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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der bis heute wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Die Vielzahl an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.

    Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images

    Wie im Spiel Minesweeper

    Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Sonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.

    Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.

    Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft

    Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.

    Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.

    Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland

    Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.

    Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.

    Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.

    Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditgebern aufbauen können. 

    Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet

    Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte. 

    In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden. 

    Die Rezepte sind bekannt

    Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigen. 

    Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig. 

    Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.

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  • „Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah“

    „Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah“

    Der Krieg hat viele Eltern in der Ukraine vor schwerste Entscheidungen gestellt: Auf der einen Seite steht der natürliche Wunsch nach Sicherheit für die eigenen Kinder und sich selbst. Auf der anderen Seite steht oft das Bedürfnis, die eigene Heimat im Überlebenskampf nicht im Stich zu lassen. Und das geltende Kriegsrecht, das wehrpflichtigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ausreise nur in Ausnahmefällen gestattet. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben nach aktuellen Angaben der UNO rund sechs Millionen Menschen aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder – Zuflucht im europäischen Ausland gefunden. 

    „Meine Familie plant heimzukehren. Denn es gibt kein Ausreiserecht für den Vater, der seine Kinder sehen möchte, der will, dass sie Ukrainer bleiben und seine Familie nicht zerbricht. Ich habe gesehen, wie viele gute Familien nach 2022 über die Entfernung einfach aufgehört haben, eine Familie zu sein. Ich will nicht, dass das mit meiner Familie passiert.“ Das sagt Olexii Erintschak, ein Buchhändler aus Kyjiw. 

    Walerija Pawlenko hat für das ukrainische Portal Texty.org.ua drei Geschichten von Familien gesammelt, die der Krieg getrennt hat. Ein Text über Väter, die das Aufwachsen ihrer Kinder nur über das Handy verfolgen können, über Reisen in die unsichere Heimat und über Ängste vor Entfremdung und den Verlust der Identität.

    Am Bahnhof von Lwiw im Westen der Ukraine warten vor dem Krieg flüchtende Menschen auf die Abfahrt des Zuges / Foto © Ty O Neil/ZUMA/imago-images

    Wenn man das Gesetz bricht, um den Sohn zu sehen

    Kurz vor der groß angelegten Invasion ließen sich Ihor (alle Namen in dieser Geschichte wurden auf Wunsch des Mannes geändert) und seine Frau Olena scheiden, zogen aber ihren Sohn Sascha weiterhin gemeinsam groß. Im Januar 2022 beschlossen sie, das Kind aus Kyjiw in die Westukraine, nach Lwiw, zu bringen. Nach dem Beginn der Invasion kam Ihor nach.

    Am 24. Februar wurde bekannt, dass die Russen mehrere Militäreinheiten in der Region Lwiw angegriffen hatten, und Anfang März starteten sie Raketenangriffe auf Lwiw und das Truppenübungsgelände Jaworiw. Der Westen der Ukraine war kein sicherer Ort mehr, sodass Olena sich entschloss, mit ihrem Sohn ins Ausland zu gehen.

    Ihor unterstützte diese Entscheidung, damit sein Sohn in Sicherheit war: „Ich wollte nicht, dass mein Kind ständig in diesen stressigen Umständen lebt, in der ständig Sirenen ertönen und vor dem Fenster Geschosse explodieren.“

    Sascha und seine Mutter gingen nach Polen, und Ihor merkte, dass er seinen Sohn sehr vermisste. Fast ein Jahr später fand er, wie er es nennt, einen halblegalen Weg, um ins Ausland zu fahren, und verbrachte drei Wochen mit seinem Sohn.

    Später kamen seine Frau und sein Sohn in die Ukraine, um den Vater in die Armee zu verabschieden

    „2022 war für mich ein sehr angsteinflößendes Jahr. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht in der Armee war, mir kam es vor, als würde ich irgendeinen Blödsinn machen. Am Ende des Jahres war ich schon fast so weit und wollte in den Krieg ziehen. Mir war klar, dass ich meinen Sohn vielleicht für lange Zeit nicht sehen würde. Als sich also die Gelegenheit ergab, ins Ausland zu fahren, habe ich sie ergriffen“, sagt Ihor.

    Ein paar Monate später kamen seine Frau und sein Sohn zu Ihor in die Ukraine, um Saschas Geburtstag zu feiern und den Vater in die Armee zu verabschieden.

    In den zweieinhalb Jahren des großen Krieges hat Ihor seinen Sohn nur viermal gesehen und schätzt diese Begegnungen sehr.

    „Wir telefonieren sehr oft, aber solche Gespräche sind halt nur so lala. Früher hat er mir einfach seine Spielsachen gezeigt, aber jetzt frage ich ihn, wie es im Kindergarten war, wie es seinen Freunden geht, was zu Hause so los ist. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm: spielen, lesen, irgendwohin gehen, irgendwelche Aktivitäten. Wenn wir uns sehen, sind wir jeden Tag unzertrennlich: Wir gehen auf den Rummel, in Museen, immer zusammen“, erinnert sich Ihor.

    „Ich finde es furchtbar, dass mein Kind größer wird, sich verändert, und ich es nicht sehe. Er ist ein sehr interessanter Junge, und ich würde das alles gerne mit ihm erleben.“

    Unsere Gesellschaft wird noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein

    Ihor sagt, er sei sich nicht sicher, ob sein Sohn in die Ukraine zurückkehren wird. Er möchte, dass der Junge in einem ruhigen Umfeld aufwächst.

    „Natürlich war ich traurig, dass er die Ukraine verlassen hat. Aber Sascha spricht weiterhin Ukrainisch und weiß, dass er Ukrainer ist, obwohl er bereits Polnisch gelernt hat. Im Herbst wird er auf eine polnische Schule gehen, er hat dort schon Freunde. Ich verstehe, dass ein Umzug, besonders während des Krieges, für Kinder schwierig ist. Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird, denn es scheint mir, dass unsere Gesellschaft noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein wird.“

    „Wir verlassen die Ukraine zum letzten Mal“

    Olexii Erintschak, Gründer der Kyjiwer Buchhandlung Sens, fand sich in einer ähnlichen Situation. Er bereitete sich auf die Invasion vor: Seine Frau und seine Söhne Orest und Oles hatten Tickets für eine Ausreise aus der Ukraine am 26. Februar 2022. Aber die Invasion begann, und er musste seine Familie mit dem Auto zur Grenze bringen.

    Olexii sagt, dass er anfangs beruhigt war, als seine Familie im Ausland war: Er konnte sich auf die Arbeit und den Freiwilligendienst konzentrieren und musste sich keine Sorgen um seine Söhne und seine Frau machen. Er hat sich sogar daran gewöhnt, allein zu sein – er arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus, also lenkt ihn niemand mehr von der Arbeit ab.

    Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie

    Aber mit der Zeit setzt ein solches Leben zu: „Es ist zermürbend, wenn man nach Hause kommt und alles, was man noch hat, ist, wieder zu arbeiten oder einen Film anzusehen. Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie.“

    Aber das Schwierigste für Olexii ist, dass er verpasst, wie seine Kinder aufwachsen.

    „Meine Kinder sind gerade in einer so interessanten Phase – die Jungs sind sechs und acht Jahre alt, es zeigen sich individuelle Eigenschaften bei ihnen. Und ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie mir ständig Videos schickt, dank derer ich interessante Momente aus ihrem Leben ansehen kann, oder sie erzählt mir davon.

    Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne

    Aber die Geschichten von diesen Momenten zu hören und ein Zeuge von ihnen zu sein, sind zwei Paar Schuhe. Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne. Ich habe doch nicht eine Familie gegründet, wenn sie dann irgendwo weit weg ist, ich bin doch kein Seemann“, scherzt Olexii.

    Und auch die Jungs vermissen ihren Vater sehr. Olexii erinnert sich: Als er die Kinder unmittelbar nach Beginn der Invasion wegbrachte, war ihnen nicht klar, dass sie so lange von ihrem Vater getrennt sein würden. Während Olexii fuhr und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass ein vollumfänglicher Krieg begonnen hatte, spielten seine Söhne hinten im Auto auf dem Tablet. Aber schon bei den nächsten Treffen weinten Orest und Oles, als die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater zu Ende ging.

    „Nach einem dieser Treffen fuhr ich zurück nach Kyjiw, und auf dem Weg dorthin spielte sich ein langer Monolog in meinem Kopf ab. Ich wägte ab, ob ich alles richtig mache, zweifelte, ob ich überhaupt das Richtige tue, weil ich jetzt nicht mehr bei meiner Familie bin“, erinnert sich Olexii. Er und seine Frau diskutierten viele Monate lang, ob die Kinder in die Ukraine zurückkehren sollten, denn es ist ja ein großes Risiko.

    Es waren schließlich die Kinder, die nach der letzten Zusammenkunft der Familie auf ukrainischem Boden im April dieses Jahres dazu beitrugen, die Zweifel zu zerstreuen.

    „Ich brachte die Kinder zum Zug und fuhr nach Hause. Danach erzählte mir meine Frau, dass der jüngste Sohn beim Einsteigen in den Zug nach Polen sagte: „Dies ist das letzte Mal, dass wir die Ukraine verlassen“, erinnert sich Olexii.

    In ein paar Monaten werden Olexiis Kinder und seine Frau endlich nach Hause zurückkehren.

    „Ich muss cool sein für meinen Sohn“

    Hlib, der dritte Held unseres Artikels, hat eine dramatischere Geschichte. In den ersten Tagen der vollumfänglichen Invasion waren er und seine Familie von den Russen umzingelt und seine Stadt konnte sehr schnell besetzt werden. Ihm, seiner Freundin Julia (Name geändert) und seinem Sohn gelang es auf wundersame Weise, aus der Einkesselung zu entkommen – die Familie fuhr mit dem Auto an einen sichereren Ort.

    Auf dem Weg hielt er bei seinen Eltern an, aber seine Freundin bestand darauf, dass sie noch weiter weg müssten. Das Paar hatte schon vor der Invasion eine schwierige Beziehung gehabt, aber während dieser stressigen Zeit verschlechterte sich die Situation. Julia stritt sich mit Hlibs Eltern und beschuldigte ihn, ihr das Kind wegnehmen zu wollen.

    Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah

    „Sie packte ihre Sachen, schnappte sich den Sohn und ging einfach weg. Dann riefen mich ihre Freunde an und sagten, sie habe die Pässe vergessen. Ich brachte ihnen die Pässe. Ich versuchte, mit meinem Sohn zu sprechen, aber aus irgendeinem Grund war er mir gegenüber sehr feindselig. Das war der letzte Tag, an dem ich ihn sah“, erinnert sich Hlib.

    Danach war die Verbindung zu seiner Freundin fast abgebrochen. Julia ging ins Ausland und sprach nicht mehr mit Hlib. Er erfuhr nur durch gemeinsame Bekannte, was mit seinem Sohn geschah.

    „Ich erfuhr, dass die Stadt, in der sie leben, ein Postamt hat, also beschloss ich, meinem Sohn blindlings ein Paket zu schicken. Sie nahm es an, ohne zu reagieren. Ich schickte noch ein paar Pakete und versuchte von ihr zu erfahren, was meinem Sohn gefällt, damit ich es ihm zum Geburtstag schenken konnte. Aber alles, was ich bekam, waren die Worte ,Er hat Sommersprossen auf der Nase‘“, meint Hlib.

    Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte

    Er erzählt, dass es anfangs sehr schwer für ihn war: „Ich ging durch die Stadt und erinnerte mich, wo mein Sohn und ich spazieren gegangen waren, wo er geschrien und dem Echo seiner Stimme gelauscht hatte. Einmal sah ich in der Stadt ein anderes Kind auf dem Roller meines Sohnes – es war sehr schmerzhaft. Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, wenn er schlief, unsere gemeinsamen Morgen als Familie, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte, was sehr lustig war, weil es mich kitzelte.“

    Hlib sagt, dass er eine Seite erstellt hat, auf der er Briefe an seinen Sohn verfasst, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages sehen wird. Er hat sich lange Vorwürfe gemacht, den letzten Streit immer wieder in seinem Kopf durchgespielt und überlegt, was er hätte ändern können. Aber dann fand er, dass er in den Augen seines Sohnes nicht erbärmlich wirken wollte.

    „Eines Tages stellte ich mir vor, dass er mich plötzlich anruft und ich fange an, mich bei ihm zu beschweren, ihm zu sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne, und ihn mit dieser Lawine von Gefühlen überschütte. Aber das sind zu starke und schmerzhafte Emotionen für ein Kind, das hält er nicht aus. Das war für mich der Ansporn, mich zum Besseren zu verändern. Jetzt erzähle ich auf dieser Seite nicht über mein Leben und schreibe nicht, wie traurig ich bin, wie ich es früher getan habe, sondern schreibe ein paar Witze, nehme Märchengeschichten auf, etwas Positives.

    Ich weiß, dass meine Situation nicht einzigartig ist“, sagt Hlib. „Und ich möchte allen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, einen Rat geben: Seid cool für Eure Kinder. Sportlich, interessant, lustig. Seid die beste Version von Euch selbst. Kinder mögen keine jammernden Erwachsenen, das interessiert sie einfach nicht.“


    Der ukrainische Originaltext wurde unter Creative-Commons-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht.

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  • „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    Es macht einen Unterschied, ob jemand über ein Land schreibt oder aus diesem heraus berichtet – insbesondere, wenn dieses Land das eigene ist und sich im Krieg befindet: In einer Kolumne für die Ukrajinska Prawda berichtet die ukrainische Journalistin Alina Poljakowa über einen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in europäischen Redaktionen, über typische Fragen zu Korruption und Pressefreiheit in der Ukraine sowie das Schreiben über die Heimat im Überlebenskampf.

    Journalisten berichten im März 2022 über die Folgen eines Beschusses der Stadt Wassylkiw bei Kyjiw / Foto © Imago, NurPhoto

    In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit meinen ukrainischen Kollegen 18 Redaktionen ausländischer Medien in sechs europäischen Ländern besucht und mit mehr als hundert ausländischen Kollegen gesprochen.

    Wir wurden gefragt: „Wie können wir die Berichterstattung über die Ukraine in unseren Medien verbessern?“ oder „Auf welche anderen Themen sollten wir die Aufmerksamkeit lenken?“ Sie boten uns an, etwas gemeinsam zu machen, und haben uns für die Arbeit gedankt. 

    An anderer Stelle wurden komplexe und wichtige Fragen aufgeworfen, auf die ich weiter unten eingehen werde, und wieder woanders wurde Propaganda beklagt.

    Korruption in der Ukraine

    Beginnen wir mit den Fragen. Zur Korruption in der Ukraine wurden am häufigsten Fragen gestellt. Definitiv war diese Frage in allen drei deutschen Redaktionen zu hören.

    Meine Kollegen und ich haben es sogar geschafft, einen internen Witz darüber zu machen, denn in jeder dieser Redaktionen mussten wir das Gleiche wiederholen: Alle Recherchen zur Korruption in der Ukraine in den letzten gut zwei Jahren wurden von ukrainischen Journalisten veröffentlicht – man denke nur an die Eier für 17 Hrywnja oder an die türkischen Jacken. Und, vor allem: Es hatte Konsequenzen. Die Leute verloren ihre Positionen. 

    Als wir gefragt wurden, ob es deswegen interne Konflikte gebe, ob solche Stücke während des Krieges publiziert werden sollen, waren sich alle einig, dass das Thema behandelt gehört, wenn es gesellschaftlich wichtig ist und die Situation im Land verbessern kann.

    Natürlich wurde auch nach Verfolgung gefragt: etwa die Überwachung von Journalisten von Bihus.info und Einberufung als Rache für die Journalisten von Slidstvo.info. Unsere internen Angelegenheiten sind nicht so intern, was übergangslos zur nächsten Frage führt. 

    Meinungsfreiheit

    Auch das Thema Meinungs- und Pressefreiheit in der Ukraine stand ganz oben. Nicht zuletzt wegen der beiden oben beschriebenen Fälle. 

    Stellenweise klang es auch ein wenig ungläubig: „Könnt ihr überhaupt während des Kriegsrechts über alles schreiben?“ Wo sich herauslesen ließ: „Können wir Euch, den ukrainischen Medien, vertrauen?“ Auch das Thema Objektivität tauchte mehr als einmal auf. 

    Aber seltsamerweise fühlen sich die Medien in der Ukraine meiner persönlichen Wahrnehmung nach während des Krieges freier an als in Ungarn ohne den Krieg. Zwei der drei Medien, die wir dort besucht haben, hatten ihren Sitz in gemieteten oder gekauften Wohnungen, weil es für sie schwierig ist, überhaupt ein Büro zu mieten. Und Geschichten wie die über UMH und Kurtschenko trifft man dort oft an. 

    Obwohl wir noch viel vor uns haben, wenn wir uns beispielsweise an den Telemarathon oder die Situation mit Ukrinform erinnern.

    Verhandlungen

    Am Vorabend des Friedensgipfels [am 15./16. Juni in der Schweiz – dek] gab es viele Fragen über Frieden und Verhandlungen. „Unsere Leser wollen wissen, wohin das alles führt“, hieß es. 

    Also, ich würde auch gerne wissen, wohin das führt. Aber bisher mussten wir in jeder Redaktion, in der das gefragt wurde, über Minsk 1, Minsk 2 und die „Position der Stärke“ als einzig möglicher Option für die Ukraine sprechen, in der die Ukraine in solche Verhandlungen eintreten kann. Vorausgesetzt, dass auch Russland das will. Russland zeigt jedoch keine Anzeichen der Bereitschaft dazu, sondern versucht nur, so viel wie möglich zu zerstören. 

    Reisen in die besetzten Gebiete

    Was in den besetzten Gebieten passiert, ist sowohl für ausländische als auch für ukrainische Medien von Interesse. Der einzige Unterschied ist, dass es für ukrainische Journalisten einfach unmöglich ist, dorthin zu fahren, weil wir wissen, was das für Folgen haben kann. Einige ausländische Journalisten fragen sich, ob es für sie möglich ist.

    Im Laufe der Gespräche sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen nicht gegen die Gesetze der Ukraine verstoßen will, und genau das würde passieren, wenn sie zum Beispiel von Russland aus auf das Territorium der Krim einreisen würden, was jetzt die einzige Option ist.

    Sie würden auch ihre Russland-Korrespondenten nicht dorthin schicken (die sie immer noch haben), weil sie verstehen, dass die Realität und das, was sie vor Ort zeigen dürfen, sehr unterschiedlich sein kann. So geschehen zum Beispiel bei dem Journalisten des ZDF.

    Nicht synchron

    Und obwohl wir in den meisten Fällen mit allen eine gemeinsame Basis und eine gemeinsame Sprache fanden, selbst als es um „gute Russen“ (!) ging, kamen unsere Meinungen in einigen Fällen nicht überein.

    Das anschaulichste Beispiel ereignete sich auf einem Diskussionspanel mit einem spanischen Fotografen, der acht Jahre lang den Einmarsch Russlands in die Ukraine einen „Bürgerkrieg“ genannt hatte, während er auf der Krim und im Donbas fotografierte, dem aber 2022 anscheinend alles klar wurde.

    Die Gedanken, die er in dem ihm eigenen Ton weiter äußerte, veranlassten mich und meine Kollegen schließlich, den Raum zu verlassen, was er mit den Worten kommentierte: „Das ist es, was Propaganda von Journalismus unterscheidet.“

    Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional.

    In solchen Momenten möchte ich gerne sehen, wie diese Leute arbeiten würden, wenn der Krieg in ihr Land kommt.

    Denn es ist eine Sache, nach Libyen, Syrien oder in die Ukraine zu fahren, um eine Pulitzer-Preis-würdige Geschichte zu finden.

    Eine andere Sache ist es, Berichterstattung über die Folgen des Beschusses deiner Heimatstadt zu machen, von Orten zu berichten, an denen deine Freunde möglicherweise getötet worden sind, Kollegen in den Krieg zu verabschieden und Freunde und Verwandte zu begraben.

    Ein bisschen spät zum „Tag des Journalisten“, und dennoch möchte ich meinen ausländischen Kollegen danken, die weiterhin über den Krieg in der Ukraine berichten, und natürlich unseren ukrainischen Kollegen, die einfach keine andere Wahl haben.

    Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit lauter zu schreien als die russische Propaganda schreit.

    Machen wir also weiter.

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  • Eine neue „goldene Generation“ im ukrainischen Fußball

    Eine neue „goldene Generation“ im ukrainischen Fußball

    Das ganze Land steht hinter der Sbirna, der ukrainischen Nationalmannschaft, die gegen Rumänien in die Fußball-Europameisterschaft startet. Der Druck ist groß, die Erwartungen sind hoch – man will  der eigenen Bevölkerung, die sich im Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg befindet, ein paar Momente des Glücks und der Genugtuung bescheren. Entsprechend groß ist auch die Hoffnung auf das Weiterkommen des Teams von Trainer Serhij Rebrow, das sich auch in Zeiten des Krieges weiterentwickelt hat. 

    Der ukrainische Journalist Yuriy Konkevych erklärt die Gründe für den kleinen Aufschwung im Fußball seines Landes und die Bedingungen, unter denen der Ballsport in Zeiten des Krieges stattfinden kann.

    Russisches Original

    Während eines Spiels in der Region Iwano-Frankiwsk knien Kinder nieder, um einem gefallenen Soldaten zu gedenken / Foto © Oleksandr Bondarenko

     

    Russland beschießt nach wie vor jeden Tag ukrainische Städte mit Raketen und Kamikaze-Drohnen, und dennoch wurde seit Februar 2024 erlaubt, dass ein Teil der Fans wieder in die Stadien zurückkehrt. Viele Teams hatten gefordert, das Reglement zu ändern und wieder Zuschauer zuzulassen. Es geht nicht ums Geschäft. Der Erlös aus dem Ticketverkauf kann gerade mal die Kosten der Spiele decken. Die Clubs wollten, dass die Arenen nicht verwaist sind, auch nicht während des Krieges. Präsident Wolodymyr Selensky  hatte seinerzeit, im Sommer 2022, die Entscheidung zur Wiederaufnahme des Profifußballs in der Ukraine – damals noch ohne Zuschauer – als Versuch deklariert, zu einem „normalen Leben“ zurückzukehren.

    „Wenn es erlaubt ist, große Konzerte zu veranstalten, wenn die Theater und Kinos geöffnet sind, warum sollen dann Fußballspiele mit Zuschauern untersagt sein? Die Fußballer spielen für die Fans.“ So fasste dann Ihor Nadein, der Präsident von Weres Riwne, gegenüber der Leitung des Ukrainischen Fußballverbandes (UAF) das Problem zusammen. Er und die Manager anderer Clubs wurden dann im Winter 2024 erhört. In dem neuen Reglement wurden rund 100 Anforderungen aufgestellt, die zu erfüllen waren, bevor man wieder Zuschauer in die Stadien lässt. Die wichtigste war, dass es in mindestens 500 Metern vom Stadion Luftschutzräume geben muss, die zu Fuß innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. In die Stadien werden genauso viele Fans gelassen, wie die Schutzräume aufnehmen können. Der Zugang zum Stadion muss durch Metalldetektoren erfolgen.

    Die Fußballer waren von den Neuerungen begeistert. „Das letzte Mal haben wir vor der Coronapandemie so viele Zuschauer gesehen“, sagte mir der Verteidiger bei Weres Riwne Olexander Kutscherenko nach einem Heimspiel. Es wurde nicht von Luftalarm unterbrochen. Das war eher eine Ausnahme als die Regel. Manchmal wurden die Begegnungen aber gleich mehrere Male durch russische Luftangriffe unterbrochen.

    Andrij Schewtschenkos Reformen im ukrainischen Fußball

    Dass die Fans wieder in die Stadien gelassen werden, ist nicht die einzige Reform, die Andrij Schewtschenko, Superstar des ukrainischen Fußballs und seit Januar 2024 Präsident des UAF, anstieß. Der Verband war über ein Jahr praktisch führungslos gewesen. Gegen den vorherigen Präsidenten Andrij Pawelko liefen Ermittlungen in einem Korruptionsfall. Die Probleme im ukrainischen Fußball sind durch den Krieg natürlich nur größer geworden. Ein Teil der Clubs ist von der Bildfläche verschwunden. Einige Hundert Schüler von Fußballakademien der Vereine sind ins Ausland gegangen. In der Liga gab es viele Schiedsrichterskandale und die Eigentümer der Vereine konnten sich nicht auf gemeinsame Übertragungsrechte für das Fernsehen einigen.

    Die Umstände der Rückkehr von Schewtschenko in die Ukraine, dessen Familie in London lebt, wurden von Fans und Journalisten viel diskutiert. Es wurde vermutet, dass dessen Wahl zum Präsidenten des UAF nicht ohne administrativen Druck seitens der Kanzlei des Präsidenten erfolgt sei. Dieser wollte wohl an der Spitze des ukrainischen Fußballs einen „seiner Leute“ sehen. Die Führungsstruktur des ukrainischen Fußballs ist derart aufgebaut, dass die regionalen Verbände von Leuten angeführt werden, die der Exekutive nahestehen. So war es wohl nur schwer zu bewerkstelligen, einen UAF-Kongress einzuberufen, auf dem Schewtschenko einstimmig zum neuen Präsidenten gewählt wurde, ohne dass es dann wenigstens indirekte Hinweise auf die Präsidialkanzlei gab.

    Schewtschenko, der legendäre Spieler und Trainer, begann seine neue Aufgabe mit abrupten Schritten: Fans wurden zu den Spielen zugelassen, im Verband wurde das gesamte Management ausgewechselt, bei den Spielen der Premjer-Liha werden die Schiedsrichter jetzt per Los angesetzt, und die Referees werden mit Lügendetektoren gecheckt. Die Premjer-Liha hat eine eigene Plattform zur Übertragung der Spiele geschaffen und will damit Geld machen. Im Verband gibt es jetzt eine Stelle für interne Ermittlungen, die die Korruption im ukrainischen Fußball bekämpfen soll.

    Investitionen und neue Spieler auf dem Markt

    Es klingt absurd, aber die Situation des ukrainischen Fußballs hat sich im dritten Jahr der russischen Vollinvasion verbessert. In den drei Profiligen spielten in der abgelaufenen Saison 50 Clubs: 16 in der Premjer-Liha, 20 in der Ersten Liga und 14 in der Zweiten Liga. Mehr noch: Auf dem Fußballmarkt der Ukraine gibt es jetzt neue Spieler, weil große Unternehmen nun in den Fußball investieren. Dabei werden die Gelder nicht nur für den Kauf neuer Spieler eingesetzt wie zu Zeiten des sogenannten Oligarchen-Fußballs, sondern auch für Marketing und Jugendakademien.

    Um Erfolge auf der europäischen Ebene kämpfen jetzt nicht nur Dinamo Kyjiw und Schachtar Donezk, sondern auch Dnipro-1 aus Dnipro. Krywbas trägt seine Spiele in Krywy Rih aus, unweit der Front. Der Club, der von Leuten wiederbelebt wurde, die Präsident Selensky nahestehen, gehört in der Premjer-Liha zur Spitzengruppe. In Lwiw hat zwischen den Vereinen Karpaty und Ruch ein Wettringen um Talente und Zuschauer begonnen. Ersterer ist traditionell ein Aushängeschild der Stadt und wird von dem Zuckermagnaten Wolodymyr Matkiwski gesponsort. Karpaty konnte mit einem zweiten Platz sogar seine Rückkehr in die Premjer-Liha sichern. Die Mannschaft wird von Miron Markewitsch trainiert, der Dnipro 2015 bis ins Finale der Europa League geführt hatte.

    Die ukrainische Nationalmannschaft singt die Nationalhymne beim Freundschaftsspiel gegen Polen in Warschau am 7. Juni / Foto © Maciej Rogowski/ZUMA Press Wire/IMAGO

    Ruch wurde von Hryhorii Koslowsky aufgebaut, dem reichsten Unternehmer der Stadt, der auch weiter in den Verein investiert. Die Fußballakademie von Ruch gilt als die beste in der Ukraine. Die U 19 ist stets bei den Jugendturnieren der UEFA vertreten. Und dann sorgte Polissja Schytomyr für Aufsehen. Der Club wurde im Herbst 2021 von Hennadii Butkewytsch gekauft. Er besitzt ATB, die größte ukrainische Einzelhandelskette. Der Krieg hat seinen Investitionen in den Fußball kein Ende gesetzt. In Schytomyr gibt es zwei Stadien und viele Plätze, eine Fußballakademie, und Spieler, die vom gleichen Niveau sind wie die von Dinamo und Schachtar. Noch fehlen aber die Ergebnisse. Am Ende der Saison ergatterte Polissja gerade noch den fünften Platz und konnte sich somit für die Conference League qualifizieren.

    2023 machten zwei weitere Clubs von sich reden, in die viel Geld floss. LNZ aus Tscherkassy (LNZ steht für die LNZ Group bzw. die Lebedynsky-Saatgutfabrik) hat es in die Premjer-Liha geschafft, kaufte dann bekannte Spieler und baut jetzt in Tscherkassy ein Fußballzentrum auf. Der Chef des Aufsichtsrates der Agrarholding LNZ Group, Dmytro Krawtschenko, steht auf Platz 86 der reichsten Ukrainer.

    Metalist 1925 Charkiw hat wegen der russischen Angriffe auf die ukrainische Industrie den Besitzer gewechselt. Nach einer Reihe von Raketenangriffen verlor die AES Group, der der Verein früher gehörte, sämtliche Unternehmen in den Sparten Petrochemie, Spirituosen, Bau und Energie. Neuer Besitzer des Vereins wurde im September 2023 Wolodymyr Nossow, der Begründer und Geschäftsführer von WhiteBIT, einer der größten europäischen Kryptobörsen, die in der Ukraine gegründet wurde.

    Geld für den Fußball und Rückstellung für die Spieler

    Wenn zu Kriegszeiten Profifußball gespielt wird, geht es nicht nur um gewonnene Matches, sondern auch um die moralische Komponente des Geschäfts. Wie verantwortbar ist es, Millionen Euro für das Spiel mit dem Ball auszugeben? Pawlo Petritschenko, Veteran der Streitkräfte der Ukraine, hat im Januar dieses Jahres einen Sturm der Emotionen losgetreten. Als Reaktion auf den Kauf von teuren Legionären durch Schachtar Donezk postete er auf X folgenden Tweet: „Rinat Achmetow  hat sich für 15 Millionen Euro ein brasilianisches Spielzeug gekauft. Das ist ungefähr so viel wie Sternenko [ein ukrainischer Freiwilliger – dek] in all der Zeit für FPV-Drohnen gesammelt hat. Achmetow ist der Krieg egal; seine Mannschaft spielt jetzt einfach nicht mehr in Donezk, sondern in Kyjiw“.

    Diejenigen, die Ausgaben für Fußball befürworten, verweisen beharrlich darauf, dass alle Vereine in einem gewissen Umfang für die Armee spenden und der Kauf von Spielern als Investition gilt. Schachtar verdient auch nach Beginn des großangelegten Krieges weiter. Nach Schätzungen des Portals Transfermarkt.de hat der Club aus Donezk seit 2022 für 125 Millionen Euro Fußballer verkauft. Nicht nur Schachtar ist zu einer Politik der großen Investitionen zurückgekehrt. Fast alle Clubs der Premjer-Liha haben aufsehenerregende Transfers getätigt, über die in der Ukraine diskutiert wurde. Eine klare Antwort, ob es richtig ist, während des Krieges mit Geld um sich zu werfen, das in den Fußball fließt, ist nicht in Sicht.

    Eine andere problematische Frage: Wie soll man mit Fußballern umgehen, die dienstpflichtig sind und unter die Mobilmachung fallen? Eine der Lösungsvarianten ist hier der Status eines strategisch wichtigen Unternehmens, der eine Rückstellung der Spieler ermöglicht. Mit Stand vom 1. April haben fünf Vereine diesen Status: Schachtar, Dinamo, Obolon Kyjiw, Dnipro-1 und Krywbas.

    Schewtschenko und Rebrow: das Star-Duo im ukrainischen Fußball

    Die Nationalmannschaft, die Sbirna, ist immer noch das stabilste Aushängeschild des ukrainischen Fußballs. Sie wird von allen geliebt und die Übertragungen sorgen für gute Einschaltquoten, im Hinterland wie in Frontnähe. Das war nicht immer so. Die Nationalmannschaft startete ohne Cheftrainer in die EM-Qualifikation. Die Lage wurde allmählich schwierig. Im März 2023 übernahm diese Funktion vorübergehend Ruslan Rotan, ein ehemaliger Spieler von Dnipro, der gleichzeitig die Mannschaft des Erstligaclubs Oleksandrija und die Jugendauswahl der Ukraine trainierte. Erst im Juli unterzeichnete der Verband den Vertrag mit Serhij Rebrow. Mit ihm qualifizierte sich die Ukraine dann in den Play-Offs  gegen Bosnien-Herzegowina und Island für die EM in Deutschland.

    Rebrow kehrte mit seiner Familie in die im Krieg stehende Ukraine zurück. Zuvor war er in Ungarn tätig gewesen, wo er mit Feréncvaros Budapest zweimal die Meisterschaft geholt hatte und sogar in die Gruppenphase der Champions League eingezogen war. Außerdem hatte er zuvor einen guten Vertrag mit al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterschrieben und dort die Meisterschaft geholt.

    „Ich persönlich werde weiterhin die Armee und diejenigen unterstützten, die Opfer des russischen Angriffskrieges wurden. Ich freue mich, dass ich in die Ukraine zurückgekehrt bin, und werde für unseren Staat arbeiten. Meine Familie kehrt ebenfalls zurück. Ich bin sehr froh, dass meine Frau meine Entscheidung so angenommen hat“, sagte Rebrow damals. Schewa [Schewtschenko – dek] und Rebrow sind wieder – wie vor 20 Jahren bei Dinamo Kyjiw – die wichtigsten Akteure im ukrainischen Fußball.

    „Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Das ist für die Spieler schwierig, die ständig aufs Handy schauen und die Nachrichten verfolgen. In einer solchen Atmosphäre fällt die Arbeit nicht leicht. Wir verstehen, dass wir ein starkes Land repräsentieren. Wir müssen Charakter zeigen“, hatte Rebrow vor dem Spiel gegen Bosnien-Herzegowina gesagt.

    Eine neue „goldene Generation“ in der ukrainischen Nationalmannschaft

    Die Spieler der aktuellen ukrainischen Nationalmannschaft werden wieder die „goldenen Jungs“ genannt. Dort gibt es erfahrene Führungsspieler und junge Talente. Andrij Jarmolenko und Taras Stepanenko werden von der Motivation getrieben, mit der Sbirna endlich etwas zu gewinnen. Die jungen Spieler wollen sich bei einem großen internationalen Turnier zeigen und beweisen. Die meisten Spieler der heutigen Sbirna hatten es schon 2020 geschafft, bis ins Viertelfinale der EM vorzustoßen. Und sie sind Stammspieler bei Vereinen der europäischen Top-Ligen.

    Andrij Lunin hütet bei Real Madrid das Tor, Anatolii Trubin bei Benfica Lissabon. In England ist jetzt eine ganze Brigade Ukrainer am Start: Olexander Sintschenko ist eine zentrale Größe bei Arsenal. Der Transfer des 21-jährigen Mychailo Mudrik von Schachtar zu Chelsea vor zwei Jahren war eine Sensation. Witalii Mikolenko ist bei Everton ein wichtiger Verteidiger, ganz wie Illja Sabarny bei Bournemouth. Viktor Syhankow und Artem Dowbik haben in dieser Saison den spanischen Club FC Girona mit in die Champions League gebracht. Ruslan Malinowsky und Roman Jaremtschuk spielen bei Genua und Valencia. Für Mykola Schaparenko und Wolodymyr Braschko (beide bei Dinamo Kyjiw) sowie für Heorhii Sudakow (Schachtar Donezk) bedeutet die Qualifikation für die EM in Deutschland die Chance, einen europäischen Spitzenclub zu finden und einen vielstelligen Vertrag zu ergattern. Wie dem auch sei: Sie alle werden nicht nur für eine gute Platzierung bei der EM kämpfen, sondern auch für ihr Land. 

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  • Geschichten der Hoffnung

    Geschichten der Hoffnung

    In Belarus rattert nach wie vor die Repressionsmaschinerie, nahezu täglich gibt es zahlreiche Festnahmen und drakonische Urteile. Vor dem Hintergrund scheine es, schreibt Alexandra Schakowa, „als ob um uns herum nichts Gutes geschieht“. Die Journalistin hat sich für Mediazona Belarus deswegen auf die Suche begeben und Geschichten von Menschen aufgeschrieben, die zeigen, dass es auch in Belarus nach wie vor das Gute im Kleinen gibt. Wir haben die Protokolle aus dem Russischen und Belarussischen übersetzt.

    Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

    Darja, Oblast Mogiljow
    Ich wollte eine Freundin in Polen besuchen, die schon vor einigen Jahren unfreiwillig emigriert ist. Ich ging also belarussische Süßigkeiten einkaufen. Im Geschäft Krasny Pischtschewik kaufte ich praktisch alles – die Freundin hatte nach Neuheiten gefragt. Eine ziemlich große Tüte war zusammengekommen. Die Damen an der Kasse fragten: „Für wen kaufen Sie denn so viel?“ Ich erzählte, dass ich einer Freundin im Ausland Süßigkeiten aus der Heimat mitbringen wolle. Die Verkäuferinnen begannen mich auszufragen, wohin es gehe, Polen oder Georgien, und gaben mir dann schließlich noch eine Packung einer neuen Geleesorte für die Freundin mit – einfach so, aus Solidarität, als Geschenk von ihnen.

    Swetlana, Minsk
    Im Winter ging ich in ein Geschäft im Einkaufszentrum und probierte eine Mütze auf. Normalerweise gefällt mir selten etwas, und ich trage auch kaum Mützen, aber diese war wie für mich gemacht. Ich wollte sie unbedingt kaufen. Aber ich hatte nur die Geldkarte, Bargeld trage ich selten bei mir. Ich kramte zusammen, was noch im Portemonnaie steckte – es fehlte ein Rubel. In diesem Augenblick rief meine Schwester an. Ich erzählte ihr von der tollen Mütze, die ich gefunden habe, aber nicht kaufen kann, weil mir genau ein Rubel fehlt. Ich wollte den Laden gerade verlassen, da hielt mich eine Verkäuferin auf und gab mir einen Rubel: „Hier, nehmen Sie, das ist eine Kleinigkeit, machen Sie sich die Freude.“ Ich bedankte mich natürlich bei ihr, darauf sagte sie: „Seit 2020 helfen die Belarussen einander doch noch ganz anders.“ Mir wurde gleich sehr leicht ums Herz.

    Jelena, Minsk
    Ich musste das Land verlassen. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Es brannte noch nicht, aber sie hätten jeden Moment vor meiner Tür stehen können. Ich musste im Notfallmodus alles verkaufen und verschenken, was in unserer Mietwohnung stand. Möbel, einen großen Kühlschrank, eine Waschmaschine – und einen Haufen Kleinkram.
    Ein Freund arbeitete in einem Laden für Haushaltstechnik, dort gab es einen Transporter und Möbelträger. Ich verabredete mit ihm, dass er mir hilft und ich ihn und die Möbelpacker bezahle. Sie fuhren die Möbel zu Freunden, die technischen Geräte zu meinen Eltern, eine ordentliche Runde durch die ganze Stadt. Den schweren Kühlschrank trugen sie in den fünften Stock, auch ein paar Tische. Am Ende der Fahrt fragte ich, was ich schuldig sei. Er antwortete: „Ich sag’s dir später, wir müssen erst rechnen.“ Ich dachte mir, okay, sie werden ihre Tarife haben, abhängig vom Stockwerk, in das sie tragen mussten, und so weiter. Als ich ihn zwei Tage später anrief, sagte er: „Wir haben uns mit den Jungs beraten und beschlossen, dass du uns in Anbetracht der Situation nichts schuldest, wir haben das umsonst gemacht.“ Ganz ehrlich – ich musste weinen.

    Sergej, Oblast Mogiljow (belarussisch)
    Bei uns kam es ganz unerwartet zu einer Welle der Solidarität. In einem der Einkaufszentren gab es eine Aufnahmestelle für herrenlose Haustiere. Natürlich gibt es in der Stadt auch große Tierheime. Das hier war nur eine kleine Unterkunft, in der Kätzchen und Hündchen auf neue Besitzer warteten, und gleichzeitig mit ihren niedlichen Schnäuzchen Spenden für alle anderen sammelten. Ich weiß, dass viele Tiere von dort in ein neues Zuhause fanden. Aber dann passierte irgendetwas und die Aufnahmestelle schrieb auf Instagram, dass die Verwaltung beschlossen habe, ihnen den Mietvertrag zu kündigen. Da ging es aber los! Nicht einfach nur Likes und Kommentare – die Leute gingen persönlich zur Hausverwaltung oder riefen dort an, um ein gutes Wort für die Tierunterkunft einzulegen. Die Verwaltung lenkte ein, will den Vertrag nun nicht mehr kündigen und bat darum, bloß nicht mehr anzurufen. 

    Alexander, Oblast Grodno
    Im Winter kam ich mal wieder in Kurzzeithaft. Vor den Wahlen holen sie bekanntermaßen überall die Aktivisten. Aber diesmal machten sie es anständig, nur zwei Personen, ich konnte im Auto sitzen. Man merkte gleich – das waren Bullen von hier, keine zugereisten. 
    Während der Kurzzeithaft wird man jetzt manchmal für Arbeiten eingesetzt, Müllsortieren oder Ähnliches. Früher konnten wenigstens die Verwandten zu dieser Arbeitsstelle kommen und Essen und Arbeitskleidung vorbeibringen. Jetzt ist das verboten. Aber die Arbeiter, die dort waren, teilten ihr Mittagessen mit uns und brachten uns sogar mal extra was von zu Hause mit, obwohl sie selbst nur ganz wenig verdienen. So war das.

    Maxim, Mogiljow
    Bis zu meiner Festnahme im Jahr 2022 half ich einem Jungen mit einer schweren Erkrankung, Geld für Medikamente und die Behandlung zu sammeln. Es gibt sehr wenige Kinder mit dieser Diagnose in Belarus, und nach 2020 gab es auch keinerlei Aufmerksamkeit mehr für ihre Anliegen. Nicht, dass alle sie vergessen hätten, aber vermutlich bekamen sie weniger Spenden, weil im Land die politischen Gefangenen und die Haftgeschädigten hinzugekommen waren. Ich hatte mich in seine Geschichte stark reingehängt, obwohl das schwerfiel, weil der Kleine wirklich schwerkrank war und es nicht leicht hatte. Als ich wieder freikam, sah ich, dass die notwendige Summe zusammengekommen war, der Junge hatte mit seinen Eltern zur Behandlung ins Ausland reisen können, und sein Zustand war jetzt sogar stabil. Er hatte mir sogar ein Bild gemalt, zum Dank für die Beteiligung an der Sammlung. Bislang konnten wir uns aber – aus bekannten Gründen – noch nicht treffen.

    Irina, Oblast Brest (belarussisch)
    2023 kam ich aus dem Straflager frei. Kürzlich rief der Ehemann einer politischen Gefangenen an, die noch einsitzt. Er hatte sie dort besucht und die Ehefrau hatte ihn gebeten, mich zu finden – sie machten sich im Straflager Sorgen, wie es mir in der Freiheit gehe … Ich erzählte ihm von der Führungsaufsicht und der Miliz. Das Wissen kann nützlich für sie sein, in der Zukunft. 
    Diese Frau wurde in letzter Zeit mehrfach gemeldet, musste in den Strafisolator. Sie ist krank, aber um mich macht sie sich Sorgen, wie es mir in der Freiheit geht. 

    Katerina, Minsk
    Ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei einem Online-Supermarkt und die Managerin sprach Belarussisch. Ohne nach Worten suchen zu müssen, richtig gut und flüssig. Es war schön, in Belarus Belarussisch zu hören. Ich glaube, man hört es jetzt häufiger im Ausland, es in Belarus zu sprechen, kommt praktisch einem Einzelprotest gleich.

    Dimitri, Oblast Mogiljow
    Die Inhaber eines der hiesigen Cafés organisierten in ihren Räumen Ausstellungen lokaler Künstler. Kürzlich gab es schon die dritte Vernissage. Ich war dort – einfach super! Viele Leute, Live-Musik, Gespräche, es wurde getanzt. Und alles ohne einen Schluck Alkohol auf den Tischen. Da sage noch einer, in Belarus sei alles verstummt. Für unsere Kleinstadt war das ein großes Ereignis. Man musste keinen Eintritt zahlen, konnte Kunst sehen und Kaffee trinken. Die Wirtin des Cafés kennt sich schon in der lokalen Kunstszene aus und kann alles über die Bilder erzählen. 
    Bei einem der Bilder soll man sich etwas wünschen können. Aber wie denn, frage ich, man kann es doch nicht anfassen? Darauf antwortet sie: Sprechen Sie einfach mit ihm.

    Waleri, Oblast Brest (belarussisch)
    Alles wie immer und gehabt – gute, mutige Leute tun, was getan werden muss. Als ich in Haft war, kümmerte sich ein Freund die ganze Zeit über um meine Frau, rief sie einmal pro Woche an und brachte mir ohne Not weiß-rot-weiße Pastila [eine Süßigkeit aus Fruchtpüree] in die Untersuchungshaft. Zum Ende hin war sie dann schon weiß-kirschrot-weiß, weil der Produzent das Rezept geändert hatte. Als ich in der Strafarbeit war, sammelten zwei andere Leute, die ich kaum kannte, zwei riesige Taschen voll Sachen für mich: Pullover, Hemden, Schuhe, Arbeitskleidung, mehrere Paar Handschuhe. Leute aus unterschiedlichen Kontexten halfen mir buchstäblich die gesamte Zeit über: mit Geld, Obst und Gemüse, allem.

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  • Bilder vom Krieg #21

    Bilder vom Krieg #21

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafał Milach

    Foto © Rafał Milach

    dekoder: Ein verrußtes Gebäude und eine junge Frau mit dem Wappen der Ukraine auf der Wange – was verbindet diese beiden Bilder? 

    Rafał Milach: Ich beschäftige mich schon lange mit den unterschiedlichen Initiativen, die hier bei uns in Polen gegen die russische Aggression protestieren. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit anderen Fotografen, Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten das Archive of Public Protests gegründet. Uns interessiert das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und was politische Entscheidungen auslösen können. Ein Krieg ist wohl die heftigste Auswirkung, die eine politische Entscheidung auf das Leben der Menschen haben kann. Ich berichte nicht direkt über den Krieg, aber hin und wieder fahre ich auch in die Ukraine, um mir vor Ort einen Eindruck von den Folgen der russischen Aggression zu machen. Die beiden Bilder stellen die Verbindung her zwischen Krieg und Protest.

    In Deutschland gibt es zwei Arten von Demonstrationen mit Bezug zu diesem Krieg: Auf den einen fordern Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr Unterstützung für die Ukraine, auch mit Waffen. Auf den anderen werden ein Ende dieser Unterstützung und Verhandlungen mit Russland gefordert. Gibt es so etwas auch in Polen?

    Demonstrationen, die die russische Position offen unterstützen, gibt es in Polen nicht. Aber es gibt auch hier Proteste, die von Russland benutzt werden. Das sind zum Beispiel die Proteste der Bauern gegen Importe aus der Ukraine. Oder der Widerstand rechter Politiker gegen Klima-Abkommen, die die Vorgängerregierung der rechten PiS-Partei noch selbst geschlossen hat. Das passt in die Agenda der russischen Propaganda und die Proteste spielen Russland in die Karten, ähnlich wie das in anderen Ländern Europas auch der Fall ist. 

    Wer kommt denn zu den Protesten? Sind das überwiegend Ukrainerinnen, oder auch Polinnen und Polen?

    Die Proteste werden überwiegend von Ukrainerinnen getragen. In Polen gab es ja auch schon vor dem Beginn des Krieges 2014 eine große ukrainische Diaspora. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zum Arbeiten nach Polen gekommen. Aber nach dem Februar 2022 haben sich auch sehr viele Polen beteiligt und übrigens auch viele Menschen aus Belarus. Es gab Proteste im ganzen Land, in Wrocław, in Krakau, in Poznań und vielen anderen Städten. Über eine lange Zeit gab es fast wöchentlich Proteste, aber seit einer Weile wird es weniger. Mein Eindruck ist, dass auch die Menschen in Polen langsam müde werden von diesem Konflikt. Wenn man bedenkt, dass die polnische Gesellschaft sehr ablehnend gegenüber Migranten eingestellt ist, dann war die Solidarität nach Beginn der Vollinvasion und die Bereitschaft, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen wirklich beeindruckend. Aber das lässt jetzt nach und vereinzelt wird auch Unmut über die Geflüchteten laut. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wir froh sein können, dass wir nicht direkt vom Krieg betroffen sind. Wir können uns ja nicht einmal sicher sein, dass das nicht noch kommt.

    Haben die Menschen in Polen Angst vor der russischen Aggression?

    Ja. Sie sprechen oft darüber, was passieren würde, wenn Russland unser Land angreift. Das ist gar nicht so unrealistisch, gerade wenn man unsere Geschichte kennt. Polen war ja mehrfach von Russland besetzt.

    An wen richtet sich der Protest?

    In Warschau haben sich die Demonstrierenden meistens vor der russischen Botschaft getroffen, sind dann vor das Parlament gezogen und schließlich in die Innenstadt. Sie hatten also mehrere Adressaten: Russland, die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft. Oft haben sich ihnen auch polnische Politiker angeschlossen.

    Wie ist das Bild von dem verrußten Beton entstanden?

    Nach der Welle von Raketenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt Anfang Februar 2024 habe ich den Schauplatz im Südwesten von Kyjiw besucht, wo Trümmer eines abgeschossenen Marschflugkörpers niedergegangen sind. Es gab mehrere Tote und einige Wohnungen wurden zerstört. Ich habe mich einer Gruppe Freiwilliger angeschlossen, die Trümmer beseitigten und verbrannte Möbel wegräumten, damit die Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden können. Das ist gewiss nicht mit dem vergleichbar, worunter derzeit die Menschen in Charkiw und anderen frontnahen Städten zu leiden haben. Aber selbst an Orten wie Kyjiw, die relativ gut durch Flugabwehrsysteme geschützt sind, besteht immer noch ein Risiko, unter russischen Beschuss zu geraten. 

    Sie haben sich für ein abstraktes Motiv entschieden. Warum?

    Die Medien zeigen täglich Bilder von Leid und Zerstörung. Ich fahre nicht an die Front, ich mache keine News-Fotografie. Ich interessiere mich mehr für das, was nach diesen traumatischen Ereignissen passiert, wenn der Rauch sich verzogen hat und das Leben wieder beginnt. Ich möchte zeigen, wie der Krieg auch jenseits der großen Katastrophen seine Spur in den Städten und im Leben der Menschen hinterlässt. So arbeiten wir übrigens auch beim Archive of Public Protest. Es geht um mehr als nur Berichterstattung, wir wollen die Perspektive öffnen. 

    Fotografie: Rafał Milach 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.06.2024

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  • „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager.
    Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.

    Der Oppositionspolitker Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau im Oktober 2022 / Foto © Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS

    Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche? 

    Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche. 

    Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?

    Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst. 

    Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen

    Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?

    In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung. 
    Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis. 

    Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf? 

    Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.

    Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen

    Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?

    In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend. 

    Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?

    Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.

    Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat

    Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?

    Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat. 

    Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?

    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen. 

    Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?

    Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.

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    Natalja Gorbanewskaja

    Im Netz der Propaganda

    Die falsche Welt

    IM HEIM DES KRIEGES

  • Verstka, gesprochen Wjorstka

    Verstka, gesprochen Wjorstka

    Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.

    „Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.

    Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.

    Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen

    Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon. 

    Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.

    Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.   

    Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber  hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde. 

    Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten

    Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten. 

    Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.

    Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.   

    Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“

    Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.  

    Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.   

    Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital

    Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.   

    Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.      

    Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück. 

    Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.              

    Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen. 

    Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend. 

    Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.      

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  • „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
    Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

    Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

    Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

    „Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

    Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

    Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

    Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.


    Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

    Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

    Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

    Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

    Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

    Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

    Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

    „Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

    Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

    Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

    Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

    In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

    „Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

    Mit Kuhmist gegen Proteste

    Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

    Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

    Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

    Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

    Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

    Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

    Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

    Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

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  • Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Mit einer Serie einstündiger Videos haben Mitstreiter Alexej Nawalnys vom Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) eine heftige Debatte über das Erbe der 1990er Jahre in Russland ausgelöst. Im Kern geht es um die Frage, wann die Weichen für den Weg in Richtung Korruption, Manipulation und Autoritarismus gestellt wurden und wer die Schuld dafür trägt, dass sich Russland nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelte. In seinem letzten programmatischen Aufsatz aus dem Straflager hatte Nawalny im August 2023 voller Wut Boris Jelzin, seine Familie und die Oligarchen der frühen Jahre dafür verantwortlich gemacht, dass Selbstbereicherung und Machterhalt über demokratische Prinzipien triumphierten. In den Videos sitzt nun Maria Pewtschich – die Direktorin von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) – in einer Wohnung, die mit Möbeln und Accessoires der 1990er eingerichtet ist – und kommentiert Filmausschnitte und Dokumente.

    Die Debatte um die Fehler der 1990er Jahre ist nicht neu. Aber sie wird vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse immer wieder neu geführt. Diesmal mit großer Heftigkeit. Denn es geht auch um die Verwicklung heutiger Regimegegner, die damals zu Jelzins Netzwerk aus Macht und Geld gehörten und im Gefängnis landeten oder ins Exil gingen, wie etwa Michail Chodorkowski. Während die einen sagen, es sei wichtig, die Fehler der Vergangenheit zu benennen, um sie nicht zu wiederholen, bemängeln andere, angesichts des Krieges gegen die Ukraine sei jetzt nicht die Zeit für Streit. Stattdessen müsse die Opposition geeint auf ein Ende des Krieges und des Regimes hinarbeiten. 

    Was bedeutete Demokratie im postsowjetischen Russland?

    Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman vertritt die Ansicht, dass nie der Weg zu einer echten Demokratisierung eingeschlagen wurde:

    [bilingbox]Die Debatte über die 1990er Jahre in Russland läuft […] letztlich auf die Frage nach den Anfängen des derzeitigen politischen Regimes hinaus: War das Land in den 1990er Jahren auf dem Weg zur Demokratie, und dann kam Putin und ruinierte alles? Oder war nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei nie von einer Demokratisierung auch nur die Rede? 
    In meinem Buch Awtoritarnaja Rossija (dt. Das autoritäre Russland) wird die zweite Sichtweise ausführlich dargestellt. Demzufolge lässt sich der politische Prozess im postkommunistischen Russland zusammenfassen mit einem Satz von Anatoli Sobtschak: „Jetzt sind wir an der Macht – und das ist Demokratie“.~~~Спор о 1990-х годах в России, […] в конечном итоге сводится к вопросу об истоках нынешнего политического режима. Действительно ли (1) в 1990-е страна двигалась к демократии, а потом пришел Путин и все испортил или же (2) изначально после краха КПСС ни о какой демократизации не было и речи. В моей книге «Авторитарная Россия» довольно подробно представлена вторая точка зрения. Предельно огрубляя, политический процесс в посткоммунистической России, согласно этой точке зрения, можно суммировать фразой Собчака на с.7 книги – «мы теперь у власти – это и есть демократия».[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Jelzins Regierungszeit war bestimmt vom Kampf gegen die Geister der Vergangenheit

    Der Journalist Sergej Parchomenko vermisst in Pewtschichs Videos die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen sich die Ereignisse abspielten:

    [bilingbox]Die ganze Geschichte mit Jelzin und seiner Regierungszeit begann nicht im luftleeren Raum, sondern knüpfte unmittelbar an eine jahrzehntelange Odyssee: Sowjetmacht, kommunistische Diktatur, eine durch diese Diktatur verunstaltete und gequälte sowjetische Gesellschaft, eine absurde politische Maschinerie ohne funktionierende staatliche Institutionen und eine von sozialistischer Idiotie erdrückte Wirtschaft, die in keinem Bereich funktionsfähig war. Das Ganze hat sich bis zur letzten Minute im Kampf genau dagegen entwickelt und war der Logik dieses Kampfes untergeordnet. Nein, nicht bis zur letzten Minute: Fairerweise müssen wir festhalten, dass es eine späte Periode der Schande gab, als Jelzin die Macht bereits völlig aus den Händen geglitten war und er sie einer Gruppe übergeben hatte, die nur getrieben war von Angst um ihre eigene Zukunft, von dem alleinigen Wunsch, wohlhabend aus der Herrschaft hervorzugehen und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.

    All diese Grundlagen sind in dem Film Verräter zu sehen. Nicht als Begleitumstände, sondern eben als tragende Grundlage. Doch die Autoren und die Erzählerin schauen das an und merken irgendwie nichts. Ringsum verschwommene Gesichter und Menschen unklarer Herkunft.

    Wer sind die alle?

    Das sind die, denen die russische (5 Minuten zuvor noch sowjetische) Wirtschaft in dem Moment gehörte, als Abramowitsch und Beresowski und Jelzins ganze Mannschaft auf der Bildfläche erschienen. Sie sind die Verkörperung des sowjetischen Systems, ja, die personifizierte sowjetische Macht. Sie verschwanden nicht, sie lösten sich nicht auf, sondern sie wehrten sich vehement gegen jede Veränderung, forderten ihren Löwenanteil und gaben ihre Positionen nur in einem erbitterten Kampf auf.

    Heutzutage wären solche Verweise auf das „sowjetische Erbe“ und die „verfluchten 90er Jahre“ die reinste Lüge und zynische Heuchelei: Denn von der UdSSR trennen uns 35 und von der „Phase der ursprünglichen Akkumulation“ der 1990er immerhin 30 Jahre.

    Jelzins Periode folgte unmittelbar auf die sowjetische, ohne Pause, dauerte weniger als ein Jahrzehnt und wurde zu einer einzigen Preiskatastrophe mit einem Ölpreis von acht bis zehn Dollar pro Barrel und einem Bezwingen der volkswirtschaftliche Katastrophe.

    Die Gesellschaft forderte eine Befreiung, eine Überwindung der sowjetischen Vergangenheit. Sie forderte kein Verbot der KPdSU, keine Lustration. Die Menschen forderten Reformen, die ihnen Hoffnung auf mehr Konsum gaben: Sie wollten Lebensmittel, Kleidung, Wohnungen, Autos, Geschirrspülmaschinen, Urlaubsreisen, Bücher und Filme, Waschmittel, ohne dafür anstehen zu müssen, sauberes Wasser in Flaschen und frisches Bier aus dem Zapfhahn. Und sie waren bereit, für diesen Konsum – oder zumindest die vage Hoffnung auf diesen Konsum – auf Vieles zu verzichten. Darunter auch auf ihre Wertpapiere, was die Aufgabe des Traums bedeutet, Gazprom-Aktionär zu werden.

    Unter diesen Umständen – in dieser sozialen und gesellschaftlichen Atmosphäre – geschah all das, was in dem Film des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) beschrieben ist, plus enorm viel mehr, was dort nicht beschrieben ist. Dem keine Beachtung zu schenken, wäre dumm. So zu tun, als sei das „nicht wichtig“, wäre unlauter. 

    Ich glaube, dass jetzt gerade der falsche Zeitpunkt für solche Debatten ist, und ausgerechnet heute hilft wütendes Streiten darüber, wer schuld daran war, was vor 35 und 25 Jahren geschah, nicht dabei, das Böse, mit dem wir es aktuell zu tun haben, zu bezwingen: Mit Putins Aggression gegen die zivilisierte Welt und der Bereitschaft dieses Diktators, Millionen Leben zu opfern, um selbst an der Macht zu bleiben.~~~Вся история Ельцина и его правления началась не на пустом месте, а отталкивалась от многодесятилетней эпопеи советской власти, коммунистической диктатуры, изуродованного и измученного этой диктатурой советского общества, нелепой политической машины, лишенной нормально действующих институтов государства, и раздавленной социалистическим идиотизмом экономики, не способной действовать ни на одном своем участке. И вся – до последне минуты – в борьбе с этим и развивалась, и логике этой борьбы была подчинена. Впрочем, нет, не до последней: справедливости ради, надо все время оговариваться, чтоб был там поздний, позорный период, когда Ельцин уже совсем упустил власть из своих рук, и отдал ее группе людей, которыми двигал только страх за свое будущее, только желание благополучно “выскочить” из власти и обеспечить лично себе безопасность.

    Вся эта основа – именно не фон, не антураж, а основа, содержательная и решающая, – в фильме ФБК присутствует. Но авторы и рассказчица смотрят на них и как бы не замечают. Какие-то люди с мутными лицами и непроясненным происхождением толпятся вокруг

    Кто они все?

    А это те, кто владели российской (еще пять минут назад советской) экономикой в тот момент, когда на сцене появились и Абрамович, и Березовский, и вся команда Ельцина. Это просто олицетворения, персонализованные воплощения советской власти и советского строя, которые никуда сами не делись, не рассосались, а ожесточенно противостояли любым изменениям, требовали своей львиной доли и первоочередного учета своих интересов, и уступали свои позиции только в свирепой борьбе.

    Это сейчас ссылки на “советское наследие” и на “проклятые девяностые” представляют собой чистейшую ложь и циничное лицемерие: потому что от СССР нас отделяет 35 лет, а от “периода первоначального накопления” 90-х – 30. 

    Ельцинский же период следовал за советским вплотную, без паузы, продолжался меньше десятилетия, и весь пришелся на одну сплошную ценовую катастрофу с нефтью по 8-10 долларов за бочку, и на преодоление хозяйственной разрухи. 

    Общество требовало освобождения от этого, преодоления советского прошлого. Не было никакого общественного запроса на запрет КПСС, например, не было запроса на люстрацию… люди требовали таких реформ, которые обещали им надежду на рост потребления: люди хотели еды, одежды, жилья, автомобилей, посудомоечных машин, поездок в отпуск, книг и фильмов, стирального порошка без очереди, чистой воды в бутылках и непрокисшего пива в разлив. И готовы были за это потребление – или хотя бы за смутную надежду на потребление – многое отдать. В том числе отдать свой ваучер, а с ним и мечту стать акционером Газпрома.

    В этих обстоятельствах – в этой общественной и политической среде – происходило все, что описано в фильме ФБК, а также и колоссальное количество того, что в нем не описано. Не обращать на это внимания – глупо. Делать вид, что это “не важно”, – нечестно.

    Я думаю, что сейчас плохое, неправильное время для этих дебатов, и именно сегодня яростные споры о том, кто виноват в случившемся 35 и 25 лет назад, нам не помогут справиться с главным злом сегодняшнего дня: путинской агрессией против цивилизованного мира и готовностью диктатора пожертвовать миллионами жизней ради того, чтоб остаться у власти.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Wie sich echte Politiker von Höflingen unterscheiden 

    Die Psychologin Ljudmila Petranowskaja streicht die Unterschiede zwischen den Akteuren in Jelzins Umfeld und Alexej Nawalny heraus:

    [bilingbox]Folgendes dachte ich bei der kurzweiligen Lektüre der hitzigen Debatte über die 1990er Jahre: Einer der Gründe des gegenseitigen Missverständnisses besteht darin, dass die Akteure der 1990er Jahre und Nawalny (wie wahrscheinlich auch seine Mitstreiter) grundlegend verschieden sind. 

    Erstere waren, wie man es dreht und wendet, Höflinge – Menschikows unter einem schillernden Reformzaren. Sie standen in der Gunst und erhielten Aufträge, fielen in Ungnade, waren in der Verbannung und auf der Flucht – je nachdem, wie das Leben so spielt. Aber im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stand immer der Zar (der eine, dann der nächste). Ihr Schicksal hing immer vom Zaren ab, mit seinen Entscheidungen waren ihre Ängste und Hoffnungen verbunden – darunter nicht nur die rein egoistischen, sondern auch die erhabenen, „das Schicksal des Vaterlandes betreffenden“. Politik war in ihren Augen das, was einer mit dem anderen über irgendetwas vereinbart – ob in den Fluren der Macht, in der Banja, in den Büros. Im nächsten Schritt wird das dann als rein polittechnologische Aufgabe umgesetzt: Wie genau soll man die Ergebnisse der Vereinbarungen dem „Volk“ nahebringen? Aber der Gedanke, dass dieses „Volk“ selbst Subjekt des politischen Lebens sein könnte, wird nicht zugelassen – das Volk liebt doch bekanntermaßen die harte Hand und Almosen, ist atomisiert und beeinflussbar. Gott bewahre, dass es etwas entscheiden darf!

    Nawalny dagegen ist ein true politician. Ganz im Ernst. Eine in unseren Breiten noch nie dagewesene Spezies. Der hat sich direkt an die Menschen gewandt – hat hat ihnen nichts vorgespielt, keine von anderen verfassten Reden abgelesen, sondern den direkten Kontakt gesucht, sogar über die Köpfe der Gefängnisaufseher hinweg. Er glaubte wirklich, dass am Ende sie – die Menschen – entscheiden sollen.

    Man kann mit ihm einer Meinung sein oder nicht, ihn lieben oder hassen, aber dass er ein talentierter Politiker war (wie sehr es einem widerstrebt, hier dieses „war“ einzusetzen) – das ist schlicht Fakt.

    Dieser FBK-Film ist keine Recherche im eigentlichen Sinne, kein „Versuch, zu verstehen“, sondern ein direkt an die Menschen gerichtetes politisches Statement. Ob es wirkungsvoll ist oder nicht, wird die Zeit zeigen. Doch das Genre ist klar.

    Was sind die Ziele dieses Statements? 

    Sich von diesen kompromittierten Personen und Entscheidungen abzugrenzen und zu sagen: „So sind wir nicht.“

    Putins Lieblingsargument „Ich habe euch aus den 1990er Jahren gerettet“ und die Schlussfolgerung „Demokratie ist Lüge und Raub“ auszuhebeln.

    Eine Bewegung nach links zu markieren, denn die linke Flanke ist offen und die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit enorm.~~~Первые – это как ни крути, придворные, этакие Меньшиковы при ярком и "с загогулинами" царе-реформаторе. Бывали в фаворе и получали подряды, бывали в опале, в ссылке и в бегах – жизнь разная. Но в фокусе их внимания всегда был собственно царь (один, потом второй). От отношений с царем зависела их участь, с его решениями связывались надежды и страхи – в том числе не чисто эгоистические, а возвышенные, "про судьбы Родины". Политика в их представлении – это кто с кем о чем договорится где-то там, в коридорах, банях, кабинетах. Потом уже решается чисто политтехнологическая задача – как именно результаты договоренностей донести "народу". Но мысли о том, что сам этот "народ" может быть субъектом политической жизни не допускается – народ, как известно, любит твердую руку и подачки, атомизирован и внушаем, боже упаси пустить его решать. 

    А Навальный – он тру политик. Прям вот всерьез . Невиданный в наших краях зверь. Реально обращался к людям – не изображал, не читал написанное спичрайтерами, а прям обращался, даже через головы конвойных. Реально верил, что в конечном итоге им – людям – решать. 
    Можно с ним соглашаться или нет, любить или ненавидеть, но то, что он был (как не хочется вставлять это "был") профпригодным публичным политиком – это просто факт. 
    И фильм ФБК – это не расследование, не "попытка разобраться", а политическое высказывание, обращённое напрямую к людям. Эффективное или нет – время покажет, но жанр очевиден. 
    Какие цели высказывания? 
    Отстроиться от скомпрометированных персон и решений, сообщить "мы не такие".
    Выбить любимый аргумент Путина "я вас спасаю от 90х" и сцепку "демократия – это ложь и грабеж". 
    Обозначить движение влево, потому что левый фланг пуст, а запрос на социальную справедливость огромный. [/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original

    „Dieser Film weckt Wut und Hass“

    Lew Schlosberg, Publizist und Jabloko-Politiker kritisiert die Serie scharf: 

    [bilingbox]Jelzin hatte nicht vor, ein Russland Putins aufzubauen, doch er hat es mit seinen vielen Fehlern herangezüchtet, hat einen historischen Raum geschaffen für eine politische Revanche des imperialen und sowjetischen Systems. 

    Aber eine Aufarbeitung der Chancen, Risiken, Fehler und Verbrechen der 1990er darf nicht zu politischen Repressionen, zur Verunglimpfung politischer Gegner und Feinde führen und nicht zum Entzünden von Rache und Bürgerkrieg anstiften.

    Der Film Verräter beantwortet die Frage „Wer ist schuld?“ auf eine Art und Weise, die nicht Gerechtigkeit durch den Rechtsstaat, sondern durch außergerichtliche Vergeltung nahelegt, wobei die Lenker der Vergeltung sich im Namen der Gesellschaft das Recht auf Gewalt herausnehmen und die Gesellschaft manipulieren, unter anderem durch ihren Schmerz und ihr Leid. Die ist eine unlautere und gefährlich provokative Technik.

    Der Film Verräter fördert keine Gerechtigkeit, sondern Revolution und Umverteilung von Eigentum und Macht durch Gewalt. Dieser Film weckt bei Erniedrigten und Beleidigten Wut und Hass. Er fördert im Land die Atmosphäre von Bürgerkrieg.
    Ich bin sicher, dass das den Autoren des Films sehr wohl bewusst ist.~~~Политически эпоха Владимира Путина выросла из эпохи Бориса Ельцина. Ельцин не планировал построить Россию Путина, но вырастил её своими многочисленными ошибками, создал историческое пространство для политического реванша имперской и советской системы. Политическая ответственность за эти последствия в значительной части лежит на Борисе Ельцине. Идеализировать Ельцина и его эпоху нельзя, хотя это была эпоха невиданного ранее исторического шанса на свободу.
    Но анализ шансов, рисков, ошибок и преступлений 1990-х не должен проводиться в технике политических репрессий, шельмования политических оппонентов и противников, не должен быть разжиганием настроений мести и гражданской войны. 
    Фильм «Предатели» даёт ответ на вопрос «Кто виноват?» в манере, предполагающей не восстановление справедливости через законность, а внесудебные кары, когда вершители возмездия присваивают себе право на насилие от имени общества и манипулируют обществом, в том числе его болью и страданиями. Это нечестная и очень опасная провокативная технология.
    Фильм «Предатели» взывает не к правосудию, а к революции, переделу собственности и власти через насилие. Этот фильм будит в униженных и оскорблённых людях гнев и ненависть. Он формирует в стране атмосферу гражданской войны.
    Уверен, что авторы фильма это хорошо понимают.[/bilingbox]

    erschienen am 22.04.2024, Original

    Dieser Film ist eine Verschwörungserzählung

    Die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko sieht in den FBK-Videos Elemente einer Verschwörungs-Erzählung:

    [bilingbox]Maria Pewtschichs Film liefert die endgültige Ausformulierung der Verschwörungerzählung „Komplott der Korruptionäre gegen Russland“. Es gibt da diese Gruppe böswilliger Verschwörer, die mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung und zum eigenen Wohl absichtlich das Leben von Millionen Menschen verschlechtert hat und das auch weiterhin tut und die „uns das Land gestohlen hat“. 

    Die Krieger des Lichts machen Jagd auf die Korruptionäre, doch die sind listig, wohlhabend und lenken im Verborgenen die ganze Welt und das Land entsprechend ihren Interessen. All dies geschieht nicht zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Verschwörungsgläubige müssen nicht unbedingt Aluhüte tragen, typisch für sie ist eine bestimmte Art des Denkens. Es gibt Verschwörungserzählungen, die „uns“ gefallen. Also check your biases! ~~~В фильме Марии Певчих окончательно сформулирована конспирологическая теория «Заговор коррупционеров против России»: Существует некая группа злых заговорщиков, которая в целях личного обогащения и собственного блага намеренно ухудшила жизнь миллионов и продолжает это делать, «украла у нас страну». Воины света охотятся на коррупционеров, но те изобретательны, богаты и тайно управляют миром (страной) в своих интересах. Все события неслучайны, явления взаимосвязаны. Конспирология не обязательно в шапочках из фольги, это специфический тип мышления. Бывают теории заговора, которые «нам» нравится. Так что check your biases[/bilingbox]

    erschienen am 21.04.2024, Original

    Boris Jelzin stand am Beginn von billigem Populismus, Familien- und Klanwirtschaft und manipulativer Politik

    Die Demokratie wurde früh verraten, ist der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew überzeugt:

    [bilingbox]In den 1990er Jahren bildete und festigte sich ein System persönlicher Loyalitätsbeziehungen, die an die Stelle demokratischer Institutionen trat, die sich nie etablieren konnten. Die Reformen der ersten postsowjetischen Jahre legten die Grundlage für die Marktwirtschaft, wobei ehemaliges Staatseigentum an neue Eigentümer verteilt wurde. In dieser Situation hätte die Rückkehr der Kommunisten an die Macht im Jahr 1996 zu enormen Spannungen zwischen Regierung und Geschäftswelt geführt. Daraus hätte sowohl ein politischer Wettstreit entstehen können als auch eine Rechtsordnung. Doch diejenigen, die die demokratischen Reformen verrieten, zogen persönliche Garantien der Rechtsstaatlichkeit vor, was Russland in eine faschistische Diktatur führte.

    Ich erinnere mich noch lebhaft an den Sommer 1989, als in der UdSSR Millionen von Menschen an den Radioempfängern hingen, um die Debatten auf der ersten Sitzung der Volksdeputierten zu hören. Sie erlebten zum ersten Mal, wie Gesetze diskutiert und verabschiedet wurden, und das einst allmächtige Politbüro war dagegen machtlos. Dann folgten Demonstrationen und Kundgebungen, die Wahlen für die Parlamente der Unionsstaaten 1990 – und die Bereitschaft Michail Gorbatschows, sich den neuen Machthabern und letztlich dem Willen des Volkes zu beugen. 

    Diese Bereitschaft hatte Boris Jelzin nie – er begründete in moderner Zeit die Tradition von billigem Populismus, von Familien- und Klanwirtschaft, von manipulativer Politik und übermächtiger Sorge um geklautes Geld. Der Verrat der Demokratie fand in der Tat Anfang und nicht Ende der 1990er Jahre statt – hier haben die Autoren des Films absolut recht.~~~Именно в 1990-е годы в российской власти стала возникать и укрепляться система отношений личной преданности, заменившая так и не состоявшиеся демократические институты. Реформы первых постсоветских лет создали основы рыночной экономики, во многом распределили бывшую государственную собственность среди новых хозяев — и в такой ситуации возврат коммунистов к власти в 1996 году создал бы необходимое напряжение между властью и бизнесом, из которого смогли бы вырасти и конкурентная политика, и правовой порядок. Но те, кто предал демократические реформы, предпочли личные гарантии власти закона, что и привело Россию к фашистской диктатуре.

    Я прекрасно помню лето 1989 года, когда в СССР миллионы людей приникли к радиоприемникам, слушая дебаты на первом съезде народных депутатов. Они впервые увидели, как обсуждаются и принимаются законы и как всемогущее политбюро бессильно против них. Затем были демонстрации и митинги, выборы 1990 года в парламенты союзных республик — и готовность Михаила Горбачева уступить новым властям, в конечном счете — воле народа.

    Этой готовности никогда не было у Бориса Ельцина, заложившего традиции современных дешевого популизма, семейственности и клановости, манипулятивной политики и непреодолимой заботы о награбленных деньгах. Предательство демократии действительно состоялось в начале, а не конце 1990-х — и тут авторы фильма совершенно правы.[/bilingbox]

    erschienen am 23.04.2024, Original

    Aussprache mit Chance auf Versöhnung

    Der Galerist Marat Gelman war in den 1990er Jahren selbst Politikberater und räumt eine Mitschuld ein:

    [bilingbox]Nach dem FBK-Film sollten andere Journalisten mit jenen sprechen, die noch leben, damit sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Augenzeugen dieser Ereignisse sollten aus heutiger Perspektive ihre Einschätzung abgeben und nicht schweigen. Ich glaube übrigens nicht, dass dies zu Uneinigkeit in der Opposition führen wird. Im Gegenteil, nach einer Aussprache, kann es zu einer Einigung kommen. Ohne verborgenen Groll. ~~~Я думаю надо историю поднять. И потом, после фильма ФБК, другим журналистам поговорить с теми кто еще жив, и пусть они выскажут свой взгляд на происходящее. Я не знаю, может окажется что Путин не мог не прийти. Я так не считаю, но вдруг. И участники тех событий должны дать оценку из сегодняшнего дня, а не молчать.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Der Film ist ein einziges klassisches Ressentiment

    Der Publizist Alexander Morosow lässt kein gutes Haar an der FBK-Produktion

    [bilingbox]In gewisser Hinsicht ist das der beste Beweis, nicht eines „putinschen“, sondern eines „liberalen“ Ressentiments. Das gesamte Narrativ des Films ist ein einziges klassisches Ressentiment: eine Kombination aus Demütigung, dem Erleiden einer Niederlage durch die „Verschwörung der Feinde“, multipliziert mit Heldenpose und moralischer Überlegenheit.~~~В каком-то смысле это лучшее свидетельство не "путинского", а "либерального" ресентимента. Весь нарратив фильма – это просто классический ресентимент: совмещение униженности, переживания поражения из-за "заговора врагов", помноженные на чувство героического превосходства и моральной правоты.[/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

    Vor dem Hintergrund des autoritären Drifts erscheint die Rolle der 1990er in neuem Licht 

    Durch den Angriff auf andere Oppositionelle könnten Nawalnys Mitstreiter Verbündete verlieren, warnt Ilja Matwejew:

    [bilingbox]Pewtschich hat eindeutig einen Nerv getroffen: Die Ereignisse der 1990er Jahre, die einerseits den Weg für den Putinismus ebneten und andererseits Akteure in den Vordergrund rückten, von denen viele später unter dem Putinismus litten – wie Michail Chodorkowski, der mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß. Einerseits wird hier zum ersten Mal laut benannt, dass die Rolle der 1990er Jahre im Angesicht des darauf folgenden autoritären Drifts neu gedacht werden muss, andererseits bleibt bislang unklar, wie die ganze Sache endet. 

    Pewtschich hat es geschafft, sich mit den rechtsliberalen Oppositionellen anzulegen, die sie zum Teil de facto als „Verräter“ bezeichnet hat. Aber kann denn der Fonds für Korruptionsbekämpfung ein Alternativprogramm und einen Aktionsplan anbieten, die einen solch heftigen Bruch rechtfertigen würden? Mit anderen Worten: Der FBK verliert Verbündete – aber kann er weiterhin eine Führungsrolle übernehmen? Auf diese Fragen gibt es bislang keine eindeutigen Antworten, doch die Ideen-Krise sowohl in der Opposition allgemein als auch speziell im FBK dauert an, so dass das Ergebnis möglicherweise nicht erquicklich sein wird – Pewtschichs großtönende Serie wird dann zu einem Sturm im Wasserglas.~~~Певчих явно нажала на больной нерв — события 1990-х годов, которые, с одной стороны, подготовили почву для путинизма, а с другой, выдвинули на первый план действующих лиц, многие из которых впоследствии от путинизма пострадали, как Михаил Ходорковский, отсидевший в тюрьме более 10 лет. С одной стороны, впервые так громко прозвучала реплика, переосмысляющая роль 1990-х годов в последующем авторитарном дрейфе, с другой стороны, пока непонятно, чем закончится история с сериалом. 

    Певчих сумела рассориться с праволиберальными оппозиционерами, часть из которых она фактически назвала «предателями», но сможет ли ФБК предложить альтернативную программу и план действий, которые оправдали бы столь мощный разрыв? Другими словами, ФБК теряет союзников, но сможет ли он оставаться лидером? На эти вопросы пока нельзя дать однозначного ответа, но кризис идей в оппозиции в целом и в ФБК в частности продолжается, так что итог может оказаться неутешительным — громкий сериал Певчих станет бурей в стакане воды.[/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original 

    Die 1990er ohne romantischen Kitsch 

    Der Journalist Farid Bektemirow begrüßt, dass die Opposition die 1990er Jahre nicht länger verklärt:

    [bilingbox]In meinen Augen ist der Film nichts Neues (in dem Sinne, dass die vorgestellten Fakten weitgehend bekannt und sehr grob nachgezeichnet sind). Aber als Ausgangspunkt der nicht enden wollende Debatte über das Russland der 1990er Jahre ist er durchaus geeignet. Immerhin beschreibt er das Verhältnis von Staatmacht und Volk in jenen Jahren ohne die sonst übliche romantische Verklärung der Liberalen. Und ohne diesen nostalgischen Kitsch wirkt die Realität höchst unattraktiv, verachtenswert und – in der Tat – verräterisch.~~~По мне, ролик, конечно, базовый (в смысле факты в нём по большей части общеизвестные и даны широкими мазками), но вполне работающий как точка входа в бесконечную тему российских 90-х с довольно точным описанием отношений власти и народа в те годы, просто лишённым привычного для либералов романтического флёра. А без этого флёра и ностальгии происходившее и правда выглядит крайне неприглядно, подло и – совершенно верно – предательски. [/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

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