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„Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“
Kultur • Media_IQ
Original by Larysa Masenko, Redaktion MediaIQ, Winzuk Wjatschorka
Translation by Tina Wünschmann (shortened)„Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“ Mit diesem unter Belarussen und Ukrainern immer wieder heiß diskutierten Thema beschäftigt sich eine Ausgabe der Artikelserie Baljutschyja pytanni (dt. Schmerzhafte Fragen) von Media_IQ, in der Experten auf drängende Fragen der Zeit antworten und diese diskutieren. Dazu hat sich das belarussische Online-Portal zwei Koryphäen auf diesem Gebiet eingeladen: den belarussischen Sprachwissenschaftler und ehemaligen Oppositionspolitiker Winzuk Wjatschorka und die ukrainische Linguistin Larysa Masenko, die in der Ukraine als eine der führenden Forscherinnen zur ukrainischen Sprache gilt. Beide diskutieren in ihren jeweiligen Muttersprachen, Belarussisch und Ukrainisch, über die Dominanz des Russischen in ihren Ländern und über die Unterschiede in der Verwendung von Sprachen in der Ukraine und Belarus. Wir bringen einen Auszug des Gesprächs.
Media_IQ: Sind russischsprachige Belarussen Belarussen? Und russischsprachige Ukrainer Ukrainer?
Larysa Masenko: Die zentrale Frage an dieser Stelle ist aus meiner Sicht: Welche Antwort gibt die Person auf die Frage nach der Muttersprache (ukr. ridna mowa)? Wenn ein russischsprachiger Ukrainer oder ein russischsprachiger Belarusse antworten, dass ihre Muttersprache Ukrainisch respektive Belarussisch ist, dann kann man sie als Ukrainer beziehungsweise Belarussen betrachten.
Mit der Unterstützung internationaler Organisationen haben wir 2006 eine große Befragung in der Ukraine durchgeführt. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, so nannten 15 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, sie lebten mehrheitlich im Osten und Süden des Landes. Bei den Bewohnern von Kyjiw, dessen Großteil leider auch russischsprachig ist, gibt jedoch die Mehrheit als Muttersprache Ukrainisch an. Anhand dieses Kriteriums kann man also tatsächlich erkennen, ob eine Person ukrainisch ist und eine ukrainische Identität hat, obwohl sie Russisch spricht.
Winzuk Wjatschorka: Bei uns ist die Situation komplizierter. Unter anderem, weil wir keine konkrete, sichere Antwort auf die Frage haben, wie viele Belarussen das Belarussische als Muttersprache betrachten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen – Muttersprache. Die Sache ist, dass in der internationalen Soziolinguistik eine ganze Bandbreite an Bezeichnungen für die sprachliche Identität und das Sprachverhalten des Menschen existieren. Da gibt es mother tongue, die Muttersprache oder Erstsprache. Es gibt die Hauptsprache, die der Mensch am besten beherrscht, die Sprache, die er üblicherweise im Alltag verwendet. Und es gibt die sprachliche Identität – mit welcher Sprache verbindet der Mensch seine Herkunft, seine Familie, seine Zukunft und letztlich auch seine Nationalität.
Belarussisch als Muttersprache, auch wenn die Mutter gar nicht Belarussisch sprach – das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre
Bei uns wurde früher in den Volksbefragungen die Frage nach der Muttersprache ohne Erläuterung gestellt, wodurch die Befragten ihre eigene Interpretation zugrunde legen konnten, so auch das Konzept der Sprachidentität. Wenn jemand also nicht täglich Belarussisch sprach, oder nicht die belarussische Literatursprache, konnte er die belarussische Sprache dennoch als seine rodnaja mowa betrachten, also die Sprache seiner Familie und Herkunft, oder sie gar als Muttersprache bezeichnen, auch wenn seine Mutter gar nicht Belarussisch mit ihm sprach (das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre), aber die Mutter seiner Mutter, also die Großmutter, noch Belarussisch gesprochen hatte. So ergibt sich eine Perspektive, dass seine Kinder und Enkel wieder Belarussisch sprechen werden, und das hat bei uns ja tatsächlich stattgefunden – die Rückkehr zur belarussischen Sprache nach ein oder zwei Generationen.
Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen?
Sehr wichtig ist aber auch, dass die Menschen, die selbst zurückgefunden haben oder ihre Kinder an die belarussische Sprache heranführen, sich dessen bewusst sind, dass dies die Sprache ihrer Herkunft, ihrer Familie ist. In den späteren Volkszählungen, die schon unter Lukaschenka stattfanden, wurde auf einmal erläutert, was unter rodnaja mowa zu verstehen sei: Nämlich jene Sprache, die der Mensch zuerst in seiner Kindheit gelernt hat. Damit wurde den Menschen praktisch das Recht entzogen, die Sprache ihrer Identität anzugeben. Dadurch ergab sich zwischen den Umfragen 1999 und 2009 ein absolut katastrophaler Einbruch bei den Zahlen zur sprachlichen Identität – 22 Prozent weniger gaben Belarussisch als Muttersprache an.
Es ist wirklich beispiellos, dass sich innerhalb von zehn Jahren die sprachliche Identität einer kompletten Bevölkerung so verändert! Einerseits liegt das an der antibelarussischen Politik des Lukaschenka-Regimes, andererseits an der Veränderung der Fragestellung, durch die man Belarussisch nicht mehr als rodnaja mowa angeben konnte.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen? Wie ich schon sagte, umfasst das nicht nur die Verwendung der Standardsprache. Jede Person, die einen Dialekt spricht, spricht ohne Frage Belarussisch. Die Person selbst versteht das vielleicht als Mischsprache: „Sie wissen schon, wie wir sprechen – ein belarussisches Wort, ein polnisches Wort, ein russisches Wort, ein belarussisches Wort, ein ukrainisches Wort …“ Es ist abhängig von der Geografie. Tatsächlich sind das aber belarussische Dialekte. Nur war es den Menschen nicht möglich zuzugeben, dass sie Belarussisch sprechen – es galt als unfein.
In der Sowjetzeit galt das als peinlich. Und auch jetzt ist es wieder unangenehm. Dabei ist doch eine Person, die das Belarussische passiv beherrscht, es versteht und gut beherrscht, letztlich auch belarussischsprachig. Worauf ich hinaus will: Eine Person, die im Alltag Russisch spricht, aber das Belarussische versteht und beherrscht, einige Wörter einbaut, kann potenziell jederzeit zu dieser Sprache zurückkehren. Die Person ist potenziell belarussischsprachig. Und wenn irgendwelche emsigen Soziologen sagen, dass bei uns nur drei Prozent oder fünf Prozent Belarussisch sprechen, dann verstehen sie diese Hintergründe einfach nicht.
Insofern ist ohne Frage jeder, der Russisch spricht, aber diesen Hintergrund, diese Vorgeschichte hat, ein Belarusse, und besitzt mithin die Option, zur belarussischen Sprache zurückzukehren.
In der Ukraine ist es wichtig, die ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln
L.M.: Hier wurde eine wichtige Frage aufgeworfen: Was ist die Muttersprache, wenn die Eltern russischsprachig sind. Bei uns sind die Großstädte am stärksten russifiziert, in den Städten leben viele Menschen, dort fand die Industrialisierung statt, es gab viel Zuzug, und so entstand der Schmelztiegel der Russifizierung. Die Kleinstädte und Dörfer verloren ukrainischsprachige Einwohner. Für die Kinder dieser Generation, die in die Städte zogen und zum Russischen übergingen, war das Ukrainische oft die Sprache von Oma und Opa, es war die Sprache ihrer Ahnen, die Sprache aller vorangegangenen Generationen. In diesem Sinne ist das Ukrainische also zweifellos ihre Muttersprache, ridna mowa. Ich möchte außerdem sagen, dass wir für unsere Situation folgende Definition gefunden haben: ridna mowa ist die Sprache meines Landes. Ich verstehe, dass ridna mowa in anderen Ländern anders definiert wird, wie Sie bereits gut beschrieben haben, am weitesten verbreitet ist das Konzept der Muttersprache. Ja, ridna mowa ist die Sprache der Mutter, von ihr lernt das Kind diese Sprache. Aber in Anbetracht unserer Situation ist es, denke ich, ebenfalls wichtig, ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln.
Ist es im 21. Jahrhundert korrekt, die Identität eines Menschen über die Sprache zu definieren?
L.M.: Die sprachliche, ethnische und nationale Identität sind doch sehr eng miteinander verbunden. In allen Ländern, hauptsächlich in den europäischen Ländern, gibt es nur eine Amtssprache; es gibt nur sehr wenige zweisprachige Staaten. Diese kann man separat besprechen, dort gibt es fast immer einen Konflikt, da jedes Volk, jede Nation ihre Identität unstrittig hauptsächlich über die Sprache definiert. Jedoch nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Kultur, die in dieser Sprache geschaffen wird, denn in der Kultur kommt die Identität sehr klar zum Ausdruck.
Deshalb ist es unbedingt notwendig, das Ukrainische bei uns zu verbreiten. Im Moment gibt es einen großen Umbruch, einen großen Bruch im Verhältnis zu Moskau …
Und es hat ein starker Wechsel vieler russischsprachiger Ukrainer zum Ukrainischen begonnen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits nach der Revolution der Würde aktiv an Fahrt aufgenommen, nachdem im Jahr 2019 endlich das Gesetz Über die Staatssprache eingeführt wurde, das klar definierte, in welchen Bereichen das Ukrainische als Amtssprache verpflichtend zu verwenden ist. Putin und sein Umfeld dachten, nur weil es zu Sowjetzeiten gelungen war, einige Städte zu russischsprachigen zu machen, besonders die Großstädte im Osten und Süden, würden die Menschen dort die russische Armee mit Brot und Salz empfangen. Aber das Gegenteil war der Fall, die Ukrainer sehen Russland nun bewusst als Feind, sie sehen den genozidalen Krieg, der zum Zweck der Vernichtung der Ukrainer geführt wird. Ihr Widerstand ist sehr stark geworden und viele Menschen wechseln nun zur ukrainischen Sprache.
Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte
W.W.: Die ukrainische Situation ist natürlich eine epochale Kraftprobe. Einerseits hat sich der ukrainische Staat stark für die ukrainische Sprache eingesetzt, worauf wir Belarussen in unserer aktuellen Situation nur mit Neid blicken können. Denn der aktuelle Staat, der sich Belarus nennt, verdrängt die belarussische Sprache funktional und zielgerichtet, letztlich muss man schon sagen, er vernichtet sie. Andererseits ist die Ukraine Ziel eines verbrecherischen Angriffs geworden, der unter anderem gerade mit einer sprachlichen Argumentation begründet wird. Das brachte alle an Russland angrenzenden Völker dazu aufzuwachen und zu verstehen, dass dieses Russland und die aufgezwungene Russischsprachigkeit, die von einigen als Reichtum betrachtet wird, da die russische Sprache zu den Weltsprachen gehöre und eine Brücke zu kulturellen, wissenschaftlichen und allerlei anderen Reichtümern darstelle, in Wirklichkeit die Brücke zum Einmarsch des Aggressors ist …
Um auf die Frage zurückzukommen, ob die sprachliche Identität identisch ist mit der nationalen – ja, ich denke, dass die aktuelle sprachliche Situation in Belarus instabil und entropiehaft ist. Wenn wir in der kurzen Periode der realen Unabhängigkeit und der relativen Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre innerhalb von sechs Jahren der belarussischen Sprache ihren Status zurückgeben konnten, ein bis zwei Millionen Schüler durch das belarussischsprachige Bildungssystem lotsen konnten, dann trat eine sprachliche Wirkung ein, die dann mit Gewalt wieder aus der Gesellschaft herausgepresst wurde, nachdem gerade sprachliches Selbstbewusstsein und funktionale sprachliche Normalität zurückgekehrt waren.
L.M.: Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte, so wie es in der Ukraine gelungen ist. Als Lukaschenka an die Macht kam, wurde das belarussische Sprachengesetz geändert, und Russisch wurde neben Belarussisch zur Staatssprache erklärt. Natürlich öffnete das den Russifizierern und Kolonisatoren Tür und Tor. Es ist sehr bedauerlich, dass durch verschiedene Manipulationen, faktisch durch Betrug der Bevölkerung, eine Person wie Lukaschenka an die Macht gekommen ist. Denn Lukaschenka verachtet die belarussische Sprache, er hat geäußert, dass es nur zwei große Sprachen gäbe – Russisch und Englisch, Belarussisch hingegen sei sehr arm, man könne damit keine technischen Sachverhalte beschreiben, da es keine Fachtermini gäbe, und so weiter. Wie soll eine Sprachenpolitik mit einem solchen Präsidenten aussehen?
Auch bei uns ist die sowjetische Politik noch spürbar, dass damals die hervorragendste Elite, die das Ukrainische verteidigte, ins Lager geschickt wurde, und die Russifizierung stark vorankam. Besonders unter Schtscherbyzky in den 1970er Jahren, der die ukrainische Sprache aus dem offiziellen Gebrauch nahm, auch in der Partei.
Sind die ukrainische und belarussische Sprache durch ihre Nähe zum Russischen bedroht?
L.M.: Bei uns wird häufig nicht berücksichtigt, dass es einen Unterschied zwischen der individuellen Zweisprachigkeit und der staatlichen Zweisprachigkeit gibt. Wenn ein Mensch zwei Sprachen beherrscht, oder heutzutage oft auch drei, denn unsere Schüler und Studenten lernen ja auch intensiv Englisch, dann ist daran überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil.
Die staatliche Zweisprachigkeit ist jedoch ein ausgesprochen negatives Phänomen, besonders, wenn sie so ausgeprägt ist wie bei uns, in einem postimperialen Raum, wo die gesamte Bevölkerung der Ukraine und Belarus‘ in der sowjetischen Zeit Russisch lernen musste, da andernfalls keine berufliche Karriere möglich war.
Diese Sprache verdrängte die lokalen Sprachen, so dass dieser Bilinguismus, wie sogar Wissenschaftler aus anderen Ländern bestätigen, ein Zustand des Ungleichgewichtes war, in dem ein ständiger Konflikt zwischen zwei Sprachen herrschte, da eine Sprache die andere Sprache aus deren heimischem Territorium verdrängen wollte. Ein solcher Konflikt wird nur durch den Sieg einer der beiden Sprachen gelöst, oder durch den Zerfall des Staates in zwei Teile, wie es beispielsweise in Belgien der Fall ist.
W.W.: Ich würde die regionale Betrachtung etwas eingrenzen. Wir sind in Mittelosteuropa, und für Mittelosteuropa ist staatliche Zweisprachigkeit etwas sehr Exotisches. Die einzige Ausnahme ist zum großen Leidwesen Lukaschenkas Belarus. Auch wenn Lukaschenka hundertmal sagt „Wir haben kein Sprachproblem, es wird uns untergeschoben“, so war er es doch selbst, der nach seinem durch populistische Losungen errungenen Wahlsieg 1994 die unausweichlichen Probleme beim wirtschaftlichen und politischen Aufbau eines jungen Staates gleichsetzte mit dem Sprachenproblem, als er nämlich sagte: All diese bewussten Menschen mit ihrer Sprache seien schuld an all diesen Problemen. Das Referendum begann er ausgerechnet mit der Sprachenfrage. Er verwirrte die Menschen und stellte eine die Identität betreffende Frage, was der damaligen Gesetzeslage nach bei einem Referendum eigentlich nicht zulässig war. Die Ergebnisse sollten nur beratenden Charakter haben, aber Lukaschenka entwickelte schon damals seine eigene Haltung zu Gesetz und Verfassung. Er betrachtete das Ergebnis als verbindlich und so wurden wir das einzige postsowjetische Land, und darüber hinaus auch das einzige mittelosteuropäische Land, mit zwei Staatssprachen – und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben
Bereits 2007 nahm die UNESCO die belarussische Sprache in ihren unheilvollen Atlas der gefährdeten Sprachen auf, da der Prozentsatz der Menschen, die in den Folgegenerationen die Sprache von ihren Eltern oder in der Schule lernen würden, auf ein gefährliches Niveau gesunken war. Noch stehen wir auf der ersten Stufe der Bedrohung, aber vielleicht hat sich das seit 2007 auch schon geändert und wir sind in diesem bedrohlichen UNESCO-Atlas eine Stufe höher geklettert.
Der Status der Staatssprache bedeutet, dass ein Staatsbeamter verpflichtet ist, diese Sprache zu verwenden, dass der Staat verpflichtet ist, die Rechte dieser Sprache zu schützen, dass ich, als Belarussischsprachiger, das Recht habe, mich auf Belarussisch an jede beliebige staatliche Institution zu wenden, und auf Belarussisch eine Antwort erhalte. Nicht mehr und nicht weniger.
In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben. In Kasachstan, wo der demokratische Charakter des politischen Systems zwar infrage steht, wird das Kasachische als Staatssprache beispielsweise für einige Zeit begleitet von Russisch als zweiter Amtssprache, das aber nicht Staatssprache ist. Allmählich, langsam, aber sicher, nähert man sich so einem Zustand, in dem die kasachische Sprache vollwertig und allgegenwärtig gebraucht wird.
Wenn Menschen, die sich für das Belarussische als einzige Staatssprache aussprechen, ein Hang zu Gewalt und Zwang nachgesagt wird, verfälscht das schlicht die Realität. Im Jahr 1990, als die Entscheidung getroffen wurde, Belarussisch zur alleinigen Staatssprache zu machen, beschloss man eine sehr sanfte Zeitschiene: fünf bis sechs Jahre, für das juristische Feld sogar zehn Jahre Zeit, um vollständig zur belarussischen Sprache überzugehen, unter Berücksichtigung der Ausbildung von Fachkräften, Entwicklung der Terminologie, Buchdruck, Übersetzung der Gesetzgebung. Hätte es 1994 nicht diesen populistischen Umsturz gegeben, hätten wir heute eine Situation ähnlich wie in der Ukraine. Diese Lehre sollten wir verinnerlichen und Fehler nicht wiederholen.
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Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie
Andere Ufer – so nannte der wohl bekannteste russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov (1899–1977) seinen autobiografischen Roman, der 1954 in New York erstmals erschien. Am Ende des Romans bricht der Autor nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris in Richtung USA auf, eben zu jenen anderen Ufern, die in der russischen literarischen Tradition nie nur geografisch gemeint waren, sondern auch metaphysisch: Das Überqueren des Ozeans stand symbolisch für das Überqueren des mythischen Totenflusses Styx.
Die Fotoausstellung Unerforschte Ufer, die 2023 in der armenischen Hauptstadt Jerewan gezeigt wurde, ist ein Blick aus dem Exil auf die nähere Vergangenheit. Sie konzentriert sich jedoch auf die Erkundung der Ufer, die nicht weit weg, sondern ganz nah liegen und die postsowjetischen Kulturen trennen. Eine Erkundung, die lange vernachlässigt wurde und deren Notwendigkeit mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich geworden ist.
Die beiden Kuratoren – der Armenier Wigen Galustjan und die Russin Victoria Muswik – haben Fotos russischer und armenischer Fotografen aus den vergangenen 15 Jahren ausgewählt. Sie analysieren und dokumentieren künstlerisch die Transformationsprozesse und den „postsowjetischen Zustand“. dekoder zeigt einige Bilder, die im Fotojournal von Republic.ru veröffentlicht wurden.
Piruza Khalapyan, „Die Mauer“, aus dem Projekt Unaddressed [fragmented] memory, 2020
„Wir wollten Fotografie als eine Methode der archäologischen Forschung nutzen. Mit dem Unterschied, dass wir statt physischer Denkmäler Bildwelten ausgraben“ – so formuliert die Kuratorin Victoria Muswik ihre Herangehensweise. Im Fokus dieser Forschung befinden sich Übergangsidentitäten und Räume, die in der postsowjetischen Wirklichkeit entstanden sind. Aber auch die Fragen nach Hierarchie und Macht, „Unausgewogenheit zwischen Zentrum und Peripherie“, „zerstörerischen Kräfte des neokolonialen Despotismus“ und „Gleichgültigkeit der Marktwirtschaft“. Diese Themen werden aus zwei Perspektiven betrachtet – aus der russischen und aus der armenischen.
Dabei stellen die Kuratoren in einem auf Republic.ru veröffentlichten Dialog fest, dass die russische und die armenische Fotografie unterschiedliche Wurzeln haben: Die Entwicklung der russischen Fotografie ist von imperialen und – später – revolutionären Imperativen nicht zu trennen. So spielten etwa die Fotos von Sergej Prokudin-Gorski im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der „Kartografie“ des Russischen Imperiums, in der Bestimmung von dessen Grenzen, dessen Zentrum und Randgebieten. Die armenische Fotografie dagegen war ursprünglich ein Mittel der interkulturellen Beziehungen zwischen Armenien und dem Nahen Osten, Europa und Russland.
Die modernen Fotografen erben diese Besonderheiten, weisen aber gleichzeitig viele weitere Unterschiede auf. Etwa im Hinblick auf die fotografische Analyse von ähnlichen Themen, wie zum Beispiel die (gemeinsame) sowjetische Vergangenheit. Ein wiederkehrendes Motiv vieler Fotografen ist der „postsowjetische Zustand“ – Ruinen und Symbole der vergangenen Epoche. Während russische Fotografen meistens versuchen, die Größe und Mehrschichtigkeit des untergegangenen sowjetischen Projekts an sich zu verstehen, sehen die armenischen Fotografen nicht nur das Sowjetische oder die Splitter des Sowjetischen, sondern auch das Persönliche und Lokale. Während die russischen Fotografen sich analytisch und verfremdet auf die Landschaften konzentrieren, treten in der armenischen Fotografie die Menschen, deren Beziehungen, Gefühle und persönliche Geschichten deutlicher hervor.
Wie es in der Fotografie oft der Fall ist, sagen die Bilder nicht nur etwas über die Objekte aus, die sie zeigen, sondern auch etwas über die Fotografen, die sie aufgenommen haben. Alle Fotos wurden vor dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.
Arman Harutyunyan, „Einige Minuten vor dem Angriff der Hunde“, 2020
Sergey Novikov und Max Sher, „Theater der Ordnungshüter: Glaube in den herrschenden Umständen“, aus dem Projekt Infrastructures, 2016–2019
Natalya Reznik, „Elena“, aus dem Projekt Virtual acquaintances, 2009
Anastasia Tsayder, Ohne Titel, aus dem Projekt Arcadia, 2016–2021
Alexander Gronsky, Ohne Titel, aus dem Projekt Pastoral, 2009–2012
Anahit Hayrapetyan, „Marina“, aus dem Projekt Princess to Slave, 2013
Ilja Rodin, Ohne Titel, aus dem Projekt „Das Haus“, 2018
Nazik Armenakyan, Ohne Titel, aus dem Projekt Red Black White, 2018 – bis heute
Alisa Gorshenina, Ohne Titel, aus dem Projekt Russian Alienated, 2017–2019
Alexey Vasilyev, „Zwillinge“, aus dem Projekt Sakhawood, 2019
Ani Gevorgyan, „Polizeiübungen“, 2014
Igor Tereschkow, „Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Familie Tewlins, Jugra“, aus dem Projekt Moos und Öl, 2016–2018
Tanja Tschaika, Ohne Titel, aus dem Projekt Der Weg nach Hause, 2019
Nelly Shishmanian, „Bewohner des Grenzdorfs Tsopi in Georgien feiern den armenischen Feiertag Wardawar“, aus dem Projekt „Vielleicht zusammen“, 2018
Quelle: republic.ru
Fotoauswahl: Victoria Muswik und Wigen Galustjan
Veröffentlicht am 25. April 2024
Wir danken Max Sher für seine Unterstützung in der Vorbereitung dieser Publikaton.Weitere Themen
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„Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“
Sasha Filipenko hat sich seit den Ereignissen im Jahr 2020 in Belarus auch in der internationalen Welt zu einer der wichtigsten belarussischen Stimmen entwickelt. Der Schriftsteller, der in Sankt Petersburg studierte und lange in Russland als Drehbuchautor, Fernsehmoderator und Autor arbeitete und lebte, äußert sich regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in seiner Heimat. Seine Literatur schreibt er auf Russisch. Nun sind zwei seiner Romane auf Belarussisch erschienen. Aus diesem Anlass hat sich Kazjaryna Kulakowa für das Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by mit Filipenko unterhalten – über die Sprachenfrage in Belarus, über das Leben im Exil und darüber, warum über Belarus in unseren Breiten so wenig bekannt ist.
Sasha Filipenko: Die Übersetzung meiner Bücher ins Belarussische ist natürlich ein sehr bedeutendes Ereignis für mich. Fast ein Jahr lang haben wir versucht, das möglich zu machen, es war nicht leicht. Die Leute sehen nur: Da ist ein neues Buch erschienen, aber damit es dazu kommen konnte, haben wir viel gearbeitet. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist.
Salidarnasc: Worin bestanden die Schwierigkeiten?
Einige belarussische Verleger sagten, das Buch sei schon auf Russisch erschienen, es sei sehr bekannt, und alle, die es lesen wollen, hätten es wohl schon gelesen, deshalb würde es sich schwer verkaufen lassen. Es war also schwierig, einen Verlag zu finden, weshalb ich dem Gutenberg Verlag sehr dankbar bin, dass es nun endlich so weit ist.
Für mich ist die Sprache eine Frage des Werkzeugkastens
Die Übersetzung ist, wie ich finde, sehr gut geworden. Ich schreibe nicht auf Belarussisch, mein Gefühl für die Sprache ist nicht so gut. Als die Übersetzerin und die Lektorin mit der Arbeit begannen, merkte ich, dass sie das Belarussische sehr viel besser beherrschen als ich. Für mich ist das einfach eine Frage des Werkzeugkastens.
Empfehlen Sie den Belarussen, die die Bücher bereits auf Russisch gelesen haben, sie noch einmal auf Belarussisch zu lesen?Natürlich, ich finde das sehr interessant. Man liest diese Geschichte nicht anders, aber wie mit einem anderen Blick. Für mich selbst war es sehr spannend.
Die Sprachenfrage ist unter den Belarussen gerade ein heißes Thema: Viele Belarussen gehen zum Belarussischen über, der zukünftige Status unserer Sprache wird diskutiert. Wie denken Sie darüber?
Ich sehe, dass die Mehrheit der Belarussen, die zum Belarussischen wechseln, im Ausland lebt. In Warschau und in Tbilissi. Ich weiß nicht, wie das der belarussischen Sprache im Inland helfen kann. Ich denke, es wäre gut, wenn die Belarussen in Belarus belarussisch sprechen würden. Zweitens scheint mir, dass viele Belarussen, die vorher nie belarussisch gesprochen haben, damit jetzt beginnen, weil das Russische toxisch geworden ist, die belarussische Sprache aber nicht – mit Belarussisch ist alles in Ordnung, damit ist man sozusagen ein guter Mensch und ein echter Belarusse.
Doch für mich selbst existiert die Sprachenfrage nicht. Mir ist es gleich, wer ihr seid und welche Sprache ihr sprecht. Entsprechend sind für mich Belarussen nicht besser oder schlechter, je nachdem, ob sie belarussisch oder russisch sprechen. Diese Entscheidung trifft jeder für sich.
Wir müssen zuallererst mit unseren Kindern belarussisch sprechen
Die Situation ist jetzt so, dass die belarussische Sprache mit jedem Tag weiter vernichtet wird, das ist uns klar. Wenn wir wollen, dass sie nicht zerstört wird, dann müssen wir zuallererst, das ist das Wichtigste, mit unseren Kindern belarussisch sprechen. Danach kann jede Person schon selbst entscheiden, welche Sprache sie verwenden möchte.
Sprechen Sie belarussisch mit Ihrem Sohn, oder lernt er vielleicht belarussisch?
Er lernt nirgends Belarussisch, aber er schaut sich belarussischsprachige Videos auf YouTube an. Natürlich unterhalten wir uns auf Belarussisch, und er hört auch, wie wir mit Freunden belarussisch sprechen. Ich spreche mit meinem Sohn englisch, französisch und russisch. Später, wenn er entscheidet, wo er leben möchte, wird er schon selbst wählen, welche Sprache er sprechen möchte.
Er weiß, dass er belarussische Wurzeln und auch diese Sprache hat. Aber jetzt ist es schwierig für ihn, sie zu lernen, auch Russisch lernt er nirgends, weil wir in der Schweiz leben.
Die belarussische Übersetzung Ihrer Bücher wird online auf der Verlagswebsite zugänglich sein. Das ist eine gute Neuigkeit für die Menschen in Belarus, denn sie können die Bücher ohne irgendwelche Hindernisse lesen. Halten Sie Kontakt zu Belarussen im Land und können Sie etwas über das Verhältnis der Menschen untereinander sagen?
Ich spreche mit vielen Leuten in Belarus, allein schon für die Arbeit, da ich auch als Journalist tätig bin und für die europäische Presse schreibe. Im Moment sind alle sehr still geworden. Aber das bedeutet keinesfalls, dass sie sich aufgegeben haben. Sicher, es gab eine Niederlage (im Jahr 2020, Anm. d. Red.), es ist uns nicht gelungen, unser Ziel zu erreichen.
Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange
Aber ich weiß, dass die Belarussen wieder protestieren werden, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in diesem Sinne ist nichts vorbei. Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange, und deshalb gehen auch täglich die Repressionen weiter. Diejenigen, die weiterhin an der Macht festhalten, spüren: Würden die Repressionen aufhören, wäre den Belarussen klar, dass eine Art Tauwetter beginnt, und dann könnten sie wieder auf die Straßen gehen.
Die größte Auszeichnung für mich war übrigens (darüber habe ich kürzlich in Berlin berichtet, wo ich zum ersten Mal Romanauszüge auf Belarussisch vor Publikum las), dass Menschen, die 2020 in Haft kamen, dort mein Buch Der ehemalige Sohn gelesen und es von Zelle zu Zelle weitergereicht haben. Ich weiß, dass dieses Buch den Menschen etwas bedeutete, dass es für sie wie eine Therapie hinter Gittern war.
In der französischen Zeitschrift Kometa haben Sie ein Art Reiseführer für das heutige Belarus geschrieben. Was überrascht Ausländer in Bezug auf Belarus am meisten, und was verwundert Sie in diesem Kontext wiederum?
Mich wundert, dass niemand irgendetwas über Belarus weiß. Aber mir scheint, daran tragen wir auch selbst Schuld. Es fällt sehr schwer zu beschreiben, was da gerade vor sich geht. Und den Menschen in Europa fällt es ebenso schwer, das zu glauben. In der Schweiz habe ich von Leuten gehört, die drei Tage bei uns waren: in Belarus gäbe es gute Restaurants, saubere Straßen und man könne nicht sagen, dass Lukaschenka ein Diktator sei. Die Menschen begreifen also nicht wirklich, was im Land passiert.
Vor einer Woche, bei einem Auftritt in Basel, begann eine Schweizerin plötzlich zu erzählen, dass sie sich für das belarussische Rentensystem interessiere und es für viel besser als das der Schweiz halte. Bei uns würde es den Rentnern besser gehen, als denen in der Schweiz, sie hätten zudem die Möglichkeit, ins Sanatorium zu fahren. Ich hörte mir das an und überlegte, ob diese Frau wohl einen Monat lang so leben könnte, wie ein belarussischer Rentner.
Eine weitere dringliche Frage ist die nach den politischen Gefangenen. Es gibt keine einheitliche Lösung, wie man die Menschen aus der Haft befreien könnte. Sie sind in dieser Frage nicht mehr nur Beobachter, denn vor Kurzem wurde Ihr Vater verhaftet. Was denken Sie über die Frage der politischen Häftlinge?
Ich sehe, dass Leute jetzt sagen, man müsse Zugeständnisse machen, die Sanktionen beenden, um die politischen Gefangenen freizubekommen. Als würden die Mächtigen nach der Freilassung nicht einfach andere festnehmen. Ich denke, dass noch am selben Tag neue Leute hinter Gitter kämen, denn das Regime hätte die Bestätigung: ja, es funktioniert.
Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt
Meine Eltern sind aktuell Geiseln in Minsk. Aber dennoch weiß ich, dass es nur eine einzige Option gibt: Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt. Den Machthabern muss klar sein, dass es keinerlei Verhandlungen geben wird: Die Leute müssen einfach nur freigelassen werden. Jemand hat gesagt, dass selbst im Krieg beide Seiten Gefangene austauschen. Aber wir haben keine Kriegsgefangenen hier, in Warschau gibt es keinen Asarjonak oder jemanden von deren Seite. Und die Abänderung der Sanktionen im Austausch gegen Gefangene – das ist auch keine Option.
Wir können uns vorstellen, dass Kalesnikawa und Babaryka freigelassen werden, und jeder Belarusse wünscht sich, dass das geschieht. Aber es gibt dabei einen Preis, den es zu zahlen gilt, wenn am nächsten Tag ein anderer Mensch dafür verhaftet wird. Wie kann man das nicht berücksichtigen? Und warum heißt es, man habe kein Herz und kein Mitgefühl, wenn man die Idee der Zugeständnisse nicht mitträgt? Im Gegenteil, man hat sehr wohl Herz und Mitgefühl, nur muss man eben Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft.
Sie haben viele Male gesagt, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das belarussische Thema in Vergessenheit gerät. Ändert sich das in letzter Zeit?
Ja, jetzt gerät auch das Thema Ukraine in Vergessenheit. Es gab die Ereignisse in Israel und andere. Ich glaube, dass die Ukrainer sich jetzt allmählich so fühlen, wie wir uns gefühlt haben. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die über die Vorwahlkampagne in den USA berichten, und bei all den Kandidaten und den Kommunalwahlen kommt die Ukraine auf dem zehnten oder elften Platz. Natürlich werden die Nachbarländer die Ukraine weiter stark unterstützen. Aber für die Menschen, die in Portugal, Spanien oder Italien leben … Mein Sohn kommt aus seiner Schweizer Schule und erzählt, dass die Leute in der Schweiz nicht wissen, dass in der Ukraine Krieg ist.
Wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien
Mir scheint, wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien: Komm, lass uns die zweite Staffel schauen. Aber dann ist es nicht mehr spannend, und los, wir schauen einfach eine andere Serie. Was wir also tun können, ist, weiterhin darüber zu berichten, dass sich nichts geändert hat.
Sie erzählen viel über Ihre Arbeit als Journalist. Aber schreiben Sie gerade auch Bücher?
Ja, ich habe begonnen, an einem neuen Buch zu arbeiten.
Vor etwas mehr als einem Jahr sagten Sie, dass Sie keine Bücher schreiben können – was hat sich geändert? Und worum geht es in dem neuen Buch, wenn man fragen darf?
Das ist noch geheim. Einige Zeit lang war ich erschöpft und konnte nicht schreiben. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, ein neues Buch zu beginnen. Es ist eine schwierige Frage, ob es gerade überhaupt einen Sinn hat, Bücher zu schreiben, denn du begreifst, dass Bücher überhaupt nichts bewirken. Aber andererseits beeinflussen sie dich selbst und viele Leser, oder sie werden zu Theaterstücken. Wenn ich mir also anschaue, was gerade auf unserer Welt passiert, dann wird mir klar, dass nur darin Sinn steckt – Kultur, Literatur, Theater.
In Berlin gab es eine Inszenierung auf der Grundlage von Kremulator. Das hat sehr stark auf mich gewirkt, nicht in dem Sinne, dass ich stolz bin, weil mein Buch inszeniert wurde, sondern weil der Regisseur Maxim Dsidsenka und alle Mitwirkenden aus eigener Kraft, ohne Unterstützung eines Theaters oder so, ein großartiges Stück auf die Beine gestellt haben.
Kunst zu schaffen ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben
Für mich ist es sehr wichtig und wesentlich, dass Menschen sich der Kunst widmen – trotz allem. Dann beginne ich auch zu denken, dass ich schreiben muss, und schreibe. Deshalb finde ich, dass es gerade jetzt sehr wichtig ist, Kunst zu schaffen – es ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben.
In Ihrem Roman Rückkehr nach Ostrog haben Sie den großangelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt. Was denken Sie heute über die Zukunft: Stehen wir an der Schwelle zu einer großen Katastrophe oder kommen doch positive Veränderungen auf uns zu?
Darf ich die Frage nicht beantworten? Alles, was ich sage, wird nachher wahr. Noch vor Ostrog habe ich 2015/16 in einem Interview gesagt, dass ein großer Krieg kommen wird. Was ich jetzt sehe und fühle … Ich habe keine guten Prognosen. Daher lassen Sie mich bitte diese Frage nicht beantworten.
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Zuflucht Theater
Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft.
Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.
Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte.
Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern.
Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT).
Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen
„Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.
Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich.
Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“
Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen.
Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande.
Du und ich, wir sind schuld,
der Freiheit unwürdige Söhne,
mit Watte im Kopf,
die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs.Das ist von Borsykin.
An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.
Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.
Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören
„Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.
Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“
Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“
Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.
Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014
Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.
Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen.
Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.
Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.
„Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“
In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.
Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.
Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.
„Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“
Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzja so aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.
Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.
Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.
„Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“
So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.
Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.
Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.
Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.
„Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“
Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.
„Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘
Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne
Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“
Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet.
Weitere Themen
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Die Razzia als ultimative Performance
Mitte März haben Ermittler von Polizei und Geheimdienst in ganz Russland Wohnungen von Künstlern und Künstlerinnen durchsucht. Sie kamen im Morgengrauen, brachen Türen auf und beschlagnahmten Computer und Handys. Die Durchsuchungswelle erfasste Moskau, Sankt Petersburg, Nishni Nowgorod, Samara, Jekaterinburg, Perm, Uljanowsk. Viktoria Artjomjewa beleuchtet für die Novaya Gazeta, was das Besondere an diesen Künstlern ist und warum ihr Schaffen der Staatsmacht ein Dorn im Auge ist.
Die Künstlerin Katrin Nenaschewa 2020 bei ihrer Aktion „Streite mit mir!“. Während der Pandemie sollte die Performance verborgene Konflikte in die Öffentlichkeit tragen und damit auf häusliche Gewalt aufmerksam machen / Foto © Imago, Itar-Tass
Vielen Künstlern, deren Wohnungen durchsucht wurden, blieb es ein Rätsel, warum gerade sie ins Visier der Behörden geraten waren. Eine zentrale Vermutung ist, dass es mit den Ermittlungen gegen Pjotr Wersilow zu tun hat, der als „ausländischer Agent” eingestuft ist. Wersilow wurde in Abwesenheit zu 8,5 Jahren Strafkolonie verurteilt, weil er „Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte“ verbreitet haben soll. Anlass waren seine Postings in sozialen Netzwerken und eine Aussage in einem Interview, dass er die ukrainischen Streitkräfte unterstütze. Allerdings kennen viele Künstler, bei denen der FSB angeklopft hat, Wersilow gar nicht persönlich. Es kann natürlich sein, dass freischaffende zeitgenössische Künstler in den Augen der Geheimdienste wie eine einzige große mafiöse Gruppe aussehen. Trotzdem erscheint hier eine andere Version wahrscheinlicher – nämlich, dass es sich um eine Einschüchterungsmaßnahme vor den „Wahlen“ handelte. Zumal es für keines der Opfer der erste Kontakt mit den Men in Black war.
Katrin Nenaschewa zum Beispiel, die als eine der Ersten durchsucht wurde, hat bereits zwei Wochen wegen Organisation eines friedlichen Abendessens gesessen — das war eine Aktion kurz nach dem 24. Februar 2022, und der erste Versuch, eine Selbsthilfegruppe für Menschen zu gründen, die noch in Russland sind. Als Nenaschewa freikam, nahm das Projekt Schwung auf und wurde um die Initiative Ja ostajus! (dt. Ich bleibe hier!) erweitert. Sie bringt Menschen zusammen, die aus diversen Gründen nicht emigrieren können oder wollen, aber gegen Putins Regime sind. Sie treffen sich, veranstalten Performances, inszenieren Theaterstücke, organisieren Exkursionen und andere Aktivitäten. Außerdem organisierte Nenaschewa im Herbst 2023 in Sankt Petersburg das Projekt KOTelnja, in dem regelmäßig Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche stattfinden: Selbsthilfegruppen sowie kreative und informative Workshops zu mentaler Gesundheit und Kinderrechten. Im Rahmen dieses Projekts gab es auch das Programm Prodljonka (dt. Hort) für Kinder ukrainischer Flüchtlinge.
Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo
Noch schlimmer hat es den Street-Artisten Philippenzo erwischt. Letztes Jahr musste er das Land verlassen, weil er wegen politisch motiviertem Vandalismus angeklagt wurde. Die Anklage hatte mit seinem Graffiti Isrossilowanije (eine Kombination der Wörter Vergewaltigung und Russland) zu tun. Er hatte es vor dem Nationalfeiertag auf eine Mauer unter der Elektrosawodksi-Brücke in Moskau gesprayt und kommentiert: „Was dieses Land heute treibt, kann man nicht anders nennen.“ Schon vorher hatte Philippenzo Konflikte mit den Behörden: 2021 nahm er an einer Aktion zur Unterstützung des Mediums Meduza teil (in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft), und im Juli 2023 wurde er wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei festgenommen. Doch erst die Anklage wegen Vandalismus veranlasste ihn zur Ausreise. Allerdings war es, wie sich am 12. März zeigte, mit dieser Ausreise nicht getan: Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo.
Pussy-Riot-Aktivistinnen im Visier
Im Zusammenhang mit Wersilow kamen die Ermittler auch auf Pussy Riot zurück (zwei der Mitglieder sind als „ausländische Agentinnen“ eingestuft), deren Manager und Mitglied er war. Abgesehen vom Punk-Gebet, das am meisten Aufsehen erregte, ist die Band für viele Protestaktionen gegen Wahlfälschungen und Genderdiskriminierung bekannt. Wobei Pussy Riot keine feste Besetzung und Hierarchie hat, so dass jemand, der mitmacht, nicht zwangsläufig alle früheren Bandmitglieder kennen muss. Mehr noch: Als Wersilow, Marija Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa 2012 bei Pussy Riot aktiv waren, stritten sie sogar darüber, wer das Recht habe, im Namen der Band zu sprechen. Die Frauen saßen damals im Gefängnis und beschwerten sich, dass Wersilow hinter ihrem Rücken ohne jede Befugnis PR für Pussy Riot betreibe). Bei so undurchsichtigen Beziehungen innerhalb der Gruppe wirkt es seltsam, dass die Silowiki so viele Jahre später Wersilow auf diesem Weg belangen wollen. Jedenfalls klingelten sie am 12. März bei den Pussy-Riot-Aktivistinnen Olga Kuratschjowa und Olga Pachtussowa. Ihre letzte gemeinsame Aktion mit Wersilow war 2018 die Performance Der Polizist kommt ins Spiel: Als Polizisten verkleidet rannten sie beim Finale der Fußball-WM über das Spielfeld, um damit gegen politische Verfolgung zu protestieren.
Anti-Kriegs-Botschaften in Sankt Petersburg
Auch Sankt Petersburger Künstler blieben nicht verschont: Die Ermittler suchten Kristina Bubenzowa vom Projekt Partija mjortwych (dt. Partei der Toten) und Sascha Bort von der Gruppe Jaw (dt. Wachsein) heim. Die Partija mjortwych ist ein Projekt mit langer, wirrer Geschichte, die bis zu Eduard Limonow zurückreicht. Die zentrale Idee ist, die allgemeine Aufmerksamkeit auf „die größte soziale Gruppe“ zu lenken, nämlich die Toten, die, wie wir wissen, kein Recht und keine Möglichkeit zur Äußerung haben, in deren Namen die Regierung jedoch zahlreiche Entscheidungen trifft – von Veranstaltungen wie dem Unsterblichen Regiment bis zur Unterstützung der militärischen Spezialoperation. Ab dem 24. Februar 2022 konzentrierte sich die Partei auf Anti-Kriegs-Botschaften, und im September wurde sie dann wegen Verletzung religiöser Gefühle angeklagt: Nach dem orthodoxen Osterfest hatten sie ein Foto gepostet, auf dem einer von ihnen in schwarzer Kutte mit entsprechenden Plakaten auf dem Friedhof stand. Letzten Dienstag war das den Silowiki just wieder eingefallen, und sie nahmen es zum Anlass, gleich bei der Partei vorbeizuschauen. Natürlich auch, um nach Wersilow zu fragen.
Die Sankt Petersburger Künstlergruppe Jaw ist für politische und sozialkritische Streetart bekannt. 2021 entstand zum Beispiel It’s ok: ein Graffiti im Innenhof eines Hauses auf der Wassiljewski-Insel, das einen Mann mit einer Zeitung im Lehnsessel darstellt, umgeben von Artikeln aus Strafgesetz und Verwaltungskodex. Ein Regenbogen steht für LGBT-Propaganda (in Russland als extremistisch verboten), die Zeitung für die Verbreitung extremistischer Inhalte und eine Mangafigur auf einem Plakat für Suizidalität. Doch der Mann sitzt ruhig da und ignoriert die Verbote. Das Graffiti bezog sich auf Cancel Culture im Sinne einer generellen Absage der Kultur als solcher.
Prophylaktische Hausdurchsuchungen vor der Wahl
Kurz darauf machte der FSB auch bei Najila Allachwerdijewa, der Direktorin von PERMM, dem größten Provinz-Museum für zeitgenössische Kunst, eine Hausdurchsuchung. Die Geschichte des PERMM in Bezug auf Zensur ist überhaupt symptomatisch: Gründer und langjähriger Leiter des Museums war Marat Gelman („ausländischer Agent”), der 2014 aus Gründen der Zensur entlassen wurde. Die Kunstgalerie war Teil der so genannten Permer Kulturrevolution: Der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow verfolgte konsequent einen Plan, der Perm zur Kulturhauptstadt zuerst von Russland und dann von ganz Europa machen sollte. Und Gelman hatte entschieden hier ein Pendant zum Guggenheim-Museum in Bilbao zu schaffen.
Lange Zeit war das Permer Museum ein Beispiel für das, was gelingen kann, wenn ein talentierter Kulturträger im Tandem mit einem talentierten Gouverneur agiert: Von hier gingen Initiativen wie die Ausstellung Russkoje bednoje (dt. etwa Russisches Armes) aus, die den Anstoß zur „Revolution“ gab; Festivals wie Shiwaja Perm (dt. Lebendiges Perm) und Belyje notschi (dt. Weiße Nächte) sowie Partnerschaften mit Sankt Petersburg und Kooperationen mit mehreren Regionen der Peripherie und schließlich die Einleitung eines kulturellen Dialogs der russischen Provinz mit Europa; und Ausstellungen in Mailand, Venedig, Paris, aber auch Präsentationen westlicher Künstler in Perm und die Erweiterung der Sammlung vor Ort.
2014 wurde das PERMM geschlossen und die Permer „Revolution“ eingestellt. Der Gouverneur wurde abgelöst, und seinem Nachfolger missfiel eine solche Verwendung des Regionalbudgets.
Najila Allachwerdijewa, die nach mehreren Wechseln schließlich Direktorin des Museums wurde, musste einigen Aufwand treiben, um es am Leben zu erhalten. Das PERMM ist heute das einzige Provinzmuseum für moderne Kunst – und das Traurige ist, dass es kein zweites gibt und dass es wirklich provinziell ist. Trotzdem erreichten die prophylaktischen Hausdurchsuchungen vor den Wahlen auch Allachwerdijewa: Ihre Wohnung wurde am 13. März durchsucht.
Wozu das ganze?
In all diesen Durchsuchungen lässt sich kaum eine Logik erkennen: Wenn es um Wersilow geht, dann stellt sich die Frage, wieso man Leute durchsucht, die er gar nicht kennt. Wenn aber das Ziel ist, Künstler einzuschüchtern, warum ist dann zum Beispiel Kristina Gorlanowa betroffen, die ehemalige Leiterin des Uraler Puschkin-Museums? Sucht man trotzdem wenigstens irgendeine (wenn auch noch so spekulative) Logik, so könnte sie so aussehen: Zeitgenössisiche Kunst ist in all ihren Formen per definitionem die schnellste und schärfste Reaktion auf alles, was rundherum passiert. Streetart, Performance, Ausstellungen und Festivals, die aus den hermetischen Museen auf die Straße, unter die Leute, ins Publikum drängen, sind Protest in seiner reinsten Form.
Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal
Am schlimmsten ist für das heutige Regime, dass die künstlerische Botschaft dieses Protests oft unverständlich, unlogisch und unerklärlich ist. Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal.
Daher ist die Performance, die die Staatsmacht letzte Woche in ganz Russland aufführte, natürlich weder die erste noch die letzte ihrer Art, und die einzig mögliche Logik dahinter ist, dass jeder freie, informelle Ausdruck verhindert werden soll. Weil es im heutigen Russland nur eine Performance geben darf – die Festnahme, und nur eine Kultur – die Cancel Culture.
Weitere Themen
Cancel Culture im Namen des „Z“
Kriegspropaganda vs. Guerillakrieg
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Interview: Deutsche Alternativmedien und russische Propaganda
Die Landschaft der sogenannten Alternativmedien in Deutschland floriert. Oft bedienen sie Narrative, die aus dem Kreml stammen: Der Westen habe Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, die NATO betreibe in der Ukraine Geheimlabore zur Herstellung von Biowaffen … dekoder hat mit der Kommunikationswissenschaftlerin Arista Beseler gesprochen. Sie beschäftigt sich damit, wie Alternativmedien funktionieren und inwieweit Russland darin involviert ist.
In Kooperation mit dem Magazin Compact veranstaltet die AfD im Feburar 2023 in München eine Demonstration gegen die ihrer Meinung nach putinfeindliche deutsche Politik / Foto © Sachelle Babbar/IMAGO/ZUMA Wire
dekoder Was sind alternative Medien?
Arista Beseler: Ich richte mich da nach der derzeitigen Standarddefinition von Holt, Figenschou und Frischlich: Alternative Medien sind solche, die sich klar vom Mainstream abgrenzen. Das kann über Meinungen zu großen Themen passieren, aber auch über formale Aspekte wie Organisationsstruktur, Finanzierung oder Hierarchien. Im deutschsprachigen Raum gehören dazu zum Beispiel die NachDenkSeiten, Compact, reitschuster.de, Tichys Einblick oder der Anti-Spiegel.
In Meinungsumfragen geben 53 Millionen Deutsche an, regelmäßig Nachrichten zu konsumieren. Wie groß ist das Publikum der alternativen Medien?
Das ist schwer zu sagen, weil die Anzahl der Seitenaufrufe auf den alternativen Plattformen jeden Monat extrem variiert. Es kann sein, dass ein Medium einen Hit-Artikel veröffentlicht, der viel geteilt wird und in der ganzen Alternativ-Landschaft zirkuliert. Dann gibt es in dem Monat eine Million Leser:innen, aber im nächsten kann es wieder auf wenige Zehntausende absacken. Im Unterschied zu den etablierten Medien akquirieren und informieren die Alternativen ihre Leser:innen auch viel über soziale Medien, manche haben nicht einmal eine Website, die wenigsten verfügen über Printausgaben. Sie werden eher ergänzend zu traditionellen Blättern gelesen, insbesondere zu Regionalzeitungen, nicht stattdessen. Dabei hilft auch, dass die meisten alternativen Plattformen keine Paywall haben. Sie finanzieren sich über Spenden oder Online-Shops.
In meiner Untersuchung zu der monatlichen Reichweite der Websites habe ich mich auf die Daten von Similarweb gestützt, bei Sozialen Netzwerken bietet die Follower- und Abonnentenzahl eine Orientierung hinsichtlich der Reichweite.Daten vom 14. Juni 2022. Monatliche Reichweite der Websites laut Similarweb, Follower- und Abonnentenzahl auf Sozialen Netzwerken. Zusammenstellung: Beseler, Toepfl
Und was zeichnet diese Plattformen aus?
Oft scheint es sich dabei um die Privatprojekte einer Person zu handeln, dazu gibt es dann regelmäßige Gastbeiträge. In vielen Fällen – wie bei reitschuster.de oder bei Neues aus Russland von Alina Lipp – erwecken diese Seiten den Eindruck eines persönlichen Blogs oder Tagebuchs mit Meinungsbeiträgen. Das macht sie natürlich auch sehr nahbar, obwohl fraglich ist, ob hier wirklich der ganze Aufwand alleine geschultert wird. Die Aufnahmen von Lipp beispielsweise sind oft zu gut, als dass sie ohne professionelles Team entstanden sein könnten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die Betreiber:innen sich zu Wahrheitssucher:innen stilisieren, deren Meinung nicht vom Staat kontrolliert wird.
Viele der Portale äußern sich sehr putinfreundlich und rechtfertigen den russischen Krieg gegen die Ukraine. Gibt es denn direkte Verbindungen nach Russland?
Es gibt drei Arten von Verbindungen: organisatorisch, medial und persönlich. Die meisten davon sind medial, folgen also aus gegenseitigen Verlinkungen, Werbung und Gastbeiträgen und -auftritten. Die NachDenkSeiten etwa haben unter anderem einen Beitrag dazu verfasst, wie man mittels VPN die Sperre von RT Deutsch umgehen kann. Diese Art der sehr öffentlichen Unterstützung trifft auf 9 der 20 von mir analysierten Medien zu. Danach folgen organisatorische Strukturen, also Förderung eines Portals aus kremlnahen Quellen. Dazu zählt laut Medienberichten zum Beispiel Compact, das mit dem russischen Propagandaorgan Institute of Democracy and Cooperation kooperiert. Zudem tritt Compacts Chefredakteur Jürgen Elsässer häufig im russischen Fernsehen auf und hat auch schon mit RT zusammengearbeitet. Auch Ken Jebsen (bürgerlicher Name Kayvan Soufi-Siavash), der die Plattform Apolut betreibt, kooperierte etwa laut NDR-Podcast Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen? mit dem russischen Propagandaorgan RT Deutsch. Ein anderes Beispiel ist Florian Warweg, der Ex-Online Chefredakteur von RT Deutsch, der nun Redakteur bei den NachDenkSeiten ist. Dieses Medium bezeichnen einige als das Hausblatt von Sahra Wagenknecht, der wiederum ebenfalls nicht selten vorgeworfen wird, Kreml-Narrative zu bedienen. Insgesamt sind auch die persönlichen Verquickungen zum Kreml in deutschsprachigen Alternativmedien sehr eng.
Unterstützen die Alternativmedien uneingeschränkt alle russischen Positionen, sind sie also sozusagen ein erweiterter Propaganda-Arm, oder gibt es da auch Abweichungen?
Insgesamt ist der Support sehr abhängig vom jeweiligen Thema. Beim Thema Gendern etwa springen die Alternativmedien gerne auf den Zug der „traditionellen Werte“ auf. Hier gibt es große inhaltliche Schnittmengen zwischen der Kreml-Propaganda und der Ausrichtung von Alternativmedien. Der Kreml setzt auf eine Ideologie der Ablehnung von progressiven Werten: Das „verfaulte Gayropa“ sei scheinheilig und verlogen und so weiter. Ähnliches lässt sich auch in den Alternativmedien finden mit ihrer Kritik am Umweltkonsens, Gleichstellung, oder mit ihren Abgesängen auf den Westen. Überschneidungen gibt es auch zwischen Anti-Establishment-Themen, Antiamerikanismus und Verschwörungserzählungen. In der Frage, ob man die Ukraine im Krieg unterstützen soll, gehen die Meinungen jedoch stark auseinander. Boris Reitschuster, die Junge Freiheit und Tichys Einblick verurteilen den Krieg und stehen auf der Seite der Ukraine. Reitschuster ist außerdem ein vehementer Kritiker von Putin und seinem System. Er hat sich damit bei seinen Leser:innen offenbar unbeliebt gemacht, seine Abonnent:innenzahlen auf Telegram sind laut Correctiv zurückgegangen, nachdem er den russischen Angriffskrieg verurteilt hat. Vielleicht hängt er sich auch deswegen immer noch an Corona auf, um das Thema Ukraine zu umschiffen.
Warum kooperieren die Alternativmedien mit dem Kreml? Geht es da um ideologische Gemeinsamkeiten oder eher ums Geschäft?
Es sind vermutlich eher pragmatische Entscheidungen, mit dem Kreml zu kooperieren. Da geht es dann vor allem ums Finanzielle, gar nicht unbedingt darum, dass man so ein großer Russlandfreund ist. Die Themen kommen gut beim Publikum an, generieren Klicks. Untereinander sind die Alternativmedien sehr gut vernetzt und beliefern sich gegenseitig mit Materialien. Sie bilden einen eigenen kleinen Kosmos. Im Gegenzug profitiert der Kreml davon, dass Compact und Co nicht direkt mit Russland assoziiert werden. Das gibt seiner Propaganda hier in Deutschland mehr Glaubwürdigkeit.
Die Kreml-Nähe der Alternativmedien ist also mehr Opportunismus als Ideologie. Trifft das auch auf die Leser zu?
Es ist denkbar, dass beides zutrifft: Die Leser:innen der Alternativmedien denken vielleicht: Die machen alles falsch da oben, ich hätte lieber einen starken Anführer wie Putin, der würde uns niemals ein Tempolimit auferlegen oder uns zum Gendern zwingen. Wer eher traditionelle oder konservative Werte vertritt, bekommt den Eindruck, dass liberale Errungenschaften wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder der Ausbau des Sozialstaats Deutschland schlechter machen. Solche Narrative werden zwar vor allem von rechtsorientierten Personen getragen. Aber auch Leute, die sich auf dem ganz linken Spektrum verorten, können Russland unterstützen – siehe Sahra Wagenknecht. Da greift dann nicht selten das Prinzip „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Wer also kritisch gegenüber den USA oder Joe Biden eingestellt ist, findet in Russland eine Art Zweck-Verbündeten. In den traditionellen Medien finden diese Menschen ihre „kritischen“ Ansichten nicht wieder, also greifen sie zu vermeintlichen Alternativen. Dazu kommt nicht selten wohl auch das Gefühl der Müdigkeit, zu bestimmten Themen immer wieder dasselbe zu lesen.
Der rechte und linke Rand scheinen in ihrem Russland-Bild Gemeinsamkeiten zu haben. Stimmt hier also die Hufeisentheorie?
Die Personen, die solche Plattformen betreiben, wissen, dass sie an beiden Enden des Spektrums andocken können. Ken Jebsen zum Beispiel – als Aktivist der sogenannten Querfront – verbreitet sowohl sehr linke als auch sehr rechte Narrative. 2017 sollte er einen Literaturpreis erhalten, da waren auch viele Politiker:innen der Linken eingeladen – auch wenn die Partei dem Ereignis sehr gespalten gegenüberstand und die Preisverleihung letztendlich platzte. Gleichzeitig hetzt Jebsen gegen E-Autos und behauptet, die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus seien „von oben inszeniert“. Auch bei Wagenknecht finden sich sowohl linke als auch rechte Standpunkte.
Wagenknecht kommt offenbar auch in Teilen der gesellschaftlichen Mitte an. Stoßen die Alternativmedien in der Mitte auch auf Resonanz?
Ja, absolut. Da sind Otto Normalverbraucher:innen, die sich selbst oft politisch mittig verorten. Sie sind mit ihrem Alltag aktuell einfach unzufrieden: Alles wird teurer, komplizierter, man fühlt sich nicht mehr wahrgenommen oder einem gefällt nicht, in welche Richtung die Politik geht. Diese Unzufriedenheit können die Propagandamedien aufgreifen, um damit Hass zu schüren. Diese Mitte ist aber kein stabiler Ort: Ständig müssen neue Probleme mit den alten Ressentiments bedient werden, um die Dynamik am Laufen zu halten. Diese These, dass sich hauptsächlich Ungebildete von Verschwörungsrhetorik beeinflussen lassen, halte ich für falsch. Auch sehr gebildete Personen sind Teil dieses Publikums. In der Querdenkerszene, bei der AfD und so weiter sind auch Personen mit Doktortitel und sogar Professor:innen. Meine aktuelle Hypothese ist, dass die vielleicht denken, dass sie über den Dingen stehen und deshalb die Verschwörung als einzige „durchschauen“ können.
Was könnte die Attraktivität der Plattformen senken?
Aufklärungsarbeit ist das Wichtigste. Prebunking ist eines der erfolgreichsten Mittel, um Desinformation zu entschärfen. Das funktioniert so, dass man im Vorhinein bestimmte Propaganda-Narrative erklärt und sagt, warum das Propaganda ist und was diese Narrative auslösen sollen. Wenn die Personen dann „in freier Wildbahn“ diesen Narrativen ausgesetzt sind, sollen sie dazu in der Lage sein, diese zu erkennen und zu wissen: Aha, der Seite kann ich nicht vertrauen – zum Beispiel, weil Russland sie finanziert. Mehr Transparenz wäre auch wichtig. Man muss sehr lange buddeln, bis man versteht, wie diese ganze Landschaft von Alternativmedien überhaupt funktioniert, wie groß der russische Einfluss ist. Das gilt vor allem für die extreme Minderheit, die nur noch Alternativmedien konsumiert und gar nichts mehr aus den etablierten Massenmedien mitbekommt. Es wäre wichtig, diese Personen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Da hilft es nicht, zu sagen: „Diese Leute mit ihren Aluhüten sind verloren, da kann man nichts mehr machen“. Diese Menschen haben ernsthafte Ängste vor der Zukunft, Existenzsorgen, und sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie flüchten sich in diese Propaganda, weil sie ihnen Trost bietet.
Interview: Alexandra Heidsiek
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