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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.

    Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht. 

    Wer in den vergangenen Wochen in Russland des Toten Alexej Nawalny gedenken wollte, wie hier in Sankt Petersburg, musste mit Festnahmen rechnen. Keine Kirche war bereit, das orthodoxe Totengedenken für den Oppositionsführer abzuhalten / Foto © IMAGO / SOPA Images

    dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden? 

    Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.

    Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das? 

    Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten. 

    Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?

    Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen. 

    Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet? 

    Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird. 

    Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen? 

    Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.

    … So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde? 

    Ja genau. 

    Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten. 

    Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können. 

    Wer hat den Aufruf gestartet?

    Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. 

    In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort? 

    Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.

    Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny? 

    Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.

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  • „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    Auch über drei Jahre nach den Protesten von 2020 und deren Niederschlagung durch die Staatsmacht vergeht in Belarus kaum ein Tag ohne neue Festnahmen. Wie aber ist die Stimmung im Land? Wie lebt man unter einem hochrepressiven System? Ist Opposition überhaupt noch in irgendeiner Form möglich? Artikel und Reportagen, die die Atmosphäre im Land selbst beschreiben, gibt es eigentlich nicht mehr, da die Medien ins Exil gedrängt und in vielen Fällen zu „extremistischen Organisationen“ erklärt wurden und die Menschen Angst haben, Interviews zu geben. 

    Der belarussische Ableger von Mediazona hat mit drei Belarussen gesprochen, die in Belarus geblieben sind, und die Auskunft geben – über ihre Ängste, über gesellschaftlichen Widerstand und über den Blick von außen auf das, was in Belarus passiert.
     

    Die Namen der Personen im Text wurden geändert, ihre Geschichten anonymisiert. Alle drei waren vor den Repressionen Leiter von Veranstaltungsorten oder Kulturorganisationen.

    „Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.“
    Igor, Unternehmer im Kulturbereich:

    Ich habe mich vor einiger Zeit dafür entschieden, in Belarus zu bleiben. Weil ich im Kulturbereich arbeite, weiß ich, dass ich im Ausland für die belarussische Kultur nichts bewirken könnte. Im Exil kann man kulturelle Errungenschaften nur bewahren. Wie Ausstellungsstücke im Museum, mehr nicht. Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.

    Derzeit ist es schwer, in Belarus Geld zu verdienen: die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt, manche Waren sind verschwunden oder sehr teuer geworden. Aber ein vollständiger Zusammenbruch droht nicht. Und wo hat man es schon leicht und schön? 

    Die Behauptung, Belarus sei ein Konzentrationslager, ist Unsinn. Sogar das gegenwärtige Belarus ist von so einer Klassifizierung noch sehr weit entfernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation je vollkommen anders gewesen wäre. Schon immer konnten Initiativen von unten wegen unzähliger Widrigkeiten nur mit Ach und Krach umgesetzt werden. Deswegen liegt den Belarussen Einfallsreichtum aber auch im Blut. 

    Ich brauchte einige Zeit, um mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen, bis ich für meine Arbeit eine neue Routine fand. Wir versuchen etwas, wir kämpfen, wo wir können, wir erringen kleine Erfolge, freuen uns und machen den nächsten Schritt. Man kann eine Wiese noch so dick asphaltieren, das Gras kommt trotzdem durch. Erfreulich aber ist, dass vielen mittlerweile klargeworden ist, dass asphaltierte Wiesen nicht normal sind. 

    Sicher, es gibt heute weniger Menschen, die aktiv sind und denen nicht alles egal ist; viele haben das Land verlassen. Aber vieles ändert sich gerade, es bilden sich neue Kontakte, neue Formen der Vernetzung und der gegenseitigen Unterstützung. Und das hat zugenommen, denn es betrifft fast alle. Diese neuen kleinen Welten sind weiterentwickelte, verbesserte Versionen der alten. Deswegen stehen die Dinge bei uns gar nicht so schlecht, wie es scheint. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene

    Seit 2020 sind drei Jahre vergangen. Die Jugendlichen von damals haben mittlerweile die Schule abgeschlossen und studieren. Ich sehe neue Menschen, die sich für ihre belarussische Identität interessieren. Wegen der Umstände passiert das heutzutage im Untergrund, der Prozess ist von außen nicht sichtbar. Doch er findet statt, er ist nicht verschwunden, hat sogar Fahrt aufgenommen. Allerdings haben die Menschen Angst, ihre Überzeugungen und Interessen im öffentlichen Raum zu zeigen – zurecht. Deswegen entsteht der Eindruck, alles wäre erstickt, verstummt und alle wären gleichgültig geworden. Aber der Schein trügt. 

    Es sieht nicht so aus, als würde sich jemand außerhalb von Belarus groß für die realen Zustände im Land interessieren. Man könnte sogar meinen, den Belarussen im Exil gefalle die Vorstellung von einem Belarus als Konzentrationslager, wo alles Lebendige vernichtet, verbrannt und unter einer dicken Schicht Asphalt verborgen ist. Aber so brutal die Ereignisse von 2020 auch waren, finde ich trotzdem, dass sie gut waren für die Entstehung einer belarussischen Identität und für Belarus. Diese ganze Bewegung für ein neues Belarus im Exil hingegen erscheint mir ein Fischen im trüben Sumpfwasser zu sein. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene. Die beiden haben sehr wenig Berührungspunkte. Ich würde mir weniger Heuchelei, weniger Dramatisierung und mehr Zusammenarbeit wünschen.

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten.“
    Alexander, Person des öffentlichen Lebens:

    Die Stimmung in Belarus ist derzeit alles andere als beflügelnd: Sie ist gefährlich und depressiv. Man könnte die Situation auch mit einer Geiselhaft vergleichen. Man ist gezwungen, so zu tun, als gehorche man den Terroristen, zu versuchen, sie nicht zu verärgern und möglichst wenig aufzufallen, damit sie einen nicht erschießen. Andererseits weiß man, dass man das eigene Land ist, und dass man dort leben möchte. Deswegen beflügelt mich derzeit nur eins: Hier zu bleiben, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten, wenn sich ein kleines Fenster für solche Möglichkeiten öffnet. 

    Der Regierung geht es nicht darum, alle Menschen zu vernichten, sie sollen nur eingepfercht werden und brav Befehle ausführen. Menschen, die schon lange eingepfercht sind, können aufrichtig behaupten, in Belarus hätte sich nichts verändert.

    Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind

    Schwieriger ist es für die Menschen, deren Vorstellung von Freiheit über Essen und Schlafen hinausgeht. Sie spüren dieses Konzentrationslager, weil sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können. Man zwingt sie zu schweigen, und das ist für sie am schlimmsten. Denn nicht einmal im Bekanntenkreis ist es üblich, auszusprechen, was man denkt. 

    Das ist übrigens erstaunlich, denn früher war es anders. Ich bin seit 2001 Aktivist; es war immer möglich, gegenüber Bekannten, in der Partei oder im Netz, seine Meinung zu sagen, niemand sah darin was Schlechtes. Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind. Einige meiner Verwandten sind im Exil, ich weiß, was das bedeutet. Es ist sehr schwer, seine Heimat zu verlassen und im Ausland anzukommen

    Was die Zukunft von Belarus betrifft, so muss ich immer an ein Sprichwort denken: Als erstes sind die gestorben, die dachten, es geht bald vorbei. Nach ihnen sind die gestorben, die dachten, es wäre für immer. Geblieben sind die, die gar nichts dachten und taten, was sie konnten.

    „Das Wichtigste in Belarus sind die Menschen.“
    Stanislaw, Kulturaktivist:

    In Belarus inspirieren mich die Menschen. Wenn du zu Hause sitzt und Nachrichten liest, erscheint alles furchtbar. Aber sobald du auf die Straße gehst, die Menschen siehst, wie positiv sie beim Einkaufen auf die belarussische Sprache reagieren, wie sie dich anlächeln – das inspiriert mich und das gibt mir Kraft. 

    Ich habe eine Zeitlang im Ausland gelebt, aber dort schnell den Mut verloren. Hier sehe ich die Stories von Menschen, die etwas machen, die sich zeigen, und möchte dabei sein. Manchmal, wenn ich an einem Feld vorbeifahre, einen Wald sehe, denke ich daran, dass ich jetzt nur ein Prozent davon verwirkliche, was ich könnte. Aber dieses eine Prozent verwirkliche ich in Belarus – das ist der wichtigste Antrieb, um hier zu bleiben.

    Vor einem Jahr war ich bei einem Konzert von Nejro Djubel. Es war großartig: ein voller Saal, Slam, eine Wahnsinnsatmosphäre. Danach lese ich in den Medien, das Konzert sei von Spezialkräften aufgelöst worden. Das stimmt überhaupt nicht. Spezialkräfte waren zwar da, aber wegen einer anderen Veranstaltung, die erst danach stattfand. Das ist natürlich auch schlimm. Aber wenn du im Ausland sitzt und liest, ein Konzert von Nejro Djubel sei aufgelöst worden, denkst du nur: wie furchtbar. Aber in Wirklichkeit war es ein super Konzert. 

    Deswegen scheint es, wenn man nur die Nachrichten liest, als wäre alles im Arsch, aber wenn man hier ist, sieht man die Möglichkeiten. Natürlich merkt man, dass das Leben stillsteht, vieles findet nicht mehr öffentlich statt. Aber das Wichtigste in Belarus sind die Menschen. Und ich meine gar nicht die Aktivisten und Aktivistinnen, das Wichtigste ist das Publikum. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist

    Ich fahre ab und zu ins Ausland und kenne viele Leute, die immer mal wegfahren und wiederkommen. Für sie ist das wie ein Häppchen Freiheit: Sie fahren weg, wenn es hart ist, erholen sich und kommen wieder. Das kann man finden, wie man will, aber es ist eine Tatsache, dass es solche Leute gibt. 

    Das politische Geschehen im Exil verfolge ich nicht und kenne auch niemanden, der sich dafür interessiert. Die Menschen, die in Belarus geblieben sind, haben ihre eigenen Sorgen, sie müssen zusehen, wie sie überleben, und vielen ist es grundsätzlich schnurz, was im Ausland los ist. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist. Auch im Laufe dieses Jahres werden Menschen Belarus verlassen, auch welche, die es jetzt noch gar nicht vorhaben. Aber in fünf Jahren sehe ich eine positive Perspektive: Ich hoffe auf Veränderungen und darauf, dass viele Belarussen und Belarussinnen zurückkehren.

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  • Bilder vom Krieg #19

    Bilder vom Krieg #19

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Johanna-Maria Fritz

    Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz
    Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz

    dekoder: Wie ist dieses Bild entstanden? 

    Johanna-Maria Fritz: Ich arbeite gerade an einem Fotobuch zur Jugend an der Front. Dafür porträtiere ich Teenager und junge Männer, die als Soldaten kämpfen, aber auch solche, die einfach nur in der Nähe der Front leben. Ich bekam die Nachricht, dass in Zorya eine Beerdigung stattfindet. Der kleine Ort liegt etwa zwanzig Kilometer westlich von Awdijiwka im Gebiet Donezk.    

    Um wen trauern die Menschen hier?  

    Dima ist mit 20 Jahren in Bachmut bei einer Angriffswelle der Russen getötet worden. Er ist im Gebiet Donezk in der Ostukraine geboren und aufgewachsen. Als der Krieg begann, war er elf Jahre alt. Mit 18 hat er sich freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet. Seine Eltern sind vor zwei Jahren vor der russischen Großinvasion geflohen, sie leben jetzt in Kyjiw. Aber sie wollten ihren Sohn in ihrem Heimatort beerdigen. Nadia, seine Mutter, sagt, sie hoffe, dass die Russen ihr ihren Sohn nicht ein zweites Mal nehmen: Erst haben sie ihn getötet, jetzt drohen sie, auch den Ort einzunehmen, wo er beerdigt ist. Die Frau, die über seinem offenen Sarg steht, ist seine Großmutter, die um ihren Enkel weint. Neben ihr steht Dimas Freundin Sofia, sie hält seine Mutter an der Hand. 

    Drei Generationen, aber die Gesichter der Frauen sind vom Schmerz so verzerrt, dass es fast aussieht, als wären alle im gleichen Alter. 

    Ja, das ist mir in der Ukraine häufig aufgefallen, besonders bei Soldaten: Ich habe Soldaten gesehen, die waren Ende 20, aber sie sahen aus wie Ende 40.  

    Sie berichten seit Beginn der russischen Großinvasion aus der Ukraine. Nach der Befreiung von Butscha waren Sie dort eine der ersten Journalistinnen. Verschmelzen eigentlich die Schrecken, die sie gesehen und fotografiert haben irgendwann zu einer ununterscheidbaren Masse?  

    Ich bin trotz allem jedes Mal neu betroffen. Dieses Bild ist für mich eines, auf dem man den Schmerz am deutlichsten sieht, den dieser Krieg verursacht. Ich habe fotografiert und dabei geweint. Es gibt aber auch manchmal Momente, in denen ich nicht fotografieren kann. Einmal wurde ich in einen Keller gerufen. Dort hatte eine Frau gerade ein Kind zur Welt gebracht, während draußen die Bomben fielen. Da habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, meine Kamera hochzunehmen. Die Umstände waren fürchterlich, aber gleichzeitig war es so ein besonderer Moment für die junge Mutter, den wollte ich ihr nicht kaputt machen.

    Fotografie: Johanna-Maria Fritz / Ostkreuz
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 23.02.2024

     

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  • „Nur fünf Prozent halten das psychisch durch”

    „Nur fünf Prozent halten das psychisch durch”

    Wie viele Soldaten in diesem Krieg schon gefallen sind, dazu machen weder Moskau noch Kyjiw konkrete Angaben. Im Interview mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza berichtet ein anonymer Angehöriger des Bergungsdienstes der ukrainischen Streitkräfte von seiner gefährlichen Arbeit. Vom Austausch mit den Russen und wie schwarzer Humor hilft, das Grauen zu verarbeiten.

    Foto © Na schtschyti
    Foto © Na schtschyti

    Wann haben Sie angefangen, nach Überresten von Gefallenen zu suchen? 

    Das war 2010. In der Nähe meines Hauses befand sich ein militärhistorisches Zentrum. Dort leisteten Freiwillige Archivarbeit, unternahmen Suchaktionen an Orten, wo im Zweiten Weltkrieg gekämpft wurde, und bestatteten Opfer, die auf ukrainischem Gebiet gefallen waren. Anfangs arbeitete ich im Archiv, doch dann beteiligte ich mich mehr und mehr selbst an der Suche. Es wurde zu meinem Hobby. Im Sommer 2014 schloss ich mich als Freiwilliger der Armee an. Seitdem wende ich mein Wissen und meine Fertigkeiten bei der Suche nach Vermissten in diesem Krieg an. Es klingt womöglich zynisch, aber mir gefällt diese Suche. 

    Was war am Anfang der vollumfänglichen Invasion besonders schockierend oder schwierig an Ihrer Arbeit? 

    Der Verlust der Komfortzone. Entweder du setzt dich damit auseinander, oder du kannst nicht weitermachen. In den vergangenen zehn Jahren haben fast 200 Menschen bei uns angefangen. Von denen sind etwa fünf Prozent geblieben, die halten das psychisch aus. Alle anderen sind entweder umgekommen, weil sie auf eine Mine getreten sind, bei manchen hat das Herz nicht mehr mitgemacht, manche waren psychisch so ruiniert, dass sie Hilfe von Psychiatern benötigten, um wieder zurück in ihre Familien zu finden. Hier gibt es keine vorgefertigten Schablonen – jeder ist anders. Aber die meisten schockiert vor allem der Anblick und der Gestank der Toten, an den man sich einfach nicht gewöhnen kann. Wenn du den ganzen Prozess von der Suche über die Identifizierung bis zur Bestattung eines Soldaten mitverfolgst, bist du auch mit deinen eigenen Emotionen konfrontiert. Aber du überwindest dich. 

    Manchmal muss man sich zusammenreißen, weil wir einfach sehr wenig Zeit haben, und wenn ein Körper zerfetzt wurde, muss man ihn bestmöglich zusammensetzen. Je weniger Daten, desto weniger Sicherheit. Fehler dürfen wir uns keine erlauben. Stellen Sie sich mal vor: Eine Familie bestattet einen Sohn, und dann stellt sich heraus, das war gar nicht er. Wie soll man denen erklären, wem da wo genau ein Fehler unterlaufen ist? 

    Gibt es für die Leichensucher eine Art psychologische Unterstützung? 

    Natürlich. Aber viele von uns haben gelernt, während der Arbeit selbst eine Psychokorrektur vorzunehmen – bei sich selbst und anderen.  

    Was meinen Sie mit Psychokorrektur? 

    Jeder kann unter bestimmten Umständen in einen Schockzustand geraten. Wenn ein Mensch zum Beispiel ertrinkt, dann kann er sich nicht kontrollieren, sein Körper widmet sich vollständig einer einzigen Aufgabe – Luft zu bekommen und die Atmung fortzusetzen. Wenn jemand zu ihm hinschwimmt, um ihn zu retten, wird der Ertrinkende ihn hinunterdrücken, um sich von ihm nach oben abzustoßen. Wenn man diesen Schockzustand beendet, kann man mögliche Fehler minimieren. Löst nun der Retter bei dem Ertrinkenden einen Schmerzschock aus, so holt er ihn aus diesem Zustand heraus, und der Ertrinkende kann dank seiner Fähigkeit zur Psychokorrektur beginnen, seine Bewegungen zu koordinieren.        

    Eine Psychokorrektur brauchen wir also, um uns in einer schockierenden, abnormalen Situation, die uns aus den gewohnten Bahnen wirft, zu konzentrieren, die Situation einzuschätzen und die Reihenfolge der notwendigen Schritte entscheiden zu können. Bei intensivem Beschuss zum Beispiel, wenn einer verletzt wurde – dem Verletzten einen Druckverband anzulegen, ihm ein Schmerzmittel zu spritzen, in Deckung zu gehen und ihn von höher gelegenen Positionen wegzuschaffen, damit er nicht erwischt wird. Zu erkennen, womit wir beschossen werden, und je nach Art der Waffen abzuschätzen, wann der Angriff vorbei ist und wann er womöglich von Neuem beginnt. Das ist in Summe eine Handlungskette, ohne die wir nicht mehr am Leben wären.         

    Seit dem 24. Februar 2022 werden wir Bergungstrupps mit Drohnen angegriffen

    Kommt es vor, dass Teilnehmer der Suchtrupps während der Suchaktionen ums Leben kommen? 

    Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem 24. Februar 2022. 2014 bis 2022 hatten wir immer einen oder zwei Minenentschärfer im Team. Damals war es leichter, mit der Gegenseite eine Vereinbarung zu treffen, damit wir in die „graue Zone“ hineindürfen. Damals herrschte Waffenstillstand, auch wenn er immer wieder gebrochen wurde; der gegenseitige Hass war nicht so ausgeprägt, die Frontlinie stabil, es gab noch Versuche zum Dialog. Sie [die russische Seite] sahen uns, kannten uns. Der Minenentschärfer ging voraus, wir hinterher. 

    Foto © Na schtschyti
    Foto © Na schtschyti

    Vielleicht wundert Sie das, aber zwischen 2014 und Februar 2022 kam kein einziger meiner Kollegen bei einer Suchaktion ums Leben. Wir machten alles gründlich und Schritt für Schritt, ergriffen alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Obwohl wir 2014 des Öfteren verminte Leichen entdeckten. Aus solchen Fällen haben wir gelernt.  

    Leider werden Suchtrupps auch manchmal beschossen. Und seit dem 24. Februar 2022 werden wir auch mit Drohnen angegriffen.    

    Die Suchtrupps? 

    Ja, manche von uns tragen schwere Verletzungen davon. Das ist natürlich nicht die feine Art. Immerhin sind wir mit einer Markierung versehen, an der man auch aus Flughöhe erkennt, dass wir keine militärischen Zwecke erfüllen. Auf dem Autodach haben wir ein großes rotes Kreuz auf weißem Untergrund, wir tragen reflektierende Westen in Signalfarben und im Sommer weiße Sanitäter-Overalls. Trotzdem wurden seit dem 24. Februar 2022 vier unserer Kollegen schwer verletzt, und es ist fraglich, ob sie je weitermachen können.      

    Wie schützen Sie sich auf dem Schlachtfeld vor Angriffen? 

    Wir haben eine Regel: Während einer Suchaktion nehmen wir niemals eine Waffe in die Hand oder beteiligen uns an Kampfhandlungen, obwohl wir Soldaten sind. Wir bewegen uns im Blickfeld unserer bewaffneten Kameraden, die die Gegenseite daran hindern, zu uns vorzudringen. Wenn es doch zu einem Gefecht kommt, dann ist das wohl Schicksal.   

    Wenn wir Waffen mitnehmen würden, würde außerdem der Platz für andere wichtige Utensilien fehlen. Wir müssen Ausrüstung mitnehmen, Helme, Panzerwesten, Tragbahren, forensisches Werkzeug mit allem, was man für die Evakuierung von Leichen braucht, eine Apotheke, Wasser, Proviant. Jedes Gramm fällt ins Gewicht.       

    Sind Sie während der Suche schon in Gefechte geraten? 

    Ja. Ich glaube, das war ein Missverständnis: Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, aber die Leute in den Schützengräben wussten wahrscheinlich einfach nichts davon. Denn als wir dicht an ihre Positionen herankamen, reagierten sie zuerst verstört und schockiert und begannen dann, auf uns zu schießen. Offenbar war ihnen nicht sofort klar, wer wir sind – ein paar unbewaffnete Leute in orangenfarbenen Westen mit Tragbahren. Als sie das Feuer eröffneten, schossen unsere Leute zurück, woraufhin sie umschwenkten und auf die ukrainischen Stellungen zielten.       

    Das Gefecht dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Am Ende robbten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Die Angst blieb an die zwei Jahre. Aber ich bin nicht daran zerbrochen.   

    Jeder Kommandeur wird sich bemühen, die Gefallenen aus den eigenen Reihen bergen zu lassen

    Führen Sie Buch über die seit dem 24. Februar 2022 geborgenen Leichen? Mich würden beide Seiten interessieren.  

    Wir zählen alle zusammen. Insgesamt sind es rund 5000. Haben Sie eine Vorstellung von den Dimensionen dessen, was da passiert? Ich als Leichensucher bin überzeugt: Wir haben noch mindestens 50 Jahre zu tun – ab dem Zeitpunkt, wo das alles zu Ende ist. Allein auf ukrainischer Seite. Und dann gibt es ja auch noch die russische. Und manche Menschen finden wir überhaupt nie. Wenn es einen in lauter Stücke zerreißt – umgeben von Wildnis, Natur und Verwesung … Ein ungeschulter Mensch würde nie im Leben auf solche Fragmente achten.    

    Kann man aufgrund Ihrer Daten über die Menge der gefundenen Überreste die Verluste auf beiden Seiten einschätzen? 

    Nein, unsere Statistik liefert kein vollständiges Bild über die Zahl der Todesopfer. Wir sehen nur einen Teil.  

    Wie funktioniert die Identifizierung der gefundenen Leichen? 

    Da werden Daten aus mehreren verschiedenen Quellen zusammengeführt und verglichen. Erstens liefern uns die Angehörigen der Soldaten Informationen, zum Beispiel besondere Kennzeichen, Tätowierungen etwa. Zweitens sammelt die Polizei aufgrund der Vermisstenmeldungen ebenfalls Daten. Außerdem gibt es Vereine, die den Verwandten von Vermissten bei der Suche helfen.  

    Wenn die Informationen aus allen drei Quellen übereinstimmen, dann greifen wir auf die interne Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte zu. Wenn ein Soldat vermisst wird, dann muss der Kommandeur Meldung machen über Ort, Zeit und Zahl der Verschwundenen unter Angabe ihrer persönlichen Daten. Wir überprüfen das alles, und wenn die Daten übereinstimmen, untersuchen wir eben den Ort des Geschehens. 

    Spezialisten bergen die Leichen getöteter Zivilisten in einem Wald nahe Butscha im Juni 2022 / Foto © IMAGO, Ukrinform

    Wenn es ein derzeit besetztes Gebiet ist, so bestimmen wir die konkreten Standorte und bearbeiten sie erst, wenn es gelungen ist, das Territorium zu befreien. Wenn es aber besetzt bleibt, dann geben die ukrainischen Streitkräfte meinem Wissen nach die Informationen an Kontaktpersonen auf der russischen Seite weiter, damit die Suche von denen durchgeführt wird.  Na, und weiter je nachdem. Wenn sich die Stelle nahe an Kampfhandlungen befindet, dann gehen da weder wir noch die Russen hin. Keiner kann den Krieg aufhalten, so viel habe ich schon verstanden.    

    Erzählen Sie mal bitte, wie der Austausch abläuft.  

    Der erfolgt immer auf russischem Gebiet an der nördlichen Grenze der Ukraine und entsprechend den Richtlinien des humanitären Völkerrechts. Ein Kühlwagen mit ukrainischem Personal und Leichen russischer Soldaten fährt nach Russland. Wir laden die Leichen in einen russischen Kühlwagen um, übernehmen die toten ukrainischen Soldaten und fahren zurück in die Ukraine.    

    Wie ist es, dem Feind ins Gesicht zu blicken? Gab es auch schon Exzesse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens? 

    Für die Vereinbarung von Ort und Zeit des Austauschs gibt es Verhandler. Während des Austauschs selbst reden wir mit niemandem. Wir arbeiten in weißen Overalls, mit Mundschutz und Kapuzen – in erster Linie aus hygienischen Gründen. Die Russen sind auch so gekleidet. Nur die Augen sind zu sehen. In der ganzen Zeit gab es nie einen Konflikt. Man merkt, dass die Leute angewiesen wurden, nicht mit uns zu sprechen. Keiner verhält sich respektlos – alle sind absolut neutral. Gesichtslose Menschen verladen Leichen von Kriegsopfern und fahren wieder nach Hause.    

    Dabei werfen beide Seiten einander häufig vor, dass sie die Leichen der Gefallenen nicht abholen und sich überhaupt nicht darum kümmern. Inwiefern sind diese Vorwürfe gerechtfertigt? 

    Das sind politische Manipulationen von beiden Seiten. Die Leichen werden bei der ersten Gelegenheit geborgen. Wir benachrichtigen die russische Seite, und sie kommen nur dann nicht, wenn sie sich dadurch in Lebensgefahr begeben würden. Mir sind keine Fälle bekannt, wo eine Leiche einfach liegenbleibt.  

    Waren Sie auch an Orten, an denen Russland massenhafte Kriegsverbrechen begangen hat, etwa in Butscha oder Borodjanka? 

    Ja, dort waren unsere Spezialisten im Einsatz, aber im Detail kann ich dazu nichts sagen, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.  

    Nicht einmal jeder vierte russische Soldat trägt eine Erkennungsmarke. Der Grund ist Aberglaube oder schlechte Ausstattung der Truppe 

    Welche Rolle spielen die Erkennungsmarken bei der Identifizierung der Toten? 

    Auf den russischen Plaketten stehen nur Kennnummern aus Buchstaben und Ziffern. Sie haben ihre interne Datenbank, anhand derer nur sie in der Lage sind, die Person mithilfe ihres Codes zu identifizieren. Das heißt, die Soldaten sind entpersonalisiert. Wobei wir nur bei 15 bis 20 Prozent der gefallenen Russen, die wir geborgen haben, Plaketten gefunden haben. Da wirkt einerseits der Aberglaube, dass eine solche Marke etwas für Todgeweihte ist, andererseits bestehen Lücken in der Versorgung der Armee in einem großen Krieg, manche verlieren sie oder weigern sich, sie zu tragen, weil sie die Dringlichkeit nicht verstehen.             

    Auf den ukrainischen Marken steht der volle Name und eine Identifikationsnummer, die dieselbe ist wie die Steuernummer. Das ist die individuelle Nummer des Soldaten. Außerdem steht bei den Ukrainern die Blutgruppe drauf und zu welcher Einheit sie gehören: zur ukrainischen Nationalgarde, zum Grenzschutz, zur Polizei oder zu den ukrainischen Streitkräften. All das beschleunigt die Identifizierung eines Toten, wenn man ihn rein visuell nicht mehr erkennen kann. Die Menschen in Russland müssen verstehen, dass keiner ihre Kinder und Angehörigen braucht außer ihnen selbst. 

    Wie oft werden DNA-Tests für die Identifikation eingesetzt – die sind ja ziemlich teuer?      

    DNA-Tests sind nur eine der Methoden, mit denen die Identität eines Toten festgestellt werden kann. Sie dienen als letzter Beweis und geben den Verwandten die endgültige Gewissheit, wer der Tote ist.  

    In welchen Fällen wird ein DNA-Test gemacht? Sie haben ja keinen Zugriff auf DNA-Datenbanken russischer Soldaten.  

    Ja, leider. Wenn sich die ukrainische und die russische Seite eines Tages darauf einigen könnten, die Genotypen von Verwandten von Vermissten auszutauschen, dann würden bestimmt auf beiden Seiten viele ihre vermissten Angehörigen finden. Aber es gibt viele Gründe, warum das unmöglich ist, unter anderem politische.      

    Noch einmal – wie oft und in welchen Fällen werden DNA-Tests gemacht? 

    In der Regel dann, wenn anhand der Leiche und der Überreste keine Identifikation möglich ist. Wenn einer eine Erkennungmarke, einen Pass oder einen Militärausweis hat und somit eindeutig zugeordnet werden kann, dann kann der Ermittler auf den DNA-Test verzichten.  

    Sprechen Sie mit Ihren Kollegen über das, was während der Arbeit passiert? 

    Natürlich. Aber das sind interne Gespräche, dazu möchte ich nichts sagen. Oft ist das ein spezieller schwarzer Humor – Scherze über den Tod, die über alle Regeln des Anstands hinausgehen. Wer zurückwitzelt, hat die Probe bestanden und ist einer von uns. Ich kann an der Reaktion eines Unbekannten in einer solchen Situation erkennen, ob er tatsächlich Erfahrung mit Leichen hat oder ob ich es mit einem Dilettanten zu tun habe. Im Kreis bereits bekannter Kollegen ist das eine eigenartige Form der gegenseitigen Unterstützung, die Rückversicherung, dass man in seinem Rudel ist – so viele sind wir ja nicht.

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  • „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung. 

    Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.

    Wassilissa Swiridowa, Belarus
    „Wrocław hieß mich herzlich willkommen. Der Umzug hierher glich einer großen, fröhlichen Reise, und es fühlte sich ganz natürlich an, hier zu sein. Vielleicht, weil ich Studentin war und alle um mich herum die gleichen Erfahrungen machten. Wir haben die Stadt erkundet und uns in sie und ineinander verliebt.“ / Foto © KK

    dekoder: Wie ist Ihr Projekt entstanden?

    KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen.
    Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden.
    Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.

    Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?

    Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.

    Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?

    Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben.
    Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.

    Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen

    Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war.
    Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration.
    Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere. 

    Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

    Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.

    Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen.
    Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.

    Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?

    Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.

    Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?

    Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten.
    Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte.
    Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren.
    Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.

    Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?

    Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung. 
     

    Maria Koupidou, Griechenland
    „Wrocław war für mich wie ein Traum. Schöne Orte, schöne Menschen. Alles war einzigartig. Ich vermisse die Stadt jeden Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen würde.“ / Foto © KK

     

    Links: Nelin Bayraktar, Türkei
    „Von zu Hause weg zu sein ist beides: verlockend und traurig. Zunächst schaue ich nach etwas Neuem, Anderem, Spannendem. Bald werden Dinge, die ich interessant finde, irgendwie mit meinem eigenen Zuhause verbunden. Wie Brücken und Wasser.“ / Foto © KK
    Rechts: Belichteter Film
    Alles hat ein Anfang und ein Ende. Jeder Umzug tötet etwas in dir und lässt etwas Neues wachsen. / Foto © KK

     

    Links: Yula Lee, Italien
    „In unserem Leben gibt es viele Scheidewege. Welchen Weg du auch wählst, du könntest immer etwas verpassen, aber der Nutzen ist dennoch viel größer.“ / Foto © KK
    Rechts: Blick aus dem Renoma
    Ein Einkaufszentrum in Wrocław. In der Vergangenheit die größte und exklusivste Shopping-Mall in der Stadt. / Foto © KK

     

    Inna Wlassowa, Russland
    „Ich mag die Architektur, die Kultur. Außerdem erinnert mich die polnische Sprache an meine Muttersprache.“ / Foto © KK

     

    Links: Dilay Kocogullari, Türkei
    „Mein Herz ist zu Hause, mein Kopf ist hier. Menschen und Verabredungen sind Dinge, die mir helfen zu überleben.“ / Foto © KK
    Rechts: Gebäude „Grüner Tag“ in Wrocław / Foto © KK

     

    Wrocław / Foto © KK

     

    Links: Katarzyna Lukojko, Polen
    „Ich will diese Stadt immer verlassen und komme immer wieder hierher zurück.“ / Foto © KK
    Rechts: Nächtliche Straßen in Wrocław / Foto © KK

     

    Ein Bau-Element der berühmten Haus-Galerie bei Powstanców Śląskich, genannt Titanic. Das 16-stöckige Galeriegebäude ähnelt dem berühmten Schiff, so auch die Absicht des Designers. / Foto © KK

     

    Links: Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Regina Vutanyi, Ungarn
    „Zuhause war für mich immer ein schwammiges Konzept. Sobald ich auf banale Dinge stoße, merke ich, dass ich eine Routine entwickelt habe und bereit bin wegzuziehen. Wrocław war für mich immer wie zu Hause. Alles, was ich Tag für Tag sah, wurde für mich zu einem gewohnten Anblick, so wie ein gewohnter Anblick für alle wurde, die hier lebten.“ / Foto © KK

     

    Links: Korridor in einem ehemaligen Industriegebäude
    In Wrocław kommt es häufig vor, dass verfallene, verlassene Gebäude neben brandneuen, frisch gestrichenen Fassaden stehen. / Foto © KK
    Rechts: Maryam Abid, Pakistan
    „Als ich nach Wrocław kam, war alles neu und anders. Ich konnte nicht viel interagieren, aber ich mochte, wie hilfsbereit die Menschen dennoch waren und dass sie sich große Mühe gaben. Das weiß ich bis heute zu schätzen.“ / Foto © KK

     

    Wrocław ist einer der sich am schnellsten entwickelnden Ballungsräume in Polen. Seine attraktive geographische Lage gewährleistet Investoren die Nähe zum deutschen und zum tschechischen Markt, eine gute Infrastruktur und Zugang zu Mitarbeitern. / Foto © KK

     

    Links: Die Odra ist der wichtigste Fluss in Wrocław.
    Die Stadt wird oft „Venedig des Nordens“ genannt. Derzeit gibt es zwischen 118 und 130 Brücken und Fußgängerbrücken. / Foto © KK
    Rechts: Yukako Manabe, Japan
    „Ich war so glücklich, als ich sah, dass es in Wrocław Zierkirschen gibt! Sie lassen mich die Frühlingsstimmung spüren …“  / Foto © KK

     

    Links: der Fluss Odra, Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Polina Schumkowa, Russland
    „Jeder Ort, den ich besuche, hinterlässt Spuren in meiner Seele. All diese Spuren machen aus, wer ich bin.“ / Foto © KK

     

    Nicoleta Puiu, Moldau
    „Menschen sind die größten Schätze der Städte. Jede Stadt hat ein menschliches Gesicht. Wrocław hat das beeindruckendste.“ / Foto © KK

     

    Fotos: KK
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 15.02.2024

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  • Bilder vom Krieg #18

    Bilder vom Krieg #18

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafael Yaghobzadeh

    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh
    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh

    dekoder: Seit zehn Jahren sind Sie immer wieder als Fotoreporter in der Ukraine unterwegs. Sie haben den Maidan-Aufstand fotografiert und den Beginn des Krieges im Donbas erlebt. Aber das Foto, das Sie für die Serie Bilder vom Krieg ausgewählt haben, ist ein Stillleben. Was ist die Geschichte dahinter?

    Rafael Yaghobzadeh: Ich habe es in der Wohnung eines ukrainischen Freundes in Kyjiw aufgenommen. Er arbeitet in der Filmbranche. Für den Fall, dass er zur Armee eingezogen wird, hat er eine Ausbildung zum Drohnenpiloten begonnen. Ich habe ihn porträtiert, wie er zuhause am Computer übt, Drohnen zu steuern. Als ich das Fenster sah, dachte ich erst, das Klebeband sei bereits wieder entfernt worden. Die Menschen in Kyjiw haben ihre Fenster in den ersten Tagen der Vollinvasion verklebt, damit keine Splitter umherfliegen, wenn es in der Nähe eine Explosion gibt. Inzwischen ist die Front ja schon lange weit entfernt, aber das Klebeband ist immer noch da als eine Spur jener Zeit. 

    Russland beschießt die Hauptstadt immer wieder mit Raketen. Wie geht nach so einer Angriffswelle der Alltag weiter?

    Der Krieg ist ständig präsent, auch wenn es in Kyjiw keine Kämpfe gibt. Einerseits in Form solcher Spuren an den Fenstern. Andererseits weil junge Männer wie mein Bekannter ständig mit dem Bewusstsein leben, dass sie jederzeit eingezogen und an die Front geschickt werden können. 

    Wie hat sich das Land verändert, seit Sie vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Kyjiw gekommen sind?

    Alles hat sich verändert: das Land, die Gesellschaft, sogar die Gesichter der Menschen. Das Land wird angegriffen und muss sich verteidigen, aber gleichzeitig macht es eine rasante Modernisierung durch, wirtschaftlich, technologisch, kulturell. Bei meinem letzten Besuch habe ich einige junge Leute kennengelernt, die noch Teenager waren, als 2014 der Krieg im Donbas begann. Denen wurde erst so richtig klar, dass sich ihr Land im Krieg befindet, als Russland die Vollinvasion startete. 

    Nach der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer hört man manchmal, dass sich unter den Ukrainern Resignation breit mache. Teilen Sie diesen Eindruck?

    Nein, gar nicht. Vom ersten Kriegstag an haben die Leute immer wieder die Kraft gefunden, wieder aufzustehen und neue Reserven anzuzapfen. Dass das Land in diesem Krieg immer noch so gut funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich.

    Haben sich denn auch Ihr Blick und Ihre Art zu arbeiten verändert?

    Ganz bestimmt. Ich nehme heute ganz andere Details wahr, die mir früher vielleicht nicht aufgefallen wären. Ich bin meistens mit drei oder vier Kameras unterwegs und arbeite dann parallel auf drei Ebenen: Zuerst erfülle ich den Auftrag, mit dem mich meine Auftraggeber losgeschickt haben. Seit zwei Jahren fotografiere ich für Le Monde. Dann habe ich noch eine Mittelformatkamera dabei, mit der mache ich Schwarz-Weiß-Bilder, aus dieser Arbeit stammt dieses Foto. Und auch noch eine Polaroidkamera. Ich sammle außerdem Objekte: Karten, Bilder, Archivmaterial für ein Langzeitprojekt. Das hilft mir, einen Schritt zurückzutreten. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das tiefer geht als die Reportagefotografie, die aktuelle Ereignisse dokumentiert. 

    Sie haben schon als Schüler ihre Bilder an französische Medien verkauft. Trotzdem haben Sie noch ein Geschichtsstudium an der Sorbonne abgeschlossen. Wirkt sich dieser akademische Hintergrund auch auf Ihre Fotografie aus?

    Ich denke schon. Ich sichte gerade meine Bilder aus Butscha. Ich war dort zum ersten Mal am 2. März 2022, bevor die Kleinstadt von den russischen Angreifern eingenommen wurde. Nachdem die ukrainische Armee Butscha befreien konnte, bin ich wieder dorthin gefahren. Seitdem besuche ich den Ort regelmäßig, um einen Eindruck von den Veränderungen zu bekommen, die dort vor sich gehen. Ich möchte nicht nur einzelne Ereignisse fotografieren und dann weiterziehen. Mich interessieren die langfristigen Entwicklungen.

    Fotografie: Rafael Yaghobzadeh
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 13.02.2024

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  • Wann kommt der Wandel?

    Wann kommt der Wandel?

    Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.

    Doch wie weit ist es von den „Schlangen für Nadeshdin“ bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.

    [Aktualisierung vom 8. Februar 2024: Die Zentrale Wahlkomission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingerichten Unterschriften ungültig seien.]

    Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschatfswahlen.

    Kontrollierte Herausforderung

    Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: „Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?“

    Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg. 

    Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.

    Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.

    Oder man „kauft“ ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht „nach Plan 1,5 Prozent“ läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.

    In Belarus begann 2020 ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen

    Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen „Erdrutschsieg“ bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.

    Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.

    Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.

    Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen

    Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen. 

    Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.      

    Was fehlt: eine positive Zukunftsvision

    In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.  

    Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: „Beliebig lange.“ Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. „Nein zum Krieg!“ ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.

    Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.    

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    „Das ist mein Protest gegen die ‚Spezialoperation‘“

    Den ganzen Januar über standen in vielen Städten in Russland die Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen, die Mitte März abgehalten wird. Um als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden, muss er bis Ende Januar 100.000 Unterschriften in verschiedenen russischen Regionen sammeln (2500 in je 40 Regionen). Nadeshdin war bis dahin nur wenigen bekannt. Seine Biografie lässt keine eindeutigen Schlüsse zu: Er gibt an, in den 1990er Jahren sowohl mit Boris Nemzow als auch mit Sergej Kirijenko zusammengearbeitet zu haben. Nemzow wurde zu einem der erbittertsten Gegner Putins, 2015 traf ihn eine Kugel vor den Mauern des Kreml. Kirijenko sitzt auf der anderen Seite dieser Mauer im Kreml: Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist er heute verantwortlich für die Unterdrückung jeglicher Opposition. Ohne sein Einverständnis dürfte Nadeshdin wohl noch nicht einmal für die Kandidatur kandidieren. Dennoch haben in den vergangenen Wochen selbst Anhänger von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, Nadeshdins Kandidatur zu unterstützen. Dass es dabei mehr um einen symbolischen Akt geht, mit dem die Menschen sich selbst und einander gegenseitig Mut machen, zeigt eine Umfrage, die das Portal Holod unter den Schlangestehenden durchgeführt hat.

    „Die Zukunft liegt um die Ecke“: Wie hier in Sankt Petersburg standen in vielen russischen Städten Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen / Foto © Artem Priakhin/imago-images

    Anton, 30, Jekaterinburg
    Ich denke, es geht vor allem darum, dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann der Morgen kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Veränderungen viel schneller kommen werden, als es scheint – man muss nur daran glauben.

    Leider gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die verzweifelt sind und nicht mehr an das Gute oder an die Zukunft glauben. Ich sehe ja auch überall das Negative und verstehe, warum die Menschen apathisch werden. Deshalb war ich ehrlich überrascht, als ich sah, dass Leute mehrere Stunden vor Nadeshdins Kandidatenbüro anstehen: Menschen, die nicht verzweifelt sind, die lächeln und an Veränderungen glauben. Das macht Hoffnung.

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung

    Dimitri, 37, Ishewsk
    Ich würde das nicht einmal als Schlange bezeichnen. Ich habe nicht länger angestanden als für einen Burger bei KFC. Außerdem, warum denken viele, dass es sowieso nichts bringen wird?

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung. Die Hoffnung auf Liebe, auf eine Karriere, die nicht auf Vitamin B beruht, auf ein Leben in Würde. [In Russland] sind die geblieben, die keine Möglichkeit haben, alles hinzuwerfen. Sie haben sich selbst dazu verdammt, Tag für Tag die Maske der Resignation zu tragen. Wir haben Freunde verloren, den Kontakt zueinander, unsere Heimat – und das, ohne dass wir ihre territorialen Grenzen verlassen hätten.

    Die Unterschrift heute ist die einzige legale Möglichkeit, zu versuchen, etwas zu ändern und dem wunderbaren Russland der Zukunft wenigstens ein kleines Stückchen näher zu kommen.

    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr und habe eine Selbstzensur entwickelt

    Anna, 31, Jakutsk 
    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr, ich habe mich damit abgefunden, dass es bestimmte Internet-Dienste nicht mehr gibt, und eine Selbstzensur entwickelt. Aber als ich davon hörte, dass Unterschriften für einen Kandidaten gesammelt werden, der sich gegen den Krieg ausspricht, bin ich sofort auf Nadeshdins Internetseite gegangen. Ich habe mich registriert und bin gleich hingegangen, als sein Büro geöffnet war. Warum?

    Weil es für mich eine Möglichkeit ist, sicher und offen mein „Nein“ zu sagen. Nein zur Politik der Einschüchterung, nein zu menschenverachtenden Gesetzen. Schließlich bin ich russische Staatsbürgerin, ich gehöre dem Volk der Jakuten an – ich kann doch meine eigenen Ansichten haben? Ist es etwa ein Verbrechen, sie zu äußern? Seit Februar 2022 fühle ich mich gelähmt, hoffnungslos und apathisch. Ich hätte mir einfach nicht verziehen, wenn ich nicht meine Unterschrift abgegeben hätte. Selbst, wenn es nichts ändert, wenn alles umsonst ist, heißt es nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt? Schon sein Name ist ja sprechend [„Nadeshda“ bedeutet auf Russisch Hoffnung dek].

    Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der ‚militärischen Spezialoperation‘ eintritt

    Wladimir, 49, Ishewsk
    Boris Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der „militärischen Spezialoperation“ eintritt und die Politik des Präsidenten kritisiert. Allein die Art, wie er seine Unterschriften sammelt (mit Unterstützung von Freiwilligen in Hunderten von Städten in ganz Russland und nicht mit Hilfe des Staatsapparats), spricht dafür, dass bei Weitem nicht alle in Russland die aktuelle Politik unterstützen und eine große Nachfrage nach Veränderung besteht. Allein, persönlich dabei zu sein und echte, lebendige Menschen zu sehen, ist schon eine große Sache. Es ist sicher nur der Beginn eines langen Weges, aber wir müssen den ersten Schritt gehen.

    Oleg, 21, Jekaterinburg
    Ich bin mir natürlich der Aussichtslosigkeit bewusst, aber ich habe trotzdem beschlossen, meine Unterschrift abzugeben – es ist wenigstens eine winzige Chance auf Veränderungen. Ich bin froh, meinen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Wenigstens habe ich nicht tatenlos zugesehen, sondern getan, was ich konnte – ich habe selbst unterschrieben und meinen Freunden davon erzählt.

    Fürs Demonstrieren könnte ich von der Uni fliegen – und ich will nicht mein Leben ruinieren

    Jaroslaw, 21, Nowosibirsk/Sankt Petersburg
    Was in den letzten zwei Jahren in Russland passiert, gefällt mir ganz und gar nicht. Auf eine Demonstration zu gehen oder etwas Vergleichbares zu tun, das traue ich mich nicht. Dafür könnte ich von der Uni fliegen, und ich will nicht mein Leben ruinieren für etwas, das dem Land ohnehin nicht viel nützen wird. Aber meine Unterschrift für einen vernünftigen Kandidaten abzugeben, ist eine absolut sichere Form des Protests, und so habe ich wenigstens meinem inneren Unmut Ausdruck verliehen.

    Vera, 63, Moskau
    Ich verfolge seit vielen Jahren die Beiträge von Ekaterina Schulmann, und ich stimme ihr zu: Das Volk muss dem Staat seinen Willen zeigen (wie sie sagt, „es muss sich regen“). Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient. Man muss jede noch so kleine Gelegenheit nutzen, die das Leben bietet.

    Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind

    Wladimir, 41, Twer
    Mir ist klar, dass es in Russland keine freien Wahlen gibt, dass für Putin so oder so seine 80 Prozent verkündet werden und Nadeshdin ein paar müde Prozent bekommt. Ich habe meine Unterschrift für ihn abgegeben, damit ich mir guten Gewissens sagen kann, dass ich überhaupt etwas in dieser ganzen Finsternis getan habe. Immerhin habe ich auch eine Menge vernünftiger, anständiger Leute gesehen, von denen es in Russland immer noch viele gibt. Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind.

    Regina, 35, Ufa
    Wenn wir alle diese kleine Chance, etwas zu bewegen, wieder einmal verstreichen lassen, wer wird dann je etwas verändern? Das ist immerhin eine legale Form des Protests, man kommt nicht ins Gefängnis dafür. Ich rechne nicht damit, dass sie Nadeshdin zur Wahl zulassen werden. Das ist natürlich schade, aber trotzdem ist es besser, zu handeln, als tatenlos zuzusehen. Ich finde es inspirierend, dass ich nicht alleine damit bin und mein Umfeld so enthusiastisch reagiert hat. Also wird alles gut – wenn nicht jetzt, dann irgendwann.

    Ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin

    Katerina, 35, Ishewsk
    Ich habe in einem verbotenen sozialen Netzwerk Posts von Freunden gesehen, dass Unterschriften gesammelt werden. Ehrlich, ich habe mir Nadeshdins Seite nicht einmal genau angesehen, ich bin einfach hingegangen und habe unterschrieben. Außerdem habe ich meine Familie und Freunde dazu aufgerufen – ein Teil von ihnen hat mitgemacht.

    Ich glaube, ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin.

    Anna, 47, Tomsk
    Für mich ist das eine Form des Protests gegen die „Spezialoperation“, gegen die totale Zensur, gegen die aggressive Außenpolitik gegenüber zivilisierten Ländern, das Abgleiten unseres Landes in ein autoritäres Regime, gegen die Inflation. Also gegen all den Wahnsinn, der nach dem Beginn der „Spezialoperation“ folgte. Ich kann nur hoffen, dass Putin sieht, was die Menschen wirklich von ihm halten, und die Unterschriftensammlung wie ein Hebel wirken kann, der ihn dazu bringt, seine Innen- und Außenpolitik zu ändern. Das ist eine Wunschvorstellung, aber vielleicht wird Nadeshdin ja wirklich genügend Unterschriften sammeln und zur Wahl zugelassen werden?!

    Während ich das schreibe, denke ich, was, wenn Sie gar nicht von Holod sind, sondern nur ein Provokateur? Und ich zensiere mich selbst. In solchen Zeiten leben wir! Die Menschen sind verängstigt. Das muss man auch ändern. Das darf nicht sein.

    Mir gefällt hier alles außer der Regierung – ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen 

    Jewgeni (Name geändert), 21, Ufa
    Ich bin geboren und aufgewachsen unter ein und demselben Präsidenten. Von Jahr zu Jahr wird alles schlimmer. Vor meinen Augen verwandelt sich mein Land von einer Demokratie in einen autoritären Staat, eine Diktatur.

    Deshalb halte ich es für meine Bürgerpflicht, meinem Land zu helfen. Mir gefällt hier alles außer der Regierung, und ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen und in Europa oder der USA meine Freiheit zu suchen. Weil ich glaube und hoffe, dass wir es hier irgendwann sogar noch besser haben könnten als dort.

    Jewgenija (Name geändert), 33, Nowosibirsk
    Für mich ist dies eine Gelegenheit für einen Appell der Anständigen und ein inneres Bedürfnis. Wie das Zwitschern der Spatzen im Winter: „Wir leben! Wir auch!“ Es geht mir schlecht, weil ich nicht offen sagen kann, was ich denke, und mich nicht ohne Risiko für mich und meine Familie über die Missstände empören kann. Ich halte es für nötig, alles zu tun, was nicht verboten ist, um mich selbst zu schützen. Das schließt auch das Wahlrecht ein. Vielleicht werde ich meinem Kind, wenn es irgendwann einmal Politikunterricht in der Schule hat, davon erzählen, wie wir unsere Unterschrift für Nadeshdin abgegeben haben – vielleicht wird das in zehn Jahren ein wichtiges Ereignis gewesen sein? 

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    Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

  • Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

    Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

    Die Annahme, die Menschen in Russland könnten gegen Wladimir Putin auf die Straße gehen, wenn es ihnen wirtschaftlich schlechter geht, war falsch. Stattdessen richtet sich die Aggression nach außen. Der Soziologe Lew Gudkow erklärt in der neuen Zeitschrift Gorby, wie das Regime die Menschen mit Großmacht-Gesten von ihrem ärmlichen Alltag ablenkt.

    Das Bewußtsein, einer „Weltmacht“ anzugehören, spielt für die arme und vom Staat abhängige Bevölkerung Russlands ohne Zweifel eine wichtige kompensatorische Rolle. Der Stolz auf das eigene Land ist untrennbar verbunden mit einer schwer zu unterdrückenden Scham und dem beklemmenden Gefühl, hinter besser entwickelten Ländern zurückzubleiben („… so ein tüchtiges Volk, so ein reiches Land, und dann leben wir in ewiger Armut und Instabilität“).

    Diese beiden Bilder – von sich selbst und vom eigenen Land – ergeben zusammen einen Komplex aus Gefühlen, die in ihrer Intensität vergleichbar sind: Von „Stolz“ sprachen bei Umfragen des Lewada-Zentrums in unterschiedlichen Jahren zwischen 49 (1994) und 83 Prozent (2017), von „Scham und Bitterkeit“ beim Gedanken an das eigene Land und dessen Geschichte zwischen 78 (1989) und 48 Prozent (2021). Stolz und Scham – diese beiden Motive sind in der kollektiven Identifikation der Russen dominierend. Im Schnitt antworteten in den vergangenen 30 Jahren 73 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Befragten so. Anders gesagt, die überwiegende Mehrheit hatte und hat extrem widersprüchliche Gefühle bezüglich ihres Landes. 

    Das Gefühl von Stolz erreicht stets nach Militäreinsätzen einen Höhepunkt, während es in Jahren von Krisen und sinkendem Wohlstand auf ein Minimum fällt. 

    Die Verbitterung über den Zerfall der UdSSR und den Verlust des Großmachtstatus’ ist in der gesamten postsowjetischen Zeit das zweitstärkste Gefühl der Befragten (nach dem Empfinden, in Armut und ständiger „Krise“ zu leben). Mehr als 80 Prozent der Russen, also die absolute Mehrheit, war und ist bis heute der Meinung, Russland solle „seinen Großmachtstatus zurückerlangen und verteidigen“ (dieser Anteil schwankt zwischen 72 Prozent im Jahr 1992 und 88 Prozent 2018). 1998 erwarteten die Russen von Jelzins Nachfolger als Präsident vor allem zwei Dinge für ihr Land: die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Erlangung jener Autorität als Weltmacht, über die die UdSSR bis zu ihrem Untergang verfügte. Hier stellt sich die Frage: Was ist das überhaupt, eine Weltmacht, was stellen sich die Menschen darunter vor? (Grafik 1)

     

     

    Wie man sieht, assoziieren die Menschen mit diesem Begriff das, was sie sich am meisten wünschen. Das Hauptmerkmal einer „Weltmacht“ ist demnach der Wohlstand des Volkes, ein Lebensstandard wie in „normalen Ländern“ (sprich: „wie im Westen“). Dieser Wunsch wurde in den letzten 20 Jahren nur stärker. Etwas zurückgegangen ist derweil die noch aus Sowjetzeiten stammende Idee einer starken Industrienation (die sich vor allem an staatlichen Interessen, an der Rüstungsindustrie und der Armee orientierte und nicht am Bedarf gewöhnlicher Menschen). Da jedoch der Lebensstandard nicht einfach so auf ein Handzeichen der Chefs steigt, nehmen im Bewusstsein der Massen andere symbolische Komponenten mehr Raum ein. Und zwar vor allem Dinge, die andere Staaten fürchten sollen: militärische Stärke und Atomwaffen (dieser Wert ist von 30 auf 46 bis 51 Prozent gestiegen, also auf das Eineinhalbfache). Im gleichen Maße wächst das Streben nach Isolationismus: Die Bedeutung des „Respekts anderer Länder“, also eigentlich des Ansehens Russlands in der internationalen Arena, ist von 35 auf 13 bis 16 Prozent gesunken und somit um mehr als die Hälfte. (Ich möchte betonen, dass diese Entwicklung bereits vor Beginn der „militärischen Spezialoperation“ eingesetzt hat. Das bedeutet, dass die russische Gesellschaft gut darauf vorbereitet war, die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die bevorstehenden Aktionen zu ignorieren.) Weder Fortschritte in Wissenschaft und Kultur noch die „heroische Vergangenheit“ (ideelle Traditionen und geistige Klammern), weder die gigantischen geografischen Dimensionen des Landes noch die Bevölkerungszahl oder der Reichtum an natürlichen Ressourcen gehören dem Verständnis der Russen nach zu den primären Eigenschaften einer Weltmacht.   

    Wenn es sein muss, kann man sich auch mit dem wenigen, was man hat, zu den „Großen“ zählen. Die Identifikation der Russen mit Russland als „Weltmacht“ ist (mit einer Verzögerung um ein Jahr) immer dann am höchsten, wenn es einen Militäreinsatz gab, die Propaganda drastisch hochgefahren und die Stimmung in Richtung Revanche und Dominanz im postsowjetischen Raum angeheizt wird: während des zweiten Tschetschenienkriegs (2000), während des Georgienkriegs (2009), bei der Annexion der Krim (2015) und in der aktuellen „Spezialoperation“.

     

     

    Im Vergleich dazu fällt die Kurve zweimal deutlich ab: Als 2005 die Privilegien für ausgewählte Gruppen wie Rentnerinnen und Rentner oder Veteranen gestrichen und durch Geldzahlungen ersetzt wurden. Und während der Massenproteste der Mittelschicht 2011 bis 2013. In der Folge dieser Ereignisse nimmt das Bewusstsein, zu einer Großmacht zu gehören, stark ab.

    Gleichwohl waren die Bemühungen der Ideologen des heutigen Regimes, die Akzente in der Vorstellung von einer Großmacht zu verschieben – weg vom Wohlstand und hin zu Phantomen traditioneller Werte und Militarismus, zur Mystik eines tausendjährigen Russlands – nur teilweise von Erfolg gekrönt. Trotz aller Bemühungen um patriotische Mobilisierung würde die Mehrheit der Russen lieber in einem Land leben, das militärisch vielleicht nicht das Stärkste und nicht unbedingt eine Weltmacht ist, dafür mit hohem Lebensstandard und guter Lebensqualität, selbst wenn es nur ein kleines, dafür aber sauberes, gemütliches und ruhiges Land wäre (Grafik 3). Nur eine kleine Minderheit ist bereit, für territoriale Größe zu bezahlen, die durch militärische Überlegenheit und Bedrohung anderer Länder aufrechterhalten wird. Im Schnitt würden es in den letzten 25 Jahren 76 Prozent der Befragten „bevorzugen, wenn der russische Staat sich in erster Linie um einen höheren Wohlstand der Bevölkerung kümmern würde“ und nicht „um die Ausweitung der militärischen Stärke Russlands“ (was nur 16 Prozent der Befragten gern hätten).

     

     

    Für den kleinen Mann hat die Vorstellung von „Russland als Weltmacht“ nicht nur die Funktion, ihn zu beruhigen und ihn in seinen eigenen Augen zu glorifizieren. Sie lenkt seine Aufmerksamkeit auch weg von seinem beschwerlichen Alltag auf eine virtuelle Bühne der geopolitischen Rivalität. Manifestationen imperialer Hybris und Erklärungen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit interessieren die Russen in ihrem realen Alltagsleben, also als gewöhnliche Menschen, die sich um das eigene Wohlergehen und das ihrer Familien kümmern, kaum. Das heißt aber nicht, dass ihnen diese Themen gleichgültig sind. In ihrer Rolle als Untergebene, also als kollektive Subjekte sind sie stolz auf Russlands militärische Macht, auf seinen „mit Blut gekauften Ruhm“ und das riesige Territorium, das es erobert und dessen Völker es sich untertan gemacht hat.        

    Die Angst, diesen Stolz zu verlieren, lähmt das Potenzial der zivilen Selbstorganisation, da für die Menschen ihr Gefühl von Würde keine andere Basis hat als ihre Zugehörigkeit zu einem Imperium. 

    Die derzeit verschärft geführten Debatten über den imperialistischen Geist der russischen Kultur und die genetische Veranlagung der Russen zu Expansion und Dominanz tragen spekulative und dogmatische Züge, denn sie gehen einem natürlichen „Großmachtstreben und Hang zum Imperialismus“ aus, als handelte es sich um eine unveränderliche und metaphysische Wesensart. Es wäre dumm, die Bedeutung solcher Konzepte für die russische Gesellschaft zu leugnen, genauso wie die Überzeugung, Russland sei anderen Ländern und Völkern historisch überlegen, und die daraus resultierende Bereitschaft, Gewalt und Herrschaft über diese zu rechtfertigen. Das Problem liegt jedoch woanders, nämlich im Verständnis dessen, welche Rolle diese Vorstellungen in der Gesellschaft spielen (oder wie man in der Soziologie sagt, was ihre Funktion bei der Integration der Gesellschaft ist), wie weit sie in der Masse der Bevölkerung verbreitet sind und welche Gruppen sie für ihre Interessen und Zwecke einsetzen.   

    Für die absolute Mehrheit der Bevölkerung (62 bis 66 Prozent) umfasst die Idee des „Imperiums“ vor allem anmaßende und hochtrabende Vorstellungen von Russland als Weltmacht, aber keine militärische Expansion oder die Ausübung von Druck und Gewalt auf andere Länder. Ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung der kollektiven Identität (des Nationalstolzes) und die Legitimierung der Staatsmacht, die in den Augen der Bevölkerung dieses Image gewährleistet. Ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung (je nach Jahr, durchschnittlich 27 Prozent) ist jedoch für militärischen Expansionismus, obwohl sich nur eine Minderheit – drei bis neun Prozent – entschieden dafür ausspricht, dass die Regierung ihre Macht anderen Völkern und Ländern aufzwingen soll.

     

     

    Allerdings ist Widerstand gegen eine solche Politik von der großen Masse der Bevölkerung auch nicht zu erwarten: Die Identifikation mit einem Staat, der den Anspruch erhebt, Autorität und „Weltmachtstatus“ zu haben, geht mit passivem Konformismus und Opportunismus einher. Und das erst recht, wenn jegliche Ausformung der Zivilgesellschaft polizeilich ausgemerzt wird. 

    Was bleibt, ist eine schwache Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Teil der Russen hat in den letzten 20 Jahren begonnen, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, also die Würde des Menschen und des Landes insgesamt als Grundlage einer Weltmacht anzusehen. Dieser Parameter erreichte nach der Annexion der Krim seinen niedrigsten Wert (13 Prozent). Am höchsten (27 Prozent) lag er bei der letzten Messung vor der „Spezialoperation“ in den Jahren 2018 bis 2021.

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  • „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    Zehntausende Belarussen wurden nach den Ereignissen im Jahr 2020 Opfer von Repressionen und Verfolgungen, Hunderttausende haben aus Angst und Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine beeinflusst die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft. Eine Studie hat genau die untersucht. Sie zeigt, dass die Konfrontation zweier nationaler Ideen kritische Formen annimmt und einen Dialog zwischen Vertretern dieser polarisierten Gruppen praktisch unmöglich macht. Das Online-Medium Reform.by hat sich die Studie angeschaut. Hier die wichtigsten Ergebnisse.

    Die Studie Belarussische nationale Identität im Jahr 2023 wurde im November von unabhängigen Soziologen mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Daten wurden mittels einer Online-Umfrage erhoben, bei der die Fragebögen von den Befragten selbst ausgefüllt wurden (Computer Assisted Web Interviewing – CAWI). An der Umfrage nahmen 1205 Personen aus belarussischen Städten mit über 20.000 Einwohnern teil. Die Stichprobe ist hinsichtlich von Geschlecht, Alter und Bildungsstand repräsentativ.

    Die Soziologen stellen fest, dass die politische Krise, die 2020 in Belarus einsetzte, weiterhin die Lage im Land beeinflusst. Hinzu kommen der russisch-ukrainische Krieg und weltpolitische Veränderungen. Die Menschen in Belarus sind durch eine ganze Reihe von Ansichten polarisiert, eine zentrale ist dabei die nationale Identität. Diese wurde für viele zu einem Prisma, durch das die Bewertung des aktuellen Geschehens und der Zukunft des Landes erfolgt.

    Zwei nationale Projekte

    In Belarus existieren heute zwei konkurrierende nationale Projekte, die von Wissenschaftlern als russisch-sowjetisch bzw. als nationalromantisch beschrieben werden. Das erste greift auf das sowjetische Erbe zurück, ist auf Russland ausgerichtet und stellt den Staat als nationsbildende Institution in den Vordergrund. Das zweite ist eher proeuropäisch, bezieht sich auf die vorsowjetische Geschichte und betrachtet die belarussische Kultur als wesentliches Element der Nation. Der Kampf und die Wechselbeziehungen dieser Projekte wie auch der Einfluss der gegenwärtigen Identität Russlands, des Kosmopolitismus und national indifferenter Haltungen bestimmen die Besonderheiten der nationalen Identität der Belarussen.

    An den äußeren Identitätspolen sind zwei Gruppen angesiedelt, die „[National]bewussten“ (13 Prozent) und die „Sowjetischen“ (37 Prozent). Erstere engagieren sich für einen nationalromantischen Entwurf und orientieren sich an der belarussischen Kultur und Sprache sowie an der vorsowjetischen Geschichte des Landes. Für sie sind nationale Symbole und bedeutsame Gedenkdaten wichtig, etwa das Pahonja-Wappen, die weiß-rot-weiße Flagge, volkstümliche und geschichtsbezogene Feiertage wie der Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik.

    Die Gruppe der „Sowjetischen“ hängt – wie der Name schon sagt – einer Vorstellung an, die sich auf das russisch-sowjetische Imperium, das Erbe der belarussischen Sowjetrepublik und die Nähe zu Russland bezieht. Angehörige dieser Gruppe vertreten die Vorstellung von der Dreieinigkeit einer [ost]slawischen Nation. Zu ihren Symbolen und Gedenktagen gehören die rot-grüne Flagge, Staatsunternehmen, die Paraden [zum offiziellen Unabhängigkeitstag – dek] am 3. Juni und [zum sowjetischen Tag des Sieges – dek] am 9. Mai.

     

     

    Zwischen diesen beiden Polen liegen die Gruppen der „sich Entwickelnden“ (19 Prozent), der „Gleichgültigen“ (27 Prozent) und der „Russifizierten“ (4 Prozent). Für die „sich Entwickelnden“ sind die Merkmale beider Nationalideen kennzeichnend, sowie ein beträchtliches Interesse an globaler Identität und Multikulturalität. In diesem Segment gibt es viele junge Leute, oft mit einem guten Bildungsniveau. Die „Gleichgültigen“ hingegen sind praktisch kaum in den nationalen Projekten involviert und ihr Bildungsgrad ist beträchtlich geringer. Die „Russifizierten“ schließlich halten sich schlichtweg für Russen, und nicht für Belarussen.

    Linien der Spaltung

    Abhängig vom Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen und Gruppen in der belarussischen Gesellschaft haben die Soziologen hier vier Bereiche eines sozialen Konflikts identifiziert. Zwei von ihnen befinden sich an den Polen der politischen Konfrontation: Es sind die „überzeugten Gegner“ der derzeitigen Regierung und deren „überzeugte Anhänger“.

    Die „überzeugten Regierungsgegner“ machen 10 Prozent aus. Für sie ist einerseits ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gruppierungen kennzeichnend, und andererseits ein Vertrauen zu nichtstaatlichen Strukturen. Die „überzeugten Regierungsanhänger“ belaufen sich auf 23 Prozent. Und hier ist es genau umgekehrt: Sie vertrauen staatlichen Strukturen und misstrauen nichtstaatlichen Akteuren.

    Gleichzeitig habe sich – so die Soziologen – im Laufe des letzten Jahres die Anzahl der „überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert, während die der „überzeugten Regierungsanhänger“ gestiegen ist. Zwischen diesen beiden Gruppen liegen zwei gemäßigtere. Das sind einerseits die „gemäßigten Regierungsgegner“ (28 Prozent). Diese ist die am stärksten zentristische Gruppe, die weder den staatlichen noch den nichtstaatlichen Strukturen groß vertraut. Wenngleich sie dazu neigt, eher den letzteren Vertrauen entgegenzubringen. Die Soziologen stellen fest, dass diese Gruppe in wesentlich geringerem Maß mit der Agenda der demokratischen Bewegung in Berührung kommt. Es wird für die Bewegung ein harter Kampf werden, Vertreter dieser Gruppe auf ihre Seite zu ziehen.

    Wie sind also die Wechselbeziehungen zwischen den politischen und wertebezogenen Gruppen und die Haltung der Anhänger und Gegner der Regierung zu den beiden Ideen, der nationalromantischen und der russisch-sowjetischen? Wir sehen deutlich, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ hauptsächlich aus „Sowjetischen“ bestehen (69 Prozent), während die „überzeugten Regierungsgegner“ über die Hälfte „[National]bewusste” sind.

     

     

    Dabei verweisen die Soziologen darauf, dass der Anteil [in Bezug auf die nationale Idee] von „Gleichgültigen“ angestiegen sei, und zwar unter den „gemäßigten Regierungsanhängern“ wie auch bei den „gemäßigten Gegnern“ [der Regierung]. Bei denen, die der aktuellen Regierung vertrauen, betrug der Anstieg 12 Prozentpunkte. Bei jenen, die nichtstaatlichen und oppositionellen Strukturen vertrauen, waren es 14 Prozentpunkte. Was bedeutet, dass die politischen Gruppen und die Identitätsgruppen eng zusammenhängen. Dies ist auch am Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen erkennbar.

    Doch insgesamt halten die Soziologen fest: 2023 ist das Vertrauen in staatliche Strukturen und Gruppierungen im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen. Das Vertrauen in sämtliche nichtstaatliche Strukturen hingegen ist deutlich zurückgegangen: Weniger als ein Drittel der Befragten ist geneigt, ihnen zu vertrauen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Jahres der Anteil „der überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert und der „überzeugten Regierungsanhänger“ erhöht.

    Hervorzuheben sind auch erhebliche Unterschiede zwischen „überzeugten Regierungsanhängern“ und „gemäßigten Regierungsanhängern“ hinsichtlich des Vertrauens in staatliche Organisationen und Institutionen. Das betrifft das Vertrauen in die staatlichen Medien und in die Beamtenschaft: Die „Gemäßigten“  bringen ihnen in erheblich geringerem Maße Vertrauen entgegen. Zudem äußert über die Hälfte der „gemäßigten Regierungsanhänger“ ein Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Strukturen. Am häufigsten werden dabei nichtstaatliche Medien genannt sowie Menschen, die aus Angst vor Repressionen das Land verlassen haben, und jene, die die Wahlergebnisse von 2020 nicht anerkennen.

    Naturgemäß unterscheiden sich die Gruppen der „[National]bewussten” und der „Sowjetischen“ am stärksten voneinander. Im Grunde wiederholt sich hier das gleiche Muster wie bei den „überzeugten Regierungsgegnern“ und „überzeugten Regierungsanhängern“. Die „[National]bewussten” vertrauen in höherem Maße allen nichtstaatlichen Strukturen und vertrauen staatlichen Institutionen seltener. Die „Sowjetischen“ hingegen vertrauen staatlichen Strukturen in sehr hohem Maße und wesentlich seltener nichtstaatlichen oder oppositionellen Stellen. Für die „gemäßigten Regierungsgegner“ wiederum ist ein gleich großes Vertrauen gegenüber beiden Strukturen typisch.

    Die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen nämlich beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben

    Was ist der Grund für das gewachsene Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen? Einer der Autoren der Studie, der Soziologe Filipp Bikanow, ist der Ansicht, dass hier ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmend sei. Zum einen wäre da der Konsens gegen den Krieg: Die Mehrheit ist überzeugt, dass sich die belarussische Armee so weit wie möglich aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten sollte. Und die Regierung unterstützt diese Haltung zumindest verbal. Zweitens steigt der Lebensstandard der Belarussen zwar nicht rapide, er sinkt aber auch nicht katastrophal. Und die Menschen spielen gedanklich verschiedene Szenarien durch – denn die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben.

    Bikanow nimmt an, dass das Jahr 2020 für viele schon der Vergangenheit angehört. Und alle, die nicht zur Gruppe der „überzeugten Regierungsgegner“ zählen, leben ihr eigenes, gewohntes Leben weiter. Aber auch die erzwungene Emigration sollte nicht außer Acht gelassen werden: Viele, die der Regierung  nicht trauten und nicht trauen, haben das Land verlassen, was die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt. 

    Informationskokon

    Ein weiterer Faktor, den Bikanow anführt: Die meisten Belarussen befinden sich heute im Informationsraum der staatlichen belarussischen und der russischen Medien. Die Konfliktparteien leben in unterschiedlichen medialen Blasen: Die „überzeugten Regierungsanhänger“ sind hauptsächlich Konsumenten der staatlichen Medien, während die „überzeugten Regierungsgegner“ vorwiegend nichtstaatliche Medien nutzen.

     

     

    Das ergibt sich aus der Säuberung des Mediensektors: In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Medien aktiv versperrt, besonders zu jenen, die über Politik berichten. Gleichzeitig werden verstärkt die eigenen und die russischen Narrative verbreitet, die – das sehen wir jetzt – höchst destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.

    Mangel an Empathie

    Ein Aspekt der Studie verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt es Grund zur Sorge.Die Studien vergangener Jahre haben gezeigt, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ und die „überzeugten Regierungsgegner“, die höchst unterschiedliche Ansichten zur Weiterentwicklung des belarussischen Staates haben, eine starke gegenseitige Abneigung hegen. Diese geht so weit, dass Kontakt vermieden wird. Dabei blieb diese Frage jedoch unbeantwortet: Wie tief geht diese Abneigung, und betrifft sie nur die politischen Meinungsunterschiede?

    Die Forscher wollten überprüfen, wie schwer es Anhängern und Gegnern der Regierung fällt, Empathie und Mitgefühl für politische Opponenten zu bekunden. Empathie wurde in dieser Studie als Verständnis für das Unglück eines anderen Menschen definiert, und als Einfühlungsvermögen aus dem Bedürfnis heraus, die Leiden des Anderen vermindern zu wollen.

    Es scheint, dass die Vertreter der beiden politischen Pole in geringerem Maße bereit sind, mit jemandem mitzufühlen, der in eine schwierige Lage geraten ist, wenn dieser der jeweils anderen Gruppe angehört. Das gilt übrigens unabhängig von der Art der schwierigen Situation, sei es eine politisch motivierte Entlassung oder eine Alltagssituation wie eine Erkrankung.

    Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen

    Die Soziologen konstatieren, dass die gesellschaftspolitische und  identitätsbezogene Spaltung auch von einer psychologischen unterfüttert wird. In dieser Hinsicht bilden die Vertreter der „überzeugten Regierungsgegner“ und der „überzeugten Regierungsanhänger“ die Protagonisten dieses heftigen gesellschaftlichen Konflikts. Sie zeigen die geringste Empathie füreinander. Auch wenn sie den eigenen Leuten gegenüber sehr empathisch sind. Wobei die „überzeugten Regierungsgegner“ sowohl gegenüber den Eigenen wie auch gegenüber einer außenstehenden Gruppe etwas empathischer sind als die „überzeugten Regierungsanhänger“.

    Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein Dialog zwischen den beiden Gruppen praktisch unmöglich ist. Die „überzeugten Regierungsanhänger“, die ihre Gegner nicht verstehen, werden wohl dazu neigen, den „Fremdlingen“ sofort mit Aggression zu begegnen. Und die „überzeugten Regierungsgegner“, bei denen die Unterstützung für die eigenen Leute am größten ist, und die zusammenhalten, wenn sie angegangen werden, sehen sich genötigt, bei ihrem Kurs zu bleiben und sich zu verteidigen.

    Die gemäßigten Gruppen sind erheblich empathischer gegenüber Menschen mit gegenteiligen Standpunkten. Somit ist ein aktiver gesellschaftlicher Dialog anscheinend nur zwischen den Gemäßigten möglich, weil sie ungefähr in gleichem Maße mit der eigenen und der anderen Gruppe mitfühlen. Gleichzeitig äußern auch die „Sowjetischen“ und “die „[National]bewussten” – ganz wie die „überzeugten Regierungsgegner“ und die „überzeugten Regierungsanhänger“ – gegenüber einer fremden Gruppe weniger Mitgefühl, Verständnis und empathische Regungen.

    Die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft beunruhigt die Soziologen. Das Vorgehen der Regierung und ihrer Propagandisten, das die Belarussen auseinanderbringen soll, bleibt nicht ohne Wirkung. Dadurch wird die identitätsbezogene Konfrontation der beiden nationalen Ideen zu einem Faktor, der sogar auf der Empathie-Ebene wirkt.

    In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden. Für die „sowjetischen“ Anhänger der Regierung würden politische Veränderungen ebenso ein Trauma bedeuten, wie die aktuelle Stagnation und die Repressionen für die „[National]bewussten” und die Verfechter der nationalromantischen Idee ein Trauma darstellen. Diese Eisschollen werden wohl weiter auseinanderdriften. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen. Die Lösung dieses Problems wird wohl eine der wichtigsten Aufgaben sein, die die derzeitige Situation im Land für die gesamte Gesellschaft ergibt. Die Frage ist äußerst weitreichend: Schließlich könnte die ideologische Konfrontation der beiden nationalen Ideen sehr wohl blutig enden.

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