russischen, doch für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe, und man weiß nicht, ob besser oder schlechter. Wie sehen Sie das?

    Für mich geht es da um das Verhältnis vertikal oder horizontal. Der russische Staat wurde als superzentralisiertes vertikales Modell errichtet, von oben nach unten wie bei Dschingis Khan, wo alle Entscheidungen oben getroffen und wie ein Staffelstab nach unten weitergegeben wurden. 

    Wenn der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern

    Ich sehe nichts Nationales und Fatales in diesem Schema, jedes Volk, das man in dieses Schema presst, wird so. Ich bin überzeugt, wenn Russland in ein paar Jahren aufhört, ein superzentralisierter Staat zu sein, und zu einer normalen Föderation wird, wo alle oder 90 Prozent der Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen, vor Ort gefällt werden und der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern. 

    Dimitri Bykow befasst sich in seinen publizistischen Werken mit Themen der russischen Gegenwart / Foto © Mark Nakoykher/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0
    Dimitri Bykow befasst sich in seinen publizistischen Werken mit Themen der russischen Gegenwart / Foto © Mark Nakoykher/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Was ich noch gern verstehen würde: Derzeit entwickelt sich in Russland, wie bei uns geschrieben wurde, ja eine Art Föderalismus, und zwar aus einer Richtung, wo man es nicht erwartet hat. Putin erlaubt den Regionen, autonom zu entscheiden. Daraus wird nichts werden, weil sie so oder so auf die Signale von oben hören. Glauben Sie denn, dass die Pandemie in Russland eine Horizontalisierung bringt?

    Ich glaube, für Putin ist das ein gefährliches Experiment, das davon zeugt, dass er die Natur des Staates, den er errichtet hat, nicht wirklich durchschaut. Jede Schwächung der Vertikale und Delegierung realer Macht in die Regionen ist ein Risiko. Weil in vielen Regionen unfähige Gouverneure sitzen, die nichts erreichen. Aber es kann durchaus die eine oder andere aktive Person auf den Plan treten, die ihre Verantwortung spürt, etwas in Angriff nimmt und sich als besser erweist als die Zentralmacht – und sich damit eine gewisse Beliebtheit, ein gewisses Vertrauen der Bevölkerung verdient.

    Und sofort eins auf die Mütze kriegt.

    Alle kriegen eins auf die Mütze, aber wenn sich die Spielregeln ändern, tauchen diese Mützen oft wieder auf. So ist der Mensch beschaffen. In der Sowjetunion bekamen es alle so dermaßen auf die Mütze, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Aber sobald dieses System in die Binsen ging, ins Schlingern geriet, waren sofort unglaublich viele eindrucksvolle, ehrenhafte, mutige Leute da, erinnern Sie sich. 

    Der sowjetische Patriotismus basierte auf Überzeugungen, darauf, dass wir ein Land sind, das anders tickt. Der Patriotismus in Putins Epoche basiert zur Gänze auf Ressentiments: Ja, wir sind so und so, und wir sind stolz und glücklich, dass wir nicht anders sein können, und die ganze Welt wird uns, sorry, in den Arsch kriechen. So ungefähr. 
    Finden Sie nicht auch, dass der sowjetische Patriotismus weniger militarisiert war, nicht so großspurig, so unverfroren, dass er anders war?

    Reden wir jetzt vom offiziellen Patriotismus oder vom Patriotismus im Massenbewusstsein? „Wir zogen durch die halbe Welt, wenn‘s sein muss, gerne wieder“ – soll das eine friedliche Rhetorik sein? Dass bei uns in der Schule im Wehrkundeunterricht an der einen Wand eine Atombomben- und an der anderen eine Wasserstoffbombenexplosion hing und unsere Mädchen brav dasaßen und Kalaschnikows zerlegten – war das friedliche Rhetorik?

    Was soll ein anständiger Mensch heute tun: emigrieren, innerlich emigrieren oder auf die Barrikaden steigen?

    Ich glaube, ein anständiger Mensch soll das tun, was seinem Anstand nicht zuwiderläuft. Wir sind alle verschieden, jeder von uns hat erstens andere Lebensumstände und zweitens ein anderes öffentliches Auftreten. Aber ich glaube, jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören.

    Erwartet Russland das Schicksal der UdSSR, und wann?

    Sie meinen offenbar den Zerfall? Ich halte das für absolut nicht ausgeschlossen, weil das aktuelle Regime, auch wenn es glaubt, die Einheit des Staates mit allen Kräften zusammenzuhalten, diese meiner Meinung nach untergräbt. Weil ein Staat, der sich nur an einer Schraube hält, ein sehr schwaches Modell ist: Wenn diese Schraube abbricht, zerfällt alles in Stücke.

    Jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören

    Wie realisierbar ist Ihrer Einschätzung nach die Utopie der Föderalisierung, die Sie in Glückliches Russland beschreiben?

    Durchaus realisierbar. Ich glaube, das eigentliche Hauptproblem, die Hauptkrankheit der russischen Staatlichkeit, wird sich auflösen, wenn Russland zu den Vereinigten Staaten von Russland wird. Zu einer echten Föderation mit mehreren profilierten Hauptstädten, mit Möglichkeiten für die Menschen vor Ort, die eigenen Behörden besser zu kontrollieren, sodass im Zentrum nur die vereinigenden Vorrechte verbleiben, internationale Beziehungen, Verteidigung, einige große, landesweite Projekte. Und das genügt vollauf.
    In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden. Behandle einen Menschen wie einen Erwachsenen, und er wird anfangen, sich zu benehmen wie ein Erwachsener. 

    Wenn diese wichtigste Schraube abbricht, wird es dann besser?

    Nach den Grauen kommen normalerweise die Schwarzen. Lang werden sie sich natürlich nicht halten können, weil sie unfähig sind, irgendwas zu verwalten oder auf den Weg zu bringen. 

    Aber eine gewisse Zeit halten sie sich?

    Ja, das ist möglich und sehr bedrückend.

    Hätte die Sowjetunion alternative Entwicklungsmöglichkeiten gehabt? Ich meine, hätte die Katastrophe der 1990er Jahre verhindert werden können?

    Ich glaube, eine große verpasste Chance war die nicht erfolgte Unterzeichnung des Vertrags von Nowo-Ogarjowo über die Union Souveräner Staaten, das, was der eigentliche Grund für den Putsch war. Weil die Leute, die den Putsch unternahmen, richtige Horden-Etatisten waren, denen klar geworden war, dass dieses System am Ende war. 

    In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden

    Wenn die Sowjetunion im August 1991 anstatt zu zerfallen zu einer solchen Konföderation geworden wäre, ähnlich der Europäischen Union, nur eben im eurasischen Raum, dann hätte, glaube ich, alles anders kommen können. 

    Viele fragen: Haben Sie nicht das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, dem heutigen Russland den Rücken zu kehren und ein eigenständiges Leben zu beginnen?

    Na ja, also, ich sage das jetzt ohne Schmeichelei. Ich glaube, Russland ist ein enorm interessantes und großes Land, nicht im imperialen Sinn, sondern im Hinblick auf sein energetisches und kulturelles Potenzial, das über unzählige Generationen angesammelt wurde. Es ist ein Land mit unglaublichem Potenzial und unglaublichen Möglichkeiten. Es macht schwere Zeiten durch, wird vielleicht noch schwerere durchmachen, aber mir scheint, Russland hat gute Chancen, irgendwann endlich ein glückliches Russland zu werden. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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