дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Meister und Margarita – ein Film über die Gegenwart?

    Der Meister und Margarita – ein Film über die Gegenwart?

    Bereits Ende Januar 2024 feierte die russische Neuverfilmung des Romans Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow Premiere in Russlands Kinos. Dort kam der Film beim Publikum gut an, manche Moskauer Kinos zeigten ihn quasi in Dauerschleife. Michail Lockschin – ein in den USA geborener und auch in Russland aufgewachsener Regisseur – hatte den Film 2021 in Moskau gedreht, gefördert unter anderem mit staatlichen russischen Geldern. Doch im Februar 2022 startete Russland den vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine.  

    Bulgakows vielschichtiger Roman spießt mit den Mitteln der Satire Stalins Zensur- und Denunziationssystem auf, der Autor wurde selbst Opfer der Repressionen, das Buch konnte vollständig erst 1973 in der Sowjetunion erscheinen. Genug Stoff also, um in der Neuverfilmung auch potenzielle Kritik am System Putin unterzubringen. Und entsprechend traten nationalistische Autoren und sogenannte Z-Blogger eine Denunziationskampagne gegen Lockschin los, weil der den Krieg gegen die Ukraine öffentlich verurteilt hatte.     

    Seit Anfang Mai 2025 läuft der Film in deutscher Fassung in hiesigen Kinos. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text von Sabina Brilo vom Februar 2024 für das Online-Portal Media_IQ. Vor dem Hintergrund der monströsen Repressionen in ihrer Heimat und der drohenden Kriegsgefahr fragt sich die belarussische Autorin, ob diese Neuverfilmung ihr kritisches Potenzial tatsächlich ausgeschöpft hat. 

    Die deutsche Version von Der Meister und Margarita läuft seit Mai 2025 im Kino. Foto © Capelight Pictures OHG 

    Als die russische Neuverfilmung von Der Meister und Margarita (ru: Master i Margarita) auf Social Media große Wellen schlug, fischte ich gerade in anderen Gewässern.  

    Schon seit Monaten lese ich die Erinnerungen von Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben: die Aufzeichnungen eines Lagerarztes, dann Erinnerungen einer deutschen Jüdin, der es gelang, im nationalsozialistischen Berlin zu überleben, und jetzt gerade die detaillierte Lagerbiografie einer Französin, die der Teufel geritten haben muss, im Paris der 1920er Jahre einen russischen Botschaftsmitarbeiter zu heiraten: Andrée Sentaurens kam 1930 zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Moskau – und geriet dort für ein Vierteljahrhundert in die Fänge staatlicher Tyrannei. Am Anfang Hunger, Angst, Unverständnis und die Unmöglichkeit, dem von allen Seiten nahenden Alptraum zu entgehen, dann schließlich siebzehn Jahre in Stalins Lagern, dem wohlbekannten Sewerodwinsk (damals Molotowsk) und seiner schrecklichen Umgebung. 

    Liest man die Memoiren von Überlebenden, dann kann man sich nicht losreißen, denn all das ist die Wahrheit. So war es. Parallel dazu lese und höre ich natürlich auch Nachrichten – aus der Heimat und nicht nur die. Es sind immer abstrusere, irrsinnigere, menschenfeindlichere Nachrichten, die man lieber nicht sehen und hören möchte, und doch muss man es, weil es die Wahrheit ist. So ist es. Menschen werden unschuldig festgenommen und in Lager und Gefängnisse gesteckt, Kinder bleiben ohne Eltern zurück, alte Menschen ohne ihre Söhne und Töchter. Die Staatsideologie ist zum höchsten Gut erklärt, das Leben und die Menschenwürde sind ihr vollkommen untergeordnet. In den Gefängnissen werden die Menschen isoliert, sogar der Kontakt zur Familie wird abgeschnitten. In den Gefängnissen wird getötet. Es ist heute so wie damals – weil zwar Zeit vergangen ist, aber wir, die Menschen, nichts geändert haben. 

    Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. 

    Aus diesem Grund also – dem Nachempfinden und dem Mitempfinden mit der Gegenwart – war die Diskussion um den neuen Film Meister und Margarita an mir vorbeigezogen. Und als ich gefragt wurde: „Was denkst du darüber?“, winkte ich erst einmal ab. Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. Eine Realität aushalten, in der meine Leute im Gefängnis sitzen, in der Emigration ausharren, ihr Leben riskieren und es verlieren. Eine Realität, in der Gefängnis und Krieg immer „normaler“ werden und bisher anscheinend niemand die Kraft hat, das zu ändern.  

    Doch dann überlegte ich: Wenn zum jetzigen Zeitpunkt in Russland Der Meister und Margarita verfilmt und gezeigt wird, muss das etwas zu bedeuten haben. Schon das künstlerische Statement der Neuverfilmung muss eine Bedeutung haben, denn Bulgakows Buch ist das eines Menschen, der, im Unterschied zu den Autoren und Autorinnen, die ich gerade gelesen habe, die Fänge der Staatstyrannei NICHT überlebt hat. Da beschloss ich, den Film anzuschauen und zu sagen, was ich über den neuen russischen Meister-und-Margarita denke. 

    Tatsächlich gehöre ich nicht zu denen, die Der Meister und Margarita als Erwachsene noch einmal gelesen haben. Für mich ist es ein Buch aus der frühen Jugend geblieben, und wenn ich mir vorstelle, in meinem Kopf gäbe es ein thematisch geordnetes Bücherregal, dann stünde Der Meister und Margarita irgendwo zwischen Die Kinder vom Arbat und den zwei Bänden von Ilf und Petrow [Zwölf Stühle und Das Goldene Kalb]. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich damals, vor mehr als dreißig Jahren, die Liebesgeschichte stark berührt hätte. Aber ich habe mir gemerkt, dass Pontius Pilatus (der anscheinend den Tod Jeschuas nicht herbeisehnte, ihn aber auch nicht begnadigte) ständig Kopfschmerzen hatte. Und ja, dieses Buch war es, in dem ich, als Kind der Sowjetunion, zum ersten Mal die Geschichte des Evangeliums las.

    Ich will hervorheben: Ich las Der Meister und Margarita. ganz am Anfang der 1990er. Das waren, wenn auch hungrige, so doch Jahre der Freiheit. Ich empfand real meine Freiheit als Individuum, machte von ihr Gebrauch und nahm sie für mich an. Später erzog ich im Bewusstsein dieser Freiheit meinen Sohn. Jetzt ist alles anders, und das Buch habe ich nicht noch einmal gelesen. Dafür bin ich gerade fertig mit den schrecklichen, wahrhaftigen Memoiren der Französin Andrée Sentaurens. Und als ich beschloss, mir den neuen Der Meister und Margarita-Film anzuschauen, war ich aus irgendeinem Grund absolut überzeugt, dass in ihm ein lautes SOS ertönen müsse, aus dem jetzt im Wiederaufbau befindlichen, riesigen Konzentrationslager, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt. 

    Ein lautes SOS müsste ertönen, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt. 

    Leider sah und hörte ich in dem neuen Meisterwerk der russischen Filmkunst kein solches Signal. Ich sah einen glamourösen Film ohne Gefühl, ohne Schmerz, ohne Liebe. „Vor Kummer und Nöten bin ich eine Hexe geworden“, sagt Margarita, aber ich verstehe (sehe!) nicht, worin der Kummer dieser schönen Frau besteht. Ich dachte: Wie würde wohl Maryna Adamowitsch diese Worte wahrnehmen, die schon über ein Jahr nichts mehr von ihrem Ehemann Mikalaj Statkewitsch gehört hat und selbst in einer Falle lebt, die jeden Moment zuzuschnappen droht? 

    Natürlich, der Film bietet schon zarte Signale „für unsere Leute“. Zurechnungsfähige russische und belarussische Zuschauer registrieren sie:

    „…indem, was noch kurz zuvor erlaubt war, heute schon verboten ist.“

    „Es dreht sich um das Jetzt.“

    „Bei uns im Studio verschwinden fast jeden Tag Leute, und keiner sagt etwas – jeder hat Angst.“

    „Ich habe mich umgehört: Jeder steht unter Schock und du hast sehr viele Sympathisanten!“  

    Es ist ein russischer Film, gedreht noch vor dem Ausbruch des Terrors im Land, auf der Schwelle sozusagen. In Belarus war der Staatsterror derweil schon in vollem Gange. So wird – im Zeichen des Terrors – von den Tyrannen die „gemeinsame Geschichte“ wiedererrichtet. Und diejenigen, denen Lager droht, drehen (für die, denen Lager droht) einen Film, den sie auch fünf oder zehn Jahre früher hätten drehen können – hat ihnen die Kraft nicht gereicht, um SOS zu schreien, oder war es noch nicht schmerzhaft und schrecklich genug? Mal angenommen, es gäbe ihn dort, diesen Schrei – hätte die Welt ihn denn gesehen, hätte sie ihn gehört? Und wenn sie ihn gehört hätte, was hätte sie dann tun können? Die Welt, die noch mehr oder weniger in Wohlstand lebt, meint aus irgendeinem Grund, dass der Schrecken, den wir durchleben, sie nie treffen wird. Aber leider gibt es auf der Welt kein zivilisiertes Mittel gegen den Drachen, der erst die Menschen im eigenen Land frisst und dann die Grenzen überschreitet.  

    Ich habe den neuen Film also angeschaut. Ich zitiere noch einmal Margarita: „Wenn man den Autor nicht kränken will, heißt es gewöhnlich: Er hat große Arbeit geleistet.“ So denn, solange wir leben, arbeiten wir (besonders wenn völlig unklar ist, was wir tun sollen). Jetzt muss ich also Der Meister und Margarita noch einmal lesen – ein Buch, geschrieben von einem Menschen, dem es nicht gelang, die Jahre des sowjetischen Terrors zu überleben. 

    Weitere Themen

    Nikolaj Statkewitsch

    Der Abgrund ist bodenlos

    Gulag

    „Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

    Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen?

    Schöne neue Welt

    Der Große Terror

  • „bedeck dieses gesicht mit einem weißen tuch …“ – ein Brief über Rückkehr

    „bedeck dieses gesicht mit einem weißen tuch …“ – ein Brief über Rückkehr

    Bis zu 600.000 Belarussen haben ihre Heimat seit 2020 verlassen, aus Angst vor Verfolgung und Repression. Sie mussten Eltern und Großeltern, Verwandte und Freunde zurücklassen, genau wie ihre Wohnungen und ihr altes Leben. Wie leben die Belarussen in der Zwangsemigration, was denken sie, was bereitet ihnen Sorgen und worauf hoffen sie? Darüber schreibt der Autor Siarhiej Dubaviec in einem Brief an seinen Freund in Minsk, belarussisch ursprünglich Mensk, für das Online-Portal Svaboda.  

    Der Platz des Sieges im Zentrum von Mensk. / Foto © Radio Svaboda
    Der Platz des Sieges im Zentrum von Mensk. / Foto © Radio Svaboda

    Ich grüße dich, mein Freund! 

    Gerade noch habe ich vom Winter geschrieben, der uns doch nicht betrogen hat und zurückgekehrt ist – da ist nun Anfang März schon wahrhaftiger Frühling. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Die globale Erwärmung ist Wirklichkeit. Aber niemand spricht wirklich darüber, niemand schlägt Alarm, dass die Gletscher schmelzen, dass im Marianengraben, wo die Erdkruste am dünnsten ist, der Ozeanboden bebt und die Lava jeden Moment hervorbrechen könnte, was wiederum neue Erdbeben, Tsunamis und Hochwasser nicht nur an extremen Punkten der Erde hervorrufen würde, sondern überall, auch in unseren Breiten.  

    Unser Nachbar in dem Haus, in dem wir in Vilnius wohnen, hat berechnet, dass auch wir überschwemmt werden, wenn „alles losbricht“. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als stände das Haus auf einem Hügel, aber Vilnius selbst liegt in einer Senke. Unser Haus daheim in einem Vorort von Mensk, das wir verlassen mussten, liegt hingegen auf einer Anhöhe, es ist sicher. Doch wir können nicht dorthin zurück, weil wir „Extremisten“ sind. Das ist doch eine Metapher, die es mit Ray Bradbury und seinem Schmetterlingseffekt aufnehmen kann: Da beeinflusst ein „rebellischer” Kühlschrankmagnet das menschliche Schicksal plötzlich stärker als eine globale Katastrophe und das Leben insgesamt.  

    Im Internet tauschen sich die belarussischen Emigranten darüber aus, was sie machen würden, wenn es in Belarus plötzlich wieder normal und sicher wäre. Natürlich würden sie die Gräber ihrer Verwandten besuchen, an den einstigen Lieblingsorten spazieren gehen, eine Sauftour mit Freunden auf den alten Routen veranstalten – und dann wieder in ihr wahres Leben im Ausland zurückkehren. Ein normales und sicheres Belarus ist in keiner Form in Sicht. Es scheint Hunderte verschiedene Meinungen zu geben, doch niemand will sich wirklich eine Rückkehr nach Belarus vorstellen, und erst recht kaum jemand plant sie schon.  

    Buchstäblich vor ein paar Tagen erschien, von mir herausgegeben, eine Anthologie über Vilnius in der belarussischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine solide Auswahl von Kolas, Kupala, Bahdanowitsch, Shylka, Arsennewa, Tank, Pantschanka, Karatkewitsch, Rasanau, Minkin – die gesamte belarussische Literatur also, voller Liebe für Vilnius, für die Poesie, für das Leben. 

    Wenn wir das Buch vorstellen, taucht unweigerlich die Frage auf: Warum gibt es ein solches Buch nicht über Mensk? Ich sage dann, dass es unmöglich ist, eine so umfängliche Anthologie über Mensk zusammenzustellen. Weil mit unserem Mensk etwas nicht stimmt. Mensk ist, wie auch unsere Sprache, eine Verwundete. Im Jahr 1939 ersetzten die Bolschewiki den Namen Mensk in der belarussischen Sprache durch Minsk (die polnische Variante, die auch im Russischen so lautet.) Als 1967 zum 900-jährigen Stadtjubiläum ein Buch herausgegeben wurde (kein Lyrikband, aber es waren auch Gedichte enthalten), gab man ihm den Titel Horad i hódy (dt. Stadt und Jahre), mit einem Fehler im Belarussischen. Korrekt wäre Horad i hadý, aber dann würden Russen Horad i hády (dt. Stadt und Scheusale) lesen, was sehr hässlich wäre. Deshalb wurden die Regeln der belarussischen Sprache gebrochen und der Plural „hody“ gebildet. Kurz, sowohl die belarussische Sprache als auch die Stadt Minsk/Mensk wurden bis weit in die Zukunft erniedrigt – als hätte man ihr eine Invalidität diagnostiziert. 

    Diese Zukunft ist nun da. Ein Gedicht über Mensk, geschrieben in Mensk, gefunden im Internet, sieht heute so aus (den Buchstaben im Titel hat der Autor bewusst weggelassen, um den Gegensatz „Minsk-Mensk“ nicht zu betonen): 
     

    Mnsk 

    Platz der schwäche 

    unumstößlich grau 

    unausweichlich nah 

    das stumpfe betongesicht 

    die riesige asphaltzunge 

    plakatwandaugen 

    leichenflecken aus kastanien 

    aufgespannt am straßenrand  

    von nirgendwo nach endlos 

    bedeck dieses gesicht 

    mit einem weißen tuch 

    aus schnee 

    schick eine landetruppe 

    pusteblumen 

     

    Das ist kein Liebesgedicht. Es geht um Angst, Krieg und Tod. Der Dichter spricht aufrichtig. Wahrscheinlich ist das die allgemeine Stimmung, bei denen, die gegangen sind, denen, die geblieben sind. Deshalb gibt es auch keine echte Rückkehr, selbst nicht einmal in Gedanken. 

    Eine Freundin, die in Vilnius lebt, aber ab und zu nach Mensk fährt, sagt, dass es unser Mensk nicht mehr gibt. Auch die letzten Reste dieses urbanen Geistes, dieser belarussischen Dimension der Stadt, die wir verließen, sind verflogen … 
     

    bedeck dieses gesicht 

    mit einem weißen tuch 

     

    Übrigens wird auch in Litauen nicht sonderlich viel über den Klimawandel gesprochen. Dafür spricht man über einen möglichen Angriff auf Litauen durch Russland und Belarus. Zum ersten Mal in der Geschichte hören wir diese Wortkombination: „Belarus – Aggressor“. Wir wissen, es ist ein Oxymoron wie „heißer Schnee“, unser Belarus kann einfach kein Aggressor sein. Aber nachdem sie sich 30 Jahre lang Lukaschenkas Drohungen anhören mussten, verstehen das die Litauer möglicherweise nicht.  

    Ich weiß sogar noch, wie alles begann. Irgendwann Mitte der 1990er Jahre drohte Lukaschenka, die Gülle aus den Hrodnaer Schweinemastanlagen über den Njoman nach Litauen zu leiten. Damals dachte ich: Woher dieser mangelnde Respekt vor den Nachbarn, mitten in Friedenszeiten? Die Schmähungen und Drohungen in Richtung Litauen rissen in den folgenden 30 Jahren nicht ab. Wir wussten, dass es nicht unsere belarussische Respektlosigkeit, sondern nur die des nominellen belarussischen Präsidenten war, tatsächlich eines Moskauer Protegés. Und vor allem war es auch Respektlosigkeit uns, den Belarussen, gegenüber, denn unser Leben war nun nicht mehr friedlich zu nennen. Doch wie sollte das jemand in Litauen verstehen – ob nun Politiker oder ganz normaler Mensch? Zwei Völker lebten über Jahrhunderte friedlich zusammen, und dann wird Belarus plötzlich Aggressor. Gleichzeitig ist das echte Belarus völlig erstarrt oder im Gefängnis … 

    Bitte entschuldige meine schweren Gedanken, aber so ist es nunmal. Wenn wir Gedanken schwer nennen, gestehen wir damit doch auch ein, dass es leichte Gedanken geben kann. 

    Ich freue mich auf deinen Brief, voller leichter Gedanken. 

    Weitere Themen

    Alexander Lukaschenko

    Die moderne belarussische Sprache

    Heldenstadt Minsk

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

    Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

  • „Ich wohne nirgendwo“

    „Ich wohne nirgendwo“

    Man könnte meinen, die Leipziger Buchmesse im Jahr 2025 stünde im Zeichen der belarussischen Literatur. Schließlich erhält der Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman Europas Hunde den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, zudem ist Thomas Weilers deutsche Übersetzung des Buches Feuerdörfer für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit steht eine europäische Literatur im Rampenlicht, der ansonsten nur wenig Beachtung zuteilwird.  

    Grund genug, etwas mehr Licht auf die belarussische Literatur zu werfen. dekoder-Autor Dsjanis Marzinowitsch hat mit Hanna Yankuta gesprochen – über das Leben aus dem Koffer, das Getrenntsein von Belarus und Entwicklungslinien der belarussischen Literatur, die sich nun weitgehend im Exil befindet. Die Schriftstellerin hat 2024 den Roman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) vorgelegt, den die Jury des belarussischen PEN sogleich auf den zweiten Platz des renommierten Jerzy-Giedroyc-Literaturpreises wählte.

    Unkrautzeit ist ein Versuch, die Unzeit zu beschreiben, in der sich die Belarussen seit 2020 bewegen. Das Buch zeigt die Welt aus Sicht einer Belarussin, die sich in der erzwungenen Emigration wiederfindet. Es besteht aus realen und fiktiven Geschichten, flüchtigen Eindrücken und Erinnerungen. 

     

    Die Übersetzung dieses Textes wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht. 

    dekoder: Wenn man Ihnen auf Social Media folgt, bekommt man den Eindruck, dass Sie ständig auf Reisen sind. 

    Hanna Yankuta: Ich habe Belarus im Frühling 2021 verlassen, lebte dann zwei Jahre lang in Polen, und bin seit Mitte 2023 tatsächlich ständig unterwegs. 2024 habe ich einige Zeit in Lettland, Schweden, Deutschland und Österreich gelebt und auch kurze Reisen in andere Länder unternommen. Zentrum meines Lebens in der Emigration bleibt Polen, meine Bücher und Sachen sind dort bei Freunden eingelagert, ich halte mich dort häufig auf. 

    Kann man das ein „Leben aus dem Koffer“ nennen? 

    Ja, das ist eine gute Beschreibung. Auf die Frage, wo ich wohne, antworte ich in der Regel: nirgendwo. Manchmal habe ich Glück und bekomme eine Schriftstellerresidenz, manchmal miete ich irgendwo für kurze Zeit eine Unterkunft. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel drei Monate in Argentinien verbracht, in diesem Winter ein Zimmer in Warschau gemietet. Manchmal kann ich einige Zeit bei Freunden unterkommen (in diesem Sommer lebte ich sechs Wochen bei Freunden in Berlin). Ein festes Zuhause habe ich nicht. Mein Zuhause ist in Belarus geblieben. 

    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch
    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch

    Warum haben Sie sich für diese Lebensart entschieden? 

    Einerseits liegt das an den Umständen, andererseits an Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Mir ist es wichtig, solange es möglich ist, mich mit belarussischer Literatur zu beschäftigen – Texte zu schreiben, Bücher herauszugeben, Forschung zu betreiben und Buchprojekte zu unterstützen. Häufig bringt diese Arbeit kein Geld, und wenn doch, dann reicht es nicht zum Leben. Um mich irgendwo niederzulassen und dauerhaft etwas zu mieten, müsste ich eine Vollzeitarbeit finden, die höchstwahrscheinlich nichts mit belarussischer Sprache und Literatur zu tun haben würde. Auch hätte ich dann sehr viel weniger Zeit für meine Projekte. Deshalb führe ich so lange wie möglich dieses Leben auf Wanderschaft. 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren 

    Natürlich ist es eine temporäre Lösung. Es gibt nicht so viele Residenzen und Stipendien für belarussische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und es ist physisch und emotional sehr anstrengend, ständig umzuziehen, zu überlegen, wo man in den nächsten Monaten leben wird, Bewerbungen zu schreiben (und häufig Absagen zu bekommen). Früher oder später muss ich mich irgendwo niederlassen. Noch ist Zeit, ich versuche, meine begonnenen Projekte fertigzustellen, so viel wie möglich zu schaffen. 

    Befördert oder behindert diese Lebensart das Schaffen? 

    Auf der einen Seite fördert das Emigrantendasein an sich das Schaffen nicht gerade: Ob man nun an einem Ort bleibt oder auf Reisen ist, man muss eine Menge neuer Aufgaben bewältigen, neue Sprachen lernen, neue Fähigkeiten erwerben. Das kostet viel Zeit, die ich in Belarus fürs Schreiben verwenden könnte. Andererseits lerne ich viel Neues, neue Sichtweisen, lerne neue Menschen kennen – vielleicht nennt man genau das „Erfahrung“. Ich weiß nicht, ob ich sie auf diese Weise sammeln möchte, aber da ich keine Wahl habe, passe ich mich den Umständen an. 

    Beeinträchtigt die physische Trennung von der Heimat die Kreativität, oder trägt man Belarus immer bei sich? 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren. Aber ich weiß auch, dass es nicht mehr das Land sein wird, das ich 2021 verlassen habe, wenn ich irgendwann wieder hinfahren kann. Alles, was ich jetzt im Bereich der Literatur mache, tue ich in der Hoffnung, dass die belarussische Sprache erhalten bleibt, dass Wissen über Belarus in der Welt verbreitet wird, und überhaupt für eine bessere Zukunft des Landes. Das gibt mir Kraft und hilft mir, mit der Verzweiflung klarzukommen. 

    Es hat sich so ergeben, dass ich nicht dort leben kann, wo ich will – also muss ich mir überlegen, was ich mit dieser Situation anfangen kann. Vielleicht stört es mich deshalb nicht, von Belarus getrennt zu sein, auch wenn es manchmal sehr wehtut. 

    Für die Mehrheit der Leserinnen und Leser sind Residenzen für Schriftsteller vermutlich etwas Geheimnisvolles, Unverständliches. Wie funktioniert das? 

    2021 wurde ich für das Gaude Polonia-Programm in Polen ausgewählt – ein renommiertes fünfmonatiges Stipendium für Ukrainer und Belarussen. Die Konkurrenz ist sehr stark: Man muss eine sehr gute Bewerbung schreiben, natürlich ein Projekt haben, das der Jury gefällt. Ich habe mehrere Wochen an der Bewerbung gearbeitet. Es ist das längste Stipendium, das ich bislang erhalten habe, die anderen dauerten einen oder zwei Monate. 

    Es gibt mehrere dieser Kurzzeitresidenzen für Schriftsteller aus Belarus und der Ukraine, in Warschau, Krakau und Danzig, es gibt das Kolegium tłumaczy für Übersetzer aus dem Polnischen. Dort muss man ebenfalls ein Projekt einreichen. Für das einmonatige Stipendium des SDK (Staromiejski Dom Kultury) in Warschau habe ich mich drei- oder viermal beworben, ehe ich Erfolg hatte. 

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls 

    In der Regel stehen die Anforderungen fest, die die Organisatoren der Residenzen erwarten. Manchmal reicht eine Buchveröffentlichung, manchmal werden nur Schriftsteller gesucht, deren Werke in eine bestimmte Sprache übersetzt wurden, zum Beispiel Deutsch. Es gibt Aufenthaltstipendien für Schriftsteller, die in ihrem Land verfolgt werden, aber dafür habe ich mich nie beworben. 

    Die Residenzen, zu denen ich bislang das Glück hatte, eingeladen zu werden, waren offen für alle Schriftsteller, die Informationen sind frei zugänglich. Ich weiß nicht, ob es Geheimnisse gibt, die dabei helfen, zu gewinnen, viele meiner Bewerbungen hatten keinen Erfolg. Bewerbungen zu schreiben ist eine besondere Fähigkeit, ich bin noch dabei, das zu lernen. Vor Kurzem habe ich wieder eine Zusage erhalten – ich wurde zu einer Künstlerresidenz von November 2025 bis Januar 2026 eingeladen. Jetzt muss ich nur planen, wo ich bis dahin leben werde. 

    Womit verdienen Sie jetzt ihren Lebensunterhalt? 

    Ich übersetze verschiedenste Texte aus dem Russischen, Englischen und Polnischen ins Belarussische. In den seltensten Fällen sind es literarische Texte, eher aus den Bereichen Menschenrechte und Journalismus, für Kulturinstitutionen und NGOs. Das ist mein, wenn auch nicht großes, so doch stabiles Einkommen.  

    Ich könnte davon nicht leben, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit zu einer Residenz eingeladen würde. Selbst wenn kein Stipendium für den Lebensunterhalt dabei ist, hilft so ein kostenloses Zimmer in einem Schriftstellerhaus für eine gewisse Zeit dabei, Geld zu sparen. Manchmal bekomme ich Honorare für literarische Veranstaltungen oder Vorträge, manchmal für Artikel oder Essays, die ich Zeitschriften anbiete oder die sie bei mir bestellen (das passiert selten, ein paar Mal im Jahr). Außerdem bekomme ich Anteile am Verkauf meiner Bücher. Aber Honorare und Tantiemen machen nur einen geringen Teil meines Einkommens aus, es sind keine Beträge, von denen es sich leben lässt. 

    Ist das Leben in der Emigration als Schriftstellerin leichter oder schwerer im Vergleich zu männlichen Kollegen? Oder ist es nicht korrekt, solche Geschlechtervergleiche anzustellen? 

    Ich denke, in der Emigration haben es diejenigen schwerer, die nicht nur für sich, sondern zusätzlich für andere Personen Verantwortung tragen – zum Beispiel für Kinder, für alte Eltern oder für ein krankes Familienmitglied. Betrachtet man zum Beispiel alleinerziehende Eltern, dann sind das statistisch gesehen häufiger Frauen – das ist ein Genderaspekt, der auch Literatinnen betrifft. Wenn ich Kinder hätte, würde ich in der Emigration sicher viel weniger im Literaturbetrieb arbeiten, vielleicht würde ich gar nicht schreiben. Es wäre auf jeden Fall ein ganz anderes Leben: Die Frauen mit Kindern, die ich in der Emigration kenne, haben zumindest in den ersten Jahren viel weniger Freizeit. 

    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.
    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.

    Unkrautzeit ist eine hervorragende Charakterisierung der Zeit. Haben Sie Hoffnung? Werden auf der verbrannten Erde wieder Gras und Pflanzen wachsen? 

    Einerseits verstehe ich Unkrautzeit als eine Metapher für diese Unzeit, in der wir Belarussen gelandet sind – in der du deine Zukunft nicht siehst und nichts ernsthaft planen kannst. [Im Belarussischen heißt Unkraut wörtlich „Leerkraut“ – dek] Diese Leere, die im Wort steckt, charakterisiert den Zustand, in dem wir leben. 

    Andererseits ist Unkraut ja nur aus Sicht des Menschen etwas Schlechtes. Als Unkraut bezeichnen wir Pflanzen, die uns nicht gefallen, die an Stellen wachsen, wo wir sie nicht wollen. Dabei sind sie sehr widerstandsfähig und wachsen selbst unter ungünstigen Bedingungen: auf verbrannter Erde oder in Beeten, aus denen wir sie ständig wieder ausreißen. Für mich ist dieser Titel ein Ausdruck von Hoffnung, auch wenn diese Hoffnung fragil und finster ist. Aber besser als keine. 

    Einer der Erzählstränge in Unkrautzeit liegt im Bereich der Geologie (zu Beginn des Krieges geht die Protagonistin ins Geologische Museum, ein Teil des Buches handelt von der Entstehung des Lebens auf der Erde, wie es seine Formen ändert, sich an die Welt anpasst und sie verändert) Haben Sie auch jetzt dieses Bedürfnis nach Distanz? Ist sie überhaupt möglich? 

    Ich hoffe, dass ich nie wieder ein Buch wie Unkrautzeit schreiben werde. Denn es war wirklich eine schreckliche Zeit, als Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine begann und es schwerfiel zu glauben, dass das überhaupt möglich ist. Die Psyche verlangte nach einer Erzählung, die, wenn sie sich nicht von den schrecklichen Ereignissen abgrenzte, so doch wenigstens eine andere Perspektive schuf. Für mich war diese Perspektive die geologische Geschichte der Erde, sie war das Prisma, durch das es mir damals möglich war, die Welt zu betrachten.  

    Ich bin überzeugt, dass das Buch, das ich jetzt schreibe, und alle, die ich in Zukunft schreibe, anders sein werden, denn ich und die Welt um mich herum ändern sich, und ich reagiere schon anders auf das, was passiert.  

    Sollte man über die Gegenwart – besonders die letzten Jahre in Belarus – besser distanziert oder doch emotional schreiben? 

    Ich denke, jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller hat einen eigenen Stil. Für mich ist Distanz eines der wichtigen Instrumente beim Schreiben. Ich schreibe nicht aus der Emotion heraus, ich bemühe mich, sie mit Abstand zu betrachten, in Einzelteile zu zerlegen. Aber natürlich sind auch andere Herangehensweisen möglich – Lyrik schreibt man zum Beispiel gerade aus den Tiefen eines Gefühls heraus, sie hilft, diese Emotion in Worte zu fassen. Man kann sogar mehr schreien als schreiben (unsere Wirklichkeit gibt dafür ja genügend Anlass) – und das ist auch Arbeit mit Emotionen. In schweren Momenten hilft mir als Leserin solche Literatur, um den eigenen Schmerz zu verarbeiten, oder Verzweiflung, oder Hass, und am Ende Erleichterung zu empfinden. 

    Ich selbst muss beim Schreiben aber immer einen Schritt wegtreten von den Emotionen. Deshalb habe ich für Kanstytucyja (eine Gedichtsammlung, die sich mit der Belarussischen Verfassung auseinandersetzt – dek.) und Tschas pustasellja jeweils ein Konzept entwickelt: Die Gedichte in Kanstytucyja basieren auf Gesetzestexten, und Unkrautzeit ist ein Tagebuch in der Emigration, das im Geologischen Museum in den ersten Monaten des Krieges entstand. Solche Konzeptionen helfen dabei, Distanz zu schaffen.  

    Sie sind bereits seit den 2000er Jahren im Literaturbetrieb. Beobachten Sie positive Entwicklungsdynamiken? Oder wird alles immer schlimmer? 

    Die Situation in der belarussischen Literatur ändert sich ständig. Vor fünfzehn Jahren gab es kaum unabhängige Verlage, es erschienen kaum Bücher und wenn, dann waren sie sehr dünn. Das sagt nichts über die Qualität aus, aber es zeugt davon, dass Autoren wenig Zeit für Literatur haben. 

    Schritt für Schritt wuchs die Anzahl der Verlage und Leser, es wurde einfacher, etwas zu veröffentlichen. Das war das Ergebnis der hingebungsvollen, manchmal unbemerkten, niedrig bezahlten oder gar ehrenamtlichen Arbeit vieler Menschen – Schriftsteller, Übersetzer, Verleger, Redakteure, Kritiker und Förderer. Aber auch Leser und Leserinnen, die belarussische Bücher suchten – denn in Belarus war es immer einfacher, ein russisches Buch zu finden als ein belarussisches.  

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls. Nicht umsonst liquidierten die Machthaber später die Mehrheit der unabhängigen Verlage, belarussischsprachige Bücher wurden als Instrument der Herausbildung von Gemeinschaft und Widerstand betrachtet.  

    Die Arbeit auf dem Feld der Literatur kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus 

    Jetzt ist das literarische Leben recht aktiv in der Emigration, auch in Belarus erscheint einiges, Bücher werden geschrieben und übersetzt – das gibt Hoffnung. Aber ich bin vorsichtig mit dieser Hoffnung. Erstens wissen wir aus Monitorings, dass die Russifizierung in Belarus seit 2020 noch stärker zugenommen hat. Das ist kein natürlicher Prozess, sondern einer, in den Russland viele Ressourcen investiert. Wir wissen nicht, wie die folgenden Generationen die belarussische Sprache annehmen werden. Ob in zehn bis 20 Jahren neue belarussischsprachige Autoren und Übersetzerinnen im Literaturbetrieb nachwachsen. 

    Zweitens ist der Boom des Interesses an belarussischer Literatur in der Emigration ein temporäres Phänomen: Die Kinder der Emigranten werden wohl kaum im selben Umfang belarussische Bücher kaufen und lesen, wie ihre Eltern es tun. Drittens kann man sich anschauen, wie viel bedeutende Prosa in belarussischer Sprache geschrieben wird: Es ist viel weniger als im Jahr 2019. Denn viele Autoren waren gezwungen, das Land zu verlassen, sie mussten ein neues Leben aufbauen, die Wenigsten haben die Möglichkeit zu schreiben. Viele verlassen den Literaturbetrieb, und ich denke, es werden noch mehr werden.  

    All das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Im Gegenteil – solange wir das Interesse der Leser haben, müssen wir alles nur Mögliche tun. Diese Arbeit auf dem Feld der Literatur, die wir jetzt verrichten, kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus. Wenn belarussische Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, stärkt das das Bild von Belarus im Ausland, festigt unsere Subjektivität. Je mehr belarussische Forschungen, Publikationen, aufsehenerregende Ereignisse, zum Beispiel Preisverleihungen, es gibt – desto mehr wird Belarus als eigenständiges Land mit eigener Kultur wahrgenommen statt als Anhängsel Russlands. Kulturelle Produkte, die im Ausland geschaffen wurden, können als Schmuggelware nach Belarus gelangen (genau wie das dort Geschaffene ins Ausland) und ihre Wirkung entfalten.  

    Man muss aber immer bedenken, dass die Situation instabil ist, sie wird sich weiterhin verändern, vielleicht auch zum Schlechteren. Ich weiß nicht, ob Kraft und Ressourcen ausreichen, um das zu bewältigen, aber ich denke, es ist sinnvoll zu kämpfen.  

    Wie stellen Sie sich Ihre eigene Zukunft vor? Wie weit im Voraus planen Sie gerade? 

    Ich habe einen ungefähren Plan für das nächste Jahr: Wo, wie und wovon ich leben werde. Die Pläne für die Zeit danach liegen noch im Dunkeln, aber das kümmert mich nicht. Anfang 2020 hatte ich einen konkreten beruflichen, finanziellen und künstlerischen Plan für die kommenden fünf Jahre – und die Wirklichkeit hat ihn komplett zerstört. Deshalb sehe ich gerade noch keine Möglichkeit langfristig zu planen, denn die Situation in meinem Leben, in Belarus und auf der Welt ist weit von Stabilität entfernt.  

    Ich schreibe jetzt ein neues Buch, das ich hoffentlich bis Herbst 2025 beende. Es gibt auch ein paar kleinere Projekte: Ich will einige Lyrikübersetzungen fertigstellen, die Neuausgaben einiger Bücher vorbereiten, die ich in der heutigen Zeit für bedeutend halte, und zwei kleine Geschichten für Kinder fertigschreiben und herausgeben.  

    Ich habe auch einen halbfertigen dicken Roman über meine Heimatstadt Hrodna und die Ereignisse von 2020 in der Schublade – wenn alles gut läuft, möchte ich ab kommendem Herbst daran weiterarbeiten. Und ich habe viele andere Ideen, die ich bislang auf „irgendwann später“ zurückstelle. Ich werde alles nur Mögliche tun, um so lange wie möglich im Bereich der belarussischen Literatur zu bleiben. Wenn wieder etwas Unvorhergesehenes geschieht und andere Probleme gelöst werden müssen (wie es nach 2020 mit meinen Plänen geschah) – dann bin ich jetzt besser darauf vorbereitet, als ich es vor fünf Jahren war.  

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Die moderne belarussische Sprache

    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    Die unglaubliche Revolution

    Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    „Uns gibt es nicht“

    Belarus: Bleiben oder gehen?

    Feuerdörfer

    Janka Bryl

  • Alles weg, was queer wirkt

    Alles weg, was queer wirkt

    Die Zensur ist zurück im russischen Verlagswesen. Ihr größter Feind: vermeintliche LGBTQ-Geschichten. 

    Die staatliche Verfolgung nicht-heteronormativer Ideen, also jeglicher Lebensentwürfe, die nicht der „traditionellen Partnerschaft“ oder Vater-Mutter-Kind-Familie entsprechen, zieht sich seit Langem durch die sowjetisch-russische Geschichte. Unter Putin nehmen die Repressionen seit über zehn Jahren immer strengere Formen an. 

    2013 wurde sogenannte „Propaganda von Homosexualität“ 2013 verboten. Durch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft nimmt queerfeindliche Gewalt zu. Seit November 2024 gilt eine angebliche „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“.  

    All diese Verbote betreffen auch die Kulturszene. So hat der Expertenrat beim Russischen Buchverband bereits in Ein Zuhause am Ende der Welt von Michael Cunningham, den letzten Roman Das Erbe aus der Schneesturmtrilogie von Wladimir Sorokin und Giovannis Zimmer von James Baldwin angebliche LGBTQ-Propaganda entdeckt und die Bücher vom Markt verbannt – sowohl die gedruckte wie die digitale Ausgabe. Andere Werke werden aus dem Schulprogramm genommen. Immer wieder tauchen Listen von Büchern auf, von deren Verkauf abgeraten wird. Die Biografie des italienischen Filmemachers und Publizisten Paolo Pasolini ist kürzlich in Russland mit geschwärzten Seiten erschienen – denn diese Passagen handelten vom schwulen Privatleben des Regisseurs. 

    Im Interview mit T-invariant erläutert der Kulturhistoriker und Philologe Michail Edelschtejn, was diese Maßnahmen bewirken wollen, wie sich die Lage heute von der Kriegszensur im 20. Jahrhundert unterscheidet und welche Rolle dabei „beleidigte Literaten“ spielen. 

    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant
    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant

    T-invariant: Die Verfolgung von LGBTQ begann 2013, als das Gesetz zum Schutz von Kindern vor „homosexueller Propaganda“ verabschiedet wurde. Ab 2022 wurden die Repressionen auf alles ausgeweitet, was „nicht–traditionell“ ist. Höhepunkt war die Einstufung der sogenannten und nicht existierenden „internationalen LGBTQ-Bewegung“ als extremistische Organisation. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach hierbei der Krieg? Oder ist man einfach vorher nicht dazu gekommen? 

    Michail Edelschtejn: Ich glaube, eine Logik haben alle diese Kampagnen gemein. Ende der 1920er Jahre wurde zunächst nur Trotzkis engster Kreis verhaftet, und es lief auch nur auf Verbannung heraus. 1937 wurde bereits jeder Alt-Bolschewik erschossen und dann auch völlig Unbeteiligte.  

    Jede ideologische Kampagne hat die Tendenz, sich auszuweiten. Erst wird der Boden bereitet, quasi Versuchsballons gestartet, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, über Nacht aller Rechte beraubt zu werden. Da fallen der Kampagne weniger bekannte Personen und Bewegungen zum Opfer. Später dann kommen die Repressionen ins Rollen, wie ein Schneeball, der immer größer und schneller wird. So ähnlich war es ja schon bei den „ausländischen Agenten“

    Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

    Was den Krieg angeht, so spielt hier die inländische Propaganda eine entscheidende Rolle, die auf den sogenannten skrepy (dt: Heftklammern, verbindende Elemente) aufbaut. Und davon haben wir heute genau zwei: den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Homophobie. „Wir haben die Welt von den Faschisten befreit, sie ist uns zu ewigem Dank verpflichtet“ und „Gayropa will uns alle kastrieren“ – um diese beiden Säulen versucht der Staat die Menschen zu vereinen. Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

     

    Im denkwürdigen Jahr 2022 zählte der Roman Leto w pionerskom galstuke [von Elena Malissowa und Katerina Silwanowa, auf Deutsch als Du und ich und der Sommer erschienen, ebenso Band 2 und 3 – dek] zu den meistverkauften Büchern. Darin geht es um eine Liebesbeziehung zwischen zwei Jungen. Hängt der Erfolg mit dem Thema der „nicht–traditionellen“ Beziehungen zusammen, und inwiefern hat die Hetzjagd gegen den Roman mit seiner Popularität zu tun? 

    Der Erfolg hängt zweifellos mit dem Thema zusammen. Es war ein ziemlich überraschender Blick auf die Kindheit im Pionierlager, an die sich viele voller Nostalgie erinnern. Der Roman ist eine Art „alte Lieder über das Wichtige“, aber in einer transgressiven Verpackung, das hat die Leserschaft abgeholt.  

    Als das Buch verboten wurde, sagten viele: „Das ist falsch, aber andererseits ist der Roman auch nicht von herausragendem literarischen Wert. Die richtig großen Werke werden sie nicht anrühren.“  

    Wie es danach weiterging, wissen wir alle. Jetzt wird deutlich, dass die Hetze gegen den Roman so eine Art Versuchsballon war: Sie wollten nicht gleich an die Klassiker ran, sondern erst mal etwas nehmen, das zwar viral ging, aber literarisch nicht von allzu großer Bedeutung. Und es hat funktioniert, die meisten haben die Pille geschluckt. Jetzt, nachdem sie an diesem Roman geübt und den herausgebenden Verlag Popcorn Books praktisch vernichtet haben, nehmen sie sich größere Fische vor. 

     

    Gibt es in der russischen Literaturgeschichte vergleichbare Beispiele von LGBTQ-Zensur? 

    Soweit ich weiß, nein. Natürlich herrschte in der UdSSR Zensur, und im Strafgesetz gab es den Paragrafen für „Unzucht zwischen Männern“. Die Bücher, über die wir heute reden, hätten damals nicht erscheinen können. Aber es fand kein öffentlicher Diskurs statt, es gab keine großangelegten Hetzkampagnen. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. 

    Heute herrscht selbst in muslimischen Ländern, wo z. B. Gayprides unvorstellbar sind, keine solche Massenpsychose wie in Russland. Die Idee, dass wir uns gegen Schwule vereinen, dass das der Zusammenhalt der Nation ist, ist weitgehend Putins Verdienst. 

     

    Die Geschichte mit Pasolinis Biografie erinnerte mich daran, dass auch Fragmente von Michail Kusmins Gedichtband Seti [dt. Netze] in der Ausgabe von 1915 aus demselben Grund geschwärzt wurden. Das war der Kriegszensur zu verdanken. 

    Ja. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Kusmin noch gedruckt, wenn auch nicht ganz problemlos. 1907 wurden Dokumente zum Verbot von Kusmins Komödie Opasnaja predostoroshnost [dt. Gefährliche Vorsicht] veröffentlicht. Sie habe nach Ansicht der zaristischen Zensoren „die homosexuelle Liebe verherrlicht und enthält Argumente, die den Leser davon überzeugen sollen, dass Homosexualität ebenso natürlich sei wie normale sexuelle Beziehungen und dieselben hohen Freuden bereitet“. Aber die meisten von Kusmins Werken erreichten den Leser ungehindert, einschließlich der skandalisierten Erzählung Krylja [dt. Flügel], einem durchaus offenherzigen Manifest der Homoerotik. 

    Das Gleiche gilt für andere Schriftsteller jener Zeit. So wurde die vielleicht erste lesbische Novelle der russischen Literatur, Tridzat tri uroda [dt. 33 Monstren] von Lidija Sinowjewa-Annibal, der Ehefrau des Dichters Wjatscheslaw Iwanow, von der Zensur als Verstoß gegen die öffentliche Moral verboten („Auch wenn die Zärtlichkeiten, die von einer Frau einem Mädchen dargebracht werden, unter sorgfältiger Vermeidung von Schmutz geschildert werden, wirkt das Gift der widernatürlichen Perversität umso subtiler“ – eine hübsche Formulierung, oder?). Aber einen Monat später entschied das Gericht, dass das Buch doch nichts allzu Unsittliches enthielt, und die beschlagnahmte Auflage wurde an die Buchhandlungen verschickt. 

    1915 entschied wiederum die Kriegszensur, dass man sich so etwas in einer Zeit, in der „unsere Jungs“ an der Front sterben, nicht leisten könne. So wurden in der zweiten Auflage von Kusmins Gedichtband die entsprechenden Fragmente gestrichen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde bei einer Auktion einmal ein Exemplar versteigert, das Kusmin einem seiner Freunde schenken wollte. Darin hatte er die fehlenden Zeilen anstelle der Aussparungen per Hand ergänzt. 

     

    Wie könnte sich die Situation mit der LGBTQ-Zensur künftig auf den Literaturbetrieb und den Buchmarkt auswirken? Was haben wir zu erwarten? 

    In erster Linie Selbstzensur durch Verlage und Autor*innen. Im Moment ist völlig unklar, wo die Grenzen des Erlaubten liegen. Solche Grenzen sind an sich natürlich schlimm, aber wenigstens ist dann klar, was man darf und was nicht. Wenn es sie nicht gibt, wenn alles im Nebel liegt und die Repressionen jedes Buch und jede*n Autor*in treffen können, ein Erstlingswerk genauso wie einen anerkannten Klassiker, werden sich die Verlage absichern und alles Mögliche aus dem Programm nehmen.  

    James Baldwin, der Autor von Giovannis Zimmer, gilt z. B. seit langem als einer der größten Stilisten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Über seine Werke wurden Dissertationen geschrieben, Monografien verfasst. Sogar im sowjetischen Literaturlexikon der 1970er Jahre wird er als „bedeutender Romancier und Kämpfer für die Rechte der schwarzen Bevölkerung Amerikas und als Mitstreiter Martin Luther Kings“ geführt. In der späten Sowjetzeit hat ihn das gerettet, heute nicht mehr. 

    Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. 

    Alles hängt von ungebildeten Zensoren und ihren noch ungebildeteren Helfershelfern ab. Wie soll man nach der Geschichte mit Pasolini Biografien von z. B. Marcel Proust, Oscar Wilde, Thomas Mann, Evelyn Waugh veröffentlichen oder deren Texte erforschen? Und was, wenn jemand herausfindet, dass Zwetajewas Gedicht Pod laskoi pljuschtschewogo pleda … [dt. Unter der Liebkosung der Plüschdecke …] an eine Frau gerichtet ist? Lasst uns dann Zwetajewa verbieten, und [den Film – dek] Schestoki romans [dt. Eine bittere Romanze] gleich dazu! Das ist ein unheimliches Fass ohne Boden. 

    Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der russische Staat ist so aufgebaut, dass dein Status weitgehend durch deine Verbieterfunktion bestimmt wird. Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. Die „Experten“ in so einem Gremium brauchen das persönlich alles nicht, es ist eine zusätzliche Belastung, das alles zu lesen, sich Begründungen auszudenken usw. Aber sie müssen es tun, weil das ihre Position in der Machthierarchie legitimiert. 

    Weil niemand freiwillig ihren Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

    In der jüngeren Geschichte des Kampfs der Behörden gegen die Verleger gibt es eine Episode, die das ganz gut illustriert. Vor genau 20 Jahren führte [die Drogenaufsicht] Gosnarkokontrol eine Reihe von Razzien in Buchläden durch und beschlagnahmte Bücher, die „Drogenkonsum propagieren“. Jemand fragte den stellvertretenden Direktor von Gosnarkokontrol, General Alexander Michailow, wie man Propaganda von bloßer Beschreibung unterscheiden könne. Der antwortete sehr treffend: „Wenn ein Verleger überlegt, ob er ein Buch veröffentlichen will, hat er die Wahl: das Risiko eingehen und erwischt werden oder sich beraten lassen und nicht erwischt werden. Es gibt immer die Möglichkeit, sich beraten zu lassen.“  

    Diese Leute wollen unbedingt, dass man sich mit ihnen „berät“, sie können nicht anders, das ist für sie wie die Luft zum Atmen. Aber weil niemand freiwillig ihren klugen Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

     

    Offenbar muss man auch mit Konsequenzen im Bildungssektor rechnen? 

    Das können wir bereits jetzt beobachten. Die Erzählung Kawkaski plenny [dt. Der kaukasische Gefangene] von Wladimir Makanin ist z. B. aus dem Lehrplan geflogen. Obwohl sie verfilmt und Makanin von Putin persönlich mit dem Nationalpreis der Russischen Föderation ausgezeichnet wurde. Aber in der neuen Realität ist das unwichtig. Wichtig ist nur, ob es darin irgendwelche „ungesunden, gleichgeschlechtlichen Neigungen“ gibt. Dabei ist Makanins Erzählung in keinster Weise schwule Literatur, im Gegensatz beispielsweise zu Giovannis Zimmer, das wirklich „davon“ handelt. 

     

    Jedes Verbot erhöht schlagartig das Interesse am Verbotenen. Ist das denjenigen bewusst, die über Beschlagnahmungen entscheiden? Das ist doch auch eine Art Propaganda: Wenn du willst, dass möglichst viele Menschen ein Buch lesen, dann lass es verbieten. 

    Dem bürokratischen System ist die Effektivität in dem Sinne, den Sie meinen, unwichtig. Es ist ihm egal, ob das Buch gelesen wird oder nicht. Wichtig ist, sich in den nationalen Trend einzufügen, Rechenschaft abzulegen und seinen „Patriotismus“ zu zeigen, um den Vorgesetzten Beflissenheit zu demonstrieren usw. Da herrscht eine ganz andere Logik. Die Bücher werden heruntergeladen? Na und?! Vielleicht sperren sie die eine oder andere Seite. Oder richten eine Unterabteilung bei [der Medienaufsicht] Roskomnadsor ein, die dafür sorgt, dass Online-Bibliotheken diese Bücher aus ihrem Sortiment entfernen. Eine weitere gute Gelegenheit, um die eigene Nützlichkeit zu demonstrieren und dem Staat zusätzliche Finanzen aus den Rippen zu leiern. 

    Was das Interesse an Verbotenem angeht, stimmt das durchaus. Ich kenne Leute, die jetzt voller Stolz erzählen, wie sie das letzte Exemplar von Sorokin ergattert haben, obwohl sie seine Bücher früher nie in die Hand genommen hatten. Pasolinis Biografie war bei manchen Onlineshops innerhalb von einem Tag ausverkauft. Übrigens verhalf der Skandal von 1907 auch den 33 Monstren von Sinowjewa-Annibal zum Bestsellerstatus; drei Auflagen hintereinander gingen weg wie warme Semmeln. 

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln. 

     

    Was sollen jetzt Bibliotheken tun, die dazu verpflichtet sind, ein Exemplar von jedem Buch frei zugänglich zu führen? 

    Ich nehme an, die Mitarbeiter werden ihre Bestände mit allen möglichen Listen abgleichen müssen, Bücher aus den Katalogen streichen, wie es schon mit Werken passiert, die durch die Soros-Stiftung und andere unerwünschte Organisationen finanziert wurden. Wer weiß, vielleicht wird es wie in guten alten Sowjetzeiten Spezialschränke geben, in denen in Erwartung der nächsten Perestroika Michael Cunningham, Hanya Yanagihara usw. liegen werden.  

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln, was im Grunde auch genau das Ziel der Kampagne ist. Sie sollen zittern wie Espenlaub und vorauseilenden Gehorsam leisten. 

     

    Man könnte sich vorstellen, dass in der gegenwärtigen Realität jemand die Situation ausnutzt – nicht, weil er oder sie so viel Wert auf die skrepy legt, sondern aus Neid auf erfolgreiche Autoren und Verlage, um Rache zu nehmen, die Konkurrenz auszubremsen. 

    Natürlich, das sind sehr starke Motive. Ein Bestseller-Autor hat keinen größeren Neider als den Autor, dessen Bücher keine Bestseller geworden sind. 

    Viele Literaten rechtfertigen ihre Misserfolge damit, dass die „liberale Mafia“ ihnen Steine in den Weg legt und verhindert, dass ihre brillanten Romane die breite Masse erreichen. Und jetzt versuchen sie, so etwas wie eine Verbotslobby zu bilden. 

    Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

     

    Ich würde Sie noch gerne fragen, welche Bücher und Autoren in Zukunft betroffen sein könnten, aber es wäre wohl unklug, unnötig Tipps zu geben? 

    Ja, erstens möchte ich tatsächlich nichts beschreien. Und zweitens hängt alles vom Verdorbenheitsgrad der Fantasie der „Experten“ ab. Ich bin sicher, dass sie in jeden Text etwas hineinlesen können, worauf Psychoanalytiker und Philologen, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt haben, niemals kommen würden. Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

    Weitere Themen

    ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“

    „Die westliche Transgender-Industrie versucht unser Land zu durchdringen“

    LGBTQ-Verbot: „Ein gigantischer Raum für Willkür“

    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Dreamers

    „Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin“

  • „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    Musiker und Künstler, Schriftsteller und Theatermacher waren wesentlich an den Protesten von 2020 in Belarus beteiligt. Viele Kulturschaffende mussten im Zuge der Repressionen das Land verlassen, andere wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Im Exil hat sich mittlerweile eine lebendige Kulturszene gebildet. Aber wie schafft es die Kultur im Land, unter immer drastischeren Zensurmaßnahmen zu überleben? 

    Sjarhei Budkin kennt sich in der belarussischen Kulturlandschaft bestens aus, er hat viele Jahre als Musikjournalist gearbeitet. Im Exil hat er die Organisation Belarusian Council for Culture mitgegründet, die sich für belarussische Kulturschaffende einsetzt. Mit ihm hat das Online-Medium Pozirk gesprochen.  

    Pozirk: Was für Musik kann man heute in Belarus gefahrlos machen? Geht auch etwas jenseits von Ideologie und Propaganda, oder nur der Stil von Lukaschenkos Schwiegertochter Anna Seluk? 

    Sjarhei Budkin: Es mag so aussehen, als würden in Belarus keine Songs, keine Theaterstücke, keine Gedichte geschrieben, aber so ist es nicht. Trotz allem gibt es selbst unter den aktuellen Rahmenbedingungen Inspiration und Reflexion, das kann man den Menschen nicht wegnehmen, nicht verbieten, nicht verschließen. 

    Eine andere Frage ist, wie all das an die Öffentlichkeit gelangen kann. Hier entstehen aus der Situation heraus unterschiedliche Formen und Formate der kreativen Existenz. So gibt es Wohnungskonzerte (kwartirniki) und Underground-Releases, aber auch Sachen, die vorerst in der Schublade liegen und nirgendwo zu sehen sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass das kulturelle Leben in Belarus weitergeht und teilweise sogar sichtbar wird (wer suchet, der findet). Es gibt Live-Konzerte, es gibt richtige Alben, es gibt Events, die Musik und Literatur oder Musik und Film verbinden.  

     
    „Er ist der einzig Wahre auf der ganzen Welt” – ein Propaganda-Schlager, für den Anna Seluk den Text geschrieben hat. 

    Pozirk: Wie schätzen Sie die Situation der Kulturschaffenden ein – derjenigen, die in Belarus geblieben sind und abseits der Öffentlichkeit agieren, und derjenigen, die jetzt im Exil arbeiten? 

    Sjarhej Budkin: Ich bin dafür, zwischen Kreativen keine Trennlinien nach geografischen Gesichtspunkten zu ziehen, da wir ja die Prozesse im belarussischen Kulturbereich im Ganzen betrachten wollen. Diejenigen, die in Belarus geblieben sind, sind einfach anderen Existenzbedingungen ausgesetzt als die, die das Land verlassen haben. 

    Natürlich bedeutet es für alle eine Umorientierung, eine Selbstfindung unter neuen Bedingungen. Es ist fraglich, ob man den Beruf weiter ausüben kann. Die im Ausland sind mit Konkurrenz und Integrationsproblemen konfrontiert. Darauf waren viele nicht vorbereitet. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir uns in unserem Bereich faktisch von Neuem behaupten müssen, unser soziales Kapital ist auf null gesetzt. Gestern hast du noch in einer großen Halle gespielt, konntest in jeder beliebigen Stadt einen Saal füllen, heute spielst du in einer Bar vor fünf Leuten. Das ist sehr traurig, aber gleichzeitig ist man eben gezwungen, neue Formate zu suchen, sowohl in als auch außerhalb von Belarus.  

    Dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage 

    Außerhalb des Landes reden wir da in erster Linie von Kooperationen: Leute aus denselben Bereichen lernen sich durch diese Umstände erst kennen. Wichtig ist, dass Belarussen aus dem In- und Ausland in gemeinsamen Projekten zusammenkommen. Die Ergebnisse werden wir erst mit einigem Abstand vollständig erfassen: Eine gewisse Zeit wird vergehen müssen, bis wir das genauer verstehen.  

    Aber dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage. Ich bin da Optimist und sage, immerhin nicht um Jahrzehnte zurück, auch wenn die Zustände im Bereich der Zensur sicher mittelalterlich sind. 

    Man kann das alles zum Anlass nehmen, die aktuelle Zeit bestmöglich zu nutzen. Es entstehen neue Kontakte, verschiedenste Institutionen, Kraftzentren. Ich hoffe auf ein Institut zur Förderung der belarussischen Musik. Es gibt schon die unabhängige Filmakademie, das Buch-Institut, das Theater-Institut. Positiv betrachtet geschehen also recht interessante Dinge, von denen unsere gesamte Kultur profitieren wird. Aber ich würde noch keine Schlüsse ziehen, das steht alles noch in den Sternen. 

    Wie sieht aktuell die Zensur in Belarus aus? Gibt es noch die offiziellen „schwarzen Listen“? 

    Ich verfolge dieses Thema seit fast 30 Jahren. Als Veranstalter war ich mehrfach damit konfrontiert, aber offiziell wird niemand die Existenz solcher Listen bestätigen. Wenn es sie wirklich gibt, dann sind sie eher Empfehlungen. Niemand will seine Unterschrift daruntersetzen und sie damit legalisieren, da alle wissen, dass das auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Verfassung und (auf lange Sicht) ein gesicherter Platz in der Geschichte der Zensur wäre. Aber trotzdem gab es diese Listen immer, und es gibt sie eben auch unter dem aktuellen Regime. Die Frage ist, durch wie viele Filter sie momentan laufen.  

    Es gibt Selbstzensur vonseiten der Veranstalter: Sie haben ja schon Erfahrungen, wer eine Tournee genehmigt bekommt und wer nicht. Es gibt Zensur direkt bei den Künstlern, die selbst wissen, ob sie mit ihrem Werk, ihrem Theaterstück oder ihrem Konzert an die Öffentlichkeit treten können. Und es gibt die unmittelbare ideologische Zensur, die sich auf mehrere Ebenen aufsplitten lässt. 

    Es gibt noch eine zusätzliche Zensur, ein relativ neues Phänomen, auch wenn es schon früher manchmal vorkam: Wenn nämlich der Veranstalter zwar alle genannten Zensurebenen durchlaufen hat, aber trotzdem eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass während der Präsentation, wenige Minuten vorher oder am nächsten Tag alles abgesagt oder einer noch stärkeren Zensur unterworfen wird. Es gibt absolut keine Spielregeln mehr. Als ich noch aktiv Konzerte veranstaltete, kannte ich wenigstens die Regeln. Ich wusste, wen man auf die Bühne lassen konnte und wen nicht. Aber jetzt gibt es keine Regeln mehr, oder sie ändern sich sehr schnell und man behält sie kaum im Blick. Im Vergleich zu früher also nichts Neues, nur brutaler und chaotischer. 

    Sjarhej Budkin leitet die Exil-Organisation Belarusian Council for Culture / Foto © privat 

    Auch ausländische Künstler sind wegen der Sanktionen der Zensur ausgesetzt. Dadurch sind russische Popstars, die oft den Krieg unterstützen und nicht gerade den hochwertigsten Content liefern, das Einzige, was sich die Belarussen kulturell erlauben können. Die Kunst- und Kulturszene ist also ausschließlich russisch. Kann das negative Auswirkungen auf den Geschmack der Leute haben?  

    Dazu reicht ein Blick auf die Webseite kvitki.by [kvitki = Tickets], dort sieht man deutlich, was in der Unterhaltungsindustrie und im Konzertsektor los ist. Schon 2021, als noch ausländische und russische Künstler nach Belarus kamen, die zu den Regimen von Putin und Lukaschenko eine klare Position vertraten, gab es darüber Diskussionen. Einerseits kann man Künstler, die nach Belarus kommen, als Unterstützer des Regimes betrachten. Andererseits können Künstler, die den „Geist der Freiheit“ in sich tragen, die Belarussen damit aufladen, denn es gibt unvorstellbar viele Belarussen, die diese Ideale teilen – demokratische Werte und dergleichen.  

    Es gibt in dieser Frage also keine eindeutige Antwort. Historisch betrachtet, können wir den Rolling Stones vorhalten, dass sie 1967 ein Konzert im kommunistischen Warschau gaben? War das ein Zeugnis ihrer Unterstützung des Imperiums, waren sie deshalb Stalinisten, Befürworter des Kommunismus? Man kann das ziemlich manipulativ in alle Richtungen deuten. Aber zweifellos wissen alle Künstler, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, dass ihnen damit der Weg nach Belarus versperrt ist. 

    Was das belarussische Publikum angeht, wer Geschmack hat, versucht ihn beizubehalten. Wer keinen Geschmack hat, dem ist sowieso nicht zu helfen, der sieht sich nicht mal gratis etwas an, das Niveau hat. Schwieriges Thema … Den Menschen in Belarus fehlen sicherlich Live-Events, das kann man durch Online-Übertragungen nicht so einfach ersetzen. Deshalb müssen Bildungsprogramme und Netzwerke ausgebaut werden, um für Belarussen Möglichkeiten zu schaffen, wenigstens für kurze Zeit aus dem Land zu kommen, frische Luft zu atmen, Inspiration zu bekommen und dann motivierter an die Arbeit zu gehen. 

    Wie beurteilen Sie die Situation der Kreativen im Exil? Welche Tendenzen sehen Sie? 

    Das müsste man jährlich abfragen und auswerten, weil sich die Situation stetig verändert. Was wir im Verlauf der letzten drei Jahre beobachten konnten: 2021 mussten wir die völlige Zerschlagung des Kultursektors mitansehen, die Zerstörung des Nationaltheaters, den Stopp jeglicher schöpferischer Arbeit, die Auflösung von Kulturvereinen. Aber ein, zwei Jahre später lebten die Belarussen an neuen Orten im Ausland wieder auf. Der Sektor hat sich selbst regeneriert, und 2023 gab es schon etwa 200 neue Kulturorganisationen, gegründet von Belarussen im In- und Ausland. 

    Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen 

    Vereine, die aufgelöst wurden, gingen ins Ausland und gründeten sich dort was Neues. Dafür gibt es viele Beispiele. Wer geblieben ist, hat andere Formen der Existenz gefunden. Diese Fähigkeit, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, ist typisch für unsere Leute und etwas sehr Inspirierendes. In Polen wurden ganze Marken neu oder wiedererschaffen – Verlage oder Festivals. Es gibt fünf große Festivals, die nicht nur auf Belarussen ausgerichtet sind, sondern die Begegnung zwischen Polen und Belarussen fördern. Die Theaterszene haben die Kupalaucy im Griff, auch wenn der Abstieg vom Nationaltheater zu so einem Provisorium nicht so leicht ist.  

    Diese Beobachtungen zeigen: So sehr man auch vergiftet, planiert, verbietet, vernichtet – es wächst doch wieder nach, was Lebendiges. Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen. Solange die Menschen dafür kämpfen, ihren Beruf auszuüben, sich auszudrücken, irgendwie Wege zur Selbstverwirklichung zu finden – solange werden wir viele interessante und herausragende Projekte erleben, die es ohne die Ereignisse von 2020 vielleicht nie gegeben hätte. 

    Ihre Prognose ist also positiv? 

    Ich versuche, bei dieser positiven Sicht zu bleiben, obwohl die Kehrseite all dessen vermutlich Armut ist. Die Menschen sind in alle Welt verstreut, sie sind unvorbereitet, stehen vor Fragen der Legalisierung, der Wohnungssuche, all das hinterlässt Spuren. Aber ich bemühe mich, optimistisch zu bleiben, und letztlich beweisen viele Menschen tatkräftig, dass man auch ohne Staat und große Unterstützung, für Geld, für das andere nicht mal vom Stuhl aufstehen, Großartiges leisten kann.  

    Was wird aus der Kulturszene in Belarus, wenn das Regime an der Macht bleibt? 

    Wir haben Polen als Beispiel vor Augen: Das Land besaß mehr als 150 Jahre keine Eigenstaatlichkeit, aber die Menschen konnten Kultur und Sprache bewahren. Bei uns sind gerade mal vier Jahre vergangen, das ist im Vergleich gar nicht so schlimm. Alles hängt von jedem Einzelnen ab. Jeder kann individuell einen Beitrag leisten, um die Kultur zu bewahren und sie weiterzugeben, indem er zum Beispiel seinen Kindern belarussische Lieder vorsingt oder belarussische Bücher und Alben kauft, die es ja nach wie vor gibt. 

    Was macht einen belarussischen Künstler heute aus, wie gestaltet sich sein Schaffen? 

    Für mich gibt es ungefähr drei Kategorien von Künstlern. Die erste Kategorie arbeitet ausschließlich für ein Publikum, das sich im Ausland, im Umfeld der Diaspora gebildet hat, und das reicht ihnen, sie wollen nicht mehr. 

    Die zweite Kategorie betrachtet das belarussische Publikum als Fundament und versucht, es um russisch-, ukrainisch- oder auch polnischsprachiges Publikum zu erweitern. Sie bemühen sich, in diesen Sprachen Lieder zu schreiben oder mit Künstlern aus diesen Ländern zu kooperieren. Die dritte Kategorie arbeitet ausschließlich für den westlichen Markt und positioniert sich nicht als belarussische Künstler, sie haben ein breiteres Publikum. Jeder dieser drei Wege ist sinnvoll.  

     
    Der Song Ja wychashu von Alexander Pomidoroff in Erinnerung der Proteste von 2020. 

    Als der Musiker Alexander Pomidoroff kürzlich erkrankte, musste er seine Landsleute um Unterstützung bitten. Wie machen die belarussischen Künstler ihre Kunst heute zu Geld (über Konzerte hinaus)?  

    Wer Musik macht, die gehört wird und durch die Verwertung entsprechend vergütet wird, hat finanzielle Erträge. Die Anzahl der Wiedergaben kann man auf Plattformen wie Spotify einsehen, das bildet den kommerziellen Erfolg ab. Konzerteinnahmen sind nur für wenige Künstler eine zentrale Einnahmequelle, zum Beispiel Max Korzh oder Molchat Doma.  

    Nebeneinkünfte sind keine Seltenheit. Das ist so gut wie überall in Europa so. Es gibt immer kommerziell erfolgreiche Künstler und es gibt einen Underground, der nicht von seinem Schaffen leben kann oder nur sehr bescheiden, wenn das eine bewusste Haltung ist. Die meisten Künstler, Musiker und Regisseure gehen der Kunst parallel zu einer Hauptarbeit nach. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nicht alle können ausschließlich von ihrer kreativen Tätigkeit leben. 


     

    Pozirk-Hintergrundinformationen: 

    Nach Angaben des Belarussischen PEN befanden sich am 31.10.2024 mindestens 168 Kulturschaffende aus politischen Gründen in Haft.  

    Die Staatsführung versucht, „feindliche“ Künstler aus den Medien zu entfernen: Im September wurden beispielsweise auf Antrag der Staatsanwaltschaft der Oblast Homel alle Titel von Tor Band aus der App Yandex Music entfernt. 2022 waren die Songs der Band zu „extremistischem Material“ erklärt worden.   

    Am 31. Oktober 2023 verurteilte das Gebietsgericht Homel den Sänger und Gitarristen von Tor Band, Dmitri Golowatsch, zu neun Jahren Freiheitsentzug unter verschärften Bedingungen, den Drummer Jewgeni Burlo zu acht Jahren und den Bassisten Andrej Jaremtschik zu siebeneinhalb Jahren. 

    Vorher wurden bereits Litesound (Teilnehmende des Eurovision Song Contest 2012), Krumkač, Irdorath und andere Bands politisch verfolgt. 

    Im Jahr 2023 wurden 605 Kulturschaffende aufgrund von 1097 angeblichen Gesetzesverstößen rechtlich belangt. 

    Am 13. Oktober 2024 äußerte Kulturminister Anatoli Markewitsch, der im November 2020 ohne einschlägige Berufserfahrung ins Amt berufen worden war, die „destruktiven Elemente“ im Kulturbereich seien nun „ausgemerzt“. „Wir alle sind heute Kämpfer an der Kulturfront, mobilisiert für den geistigen Kampf um Belarus. Die Zeit hat uns erwählt. Vom Minister, vom Klubvorsitzenden und von der Leiterin der Dorfbibliothek hängt der Erfolg im Kampf um die Köpfe und Seelen unserer Mitbürger ab“, zitierten staatliche Medien den Minister. „Bereinigt von destruktiven Elementen“ könne die Kulturgemeinschaft, so der Kulturminister, „ihre Kräfte auf die Lösung der wichtigsten Aufgabe konzentrieren – auf die Erziehung würdiger Staatsbürger und Patrioten.“  

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    Feuerdörfer

  • „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    Im Frühjahr 2010 trifft sich Wladimir Putin mit Kulturschaffenden in Sankt Petersburg. Einer der Anwesenden erhebt sein Glas: „Ich möchte auf unsere Kinder anstoßen. Darauf, in was für einem Land sie leben werden: in einem finsteren, bösen, korrupten, totalitären, autoritären, mit nur einer Partei, einer Hymne, einer Denkweise … Oder in einem hellen, demokratischen Land, in dem wirklich alle gleich sind vor dem Gesetz. Mehr muss es nicht sein. Leider haben wir all das noch nicht. Aber ich wünsche sehr, dass unsere Kinder in diesem Land leben und gesund werden.“ Der Redner ist Juri Schewtschuk – eine Ikone der russischen Rockmusik, der mit seiner Band DDT Geschichte geschrieben hat.

    Für den Blog Inymi slowami hat Denis Bojarinow ein Porträt verfasst über den Rockstar und prominenten Kriegsgegner Schewtschuk, der seine Heimat über alles liebt und an ihr leidet.

    „Heimat, kehr zurück nach Hause … Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk auf seinem aktuellen Album / Foto © Imago, Scanpix

    In den engsten Kreisen des Leningrader Rock-Klubs erzählte man sich über Juri Julianowitsch Schewtschuk folgende Geschichte: Eines Nachts spazierte er mit ein paar Leuten über den Platz vor dem Winterpalast. Inspiriert startete er mehrere beharrliche Versuche, auf die Alexandersäule zu klettern, also auf ein mit den Armen nicht zu umfassendes Monument aus poliertem Granit. Er schaffte es nicht einmal auf den Sockel, brüllte aber laut über den ganzen Schlossplatz: „Ich fühle die Kraft in mir!“  

    Es gibt auch eine andere Geschichte. Ungefähr aus derselben Zeit, aber bereits dokumentiert. Bei einem Rock-Festival in Tschernogolowka bei Moskau im Juni 1987 trat Juri Schewtschuk mit seiner Band DDT in neuer Besetzung als Shootingstar des Undergrounds auf: Das ganze Land überspielte sich in dieser Zeit die Alben Periferija (dt. Peripherie) und Ottepel (dt. Tauwetter) auf Kassetten, und DDT galt als größte Entdeckung auf dem fünften Festival des Leningrader Rock-Klubs, das ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte. Frontman Schewtschuk – Bürstenschnitt, Militärhemd mit drei Oktjabrjata-Sternchen – eroberte mit seinem elektrisierten Auftritt die in Tschernogolowka versammelten Rockfans. Am Morgen mussten ihn die Festivalveranstalter aus einer Gefängniszelle befreien. Da war er hineingeraten, weil er in den frühen Morgenstunden in seinem Hotelzimmer eine klassische Rock’n’Roll-Aktion hingelegt hatte: Er warf Möbel aus dem Fenster und schrie: „Wer hat was zu trinken für den großen Sänger Juri Schewtschuk?“ Als die Polizei kam, schlief der Bandleader bereits; sie rüttelten ihn wach, und mit den Worten „Ich glaube, ich träume“ gab er dem nächststehenden Polizisten eins auf die Schnauze. So landete er im Tschernogolowker Kittchen, wo später eine Gedenktafel angebracht wurde: „Hier war vom 27. bis 28. Juni 1987 Juri Schewtschuk.“ Die ist aber heute bestimmt nicht mehr da.  

    Ungestüme Wildheit und eine unerklärliche Herzlichkeit

    Diese beiden Geschichten illustrieren die enorme Energie, die Juri Schewtschuk und seine Songs bis heute ausstrahlen: Zu so hochgradigem Übermut und ungestümer Wildheit waren nur wenige seiner zeitgenössischen Rock-Kollegen fähig. Ganz zu schweigen von den Nachfolgern; der Maßstab von Geste und Tat war später – tja, einfach nicht mehr derselbe. Das humanistische Pathos in Schewtschuks Songs, sein treuherziges Charisma und die unerklärliche Herzlichkeit, die ihm anhaftet, milderten die rockige Hochspannung immer schon ein wenig ab. Gänzlich verschwand sie aus den DDT-Songs aber nie. Mit den Jahren wurde Juri Schewtschuk vielleicht so etwas wie ein Lew Tolstoi des russischen Rock, doch Aufstand, Chaos und göttlicher Wahnsinn leben immer noch in seinem Herzen; jeden Moment kann in seinen Augen ein kecker Funken aufglühen und seiner Brust ein wilder Schrei entfahren. 

     
    Juri Schewtschuk singt den DDT-Song Swoboda (dt. Freiheit) von 1997

    Mit seinem dichten Bart, der unmodischen Frisur, der Intellektuellenbrille und dem bürgerbewussten Pathos in seinen Liedern sah Schewtschuk erwachsener aus als all die anderen Stars des Rock-Klubs. Sogar älter als Boris Grebenschtschikow, von [Rocksänger] Konstantin Kintschew oder Viktor Zoi ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund der Leningrader Rockszene, die stets die westlichen Trends im Blick hatte, wirkte Schewtschuk wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Angeblich witzelten die hippen Petersburger Rocker hinter seinem Rücken und nannten ihn etwas abfällig den „Barden aus Ufa“. Irgendwie blieb er immer mit einem Bein in den 1970er Jahren – einem Jahrzehnt, in dem in der UdSSR die Subkulturen der Barden und der Hippies verbreitet waren. Schewtschuk schaffte es, diese beiden Richtungen in einer Person zu vereinen. 

    Ein Hippie aus der Provinz

    Seiner Abstammung nach ist Juri Schewtschuk ja wirklich ein Hippie aus der Provinz. Er singt auch oft von Hippies, Hippari, Hippany – mit besonderer Zärtlichkeit. Die sowjetischen Hippies waren Kinder aus der Mittelklasse, da war Schewtschuk keine Ausnahme; er ist ein Vertreter der „goldenen Jugend“, Sohn eines hochrangigen Parteifunktionärs im Regionalkomitee und einer Universitätsdozentin, die ihr Kind zum Künstler erzogen. „Ich bin selbst einer von denen“, gab Schewtschuk in seiner Satire Maltschiki-mashory (dt. Bonzenkinder) zu. Als Jugendlicher hing er auf dem Broadway von Ufa ab (der Lenin-Straße), hörte westliche Schallplatten, schrieb Lieder, die von Wyssozki und Okudshawa inspiriert waren, und versuchte sich als Rockmusiker. Einen ersten Konflikt mit der Polizei hatte er bereits als Schüler: Weil er ein T-Shirt mit dem selbst aufgemalten Schriftzug „Jesus war ein Hippie“ trug, wurde er auf die Wache mitgenommen.

    Schewtschuk ist und bleibt ein treuer Bekenner zum Weltbild der Blumenkinder. Seine Philosophie beruht auf den Maximen All you need is love und Make love, not war. Der erste Song von DDT, aufgenommen im Studio des baschkirischen Fernsehens, war die pazifistische Hymne Ne streljai (dt. Schieß nicht). Wie Schewtschuk sich erinnert, schrieb er dieses Lied, als er von einem aus Kabul zurückkehrenden Schulkollegen erfuhr, dass die UdSSR ihre Soldaten nach Afghanistan in den Krieg schickte und nicht, damit sie dort Kindergärten bauen, wie die Propaganda behauptete. Predigten vom Widerstand gegen das Böse mit Liebe und Güte sind in jedem DDT-Album zu hören, angefangen von Periferija aus dem Jahr 1984, mit dem Schewtschuk sich in Ufa Probleme mit dem KGB einhandelte. 

     
    Am 10. April 2022 spielt DDT Ne streljai (dt. Schieß nicht) im russischen Woronesh

    Die ersten, die den DDT-Sänger nach seinem erzwungenen Umzug von Ufa nach Leningrad schätzten und willkommen hießen, waren alteingesessene Hippies rund um Gena Saizew – dem ersten Vorsitzenden des Leningrader Rock-Klubs. Er vermutete in dem bärtigen Landei einen Nachfolger für Shora Ordanowski mit seiner Band Rossijane, der Anfang der 1980er Jahre der Star der Leningrader Hippieszene war. Gena führte Schewtschuk in die Bohème ein, machte ihn in der Puschkinskaja 10 bekannt und half ihm, in Leningrad neue Mitglieder für seine Band DDT zu finden, deren Manager er dann wurde. In Alexej Utschitels Dokumentarfilm Rok (dt. Rock), der die zukünftigen Idole kurz vor dem richtigen Durchbruch verewigte, sehen Schewtschuk und seine Clique wie eine happy Hippie-Kommune aus: Sie spazieren mit Frauen und Kindern durch die Natur, lachen von Bäumen herunter, machen Lagerfeuer und grölen Zigeunerlieder zu Gitarre und Geige. Häuptling dieses Camps ist Jurka Schewtschuk, noch mit langer Mähne wie der König der Löwen. 

    Er erzählt, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters war, der mit siebzehn Jahren als Soldat an die Front musste. Er hatte das, was sein Sohn tat, lange nicht verstanden und nicht akzeptiert, doch dann war er auf einem der ersten Konzerte von DDT in Leningrad, befragte das Publikum streng nach seiner Meinung und war mit den Reaktionen zufrieden. „Na, Papa, wie hat’s dir gefallen?“, fragte Schewtschuk ihn. „Wie auf dem Panzer nach Berlin!“, war die stolze Antwort des Vaters. 

     
    Ljubow (dt. Liebe) war der erste Song nach Schewtschuks Rückkehr aus dem kriegszerstörten Tschetschenien 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen

    Im Herzen ein Hippie und bekennender Anarchist und Pazifist, kennt Juri Schewtschuk den Krieg nicht nur aus Erzählungen. Im Winter 1995 zog er mit seiner Gitarre los nach Grosny, das die russische Armee gestürmt hatte. Er sang für die Soldaten, machte sich als Pfleger nützlich und beteiligte sich am Austausch von Kriegsgefangenen. Als 1996 das Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt geschlossen wurde, gab DDT in Tschetschenien drei Konzerte: Im Stadion von Grosny für die Stadtbewohner und auf russischen Militärstützpunkten. Diese Touren machten auf Schewtschuk großen Eindruck. In Tschetschenien schrieb er seine eindringlichsten Songs – Mertwy gorod. Roshdestwo (dt. Tote Stadt. Weihnachten) und Pazany, und er trug ein posttraumatisches Belastungssyndrom davon. Doch seinem Glauben an die heilende Kraft der Liebe blieb er treu – das erste Lied nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hieß Ljubow (dt. Liebe). Das gleichnamige Album erschien im selben Jahr, 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen.      

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“ 

    Liebe ist in Schewtschuks poetischer Welt mehr als eine philosophische Kategorie. Oft tritt sie als personifiziertes Wesen auf, meist als göttliche Natur. Oder als Mensch, dann trägt sie einen Frauennamen (Galja, Antonina, Jekaterina, Marina, Nacht-Ljudmila). Es kann auch ein reales Vorbild geben, wie im Fall von Aktrissa Wesna (dt. Schauspielerin Frühling), das Schewtschuk seiner ersten Frau Elmira widmete, die auf tragische Weise ganz jung an Krebs gestorben ist. Schewtschuks Glaube an die Kraft der Liebe, die auch das Ende aller Zeiten überleben wird, kommt in seinen Texten nicht nur in platonischer Form, sondern auch in sinnlichen Bildern zum Ausdruck, was für die sowjetische Rock-Tradition völlig untypisch ist, die von der westlichen Formel „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ abweicht. So ausgiebig wie er sang da wohl keiner über die irdische Liebe.

    Sein lyrisches Ich hatte niemals Potenzprobleme – in seiner Jugend faszinierte ihn der Körper („Ich falle von den Gipfeln deiner Brust. Ich irre durch die Taiga deines Haars“) genauso wie die Augen („Arterhaltung fordern diese Teufelsaugen!“). Sein Bett blieb nicht kalt: Schewtschuk sprach poetisch von einem „Hochofen zwischen den Beinen“, und dessen Hitze loderte in seinen Liedern. Bei den unschuldigsten Themen schwang der Eros mit, auch wenn es scheinbar um naturphilosophische Betrachtungen ging – wie etwa in dem Dauerhit Weter (dt. Wind): „O, schöne Weite, die den Himmel verschluckt / Wolken, die sich wie an die Geliebte an die Erde schmiegen / Wo du und ich unter einem einfachen Dach / aneinander Wärme suchen.“ Mit den Jahren denkt dieses Ich zwar mehr und mehr an das Ende des Lebens, doch seine Vitalität lässt trotzdem von sich hören: Im Album Twortschestwo w pustote – 2 (dt. Kreativität in der Leere – 2) aus dem Jahr 2023 heißt es: „… und die Alte mit der Sense will Sex mit mir“. 

     
    Weter (dt. Wind) aus dem Jahr 1995 zählt zu den Dauerhits von DDT

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“, sagt der DDT-Leader gern mit einem Augenzwinkern, wobei das nicht nur ein Witz ist. Seine Heimat hat Schewtschuk sogar noch lieber als die Frauen. Sie ist die Heldin seiner feurigsten Romanzen und Grund für bittere Beobachtungen voller Enttäuschungen. Wie wir aus seinem berühmten Song wissen, der jetzt am Ende von Konzerten im Ausland immer auf besondere Weise erklingt, ist die Heimat grad „ein Dornröschen, das Arschlöchern vertraut“, und davon kommt alles Übel. 

    „Heimat – das ist nicht der Arsch des Präsidenten“ 

    Schewtschuks Gedanken über sein Land sind der Grund dafür, warum die russische Kultband mit hunderttausenden Fans heute nur mehr außerhalb der Russischen Föderation auftreten darf. Während eines Konzerts in Ufa im Mai 2022 teilte Juri Schewtschuk, der sich wenig überraschend gegen den Krieg positioniert, dem Publikum mit, was er vom aktuellen Geschehen hält. Im Internet verbreitete sich daraufhin ein Video, in dem Schewtschuk zum applaudierenden Publikum sagt: „Heimat, liebe Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss. Heimat, das ist das arme Großmütterchen am Bahnhof, das Kartoffeln verkauft. Das ist Heimat.“ Das sagte er auch früher schon – etwa ein paar Tage zuvor beim Konzert in Jekaterinburg, doch die Polizei holte ihn erst in seiner Heimatstadt Ufa. Sofort nach dem Auftritt, als er vor dem Beifall klatschenden und skandierenden Publikum die Bühne Richtung Backstage verließ, sperrten ihm die Ordnungshüter den Weg ab. Am 16. August 2022 verhängte ein Bezirksgericht in Ufa gegen Schewtschuk eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel [530 Euro]. Der Einspruch, den er dagegen erhob, wurde abgewiesen. Das Konzert in Ufa wurde somit das Letzte, das die Band in Russland gab.

     
    Schewtschuk beschreibt im Interview mit Katerina Gordejewa, wie 2022 bei einem Konzert in Ufa Ordnungshüter in den Backstage-Bereich kamen, nachdem er sich auf der Bühne kritisch geäußert hatte

    In ihrem 40-jährigen Bestehen war es nicht das erste Mal, dass DDT auf einer schwarzen Liste stand. Schewtschuk hatte seit 2010 immer wieder bei Protestaktionen gesungen, weswegen des Öfteren DDT-Konzerte gecancelt wurden. Doch dieses Verbot tat ihm weh. Im Interview mit Katerina Gordejewa kommentierte er die aktuelle Situation so: „Russland würde DDT momentan mehr denn je auf seinen Bühnen brauchen. Wir sind eine extrem soziale Band. Wir haben viele Songs und Betrachtungen – über Heimat, Vergangenheit, Zukunft … Wir müssen in Russland spielen. Im Westen gibt es genug Friedensstifter, hier fehlen sie. Dass sie uns die Konzerte abgedreht haben, das ist ein schwerer Schlag. Weil sie uns unsere wichtige und notwendige Arbeit genommen haben. Da geht es gar nicht um Geld. Wir können unsere Pflicht gegenüber Russland nicht mehr erfüllen: unsere Gedanken formulieren, unsere Wärme mit den Menschen teilen.“    

    2023 hatte Juri Schewtschuk einen Herzinfarkt, im Januar 2024 ging er aber schon wieder auf Tournee – im Ausland: Bulgarien, Serbien, Türkei und Emirate. Generell verlassen hat er Russland aber nicht; er lebt nach wie vor als Einsiedler in einem Dorf bei Sankt Petersburg.

    Unmissverständliche Anti-Kriegs-Botschaften

    Man kann Juri Schewtschuk zwar verbieten, in seiner Heimat aufzutreten, aber nicht, über sie zu singen. Im Juli 2023 kam sein neues Album Wolki w tire (dt. Wölfe im Schießstand) heraus. Er nahm es nicht mit DDT auf, sondern mit dem jungen Gitarristen und Producer Dimitri Jemeljanow, der in den letzten Jahren immer mit Zemfira zusammenarbeitete. Schewtschuks Begründung war, dass er ein wenig experimentieren und einen „analogen Tube Sound im Stil der 1970er Jahre“ erzielen wollte. „Uns verbindet die Liebe zur Blütezeit der echten Rockmusik“, sagte er. Die Anti-Kriegs-Botschaft von Wolki w tire ist auffällig und unmissverständlich wie ein Plakat: Schon als Kunststudent hatte Schewtschuk ein Händchen für einprägsame Agitation, er kann Dinge auf den Punkt bringen. Das Album, das lauter Lieder enthält, die nach der Invasion in der Ukraine entstanden, wird von dem Appell eröffnet: „Heimat, kehr zurück nach Hause.“ „Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk im Refrain. 

     
    „Heimat, kehr zurück nach Hause“ heißt es in dem aktuellen Song von Juri Schewtschuk und Dimitri Jemeljanow

    Darauf folgen bissige Botschaften an den Präsidenten: Tanzy (dt. Tänze) mit dem Refrain „Solang er nicht verreckt ist, der Onkel im Betonsack“ und die tintenschwarzen Lieder Nadeshda (dt. Hoffnung) und Dron (dt. Drohne). Am Schluss kommt ein ritueller Reigentanz anlässlich einer imaginierten Bestattung des Krieges, in dem Schewtschuk sich selbst oder jene anspricht, die auf seine Worte hören: „Sing ein schönes Lied, Alter, sing von der Liebe – dann kommt es auch so.“ Und er demonstriert selbst, wie man das tun kann und soll: Das Album Wolki w tire enthält mit Tschaikowski und Potop (dt. Flut) wahrscheinlich die erhabensten Liebeslieder, die er in den letzten Jahren verfasst hat. Der Hippie vom Land, Barde aus Ufa, Jura mit der Gitarre, der irre Klassiker des russischen Rock glaubt immer noch an die messianische Idee des Rock’n’Roll und versucht wieder und wieder, seine unerschöpfliche Heimat mit Salven von Liebe und Güte zu wärmen. Und auch wenn das ein aussichtsloses Unterfangen zu sein scheint – Hauptsache, er fühlt die Kraft in sich. 

     
    Aus einer Zeit, in der die Band noch in Russland auftreten konnte: DDT spielt 2017 in Moskau den zeitlosen Klassiker Eto wsjo (dt. Das ist alles)

    Weitere Themen

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Russki Rock

    Viktor Zoi

    Russische Rockmusik

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Musik der Perestroika

    Der Wortwichser am Abend

  • Diese Absurdität muss ein Ende haben

    Diese Absurdität muss ein Ende haben

    Am 8. Juli hat ein Gericht in Moskau die Dramaturgin Swetlana Petriitschuk und die Regisseurin Shenja Berkowitsch zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Theaterstück, das vom Gericht als „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausgelegt wurde, hatte zuvor renommierte Preise gewonnen. Es basiert auf Prozessakten aus Verfahren gegen junge Frauen, die aus Russland nach Syrien reisen um Kämpfer des Islamischen Staats zu heiraten. In ihrem Schlusswort vor der Urteilsverkündung erklärte Petriitschuk, dass sie überzeugt war, mit ihrer Arbeit etwas gegen die Ausbreitung des Terrorismus zu tun. Das Gericht sah es anders. Meduza dokumentiert Petriitschuks letzte Rede. 

    Swetlana Petriitschuk am 8. Juli 2024, dem Tag der Urteilsverkündung. Rechts neben ihr die Mitangeklagte Regisseurin Shenja Berkowitsch / Foto: Valery Sharifulin, TASS, Imago Images

    Das Erste, was mir mein Verteidiger am ersten Verhandlungstag sagte, war, dass Berkowitsch und ich in demselben Aquarium sitzen, in dem damals auch die Angeklagte Warwara Karaulowa ihr Urteil gehört hatte. Er muss es wissen, er war auch ihr Verteidiger. Mein Dozent für szenisches Schreiben hat mir seinerzeit natürlich beigebracht, dass man die Figuren für Theaterstücke so genau wie möglich studieren muss, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihnen derart nah kommen würde. 

    Das gesamte Jahr [seit ich in Untersuchungshaft sitze – dek] fühle ich mich als Opfer einer Absurdität größten Ausmaßes. Der größten, die mir je im Leben oder in der Kunst begegnet ist. Und darüber hinaus bin ich auch gekränkt: Denn vor sechs Jahren, als ich das Stück schrieb, war ich mir sicher, dass ich etwas tat, dass von den Strafverfolgungsbehörden unbedingt begrüßt werden müsste: Mit den Mitteln, die mir als Schriftstellerin zur Verfügung stehen, wollte ich helfen, Verbrechen vorzubeugen. Ich habe versucht, Motive hinter Straftaten zu erforschen – genau wie das bereits Dutzende Schriftsteller vor mir getan haben. Ich habe geschrieben, dass es solche Frauen [gemeint sind die Frauen, die vom Islamischen Staat angeworben wurden und nach Syrien reisten – dek] gibt – und Sie, verehrtes Gericht wissen das besser als alle anderen. Wir haben mehr als 20 Zeugen gehört, die bestätigt haben, dass es in dem Stücke keine Rechtfertigung von Terrorismus gibt. Und letztlich geht es doch um einen Text in russischer Sprache, ohne schwieriges Vokabular oder Fachterminologie. Um festzustellen, ob die Autorin für den IS wirbt oder nicht, muss man weder promovierte Kunsthistorikerin sein noch Linguistin. Es reicht aus, Russisch zu sprechen und einen mittleren Schulabschluss zu haben. 

    Nach Auffassung der Anklage haben im Verlauf von sechs Jahren sowohl einige Hundert professionelle Theaterleute nicht gemerkt, dass dieser Text eine Rechtfertigung von Terrorismus enthält. Außerdem auch das Kulturministerium, der Theaterverband, der Strafvollzugsdienst sowie Tausende Zuschauer und Hunderte Menschen, die uns während der vergangenen 14 Monaten in Untersuchungshaft geschrieben haben. Ja, selbst einige Linguisten; einer von ihnen schreibt Bücher über die Methoden linguistischer Gerichtsgutachten. Aber die Anklage weiß es besser. 

    Der 15. Monat unserer Untersuchungshaft ist angebrochen. Und es ist höchste Zeit, dass diese Absurdität ein Ende hat. Damit Berkowitsch und ich endlich wieder etwas Sinnvolles tun können – arbeiten, uns um unsere Nächsten kümmern, unsere Liebsten umarmen und unsere Gesundheit wiederherstellen. Möge der gesunde Menschenverstand endlich siegen. 

    Weitere Themen

    „Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“

    Das russische Strafvollzugssystem

    Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

    Ein Theaterstück vor Gericht

    Kirill Serebrennikow

  • „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    In Belarus wurden die neu gewonnenen Freiheiten im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1991 auch von vielen Musikern, Literaten, Künstlern oder anderen Kulturschaffenden begrüßt. Es entstand eine Bohème, die den neu gewonnenen Raum zu nutzen wusste, beispielsweise mit experimentellen Musikprojekten. Andere wiederum erlebten den Beginn der 1990er Jahre als eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, woraus schließlich die Abkehr vom eingeschlagenen demokratischen Weg und die Wahl Alexander Lukaschenkos resultierte. 

    Lavon Volski, eine Legende der belarussischen Alternativ- und Rockmusik, beschreibt diese wilde Zeit des Aufbruchs und des autoritären Rückfalls in seiner Kolumne für das Online-Portal Budzma

    Für manche Leute waren die 1990er Jahre eine Katastrophe, ein Kollaps, ein schmerzhafter, manchmal unerträglicher Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten. Da ich keine über viele sowjetische Jahre antrainierten Gewohnheiten hatte, nahm ich diese Zeit auch anders wahr – als Beginn von etwas vollkommen Neuem. Eine neue Welt, ein neuer Himmel, ein neues Leben. Ein neues, normales, nicht von der sowjetischen Hydra umfangenes Land, in dem neue Möglichkeiten und neue Perspektiven wachsen.  

    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski
    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski

    Neues Leben, neue kreative Projekte 

    Mit Begeisterung stürzte ich mich in viele kreative Projekte – den neuen Radiosender Belarus Maladsjoshnaja (dt. Jugendliches Belarus) beim staatlichen Rundfunk (der eigentlich nur eine Adaption des alten Senders an die neue Zeit war), mit scharfer Analytik, Interviews, provokativen Rubriken und Hitparaden. Jede Woche produzierte ich ein einstündiges Hörspiel, für das ich Krimis, Fantasy-Geschichten und andere Werke aus dem, wie man damals sagte, Bereich Action adaptierte, sogar Thriller und Horrorgeschichten. Ich war für das gesamte Tondesign von Belarus Maladsjoshnaja zuständig, nahm Pausenzeichen, Jingles und Titelmelodien auf. Darüber hinaus kreierte und moderierte ich die Mystery-Sendung Kvadrakola und nahm parallel Reklamesongs für alle möglichen Werbekunden auf. Es gab unzählige – vom klassischen Jeansmodehersteller bis hin zu großen Firmen, die Gas- und Elektroherde produzierten.  

    Im großen Studio des staatlichen Rundfunks nahmen wir auch das, wie es uns damals schien, epochale Album der Band Novae Neba (dt. Neuer Himmel) auf: Son u tramwai (dt. Traum in der Tram). Das Album war vielschichtig (intellektueller Rock!), mit elektronischen und akustischen Instrumenten, wechselnden Tempi und Dynamiken. Ich spielte Keyboard und um die notwendigen Effekte zu erzeugen, mussten wir uns immer neue Synthesizer für die Aufnahmen ausleihen. Manchmal nahm ich ein Taxi, lud das benötigte Keyboard ein (die waren ziemlich schwer!), brachte sie zum Sender, wo ich sie in die oberste Etage zum großen Konzertaufnahmestudio schleppte.  

    Die heisere Stimme als Alarmsignal 

    In den 1990er Jahren wurden im Radio (und wenn ich mich nicht irre, auch im Fernsehen) die Sitzungen des belarussischen Parlaments übertragen. Uns interessierte kaum, was bei diesen Abgeordneten in ihrem Sowjet (der nicht mal in Rada umbenannt worden war!) vor sich ging. Einzig eine grelle, heisere Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in höherer Tonlage etwas verdeutlichte, jemanden beschuldigte oder angriff. Wir gingen andauernd durch die Einlasskontrolle im alten Stalingebäude des Senders, rein und raus, und dort lief immer grad die Live-Übertragung der Sitzungen, und jedes Mal gellte diese hohe Stimme in den Ohren. Wie ein Alarmsignal, ehrlich. Oder gar Fliegeralarm? 

    „Wer schreit da so?“, fragte ich meine Journalistenkollegen. 

    „Achte gar nicht drauf“, antworteten sie, „nur so ein Populist. Macht einen auf Kämpfer gegen die Korruption.“ 

    „Man hört ihn ziemlich oft.“ 

    „Ach, weil er sich ständig ans Mikro drängelt, ist nicht davon wegzukriegen. Zu jedem Thema hat er seine ganz persönliche Meinung.“ 

    Bohème-Leben jenseits der Politik 

    Falls es bis hierhin nicht ohnehin schon klargeworden ist, sage ich es jetzt: Wir lebten damals jenseits der Politik. Ja, Sie haben sich nicht verhört! Wir dachten, wir hätten fertig gekämpft, geschossen und gewonnen, dass wir unser zwar mittelmäßiges, aber unabhängiges Land mit dem Pahonja-Wappen und der weiß-rot-weißen Flagge haben und sich nun die Politiker mit Politik beschäftigen sollen – und wir mit dem, wofür wir geschaffen waren – mit Kreativem und Kunst. Zudem schienen die Sterne günstig dafür zu stehen – überall eröffneten Galerien, Ausstellungsräume, unabhängige Theater, Clubs, Festivals, Literaturvereinigungen – die bekanntesten von ihnen waren die Vereinigung der freien Schriftsteller und Bum-Bam-Lit (ich war Mitglied in beiden), – also eine Unzahl von Möglichkeiten, sich anzuschließen und sich völlig zu öffnen! Es war eine Zeit des großen kreativen Auftriebs, verschiedenster Unternehmungen und spannender, ernstzunehmender Ideen.  

    Und gleichzeitig war es eine Zeit des Bohème-Lebens. Fast täglich gab es Bankette mit kaltem Büffet, feierliche Eröffnungen, Präsentationen und Partys.  

    Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein

    Ich erinnerte mich, wie ich pro forma vor den Wahlen die Auftritte der Kandidaten anschaute. Darunter war auch der stimmstarke Korruptionsbekämpfer. Nachdem ich seinen Auftritt gesehen hatte, war ich absolut davon überzeugt, dass eine solch archaische Person in unserer neuen demokratischen Gesellschaft keinerlei Chancen hat. Und beschäftigte mich weiter mit meinem Kram. Dann ging es weiter wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonisten gerade noch tanzen, trinken und lachen, aber plötzlich – Szenenwechsel! – alles ins Gegenteil verkehrt ist – Stille, Halbdunkel, Trübsinn und Trauer. Genauso ist es uns passiert – wir fahren gerade mit dem Taxi zum Sender, um das nächste Keyboard aufzunehmen (das Instrument liegt quer auf unseren Knien, weil es nicht in den Kofferraum passte), lachen und scherzen, weil wir gestern mal wieder auf einer Party waren und die aufgedreht-idiotische Stimmung anhält. Im Taxi läuft das Radio, wir schreiben das Jahr 1994 … Plötzlich hören wir die geschliffenen Worte des Sprechers: „Den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl der Republik Belarus gewann mit großem Abstand …“ 

    „Das kann nicht sein“, sagte ich. 

    „Kann es!“, drehte sich der Taxifahrer um. „Jetzt wird der Sascha es diesen bourgeoisen Unternehmern aber geben! Ganz schnell bringt er die auf Linie!“ 

    Stumme Szene. „Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein“

    In diesem Augenblick begriff ich mit Schrecken, dass eine neue Zeit anbricht – trist, behäbig, schädlich für Leben und Kunst. Außerdem begriff ich, dass wir diese Zeit nicht hatten kommen sehen, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Dass wir zu Opfern des klassischen Schemas geworden waren: Wenn du jenseits der Politik stehst, kommt die Politik von ganz allein zu dir. Da war sie nun.  

    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski
    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski

    Was sich in 30 Jahren vor allem verändert hat 

    Seitdem sind schon dreißig Jahre vergangen! Alles gab es in dieser Zeit: Verbote, Tauwetter, Repressionen, demokratisch-liberale Gespenster, Einfrieren und Auftauen, Staatsterror … Und ich begreife, dass ich zu alldem schon bereit gewesen war, nachdem ich einmal den Auftritt unseres Volksherren gehört und ihm in die Augen geschaut hatte … 

    Zu einem solchen Jubiläum beglückwünschen wir einander also, liebe Landsleute! Zu einem traurigen und unerfreulichen Jubiläum. In dreißig Jahren verändert sich in jeder Gesellschaft etwas. Aber das Wichtigste ist, dass sich seitdem – und sogar radikal – die Einstellung der Mehrheit zum (scheinbar) unveränderlichen Führer verändert hat. Aus diesem frohen Anlass (und um euch ein wenig Hoffnung zu geben) gebe ich zu bedenken, dass mit jedem Jubiläum, wie schon der Held in dem satirischen sowjetischen Roman Die zwölf Stühle sagte. „Die Chancen steigen“. Und mit jedem Tag nähern wir uns den neuen Zeiten. 

    Den Sekt haben wir alle innerlich längst kaltgestellt. 

    Weitere Themen

    Sound des belarussischen Protests

    Hier kommt Belarus!

    KRACH 1991

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Sound des Aufbruchs: Rockmusik im Belarus der 1990er Jahre

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Russki Rock

    Die Wilden 1990er

  • Ganz neu

  • Spiel mit dem Verwerflichen

    Spiel mit dem Verwerflichen

    Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden russische Fußballvereine und die Nationalmannschaft von allen europäischen und internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. So durfte die Sbornaja auch nicht an der Qualifikation zur EM, die aktuell in Deutschland stattfindet, teilnehmen. Der russische Fußball ist also isoliert. Dennoch spielten über 50 ausländische Spieler in der abgelaufenen Saison in der höchsten Spielklasse des Landes (die mal wieder Zenit St. Petersburg für sich entscheiden konnte). 

    Das russische Online-Medium The Insider hat sich diese Spieler im Fußball (und im Eishockey) genauer angeschaut und recherchiert, dass Spieler aus dem Ausland bei russischen Clubs auch eine Anstellung finden, obwohl gegen sie ermittelt wird. 

    Orenburgs Jordhy Thompson feiert sein Tor gegen den FK Rostow. In seiner Heimat Chile ist er wegen häuslicher Gewalt angeklagt / Foto © IMAGO/ITAR-TASS/Erik Romanenko

    Ein Chilene, der seine Freundin brutal geschlagen haben soll

    Im Januar 2024 verpflichtete der Fußballclub FK Orenburg den 19-jährigen Linksaußen Jordhy Thompson vom chilenischen Verein CSD Colo-Colo. Der Fußballer wird in seiner Heimat des versuchten Totschlags beschuldigt. Im November 2023 hatte die ehemalige Partnerin Thompsons, Camila Sepúlveda, bei der Polizei Anzeige erstattet: Der Fußballer soll sie in betrunkenem Zustand aus Eifersucht grausam geschlagen haben. Auch soll er versucht haben, sie zu erwürgen. Das war nicht das erste Mal: Im vergangenen Frühjahr hatte Camila den Fußballer zwei Mal gewalttätiger Übergriffe beschuldigt. 

    Am 6. November 2023 wurden gegen den vielversprechenden Stürmer 45 Tage Haft verhängt. Die wurden nach einigen Tagen in Hausarrest umgewandelt. Am 19. Dezember erreichten Thompsons Anwälte, dass diese Sicherungsmaßnahme für ein halbes Jahr ausgesetzt wurde, wobei der Beschuldigte das Land gegen eine Kaution von 100 Millionen Peso (rund 105.000 Euro) verlassen konnte. Bereits am 3. Januar 2024 verkündete Orenburg, dass die Papiere über seinen Wechsel als Leihspieler unterschrieben sind.

    Im Januar, mitten in der Winterpause der russischen Premjer Liga, wurde der Fall Jordhy Thompson heftig diskutiert. Auslöser war ein höchst merkwürdiges Statement von Dmitri Andrejew, dem Sportdirektor von Orenburg. Der ehemalige Fußballer, der gleich nach seinem Karriereende 2019 zum Clubmanager aufstieg, wurde direkt gefragt, ob der Verein nicht von der Vorgeschichte des Chilenen irritiert sei.

    Das war aber keineswegs der Fall:

    „Eine dunkle Seite bei Thompson? Wer hat die nicht? Von den Problemen mit der Freundin haben wir gehört. Sie reden so, als ob er zwanzig Frauen plattgemacht hätte. Wir machen uns um das Ansehen von Orenburg keine Sorgen. Wem passiert das nicht? Wir haben ihn nicht unter die Lupe genommen. Uns war klar: Wenn es nicht die Probleme mit seiner Freundin gegeben hätte, hätten wir uns einen solchen Spieler nicht leisten können. Als er in diese Lage geraten war, haben wir alles drangesetzt, ihn zu bekommen“, führte Andrejew in einem Interview für Sport24 aus.

    Hätte es keine Probleme mit dem Gesetz gegeben, hätte sich Thompson sicher bei Colo-Colo weiterentwickeln können. Oder er hätte sogar mit dem Wechsel in eine stärkere europäische Liga liebäugeln können, wie sein ehemaliger Trainer Gualberto Jara meint, der mit Thompson im Jugendbereich des chilenischen Spitzenclubs gearbeitet hat. Im Gespräch mit The Insider bestätigte ein Experte, der in Spanien zum Staff von Racing Santander und Rayo Vallecano gehörte, dass Thompson dieses Potenzial hat.

    Jewgeni Jeremjakin, Präsident des Clubs und stellvertretender Generaldirektor von Gazprom Förderung Orenburg, räumte im Januar ein, dass ihm die Sache mit dem neuen Spieler trotzdem Sorgen bereitet: „Deswegen leihen wir ihn erstmal bis zum Saisonende aus. Und werden ihn erziehen.“

    Für den FK Orenburg, der die ganze Saison ums Überleben in der russischen Premjer Liga kämpfte, bedeutet Thompson zweifellos eine Verstärkung: Er stand bei allen Spielen in der Startelf und erzielte zwei Treffer (einen davon im russischen Pokal). The Insider hat beim FK Orenburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der bei einem Verkehrsunfall den Tod eines Kindes verschuldete 

    Rai Vloet, Legionär bei Ural Jekaterinburg, wurde im April 2023 in den Niederlanden zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er angetrunken einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem ein vierjähriges Kind starb. Sein Wagen hatte auf dem Weg zum Amsterdamer Flughafen Schiphol das Fahrzeug einer Familie mit zwei Kindern gerammt. Eines der beiden Kinder erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Der Unfall ereignete sich am 14. November 2021. Vloet leugnete anfangs hartnäckig, dass er am Steuer saß (ein Freund war mit ihm im Wagen). Dann stritt er ab, dass er viel zu schnell gefahren war. Die Ermittlungen ergaben, dass sein Fahrzeug vor dem Aufprall eine Geschwindigkeit von 203 Stundenkilometern hatte. Der Alkoholpegel der beiden Männer lag beim Doppelten des Grenzwerts. Es stellte sich heraus, dass die beiden von einer Party zur nächsten unterwegs waren.

    Anfangs versuchte Vloets Bekannter, mit einer Falschaussage die Schuld auf sich zu nehmen. Letztendlich sagten aber beide wahrheitsgemäß aus. Die Verteidigung hob darauf ab, dass das getötete Kind nicht angeschnallt war. Vor dem tödlichen Unfall hatte Vloet, der bei PSV Eindhoven ausgebildet wurde, einem der erfolgreichsten Vereine des Landes, in der Eredivisie, der höchsten niederländischen Liga gespielt. Bei Heracles Almelo, das im Mittelfeld rangiert, war er einer der Führungsspieler. Nach dem Prozess gegen ihn meldeten sich aktive Fans des Clubs zu Wort: Sie bekräftigten, dass es beschämend und unmöglich sei, ihn aufs Feld zu schicken, als ob nichts gewesen wäre. Selbst, wenn die Berufung noch laufe. Danach nahm Heracles die gleiche Haltung ein. Vloet wurde vom Training suspendiert und verkündete im Januar 2022, dass er nicht mehr für die Mannschaft spielen werde.

    Um nicht ohne Spielpraxis und Gehalt dazusitzen, fand er einen neuen Job in Kasachstan: Astana FK verpflichtete ihn ablösefrei. Dort wusste man bestens über die Situation Bescheid. Innerhalb der Mannschaft war das Thema aber tabu, erläuterte der Sportdirektor von Astana FK, Igor Pawljuk, gegenüber The Insider. Er war seinerzeit leitend in der Verwaltung tätig. Für Ural Jekaterinburg, das den schillernden und umstrittenen Holländer im September 2022 für 250.000 Euro verpflichtete, spielten moralische Fragen überhaupt keine Rolle. Das hatte der Vizepräsident des Clubs, Igor Jefremow, seinerzeit eingeräumt. In der YouTube-Show Das ist Fußball, Bruder erinnerte sich der nun schon ehemalige Mitarbeiter von Ural:

    „Wenn du die Situation nicht kennst, stellt sich die Frage: Warum spielt dieser Spieler in Kasachstan? Wir haben uns mit der Situation beschäftigt und alles diskutiert. Als Vloet bei Ural unterschrieb, hatte es noch keine Entscheidung des Gerichts gegeben. Ich sage ganz ehrlich: Die moralische und ethische Seite wurde überhaupt nicht erörtert.“

    Auf die Frage der Moderierenden, ob das in Ordnung sei, bemerkte Jefremow: „Sagen wir mal so: Gibt es wirklich viele Leute, die in ihrem Leben immer nüchtern hinterm Steuer sitzen?“ Und er fasste zusammen: „Wir diskutieren diese Situation hier jetzt länger, als wir sie damals diskutiert haben.“ Der Anwalt des Fußballers Erik Thomas kommentierte die Lage, indem er das Offensichtliche aussprach: „Es ist nicht so interessant, in Kasachstan oder Jekaterinburg zu spielen, wenn du Europa gewohnt bist. Aber kein einziger europäischer Club wollte ihn bei sich sehen.“

    Sowohl der frühere Anwalt des Fußballers als auch der ehemalige Vizepräsident von Ural, Igor Jefremow, behaupteten: Sobald das abschließende Urteil nach der Berufung feststeht, wird sich Vloet nicht mehr verstecken und in den Niederlanden seine Strafe verbüßen. Ihren Aussagen zufolge ist der Spieler bereit für eine Gefängnisstrafe, wie lang sie auch sein mag. The Insider hat bei Ural Jekaterinburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der mit Kokain handelte

    Der aufsehenerregendste Kriminalfall im russischen Fußball steht allerdings nicht mit einer Verstärkung eines Clubs in Verbindung, sondern mit einem Abgang. Der Niederländer Quincy Promes, Führungsspieler bei Spartak Moskau, saß bis zuletzt noch in einem Gefängnis in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), und zwar wegen eines Auslieferungsantrags aus den Niederlanden. Im vergangenen Sommer war Promes dort zu anderthalb Jahren verurteilt worden, weil er seinen Cousin im Laufe eines Streits in der Familie mit einem Messer verletzt hatte. Im Winter kamen wegen Kokainschmuggels sechs Jahre hinzu. Zwischen diesen Verfahren besteht allerdings keine Verbindung. Die Ermittlungen wegen Drogenschmuggels hatten bereits 2018 begonnen, während der Konflikt mit dem Cousin erst 2020 erfolgte.

    Quincy Promes war schon 2014 zu Spartak gewechselt und wurde dort nicht nur zu einem Star, sondern zu einer echten Legende. Er war 2017 Mitglied der Mannschaft, die die Meisterschaft holte, zum ersten Mal nach 16 Jahren. Im Mai 2023 wurde er zum besten Stürmer des Clubs in der postsowjetischen Vereinsgeschichte. Und er wurde zum erfolgreichsten ausländischen Torschützen der russischen Ligageschichte.

    Es gab einen dritten Vorfall mit Promes, der an sich relativ unbedeutend war. Doch ohne diesen Fall wäre er wohl nicht hinter Gittern gelandet. In der Winterpause 2023-2024 flog Quincy in den Urlaub nach Dubai (in der Europäischen Union wollte er sich nicht sehen lassen, weil er in Abwesenheit wegen des Angriffs auf seinen Cousin verurteilt worden war). Dort hatte er mit einem Mietwagen einen Unfall mit einem Bus verursacht und war vom Unfallort geflüchtet. Bald darauf flog er nach Moskau, um danach mit Spartak ins Trainingslager in die Emirate zurückzukehren. Dem Verein hatte er dabei nichts von dem Unfall erzählt.

    Das Urteil von sechs Jahren Gefängnis wegen des Drogenschmuggels wurde am 14. Februar bekannt, als Promes sich mit Spartak in den Emiraten aufhielt. Zwei Wochen später wurde er nicht in den Flieger seines Vereins gelassen, der ihn zurück nach Russland bringen sollte. Das erfolgte aufgrund der Rechtsverletzung in den Emiraten. Der Grenzschutz der Emirate hatte die Informationen zur Flucht vom Unfallort erhalten. Bald schon wurde die niederländische Seite aktiv. In den Emiraten ging ein Auslieferungsantrag ein, und der Fußballer wurde festgenommen. Ende März berichtete De Telegraaf, Promes habe ein Gerichtsverfahren zu erwarten. Bis zu einer Entscheidung über die Auslieferung bleibe er unter gewöhnlichen Bedingungen in Haft. In seiner Zelle, die für sechs Personen ausgelegt ist, sitzen rund 20 weitere Häftlinge. Am 17. Mai wurde berichtet, dass der Fußballer auf Kaution freigelassen wurde, die Emirate aber nicht verlassen darf.

    Aus den niederländischen Ermittlungen geht hervor, dass für Promes zwei Lieferungen Kokain aus Brasilien im Hafen von Antwerpen eintrafen mit einem Gesamtgewicht von 1362 Kilogramm. Die Ware war als Meersalz in Säcken getarnt. Nach Angaben der Ermittler hatte der Spieler von Spartak 200.000 Euro investiert, um sechs Millionen herauszuholen. Promes hatte Komplizen (darunter seinen Onkel), stand aber an der Spitze dieser Miniorganisation. Daher wurde für ihn das höchste Strafmaß von allen gefordert. „Allem Anschein nach hält sich Promes für unantastbar, sei es in Russland oder in anderen Ländern. Mich würde interessieren, wie ein erfolgreicher Fußballer sich derart in Verbrechen verstricken konnte“, zitiert die NL Times den Staatsanwalt.

    Spartak verweist die ganze Zeit auf das laufende Berufungsverfahren und löst den Vertrag mit Promes nicht auf. RBK zufolge ist es für den Club juristisch möglich, den Vertrag zu kündigen: Als er 2021 unterzeichnet wurde und die Ermittlungen zum Angriff auf seinen Cousin schon bekannt waren, hatte Spartak eine Klausel darüber eingefügt, dass der Vertrag ohne weitere gegenseitige Ansprüche aufgelöst werden kann, falls der Spieler nicht mehr für die Mannschaft spielen kann.

    Höchstwahrscheinlich wird Promes nicht mehr für Spartak spielen, auch wenn der Vertrag bis Juni nächsten Jahres läuft. Wenn der Unfall mit dem Mietwagen nicht gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich mit der Mannschaft nach Russland zurückfliegen und weiter in der Premjer Liga spielen können. Aus Russland hätte man ihn wohl kaum an die Niederlande ausgeliefert. Darauf wies gegenüber The Insider Andrej Morosow hin, ein Anwalt der Kanzlei Feokistow und Partner: „Die Entscheidung über eine Auslieferung trifft praktisch die Generalstaatsanwaltschaft. Das ist ein außerordentliches Verfahren, weswegen eine Auslieferung aus politischen Motiven erfolgen kann (oder eben nicht erfolgen kann).“

    Bereits vor seiner Inhaftierung in Dubai hatte Promes wohl versucht, sich durch eine russische Staatsangehörigkeit abzusichern. Vor einem Jahr wurde bekannt, dass ihm Spartak dabei half. Das russische Sportministerium verweigerte jedoch wegen des laufenden Gerichtsverfahrens seine Mitwirkung. Wenn der Niederländer die russische Staatsangehörigkeit erhalten hätte, wäre er auf russischem Hoheitsgebiet in Sicherheit gewesen, weil Russland seine Staatsangehörigen nicht ausliefert. Übrigens droht Promes auch in Russland ein Strafverfahren, nämlich wegen systematischer Nichtzahlung von Steuern. Dem Portal Mash zufolge schuldete er dem Finanzamt 397.000 Rubel, bevor er zum Trainingslager in die Emirate flog.

    Ein Amerikaner, der Polizisten angriff

    Im Sommer 2023 unterzeichnete SKA Petersburg, einer der Spitzenclubs der Kontinentalen Eishockeyliga (KHL), finanziert von Gazprom, einen Vertrag mit Alex Galchenyuk, einem US-Amerikaner belarussischer Herkunft. In seiner Jugend hatte er einen russischen Pass und eine Einladung in die russische Sbornaja. Galchenyuk lehnte jedoch sowohl eine Nominierung wie auch den Pass ab. Er war dann aber genötigt, über Angebote aus Russland nachzudenken, nachdem der gerade erst unterschriebene Vertrag mit den Arizona Coyotes aus der National Hockey League aufgelöst wurde.

    Mitte Juli letzten Jahres war Galchenyuk wegen eines Angriffs auf Polizisten verhaftet worden. Er war mit seinem Vater mit einem BMW in einen Unfall verwickelt. Der Wagen war gegen den Bordstein geraten und hatte ein Verkehrsschild und ein Auto daneben beschädigt. Als die Polizei am Unfallort eintraf, fand sie den Eishockeyspieler einige Meter vom Wagen liegend betrunken vor. Bei der Festnahme leistete er Widerstand, wurde grob und drohte den Polizisten. Auf einem später in Umlauf gebrachten Video der Polizeikameras ist deutlich zu hören, was Galchenyuk den Polizeibeamten sagte: „Ist dir klar, dass ich dich einfach absteche? Die Kehle schneide ich dir durch … Du weißt, dass ich Abramowitschs Nummer habe… Und ihr alle seid am *** … Lass mich aus dem Wagen, sonst werden alle eure Kinder, alle eure Frauen, alle eure Töchter sterben. Ein Anruf von mir, und ihr seid tot“. Darüber hinaus erlaubte er sich rassistische Äußerungen gegenüber einem der Polizisten.

    Der Spieler entschuldigte sich später öffentlich, doch gab es bereits keinen Weg zurück in die NHL. In solchen Fällen bieten die Clubs den Betroffenen gewöhnlich einfach keinen Vertag mehr an, zumindest bis zu einer Rehabilitierung. Galchenyuk erhielt nun Angebote aus Russland, wobei er sich für SKA Petersburg entschied. Roman Rotenberg, der Cheftrainer von SKA und gleichzeitig dessen Vizepräsident und stellvertretender Vorsitzender des Direktorenrats (sowie Sohn des Geschäftsmanns Boris Rotenberg), war begeistert, dass Galchenyuk sich für seinen Club entschied: „Wir sind froh, dass ein Hockeyspieler von diesem Niveau zu uns gestoßen ist. Wie man so sagt, ein Gottesgeschenk. Weil es ganz und gar nicht einfach ist, einen solchen Spieler zu bekommen.“ 

    Und bei der Vorstellung des neuen Spielers erklärte Rotenberg noch vor den Fragen zu dem Vorfall: „Alex passt rundum in unser System. Von den menschlichen Qualitäten her wie auch als Spieler.“ Auf Nachfragen von The Insider an SKA über die Vertragsunterzeichnung und die Zukunft von Galchenyuk gab es keine Antwort.

    Was die Sportfunktionäre sagen

    Der Fall Quincy Promes verlangt in Bezug auf den Zustrom von Spielern mit Reputationsproblemen nach einer Stellungnahme führender Vertreter des russischen Fußballs. Maxim Mitrofanow, Generaldirektor des Russischen Fußballverbandes erklärte auf die Frage nach dem Image der russischen Premjer Liga als einer Liga von Kriminellen, dass man die russische Meisterschaft so nicht bezeichnen könne und fügte hinzu: „Das ist eher eine Frage an die Arbeitgeber. Hier entscheidet jeder selbst, ob er bereit ist, mit einem Menschen zusammen zu arbeiten, der eine Straftat begangen oder nicht begangen hat.“ Und der Chef der Premjer Liga Alexander Alajew formulierte es nach einer Mahnung daran, dass bis zum Ende des Berufungsverfahrens niemand als Verbrecher bezeichnet werden dürfe wie folgt:

    „Wenn die Schuld eines Spielers bewiesen ist, kann er nicht mehr in der Premjer Liga spielen. Fußballer sind ein Vorbild für Kinder; für meinen Sohn ist Promes ein Heiliger. Wir verfolgen die Situation von Promes und von Vloet mit Hilfe von Juristen. Wir können ihnen nicht verbieten zu spielen. Wir werden verfolgen, wie die Sache ausgeht. Aber Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sollten kein Teil der Liga sein. Das ist meine Meinung.“

    Juristische Instrumente, um Verträge mit solchen Spielern zu verbieten, gibt es weder bei den Ligen (der Premjer Liga und der KHL), noch bei den Verbänden.

    Weitere Themen

    „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg

    „Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichsten”

    Bystro #3: Fußball & Gesellschaft