Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum.
Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf?
dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das?
Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.
Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.
Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt.
Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht.
Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an.
Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“
Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons?
Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.
Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur.
Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon.
Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten.
VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.
Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten.
So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.
Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln?
Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon.
Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden?
Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”.
Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.
Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen.
Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe.
Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen.
Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab.
Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen?
Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch.
Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen
Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen.
Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe.
Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen.
Nach der Einführung einer strengen Militärzensur im März 2022 haben viele Kreml-kritischen Journalisten Russland verlassen oder ihre Arbeit eingestellt. Die wichtigsten unabhängigen Medien arbeiten inzwischen aus dem Exil im Baltikum, in Georgien oder auch in Deutschland. Einige wenige Redaktionen wählten derweil einen Zwischenweg: Sie versuchen, sich an die Gesetze zu halten, und dennoch die Wirklichkeit abzubilden so gut es geht.
Wie klein der verbliebene Raum für unabhängige Berichterstattung ist, zeigt ein Beispiel aus Saratow an der Wolga. Die lokale Online-Nachrichtenagentur Swobodnyje Nowosti („Freie Nachrichten“) – oft einfach nur Swobodnyje genannt („Die Freien“) – ist es seit zwölf Jahren gewohnt, unter den propagandistischen Medien als weißer Rabe in Erscheinung zu treten. Sie sind die einzigen, die den ehemaligen Vizegouverneur der Region und jetzigen Vorsitzenden der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, offen kritisieren. Und sie versuchen weiterhin, auch in Zeiten der Zensur wahrheitsgemäß zu berichten.
Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine wurden sie von Kollegen und Vertretern der Verwaltung der Volksverhetzung beschuldigt. Während die einen beklagen, dass man die Journalisten der Freien Nachrichten „noch nicht sämtlich hinter Gitter gebracht hat“, meinen andere, das Portal sei nicht oppositionell genug. Seit die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Webseite der Freien blockiert hat, sind weitere Probleme hinzugekommen. Am 23. Juli dieses Jahres wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr: Roskomnadsor wurde beim Obersten Gericht Russlands vorstellig und forderte einen Entzug der Medienlizenz, weil das Portal die Beiträge „ausländischer Agenten“ nicht gekennzeichnet habe. Takie Dela hat eine der wenigen Redaktionen in der Region besucht, die nicht von der Kreml-Partei Einiges Russland gelenkt wird.
Die Redaktion hat ihren Sitz in einem vierstöckigen Gebäude im Stadtzentrum von Saratow. Nur 15 Mitarbeiter arbeiten hier, das Kernteam ist schon viele Jahre zusammen. Die Freien hatten sich dem Rating von Medialogija zufolge seit langem fest in den Top fünf der meistzitierten Medien der Region etabliert. Und das in einer Stadt mit fast einer Million Einwohnern, in der 80 Prozent der Medien unmittelbar oder indirekt der Regierungspartei Einiges Russland gehören.
Um halb neun morgens ist die Nachrichtenabteilung der Freien vollständig angetreten. Einer ist schon seit sieben am Arbeitsplatz. Die meisten Mitarbeiter sind hinter der Tür mit dem Schild „Newsroom“ zu finden.
Über dem Tisch der stellvertretenden Chefredakteurin Marija Aleksaschina hängt ein riesiges Poster mit einem Portrait der Journalistin Anna Politkowskaja. Ein erster Eignungstest für Volontäre. Ein Menschenrechts-Aktivist aus der Stadt hatte ihr das Poster vor einigen Jahren zur sorgsamen Aufbewahrung überlassen. Nach dessen Tod entschied Marija, dass es an der Wand seinen besten Platz hat.
Aleksaschina hat die Augen ständig am Monitor und lässt die Maus nicht aus den Fingern. Ihre Haare sind zu einem Knoten gebunden; sie trägt Jeans, Sportschuhe, auf dem Tisch stehen mehrere Wasserflaschen – es sind heute vierzig Grad in Saratow. Neben dem Computer ein Festnetztelefon. Darüber laufen Termine und Anregungen der Leser ein.
„Neulich saß ich hier bis zehn Uhr abends, da klingelte plötzlich das Telefon. Dummerweise ging ich dran“ Marija ahmt eine männliche Stimme nach: „Jetzt sagen Sie mal, weswegen Sie blockiert wurden!?!“. „Er legte erst auf, als ich ihn davon überzeugt hatte, dass wir das selbst nicht wissen!“
Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern.
Drei Tage nach der Sperrung des Portals startete die Redaktion eine neue Webseite: Bei der Adresse wurde lediglich das Minus weggelassen. Und die Arbeit begann von vorn, als ob es die zwölf Jahre davor nicht gegeben hätte. Jeder Link, der auf die alte Seite führt, würde so ausgelegt, dass es sich bei dem neuen Portal um einen mirror handelt [also um eine Kopie der gesperrten Inhalte – dek.] – das würde eine erneute Sperre nach sich ziehen.
Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern.
Heute ist es genau zwei Monate her, dass die Redaktion auf der neuen Internetseite aktiv wurde. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums seien in der Nacht vier Drohnen abgeschossen worden, doch die stehen nicht am Anfang des Nachrichtentickers. „Sind ja keine zwanzig“, erklären die Diensthabenden am Ticker. Vereinzelte Luftangriffe, bei denen niemand zu Schaden kommt, interessieren kaum jemanden.
Die Journalisten eröffnen den Nachrichtentag mit der „Spezialität des Hauses“, einem Bericht zu den „verödenden Landschaften“: Den Angaben des Statistikamtes Rosstat zufolge steht die Oblast Saratow hinsichtlich des absoluten Bevölkerungsrückgangs an sechster Stelle aller Regionen Russlands.
„Das ist eine merkwürdige Aufgabe, zu belegen, dass die Oblast sich entvölkert“, erklärt Marija. „Angefangen hat es damit, dass einige Journalisten – nicht nur von uns, sondern auch von anderen Medien – anhand der Daten von Rosstat diese Bevölkerungsverluste berechneten. Und für recht lange Zeit lag die Oblast Saratow auf dem ersten Platz. So wurde der Begriff ‚verödende Landschaften‘ geprägt. Und er hängt uns immer noch an.“
Die nächste Nachricht handelt vom Vorstoß eines Abgeordneten aus Saratow, bei den Soldaten der „militärischen Spezialoperation“ IT-Fähigkeiten stärker zu fördern. Niemand diskutiert sie.
„Wir sind ein gesperrtes Medium, aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein. Wir werden bald schizophren.“
Marija wendet den Blick vom Ticker, um einen Anruf auf dem Festnetz entgegenzunehmen. Der Pressdienst des Gouverneurs lädt die Journalisten der Freien zu einer Veranstaltung ein: Wieder einmal stattet der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, Region Saratow einen Besuch ab. Er stammt von hier.
„Bald werden wir noch schizophren.“ Marija reibt müde ihre Schläfen. „Wir sind ein gesperrtes Medium, im Grunde gibt es uns gar nicht. Aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein.“
Einige der letzten Zeilen im „Logbuch“ (so wird in der Redaktion ein Notizbuch mit Leser-Anfragen genannt) sind Roskomnadsor gewidmet. Nach der Sperrung der Webseite haben die Journalisten mehrere Male bei der Behörde nachgefragt: Aus welchem Grund? Sie haben offizielle Anfragen geschrieben und eine Erklärung der Redaktion auf die Webseite gestellt. Aber weder von der Medienaufsicht noch von der Generalstaatsanwaltschaft gab es eine Antwort. In dem Schreiben der Medienaufsicht heißt es nur ominös: „wegen wiederholter Platzierung widerrechtlicher Informationen“.
„Sie haben auf einen Paragrafen verwiesen, der rund 25 Punkte umfasst, angefangen von ‚Fernbleiben von der Truppe‘ bis hin zu ‚LGBT-Propaganda‘. Bei der Hotline des Roskomnadsor gab man uns auch keine Antwort – wir hörten nur: Don’t Worry, Be Happy. Sieht so aus, als sei das alles, was wir tun können“, witzelt die stellvertretende Chefredakteurin.
Das Einzige, was die Journalisten wissen: Sie wurden von der föderalen Medienaufsicht gesperrt, nicht von der regionalen. „Unser digitaler Gulag arbeitet technisch bemerkenswert, ein menschlicher Faktor ist ausgeschlossen“, fährt Marija fort. „Bei der regionalen Medienaufsicht räumten sie ein, dass man selbst schockiert sei. Der Minister für digitale Entwicklung der Oblast schrieb uns: ‚Was ist passiert?‘ Im Chat mit Kollegen schrieben uns andere Medien: ‚Was habt ihr denn erwartet?‘ Und natürlich fragten alle nach dem Grund der Sperrung, und wie es weitergeht.“
„Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten.“
In den ersten Tagen waren viele überzeugt, dass das nur ein Fehler sei und die Freien bald wieder entsperrt werden.
„Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten, dass alle den Eindruck hatten, es wird nicht so weit kommen. Wir waren, wo es angebracht war, mehr als vorsichtig, und sogar da, wo nicht“, erklärt die stellvertretende Chefredakteurin. „Dass wir blockiert wurden, hat alle Kollegen stark erschreckt: Alle begannen zu überlegen, wofür sie dichtgemacht werden könnten. Letztlich wegen allem Möglichen.“
Kurz vor der Sperrung, im Dezember 2023, läutete für die Redaktion die erste Alarmglocke. Die Militärstaatsanwaltschaft schickte eine Anweisung, dass die Liste der Gefallenen aus der Region zu löschen sei, die die Journalisten seit den ersten Tagen der „militärischen Spezialoperation“ führten. Diese Informationen, heißt es in dem Schreiben, stellten ein Staatsgeheimnis dar.
„Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir dann welche verraten?“
„Uns war klar, dass wir gegen keinerlei Gesetze verstoßen: Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir da welche verraten? Wir waren trotzdem sehr erschrocken, und unsere Kollegen auch: Schließlich drohen ja Dutzende Jahre Haft“, sagt Marija. Das war das erste Verbot dieser Art. Keines der regionalen Medien führte derlei Listen, auch wenn viele über einzelne Gefallene berichten.“
Die Liste mit den Namen wurde von der Redaktion entfernt. Die Seite, auf der sich die Liste befand, ist aber immer noch auf der alten Version zu finden. Sie ist zwar leer, aber die alte Überschrift steht noch da – und ein Hinweis auf das Verbot durch die Militärstaatsanwaltschaft.
Die Freien bringen auf der neuen Webseite weiterhin Nachrichten über einzelne Gefallene. Diese stützen sich auf Pressemitteilungen regionaler Verwaltungschefs oder anderer Offizieller. Die Militärstaatsanwaltschaft hat noch immer nicht beantwortet, ob auch das eine Gesetzesverletzung darstellt, oder eine solche nur bei einer systematischen Aufbereitung der Daten vorliegt.
Es war bereits mehrere Male vorgekommen, dass die Redaktion wegen neuer Gesetze Artikel entfernen musste. 2023, als Nichtregierungsorganisationen und Medien eine nach der anderen als „unerwünscht“ eingestuft wurden, haben Journalisten den Chat „Deleters“ [nach dem engl. „delete“ – DK] eingerichtet.
Viele Beiträge mit Verweisen auf [Nawalnys – dek.] Stiftung zur Bekämpfung der Korruption mussten entfernt werden. Etwa die auf Recherchen zur Datschenkooperative Sosny im Moskauer Umland, bei denen Journalisten eine luxuriöse Datscha von Wolodin aufgespürt hatten. Die Redaktion ließ bestimmte Kommentare in Social-Media-Kanälen automatisch entfernen, und zwar vor allem mit Blick auf die Sicherheit derjenigen, die diese Kommentare schreiben.
Die Nachrichtenagentur Freie Nachrichten gehört dem Verlagshaus Energija, einer Medienholding des Unternehmers und Politikers Arkadi Jewstafjew. Jewstafjew war früher Mitarbeiter des KGB und des Innenministeriums der UdSSR, er arbeitete für Anatoli Tschubais und für Boris Jelzin und war Vertrauensperson von Michail Prochorow. Er ist in verschiedenen Branchen tätig, unter anderem durch die Investmentholding Energetitscheskij sojus und das Energieunternehmen Toljattinski transformator.
Die Freien Nachrichten sind 2012 entstanden. Jewstafjew startete sie als eigenständiges Medium: Seinerzeit erschien in Saratow bereits seine Gaseta nedeli [„Wochenzeitung“ – dek.]. Die erscheint jetzt noch einmal im Jahr – damit sie nicht ihre Medienlizenz verliert.
In den 12 Jahren haben die Journalisten der Freien einiges erlebt: Zerstörte Kameras in Wahllokalen, Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaft, Vorladungen von Mitarbeitern zum Verhör, Verhaftungen während einer Live-Sendung: 2018 gab der ehemalige Leiter von Nawalnys Team in Saratow, Michail Murygin, den Freien ein Interview. Das war nach einer Demonstration mit der Parole „Der ist nicht unser Zar“. Direkt während der Sendung wurde er von sechs Polizisten abgeholt, zwei von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Nur der Fahrer hatte einen Dienstausweis dabei. Der war es dann auch, der Murygin offiziell festnahm.
Die Redaktion wandte sich daraufhin an die Behörden, und verlangte, die Polizisten wegen Behinderung der Arbeit von Medienvertretern zur Rechenschaft zu ziehen. Die Polizisten wiederum verlangten, dass die Redaktion wegen Widerstands gegen Vertreter der Staatsgewalt bestraft werde. Die Geschichte verlief schließlich im Sand.
Heute sind die Journalisten des Portals nach wie vor die einzigen in der Region, die sich trauen, ihren Landsmann Wolodin offen zu kritisieren. Derweil verfassen ihre Kollegen [bei anderen Medien] einhellig Lobesstücke über dessen Besuch in der Region. Doch sie können einfach nicht untätig sein: Sie machen bei Frost Straßenumfragen mit der Kamera oder verfolgen penibel, welcher Abgeordnete der Staatsduma für welchen Gesetzentwurf stimmt – auch dafür stehen die Freien.
Die Redaktion hat nur 15 Mitarbeiter. Zu besseren Zeiten – Anfang der 2010er Jahre – waren es noch 33. Nach wie vor gibt es ein Nachrichtenressort und eines für längere Geschichten. Im Dachgeschoss ist das Videostudio untergebracht, in dem Sendungen für den YouTube-Kanal aufgenommen werden. An der Spitze des Ganzen steht die Chefredakteurin Lena Iwanowa.
Sie bezeichnet sich selbst als einen „Menschen der Provinz“: Sie lebt seit ihrer Kindheit in Saratow, kam in den Neunzigern zum Journalismus und leitet das Portal seit seiner Gründung. Sie hat kurzgeschnittene Haare, eine Brille mit dickem Rahmen und zwei Tattoos auf dem rechten Arm.
Vor zweieinhalb Jahren, nach Beginn der „militärischen Spezialoperation“, gab sie am 4. März zusammen mit den Mitarbeitern eine Erklärung der Redaktion heraus, wie man weiterarbeiten wolle, und dass man jetzt die Gesetze der Militärzensur einhalten müsse. Und dann brach sie in Tränen aus. Ihr war klar: Ehrlichen Journalismus zu betreiben, war jetzt nicht mehr möglich. Trotzdem waren die Journalisten der Freien die ersten, die auf eigene Gefahr von einem 19-jährigen Wehrpflichtigen berichteten, der bei der „militärischen Spezialoperation“ ums Leben kam. Die Behörden bestätigten dessen Tod erst später. Und sie waren es, an die sich vom Kummer zerfressene Mütter von Soldaten wandten, die ihre Kinder nicht finden konnten. Es gab niemanden, an den sie sich sonst hätten wenden können.
„Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“
Eine Woche nach Beginn der „Spezialoperation“ warfen regionale Telegram-Kanäle und Personen des öffentlichen Lebens den Freien vor, sie seien subversiv tätig und würden feindliche Ansichten verbreiten. Bekannte Persönlichkeiten in der Region, Kollegen, Abgeordnete, Unternehmer und Betreiber von Telegram-Kanälen denunzierten sie und organisierten Hetzkampagnen.
Im Februar 2023 bekam Marija Aleksaschina Drohungen per Messenger, mit ihren persönlichen Daten. Anzeigen bei der Polizei blieben vergeblich. Angeblich seien die Drohungen nicht konkret genug gewesen.
„Ich habe WhatsApp gelöscht. Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“, erinnert sich Marija. Im Mai 2023 wurde Anna Muchina, eine Journalistin der Freien, vom Justizministerium aufgrund einer Denunziation als „ausländische Agentin“ eingestuft. Muchina ist eine der wenigen medizinisch versierten Journalistinnen, die nicht nur über Eröffnungen von Polikliniken schreibt. Sie kennt sich aus, weiß, welche Medikamente in der Region fehlen. Darüber hinaus hat sie eine öffentlich zugängliche Facebook-Seite, auf der sie alles schreibt, was sie über das Geschehen in Russland und der Welt denkt.
Nach dem Februar 2022 einigte sich Iwanowa mit dem Gründer der Redaktion, dass man äußerst vorsichtig sein solle. Die Sicherheit der Mitarbeiter müsse so gut wie möglich gewährleistet werden. Es sollten weder von der Regierung noch aus dem Ausland Fördergelder angenommen werden. Am besten, man halte sich so weit wie möglich neutral.
Geholfen hat es nicht. Nachdem Muchina zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, kündigten einige Mitarbeiter der Redaktion.
„Daraufhin begannen alle, sich darüber auszulassen, was wir für ein fieses Medium seien, wie wir alle hassen würden, dass unsere Träger im Ausland sitzen würden und wir hier überhaupt nicht existieren dürften“, erinnert sich Marija an den vergangenen Sommer.
Nach der Sperrung des Portals zogen über den Freien noch mehr dunkle Wolken zusammen: Vor ein oder zwei Jahren hatte in der Redaktion noch eine Stimmung geherrscht, die dem Motto folgte: „Wir beobachten weiter und haben Spaß dabei“.
Jetzt, im Sommer 2024, ist das ganz anders.
In der Raucherecke wird nur mit halblauter Stimme gesprochen. Die Kaffeebecher werden so gedreht, dass die Aufschriften nicht zu sehen sind, weil sie nach den neuen Gesetzen als wer weiß was ausgelegt werden könnten. Die Redakteure zensieren die internen Chats.
„Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“
Das letzte Jahr war das schwerste in der Geschichte der Freien. Der Scherz „wir müssen den Priester rufen“ (damit dieser den Raum gegen den bösen Blick weiht) ist jetzt nicht mehr lustig.
„Das schrecklichste Ereignis des vergangenen Jahres war der Tod Nawalnys“, erinnert sich Lena. „An dem Tag hatten wir [die Politikerin Jekaterina – TD] Dunzowa auf Sendung. Sie war nach Saratow gekommen, um hier den regionalen Stab ihrer Partei Rasswet zu eröffnen, und wir hatten sie gebeten, davon zu erzählen. Ich las gerade bei mir im Büro einen anderen Text und war weder im Redaktions-Chat noch beim Newsticker. Da kam der Chefredakteur der Videoabteilung reingestürmt und fragte: „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“
Als Lena nach dem ersten Schock wieder zu sich kam, versuchte sie, den Journalisten zu erklären, wie sie angesichts dieser Nachricht weiter vorgehen sollten. Aber ihre Stimme versagte. Und über drei Wochen lang versagte sie wieder und wieder.
Und dann, zwei Monate später, verlor des ganze Portal seine Stimme. Die Freien wurden gesperrt.
Die Besucherzahlen der neuen Internetseite lagen gegenüber der alten nur noch bei einem Zehntel. Auch die Erwähnungen und die Suchergebnisse bei Nachrichten-Aggregatoren brachen ein. Yandex nahm die Freien wegen der Sperrung aus dem Nachrichten-Angebot. Das neue Portal würde frühestens nach einem halben Jahr aufgenommen.
„Bislang haben wir auf unserer Seite nichts, was die Leute anlocken könnte“, erklärt Marija. „Zum Beispiel ‚Wo kann man in Saratow gut essen gehen?‘ oder ‚Wo kann man in Saratow schwimmen gehen?‘ Das alles blieb auf der alten Seite zurück.“
Die Suchmaschinen hatten die Freien auch früher schon aus ihren Ergebnissen gekickt, als die Journalisten Berichte zu nicht genehmen oder verbotenen Themen brachten. „Wir haben deswegen an Yandex.Novosti geschrieben. Die antworteten: ‚Schlechte Überschrift‘, berichtet Marija. „Sobald wir nicht mehr über etwas ‚Heikles‘ schrieben oder der Aufhänger sich von selbst erledige, kehrten wir problemlos in die Ergebnisse zurück.“
„Wir haben immer weniger Mittel, aber die Risiken werden immer größer“
„Wir haben immer weniger Mittel, und die Gehälter sind gering“, erklärt Lena. „Aber die Risiken werden immer größer. Die Reaktionen bei Straßenumfragen lassen ebenfalls nach. Wir haben eine Umfrage zur Mobilmachung durchgeführt. Da haben sich viele geweigert, etwas zu sagen. Und diejenigen, die sich offen äußerten, konnten wir nicht senden, weil Strafen drohen.“
Der Raum, den die Zensur und die Propaganda in unserem Land und in unserer Region für unsere Arbeit lassen, wird mit jedem Tag kleiner.
„Die Ressourcen von Einiges Russland werden immer größer. Die werden immer stärker“, klagt Marija. „Der örtliche Rundfunk betrieb fünf Radiosender. Jetzt haben sie Lizenzen für fünf weitere gekauft. Und den Lagebericht für den Vizegouverneur haben die eher auf dem Tisch als der Vizegouverneur selbst.“
Zwar gibt es keine offene Hetze gegen das Portal, doch spüren die Journalisten der Freien, dass etwas in der Luft liegt. „Ich hab so ein Gefühl, vielleicht ist das schon Paranoia, dass sie etwas gegen uns vorbereiten“, sagt Iwanowa. „Da wird eine geschlossene Haltung aufgebaut, um dann einen einzigen gezielten Schlag zu setzen.“
Seit Juli setzt sich die Redaktion wegen der Sperrung mit der Medienaufsicht und der Generalstaatsanwaltschaft vor Gericht auseinander. Ende Juni bekam die Chefredakteurin der Freien erstmals zu Hause Besuch. Zwei Vertreter der regionalen Medienaufsicht händigten ihr eine Aufforderung aus, ein Anzeigenprotokoll zu unterschreiben: Die Redaktion habe in einer ihrer Beiträge einen Wirtschaftswissenschaftler erwähnt und dabei nicht kenntlich gemacht, dass dieser als „ausländischen Agenten“ eingestuft wurde.
Lena ging darauf nicht ein. In der Redaktion waren sie überzeugt: Roskomnadsor will einen Prozess zum Entzug der Lizenz. Noch während dieser Artikel zur Veröffentlichung fertig gemacht wurde, ging es los.
Gleichzeitig versucht man die Redaktion dazu zu bringen, von selbst auf die Medienlizenz zu verzichten. Nach der Sperrung schickte Roskomnadsor einen Brief, in dem den Freien vorgeworfen wurde, sie würden auf der alten Webseite keine Nachrichten mehr veröffentlichen, obwohl sie doch als täglich erscheinendes Internetmedium registriert sind. Das ist aber nicht wahr: Jeden Tag erscheint dort etwas aus dem Ticker.
Im Gespräch mit der Chefredakteurin verlangte eine Mitarbeiterin von Roskomnadsor eine schriftliche Erklärung der Redaktion, dass das Portal auf der gesperrten Seite nichts mehr schreiben werde.
Wenn wir eine solche Erklärung einreichen, entziehen sie uns die Lizenz“, erläutert Marija. „Wir haben keinen Plan, was wir tun sollen, wenn das passiert. Die Stadt ist recht klein, der Freiraum noch enger, und wo willst du hin, wenn du keine Möglichkeit hast zu emigrieren? Mein Mann und ich haben das nicht mal in Erwägung gezogen. Auch viele Kollegen haben einfach kein Geld, aber sie müssen ihre Hypotheken bedienen. Die Ersparnisse würden gerade einmal zwei Monate reichen, um etwa in Tbilissi zu leben. Außerdem nutzt unsere Reputation hier in Saratow anscheinend gar nichts. Im Gegenteil: Einer unserer ehemaligen Kollegen hat auf der Suche nach einem neuen Job zum Beispiel eine Absage mit der Begründung erhalten, er habe in einem Team zusammen mit einem ‚ausländischen Agenten‘ gearbeitet.“
Seit diesem Jahr werden den Freien keine Studenten mehr für Praktika zugeteilt. Die erzählen, was ihre Betreuer sagen: „Die Universität unterschreibt niemals einen Vertrag mit einer Organisation, die vom Staat blockiert wurde.“
„Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“
Bekannte aus Saratow, die jetzt in Moskau lebten, stellten alle dieselbe Frage, erzählt Iwanowa: „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“. „Das heißt, sie sind uns nicht feindlich gesonnen, sondern sind nur ganz ehrlich verwundert. Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“
Gleichzeitig wirft ein Teil des Bekanntenkreises den Freien Selbstzensur vor: „Eine meiner Freundinnen redet nicht mehr mit mir, weil wir ‚nicht oppositionell genug‘ seien“, sagt Marija. „Ein anderer aber, der stark in der Öffentlichkeit stand und jetzt aus Saratow emigriert ist, postet in seinem Kanal unsere Berichte – natürlich, ohne uns als Quelle zu nennen – und ergänzt das, was wir zwar eh wissen, aber nicht schreiben können, solang wir in Russland sind. Am Ende fügt er sarkastisch hinzu, die Freien seien ja irgendwie unfrei!“.
Von den Mitarbeitern ist bislang keiner ins Ausland gegangen. „In einer Redaktion zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg“, findet Marija. „Du kannst jemandem einen Kaffee bringen, mit jemandem quatschen, jemanden umarmen. Weil es in letzter Zeit immer schwerer wird, sich zu erklären, was das Ganze soll.“
Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, der zu jener Zeit auch von belarussischem Territorium aus geführt wurde, gab es zahlreiche Sabotageakte an Eisenbahnstrecken in Belarus. Denn die russische Armee nutzte die Infrastruktur im Nachbarland für den Transport von Militärgerät und Soldaten. Viele der sogenannten Eisenbahnpartisanen wurden schließlich festgenommen und zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Andere versuchten zu fliehen. Für solche Fluchtpläne braucht es mutige Aktivisten, die dafür selbst riskieren, festgenommen zu werden. So ist es Alesja ergangen: Die junge Frau tappte in eine Falle der belarussischen Sicherheitsbehörden und erlebte danach ein Martyrium in verschiedenen Haftanstalten. Das belarussische Online-Medium Mediazona Belarus hat ihre Geschichte aufgeschrieben.
Alesja steht entkleidet im Flur der Übergangshaftanstalt in Mahiljou, einer speziellen Ecke ohne Videokameras, wo die „nackte Durchsuchung“ stattfindet. Eine blonde Polizeibeamtin schiebt ihr einen Finger in den Mund, um nachzusehen, ob Alesja dort etwas versteckt. Ihr werden mehrere Artikel des Strafgesetzbuches vorgeworfen, darunter unter anderem Terrorismus. Später wird Terrorismus aus der Anklage gestrichen, Alesja wird zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie übersteht die Prügel während der Verhöre und die Haft, flüchtet nach der Entlassung nach Vilnius und erzählt nun Mediazona ihre Geschichte.
Alesja wurde im April 2022 nahe der litauischen Grenze festgenommen. Auf Bitten ihres Mannes, des in Litauen tätigen belarussischen Aktivisten Oleg Meteliza, hatte sie jemandem helfen wollen, die Grenze nach Litauen sicher zu überqueren. Alesja wusste nichts über die Identität dieser Menschen, aus Sicherheitsgründen bekam sie keine Informationen, damit sie „im Fall der Fälle“ im Verhör keine Namen nennen konnte. „Ich sollte das Gelände begutachten, ob man da durchkommt. Allgemeine Informationen sammeln, ob dort Grenzsoldaten sind, wie die Qualität der Wege ist, ob es Kameras gibt, Beleuchtung und so weiter.“
Später stellte sich heraus, dass diese Fluchtvorbereitungen einer Gruppe von Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk galten. Allerdings waren sie einige Tage vorher verhaftet worden, einem von ihnen schossen die Silowiki ins Knie. Das Urteil gegen die Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk erging im Februar 2023: Dmitri Klimow und Wladimir Awramzew wurden zu je 22 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, Jewgeni Minkewitsch zu anderthalb Jahren Haft. Für Alesjas Festnahme inszenierten die Silowiki eine Spezialoperation, für die sie sich als jene Aktivisten aus Babrujsk ausgaben.
Alesja erinnert sich: Sie stand an einer Position, an der sie die Umgebung des Dorfes Salatje im Gebiet Hrodna im Blick hatte, sah das Auto, in denen sie die Partisanen vermutete. Allerdings fuhr es im Kreis, was Alesja ziemlich seltsam vorkam, da man sich dort eigentlich nicht verfahren konnte. „Dann hielten sie also an und nahmen mich fest. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte. Sie hatten sich auch nicht vorgestellt. Sie zückten ein Messer, bedrohten mich, ich solle mein Telefon hergeben. Dann schubsten und zerrten sie mich, stießen mir die Ellbogen in die Rippen, obwohl ich gar nichts machte, ich saß nur still da, weil ich unter Schock stand. Irgendwann schrie ich sogar ,Hilfe, Banditen!’. Weil sie ja wirklich so aussahen.“
Sie taserten uns mit dem Elektroschocker
Alesja wurde in einen Wald gebracht, in dem bereits einiges los war – bewaffnete Silowiki in Sturmhauben, viele Fahrzeuge – PKWs, Kleinbusse. Auch der Belarusse Alexej Kowalewski wurde dorthin gebracht. Er hatte nichts mit den Eisenbahnpartisanen zu tun, wollte nur zusammen mit ihnen die Grenze überqueren. Zuvor war er wegen der Teilnahme an den Protesten in Minsk zu Strafarbeit verurteilt worden. Alesja fielen deutliche Spuren von Prügel an ihm auf. Die Silowiki stellten sie einander gegenüber, um herauszufinden, ob sie sich kannten. Alexej und Alesja sahen einander zum ersten Mal.
„Sie stellten uns zur Durchsuchung nebeneinander auf, die Hände in Handschellen erhoben, sie taserten uns mit dem Elektroschocker, erst ein Bein, dann das andere. Danach schlugen sie uns einfach ins Gesicht. Nicht fest, aber ich hatte vorher nie Gewalt erlebt. Ich wehrte mich nicht, versuchte nur, mit ihnen zu reden – was passiert und warum man mich festhält. Irgendein Ranghöherer kam und behauptete, ich sei eine europäische Prostituierte, die für Geld Verbrechen begehe. Und gab dann den Befehl, mich zu verhören.“
Irgendwann trat ein Mann in Lederhandschuhen an Alesja heran. Er fasste sie am Hals und begann Fragen zu stellen: „Wie viele seid ihr in eurer Bande? Wo sind die anderen? Wer sollte euch hier abholen?“ Alesja antwortete nicht, der Mann würgte sie. Er drückte ihr immer fester die Kehle zu, bis sie fast das Bewusstsein verlor. „Was weiter geschah, liegt völlig im Nebel, ich sagte gar nichts mehr, erst dann beschlossen sie, mich zum KGB zu bringen.“ Die Verhöre dauerten mehrere Stunden, manchmal den ganzen Tag. Aus der Arrestzelle wurde sie zum KGB gebracht. Dort wurde Alesja zwar nicht mehr geschlagen, aber gezwungen, lange mit nach vorn ausgestreckten Armen dazustehen. Einer der Silowiki fuchtelte mit einem eisernen Lineal, als würde er ihr gleich auf die Hände schlagen.
„Ich dachte – versuch’s nur. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich nehme dir dein Lineal weg und schlage selbst damit zu. Wieso behandelt ihr mich so, ich benehme mich doch normal, ich wehre mich nicht, leiste keinen Widerstand. Ich will einfach nur verstehen, wo ich hineingeraten bin.“
Im Verhör wurde Good Cop – Bad Cop gespielt: Einer sprach sanfter und stellte persönliche Fragen, der andere fragte nur zur Sache. Trotz allem machte Alesja Aussagen, die auf Video aufgenommen und später auf dem TV-Sender ONT gezeigt wurden. Sie hatte dem Propagandafernsehen ein Interview verweigert, weshalb diese Mitschnitte der Verhöre in dem Beitrag aufgenommen wurden „Das Schlimmste war für mich, dass ich in dem Video einen wirklich hässlichen Hut trug, weil ich einen blauen Fleck im Gesicht hatte, und weil ich überhaupt nicht gut aussah. Ich wollte nicht, dass mein Vater und meine Bekannten mich so sehen.“
Aus der Untersuchungshaft nach Mahiljou
Aus Hrodna brachte man Alesja in die Übergangshaft nach Mahiljou. Über die Mitarbeiter dort sagt Alesja: „Bestien, anders kann man es nicht sagen. Die Frauen, die dort arbeiten, behandelten mich, als hätte ich ein Baby gefressen und wäre stolz darauf.“ Als ihre Menstruation begann, verwehrte man ihr die Aushändigung von Hygieneartikeln.
„Einmal drohte ich, kein Wort mehr zu sagen, bis ich Binden bekomme. Denn ich bin eine Frau und sitze jetzt in Hosen voller Blut vor euch, weil ich einfach nichts habe. Selbst meine Anwältin bat um Erlaubnis, mir Hygieneartikel zu kaufen und mitzubringen, das sei doch nicht mehr normal. Schließlich brachte mir der Ermittler Kontaktlinsenflüssigkeit, Feuchttücher, Tampons und Binden. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn ich saß wirklich in vollgebluteten Hosen dort.“
Alesja hatte keine Wechselkleidung, die Schuhe hatte man ihr weggenommen, deshalb musste sie zu den Befragungen und Durchsuchungen in Socken über den Flur. Waschmittel hatte sie auch keines – für sie wurden keine Päckchen angenommen, nicht einmal Seife. Besonders erniedrigend waren die Durchsuchungen, erinnert sich die politische Gefangene. Sie musste sich komplett ausziehen, die Beamtinnen steckten ihr die Finger in den Mund, um zu schauen, ob dort nichts versteckt wäre.
„Die Fressluke öffnet sich, du streckst die Hände raus, sie legen dir Handschellen an. Dann öffnen sie die Zelle, du trittst heraus, sie führen dich in die Ecke, wo du dich ausziehen musst. Ich dachte gerade noch: Was für ein hübsches Mädchen, so blond, so gepflegt, das Gesicht und die Nägel. Und da sagte ebendieses Mädchen: ,Na los, Schlampe, zieh dich aus. Stringtanga? Ist der nicht zu klein?´“
Vor der Verhaftung hatte Alesja mit ihrer Familie mehrere Jahre in Vilnius gelebt. Dort wartete auch ihr neunjähriger Sohn auf sie. Er hätte sie im Gefängnis besuchen können, doch die Eltern entschieden sich bewusst dafür, Kastus nicht nach Belarus zu bringen. Sie verschwiegen ihm nichts, aber, so erinnert sich Alesja, begriff er eigentlich bis zuletzt nicht richtig, was das alles bedeutete. „Die ersten Briefe, die er mir schickte, waren ganz kurz und trocken, als wäre ihm nicht klar, wie lange das dauern würde. Er dachte, ich würde bald zurückkommen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht freiwillig schrieb, dabei hatte ich meinen Mann gebeten, ihn nicht zu zwingen. Später verstand er irgendwie von selbst, dass ich nicht so bald nach Hause kommen würde. Da wurden seine Briefe ausführlicher, er schrieb mir, wie sein Tag war, was es zu essen gab, worüber er lachen musste, welche Filme er guckte.“
Oft schrieb der Sohn an die Mutter: „Du bist meine Heldin, ich weiß, dass du Menschen geholfen hast.“ Das beruhigte Alesja – sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass ihr Sohn denken könnte, die fremden Leute seien ihr wichtiger gewesen als er. Im Straflager wollte Alesja irgendwann keine Videoanrufe mit ihrem Sohn mehr führen. Der Grund dafür war, dass immer ein Polizeibeamter anwesend war, der in die Kamera schaute und die Gespräche mithörte. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht.
„Ich konnte nicht zulassen, dass einer, der mir so zuwider ist, meinen Sohn sieht und unser belarussischsprachiges Gespräch hört. Belarussisch ist für die alle ohnehin ein schwieriges Thema. Deshalb ging ich einfach nicht mehr hin, entschuldigte mich in Briefen und in den normalen Telefonaten dafür. Ich sagte: Tut mir leid, Kind, ich kann das nicht.“
Von einem Gefängnis ins nächste
Alesja wurde aus der Übergangshaft ins Untersuchungsgefängnis von Mahiljou verlegt. Die Bedingungen dort nennt sie „wie im Sanatorium“: frisch renovierte Zellen, viel Platz für persönliche Habseligkeiten und abends Warmwasser. Die „Extremisten” wurden besonders streng gehalten, aber „daran konnte man sich gewöhnen“. Einmal schrieb die Belarussin beim Hofgang den berühmten Satz „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ an die Wand. Unter dem Schriftzug tauchten immer mehr Pluszeichen auf. In einem anderen Innenhof stand „Glauben! Können! Siegen!“.
In Mahiljou verbrachte sie fünf Monate. Dann wurde der Anklagepunkt Terrorismus fallengelassen und sie in ein Untersuchungsgefängnis in Hrodna überstellt. „Ich hatte mich gerade an Mahiljou gewöhnt, da ging wieder alles von vorn los – neue Mitinsassen, neue Zelle, sogar ein neuer Ermittlungsbeamter wurde mir zugeteilt.“ Im Untersuchungsgefängnis Hrodna herrschten schlechtere Bedingungen. Alesja erinnert sich an alte, winzige Zellen, die schon lange nicht renoviert worden waren. In einer Zelle für vier Personen konnte man gleichzeitig auf dem Bett sitzen und sich die Hände im Waschbecken waschen.
„Das war einfach eine Welt für sich, wie indische Slums. Winzige Zellen, niedrige Decken, alles dreckig. Als ich meine erste Zelle sah, kamen mir direkt die Tränen, aber dann nahm ich das Waschpulver, das ich noch hatte, und irgendeinen Schwamm und begann alles zu schrubben, weil es schon furchtbar war, einen Fuß auf diesen Boden zu setzen.“
Die Gerichtsverhandlung
Im Untersuchungsgefängnis Hrodna verbrachte die Aktivistin weitere fünf Monate, dann kam ihr Fall endlich vor Gericht. Alesja machte sich vor dem ersten Gerichtstermin große Sorgen. Sie wurde in Handschellen zur Verhandlung gebracht, da die Begleitpolizei wohl nicht informiert war, dass sie nicht mehr wegen Terrorismus angeklagt war. Beim ersten Termin konnte sie ihre Familie und Freunde sehen, danach wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, da angeblich geheime Informationen zur Sprache kämen. „Lächerlich, wo sie doch alles längst auf ONT berichtet hatten.“
Das Gericht verurteilte Alesja zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie. Später wurde ihre Haft per Amnestie auf ein Jahr verkürzt – ihr Vergehen (illegaler Grenzübertritt mit Vorsatz) war nicht politisch, sie stand auf keiner Extremistenliste und die Einzelheiten des Falls schaute sich offenbar niemand so genau an.
Haft in der Frauenkolonie
Es begann ein „neues Leben“ in der Frauenkolonie IK-4 in Homel. Alesja berichtet nicht detailliert über das Lager, um jene nicht zu gefährden, die noch dort einsitzen. „Jedes Mal, wenn jemand aus der Kolonie entlassen wurde und ein Interview gab, bekamen wir das zu spüren. Einmal wurde zum Beispiel berichtet, dass [die politische Gefangene] Marfa Rabkowa regelmäßig in die Turnhalle geht. Seitdem darf sie da nicht mehr hin, vermutlich bis zum Ende ihrer Haftzeit. Man darf also auch nichts Positives sagen. Und sagst du etwas Negatives, zum Beispiel, dass es im Gefängnisladen keine Gurken gibt, nur Tomaten – dann sind auch die Tomaten weg. So funktioniert das. Und das ist schlimm: Du kommst raus und denkst, jetzt erzähle ich alles, wie es wirklich ist, wie sie die Menschen misshandeln. Aber dann verstehst du, dass es nur schlimmer wird, wenn du darüber sprichst.“
Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht
Am schwersten war für Alesja in der Strafkolonie, dass sie keine Zeit für sich und keine Wahl hatte: Egal, wohin du gehst oder was du machst – du gehörst dir nicht. „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Das System ist darauf ausgerichtet, dass du die ganze Zeit nur darüber nachdenkst, was du essen und wann du dich waschen kannst. Wie ein Tier, du überlegst nicht, welches Buch du lesen willst oder was du in einem Brief schreiben könntest. Die Gedanken drehen sich im Kreis: Morgen sieht es schlecht aus mit Frühstück, also muss ich wenigstens einen Kaffee trinken. Danach habe ich drei Dienste, dann Inventarkontrolle, wann kann ich in den Waschraum, ich muss ein Schlupfloch finden. Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht.“
Die Zeit in der Kolonie vergeht schnell, erzählt Alesja, und wenn weniger als hundert Tage bis zur Entlassung verbleiben, tauchen die Gedanken an die Freiheit auf „Du erlaubst dir, dich auf Dinge zu freuen und Pläne zu schmieden. Du lässt dir zwei Monate im Voraus einen Termin zur Maniküre machen und sehnst dich nach gepflegten Haaren und einer neuen Brille. Nach der Rückkehr in ein normales Leben. Aber das verbirgst du vor den anderen, die noch lange dortbleiben müssen, um ihnen nicht wehzutun. Sie freuen sich zwar aufrichtig für dich, aber du fühlst dich trotzdem schuldig.“
Endlich in Freiheit
Alesja kam am 3. Mai 2024 frei. Es war ihr nicht gestattet, ihr Uniformkleid mitzunehmen, obwohl sie die Lagerkleidung selbst bezahlt hatte. „Sie nahmen mir alles weg, nicht mal die Socken, die dort ausgegeben wurden, durfte ich mitnehmen. Dabei hätte ich mit dieser Kleidung etwas vorgehabt, ich wollte sie den Leuten draußen zeigen.“
Am Lagertor wurde sie von Freundinnen abgeholt – sie brachten sie in eine Wohnung, wo sie sich duschen und umziehen konnte, dann luden sie sie zu einem leckeren Essen in ein Café ein. „Als ich dann endlich zu Hause war, ging ich am späten Abend, gegen 23 Uhr, entspannt im Hausmantel vor die Tür, zündete mir eine Zigarette an und begriff – das ist es, es ist real. Endlich Freiheit. Ich kann mir das erlauben.“
Einige Tage später kamen Polizisten, um sie zu kontrollieren. Sie kamen immer wieder, auch nachts, und durchsuchten ihr Handy. Später wurde sie unter Führungsaufsicht gestellt, musste zwischen 22 und 6 Uhr zuhause bleiben und durfte die Stadt nicht verlassen. Alesja plante schließlich die Ausreise – in Litauen warteten Ehemann und Sohn auf sie, und die erhöhte Aufmerksamkeit der Silowiki zwang sie zur Eile. Im Juni kam die Belarussin in Vilnius an.
Was bedeutete die Zeit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins in Belarus? Warum blieb dieses dennoch eher schwach? Warum zeigt sich die belarussische Gesellschaft nach den Protesten, die am 9. August 2020 begannen, wieder gespaltener?
Im zweiten Teil seines Gesprächs mit dem Online-Medium Gazeta.by reflektiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski vor dem Hintergrund der wechselhaften belarussischen Geschichte über die große Frage der nationalen Identität seiner Landsleute.
Bahdana Paulouskaja: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass bei uns nur sehr wenige Autokraten herrschten. Wie kam es dann, dass die Belarussen bei den freien Wahlen 1994 für einen Diktator stimmten und sich damit auf Jahrzehnte ein Problem schufen? Wann passierte dieser Fehler in der Matrix?
Alexander Klaskowski: Erstens gab es in der belarussischen Geschichte sehr wohl genügend Autokraten, Tyrannen und Despoten, zum Beispiel den russischen Zaren, der die Aufstände unserer Vorfahren in Blut ertränken ließ. Oder auch Stalin. Natürlich suchten sich die Belarussen damals ihre Herrscher nicht selbst aus, es war immer eine Fremdherrschaft. Und dieser Mangel an eigener Wahlerfahrung schlug sich dann leider bei den ersten mehr oder weniger freien Wahlen in Belarus 1994 nieder.
Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist
Zweitens, und das ist das Beschämendste, wählten die Belarussen keinen Diktator, sondern ihren Saschka, wie ihn damals viele nannten. Es gab Fernsehübertragungen der Sitzungen des Obersten Sowjets im Ovalen Saal, und die Zuschauer sahen diesen einfachen Mann vom Dorf, der die Wahrheit aussprach und sagte, er wolle die Mafia besiegen, wenn er an die Macht kommt. Er wirkte wie ein ländlicher Robin Hood, war aber in Wirklichkeit einfach nur ein talentierter Populist. Zum großen Leidwesen hatten die Belarussen in ihrer Masse nicht genügend politische Erfahrung und kein ausreichendes Maß an nationalem Selbstbewusstsein. Auch der wirtschaftliche Kollaps trug seinen Teil bei. Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist, dass die Kinder Kleider und Schuhe haben, und genau damit spielte Lukaschenka, als er versprach, die guten alten Zeiten zurückzubringen. Danach zog er die Schrauben an, so dass die Belarussen keinen anderen Führer mehr wählen konnten. Sie versuchten es immer wieder, zuletzt 2020, aber leider endete alles in einer riesigen Tragödie, die bis heute andauert.
Welchen Einfluss hatte die Sowjetzeit auf uns? Konnten wir uns seit Beginn der Unabhängigkeit von den Spuren der Sowjetisierung befreien?
Ich bin kein Freund davon, die sowjetische Zeit nur schwarz zu zeichnen. Wie ich schon sagte, gerade das Bestehen der BSSR war im Jahr 1991 von Vorteil: Belarus erhielt seine Unabhängigkeit, anders als beispielsweise Tatarstan . Oder denken wir an die Zeit der Belarussifizierung der 1920er Jahre, als die Verfechter der Wiedergeburt eifrig den Boden der belarussischen Sprache beackerten. Sicher, viele von ihnen wurden später von Stalins Regime erschossen, aber was sie damals geleistet haben, wirkt bis zum heutigen Tage nach.
Des Weiteren muss man die Industrialisierung nach dem Krieg erwähnen, die Urbanisierung, als die Belarussen massenhaft in die Städte übersiedelten – aus ihren dunklen Holzhäusern zogen sie in große Wohnungen mit allem Komfort. Und auch in den Dörfern mehrte sich der Wohlstand. Meine Eltern zum Beispiel – Kriegskinder – erzählten, wie sie in der Kindheit und Jugend hungerten. Meine Mutter konnte während ihres Studiums an der Akademie in Horki nur einmal in der Woche ein Brot kaufen. Sie schnitt es in sieben Teile, aber hatte solchen Hunger, dass sie es trotzdem innerhalb weniger Tage aufaß.
Minsk, damals die Hauptstadt der BSSR, in den sowjetischen 1970ern
Aber schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten meine Eltern, obwohl sie im Dorf lebten, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Trog voller Speck, konnten sich gute Wintermäntel kaufen und einen Teppich an die Wand hängen, wie es damals modern war. Mein Onkel Koszja fuhr einen Kirowez-Traktor und verdiente gutes Geld – 350 Rubel im Monat.
In der Sowjetzeit gab es also eine Periode, in der Belarus einen großen wirtschaftlichen und sozialen Sprung machte. Lukaschenka beruft sich noch heute darauf, wenn er sich brüstet, wir hätten unser sowjetisches Potential nicht verloren. Dieses hat allerdings nicht Lukaschenka geschaffen, sondern Generationen von Belarussen mit ihrer fleißigen Arbeit davor.
Belarus war tatsächlich eine der hochentwickeltsten Republiken der UdSSR, was auch negative Aspekte hatte. So konnte Lukaschenka nämlich 1994, mitten in der postsowjetischen Krise, die Erinnerung an Wohlstand und Reichtum für seine Interessen nutzen. Ein weiterer Pluspunkt der Sowjetzeit war, dass die Belarussen eine fundierte Ausbildung erhielten und der soziale Aufstieg in weiten Teilen gut funktionierte. Ich selbst bin beispielsweise ein Junge aus dem Dorf, bekam ohne jedes Vitamin B einen Studienplatz an der Fakultät für Journalismus und später eine Stelle bei einer landesweiten Zeitung mit hoher Auflage. Die Redaktion hatte meine Einstellung beantragt, da ich bereits eng mit ihr zusammengearbeitet hatte und meine Artikel häufig gedruckt wurden. Einige Jahre später war ich bei der Zeitung schon zum Chef vom Dienst aufgestiegen.
Die schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle
Selbst innerhalb der Machtelite gab es Menschen wie Henads Buraukin, der Staatsrundfunk und -fernsehen der BSSR leitete und dort die belarussische Sprache förderte. Natürlich in einem abgesteckten Rahmen, aber er konnte für die belarussische Sache arbeiten. Im ZK der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) saß der Dichter Sjarhei Sakonnikau, der die belarussischen Schriftsteller unterstützte und mit Wassil Bykau befreundet war. Die Kaderauswahl war damals in gewissem Maße vernünftiger als heute unter Lukaschenka, wo wir beobachten können, dass in seiner Umgebung allen voran die Schmeichelhaften reüssieren, zudem ganz offene Adepten der sogenannten Russki Mir.
Natürlich war die sowjetische Periode auch eine Zeit, in der während der stalinistischen Repressionen sowohl die nationale Elite als auch einfache Belarussen vernichtet wurden. Mein Urgroßvater Wazlau, der sich während der Kollektivierung bei einer Versammlung skeptisch über das Kolchossystem geäußert hatte, wurde wegen „antisowjetischer Agitation“ (analog zum heutigen „Extremismus“) verfolgt und verbrachte viele Jahre in Straflagern und in der Verbannung. Auch die schleichende Russifizierung ist ein Phänomen der Sowjetzeit. Hier kann man aber auch nicht alles auf das kommunistische System schieben, denn viele Belarussen entsagten ihrer Muttersprache ohne jeglichen Zwang, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Niemand steckte ihnen Nadeln unter die Nägel, sie wechselten selbst zur russischen Sprache, um nicht wie Kalchosniki zu wirken.
Diese schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle. Denn im Unterschied zu den Einwohnern der damaligen baltischen Sowjetrepubliken konnten die Belarussen sich nicht entschieden von Moskau losreißen. Wieder etwas, womit Lukaschenka spielen konnte, als er die Schallplatte von der sogenannten brüderlichen Integration auflegte.
Hat uns 2020 in der Frage der nationalen Identität vorangebracht? Denn natürlich haben wir zunächst diese große Begeisterung gesehen, das Meer der weiß-rot-weißen Flaggen, spürten Nationalstolz und den Wunsch, uns Belarussen zu nennen. Aber jetzt erlebt das Land furchtbare Repressionen, alles Belarussische wird verdrängt, Bücher werden verboten, Lehrbücher umgeschrieben und an russische Narrative angeglichen.
Das muss man dialektisch betrachten. Einerseits beobachten wir einen furchtbaren Rückschritt, das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter. Die Bedingungen, unter denen politische Gefangene festgehalten werden, die Misshandlungen, denen sie ausgesetzt sind, erinnern an finstere Zeiten, als despotische Monarchen ihre Feinde in Gruben und Verliese sperrten, um sie lebendig verrotten zu lassen.
Aber, um auf die Ereignisse von 2020 zurückzukommen, ich möchte betonen, dass die Geschichte keinen Konjunktiv duldet. Sonst könnte man auch über Kalinouskis Aufstand sagen, er sei verfrüht gewesen, dieser Aufruhr hätte schreckliche Repressionen, die Ausrottung der nationalen Elite, die beschleunigte Russifizierung provoziert – kurzum, es sei zu früh nach der Freiheit gestrebt worden.
Aber so reden wir nicht. Denn wir verstehen, zum Ersten, dass solche historischen Ereignisse nicht planbar sind, sondern stattfinden, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen, man kann sie nicht mechanisch in eine passendere Zeit verschieben. Zweitens hat der Kalinouski-Aufstand ungeachtet der Tragik des Moments in historischer Hinsicht auch heute eine große Bedeutung für die belarussische Idee und die nationale Identität.
Heute kämpft das Kalinouski-Regiment in der Ukraine. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Lukaschisten auf der Kalinouski-Straße in Minsk schon mit den Zähnen knirschen, wir wissen, dass sie diese Schilder früher oder später abnehmen werden. Das heißt aber auch, dass sie das beschäftigt, denn sie spüren die Kraft der belarussischen nationalen Idee, personifiziert in Kalinouski. Man kann also jetzt über die Ereignisse von 2020 fantasieren, nachträglich irgendwelche scholastischen Modelle entwickeln, wie man hätte gewinnen können, aber das ist sinnlos. Denn ein Sieg war so gut wie unmöglich, die Kräfte waren ungleich verteilt. Hätte man versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte das noch mehr Tote gebracht.
Könnte man sagen, dass gerade die Figur Lukaschenka, die plötzlich alle satt hatten, 2020 unsere Nation konsolidierte?
Die These der nationalen Konsolidierung würde ich anzweifeln. Einige Führer des demokratischen Lagers begehen leider den Fehler, vereinfachte Formeln zu benutzen wie „das Volk leidet unter dem Joch der Diktatur“. Ich verstehe, dass das in gewissem Maße eine Exportvariante ist, um westlichen Politikern zu erklären, dass das Regime und die belarussische Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Aber unabhängige soziologische Befragungen belegen, dass die Nation tatsächlich gespalten ist und 2020 diese Spaltung noch verstärkt hat: Die beiden Lager – Lukaschisten und Regimegegner – hassen einander einfach. Einige Politologen sagen sogar, dass die Bevölkerung sich praktisch im kalten Bürgerkrieg befindet. Tatsächlich ist das Bild komplexer, denke ich. Es gibt einen großen Anteil relativ neutral eingestellter Menschen. Das sind Leute, die (zum Großteil) potentiell für Veränderungen sind, sich aber jetzt in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen haben und einfach im Hier und Jetzt leben möchten, weil die Frustration sie ermüdet hat. Vor uns liegt also noch ein sehr schwerer und leidvoller Prozess – diese Fetzen der zerrissenen Nation zusammenzunähen.
Jekaterina ist 50 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Bis zum 24. Februar 2022 hat Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So wie bei den meisten Menschen in Russland, die gelernt haben, die Politik dem Kreml zu überlassen. Jekaterina studierte Psychologie und Pädagogik und kümmerte sich um ihre Kinder. Doch mit dem offenen Überfall auf die Ukraine änderte sich ihr Bild von der Welt grundlegend. Seitdem veranstaltet sie regelmäßig Protestaktionen. Auch wenn sie nicht viel bewirken – als gläubige Christin will sie nicht schweigen. Sogar in ihrer Gemeinde hat sie einige Gleichgesinnte gefunden. Nadezhda Beliakova und Kirill Emelianov haben Jekaterina für das Portal Christen gegen den Krieg interviewt – und zu ihrem Schutz auch ihren Namen geändert.
Christen gegen den Krieg:Wann sind Sie erstmals öffentlich aktiv geworden?
Ich bin nie politisch aktiv gewesen. Ich habe studiert, dann habe ich gearbeitet. Nach zehn Jahren Ehe, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, kam unser erstes Kind zur Welt. Drei Jahre später kam das zweite. Und dann im Abstand von jeweils einem Jahr zwei weitere, schließlich die Zwillinge … Ich war rundum mit der Familie beschäftigt und habe bis zum 24. Februar 2022 gedacht, dass alles in dieser Welt ohne mich entschieden wird. Ich war ehrlich der Ansicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und die Menschen human sind. Dass man sich mit Worten streiten, sich missverstehen kann, und dennoch niemals diese Grenze überschreitet, nämlich einen Angriff auf einen Nachbarstaat zu unternehmen. Und ich hatte gehofft, dass in der Politik die dort Verantwortlichen entscheiden und ich einfach gute Kinder großziehe, für unsere Zukunft. Jetzt erscheint mir das fast lächerlich, so zu reden. Aber bis zum Mittag des 24. Februar konnte ich nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist! Ich versuchte allen – vor allem mir selbst – einzureden, dass das manipulierte Videos sind, dass das Fake ist und einfach nicht wahr sein kann … Es war niederschmetternd für mich, für meine Weltsicht. Ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich ist. Ich setzte mich an den Computer und schaute nach … Ich fand die Orte, die beschossen wurden. Und ich fand Videos von dort vor dem Angriff. Ich verglich sie mit den aktuellen Bildern … und mir wurde schließlich klar: Die Videos waren keine Montage.
Und schon am Abend des 24. Februar nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestaktion teil. Obwohl wir (die Protestierenden) recht schnell eingesammelt und in einen Gefangenentransporter gesteckt wurden, waren wir absolut glücklich. Wir waren überzeugt, dass sich nach uns das gesamte riesige Land erheben würde, dass dieser Irrsinn, der Krieg, beendet wird. Unser Transporter war bis zum Anschlag gefüllt – und er war bei Weitem nicht der einzige. Doch alle waren gehobener Stimmung und überzeugt, dass uns viele andere folgen würden. Während wir zum Polizeirevier fuhren, sangen wir Lieder, scherzten und freuten uns, dass wir zusammen sind und nicht allein.
Wie lang hielt diese Euphorie an?
Ja, Euphorie ist wohl das richtige Wort. Weil einfach niemand damals begriff, was vor sich geht. Von da an ging ich jeden Tag zu den Protesten, die immer um sieben Uhr abends stattfanden. In Telegram-Kanälen wurden ständig wechselnde Routen vorgeschlagen, damit die Polizeistreifen es nicht schaffen, rechtzeitig vor Ort zu sein.
Die einen haben Briefe gegen den Krieg geschrieben oder unterschrieben, andere trugen Antikriegssymbole – weiße Tauben oder Buttons. Warum wollten Sie sich ausgerechnet an Straßenaktionen beteiligen?
Ich trage seit dem 24. Februar Antikriegssymbole. Das ist sozusagen meine Erfindung, die „wandelnde Mahnwache“. Am Rucksack habe ich eindeutige Symbole befestigt, die nicht misszuverstehen sind: Bändchen, Buttons, Friedenszeichen. Gerade baumelt da auch eine Nawalny-Ente. Und ein Button mit dem durchgestrichenen Wort FREIHEIT. Es gab auch noch gewagtere: das durchgestrichene Wort „Krieg“. Wegen dieses Zeichens wurde ich dann auch festgenommen und der Diskreditierung der Streitkräfte Russlands beschuldigt. Dann noch die Aufschrift „Ich bin für Frieden“. Mit der bin eine ganze Weile rumgelaufen. Doch schließlich haben sie mich festgenommen und mir noch eine „Diskreditierung“ aufgebrummt. Mit diesen Zeichen und Symbolen bin ich auf den Roten Platz gegangen, auf den Manegenplatz, über die Twerskaja, in den Sarjadje-Park. Und ich sah, dass die Leute auf die Symbole reagieren. Einige kamen näher und gaben mir mit ihrer Mimik oder mit Gesten zu verstehen, dass sie das gut finden und unterstützen. Insgesamt gab es sehr viele positive Reaktionen. Und ich trage diese Symbole bis heute.
Kann man Sie als christliche Aktivistin bezeichnen? Kann man sagen, dass Ihre Haltung auf Ihren christlichen Überzeugungen beruht?
Ja, unbedingt. Eine der Mahnwachen fand vor der Christ-Erlöser-Kathedrale statt, mit dem Plakat: „Gewöhnt euch nicht an den Krieg!“. Ich bin mit diesem Plakat eigens zur Kathedrale gekommen, weil es mir sehr wichtig war zu versuchen, wenigstens einige ein bisschen wachzurütteln, damit sie, wenn sie die Kathedrale besuchen, ins Nachdenken kommen.
Kam jemand auf Sie zu? Gab es Reaktionen?
Ich habe dort eigentlich nur acht Minuten gestanden. Sie haben mich recht schnell festgenommen. Aber wissen Sie, in diesen acht Minuten gab es doch einige Kontakte. Obwohl die Leute Angst hatten, zu mir zu kommen. Sie zeigten Ihre Solidarität aus der Distanz. Zwei auf einem E-Scooter – ein junger Kerl und seine Freundin – hielten an, machten das Victory-Zeichen, lächelten und winkten. Die Leute, die in die Kathedrale gingen, hielten inne, kamen aber leider nicht zu mir her. Darauf hatte ich da auch schon nicht mehr gehofft. Ich wollte nur, dass irgendwer vielleicht doch ins Grübeln kommt, dass wenigstens ein Samen gesät wird.
Und was denkt man in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Kirche über Ihre Aktionen? Gehen Sie immer in dieselbe Kirche, oder in unterschiedliche?
Wir gehen mit der ganzen Familie seit 17 Jahren in dieselbe Kirche. Ich fing an, dort hinzugehen, als ich schwanger war. Die Kirche war damals gerade erst gebaut worden, nicht weit von unserem Haus. Nach dem 24. Februar habe ich in der Sonntagsschule sofort allen freudig berichtet, dass ich bei der Mahnwache war und festgenommen wurde. Und was war ich schockiert darüber, wie negativ das aufgenommen wurde! Die Lehrer und der Direktor der Sonntagsschule zeigten ganz deutlich ihre kategorische Ablehnung.
Wie haben sie denn argumentiert? Gab es eine inhaltliche Diskussion?
Ich weiß nicht, ob man das eine Diskussion nennen kann? Sie reden nur von „acht Jahren im Donbass“, von gekreuzigten Jungen … Und so geht es bis heute weiter; leider hat sich in diesen zweieinhalb Jahren nichts geändert. Gleichzeitig hat sich in der Gemeinde eine Gruppe gebildet, wobei sich die Leute erst gewissermaßen „abgetastet“ und sich dann zusammengefunden haben. Das ist eine Gruppe von Kirchgängern, die kategorisch gegen den Krieg sind. Wir treffen uns und beten zusammen. Wir lieben unsere Gemeindemitglieder, unsere Gemeindepriester. Wir sind traurig und beten für sie; wir hoffen, dass ihnen die Augen geöffnet werden.
Ist das eine große Gruppe?
Nein, sie ist ganz klein, vier Leute. Aber wenn man die Kinder mitzählt, sind es sehr viel mehr. Eine Frau hat fünf Kinder, eine andere drei und noch eine zwei. Es sind nämlich alles Mütter. Und es war ein interessanter Prozess, wie wir einander „abtasteten“. Wir haben uns nicht sofort einander offenbart, wir waren uns nicht sofort im Klaren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Nachdem ich mir an der extrem negativen Haltung der Lehrer der Sonntagsschule die Finger verbrannt hatte, hatte ich Angst bekommen, dass mich auch andere enttäuschen würden. Deswegen tastete ich mich da ganz behutsam vor. Sehr vorsichtig. Und schließlich stellte sich heraus: Es gibt sie! Es gibt doch Leute, die den Krieg ebenfalls kategorisch ablehnen. Besonders deutlich wurde das beim ersten Osterfest nach Kriegsbeginn, als ich sah, wie die Leute ihre Kulitsche gestaltet hatten: Bei einigen war die Dekoration gelb-blau und einige Eier waren ebenfalls in dieser Weise gefärbt. Was für eine Freude! Ich habe es nicht geschafft, irgendwie zu reagieren. Ich hätte so gern mit diesen Leuten gesprochen. Aber ich wusste ja nicht, von wem welcher Kulitsch oder welcher Eierkorb kam! Jedes Mal, wenn du in blau und gelb geschmückte Oster-Gaben siehst, wird dir klar, dass du nicht allein bist. Ich kann kaum beschreiben, wie wichtig dieses Gefühl ist!
Zurück zu Ihren Protestaktivitäten. Sind Sie jedes Mal, wenn Sie auf Demonstrationen oder zu Mahnwachen auf die Straße gingen, festgenommen worden?
Nein, natürlich nicht. Es haben ja viele protestiert, die konnten unmöglich alle eingesammelt werden. Meine zweite Festnahme war am 6. März. Und am 13. März wurde ich zum ersten Mal mit Hilfe von Sfera in der Metro festgenommen. Da wurde klar, dass ich bereits auf irgendwelchen Listen stehe, von Personen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen. Bis zum 21. September 2022 sind gegen mich acht Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eröffnet worden. Darüber hinaus wurde ich drei Mal aufgrund von Sfera in der Metro festgenommen.
Was passierte mit Ihnen nach den Festnahmen in der Metro? Gab es Verhöre, Anzeigen? Ließ man Sie einfach gehen?
Unterschiedlich. Einmal ließen sie mich einfach gehen. Ein anderes Mal brachten sie mich aufs Revier und bedrängten mich lange mit Fragen. Sie wollten meine Fingerabdrücke nehmen und mich moralisch unter Druck zu setzen. Das dritte Mal hielten sie mich vier Stunden fest, zwei in der Metro und zwei auf dem Revier.
Und was war währenddessen mit Ihren Kindern?
Die Kinder sind meine verwundbare Stelle, und die Polizei weiß das genau! Gerade da können sie ihren Druck ansetzen. Jedes Mal, wenn ich [zu Protesten] aufgebrochen bin, hatte ich alles bis ins Detail durchgeplant. Jedes Mal waren mein Mann und die Oma (meine Mutter) zu Hause. Und im Kühlschrank standen Töpfe mit Essen. Die Schuluniformen der Kinder waren gebügelt und die Zimmer perfekt aufgeräumt. Sie drohten mehrfach mit dem Jugendamt und einer Pflegschaft. Ich habe alles so eingerichtet, dass sie [die Leute vom Jugendamt], wenn sie doch auftauchen sollten, ein ideales Zuhause vorfinden würden: ideale Kinder, die Hausaufgaben gemacht, der Kühlschrank gut gefüllt … Deshalb war ich, wenn beim Verhör das Thema auf meine Kinder kam und die Drohungen mit Entzug des Sorgerechts losgingen, gut vorbereitet: Kommen Sie nur, Sie werden erwartet! Von der Oma, meinem Mann, den Kindern … Das heißt, ich habe jede Mahnwache vorher intensiv zu Hause vorbereitet. Einmal war es so, dass einer unserer Freunde zu uns kam. Er hatte zufällig bei OWD-Info meinen Namen gelesen und dann meinen Mann angerufen, weil er wissen wollte, ob das stimmt. Er blieb dann bei den Kindern, während mein Mann zu mir aufs Revier fuhr. Unser Freund half der Oma dann, die Kinder ins Bett zu bringen, kam mit dem Auto zum Revier und wartete mit meinem Mann bis Mitternacht, bis mich die Polizei frei ließ.
Ihre Verwandten unterstützen Sie also. Teilen sie Ihre Einstellung zum Krieg?
Meine Mutter steht felsenfest hinter Putin. Nach dem Tod meines Vaters haben wir sie zu uns genommen. Sie hat außer mir niemand mehr. Um die ohnehin angespannte Lage nicht noch weiter zuzuspitzen, reden wir nicht über Themen rund um den Krieg. Wenn ich in die Küche komme, schaltet sie das Radio einfach aus.
Ihre Kinder hören wahrscheinlich auch Radio? Oder gibt es eine Abmachung, dass das Radio nur ohne Kinder läuft?
Die Kinder sind ganz auf meiner Seite. Wenn sie in die Küche kommen, schalten sie sofort auf den Kinderkanal um. „Wenn wir in die Küche gehen“, erzählen sie mir, „sagen wir: Oma, Oma, es gibt jetzt ein super interessantes Märchen auf dem Kinderkanal. Wir schalten jetzt um, OK?“ Und sie schalten um, obwohl doch klar ist, dass sie längst aus dem Alter raus sind, in dem sie den Kinderkanal gehört haben. Einerseits kämpfen sie für reine Luft „in einer Wohnung“ [im Original eine Anspielung auf „Sozialismus in einem Land“ – dek]. Andererseits vermeiden alle Streit. Manchmal fragen sie: „Mama, wie kann Oma das alles nur glauben?“. Sie lieben ihre Oma, sie tut ihnen leid, sie finden, dass sie getäuscht wurde. Dass unsere gute, liebe Oma einfach getäuscht wurde. Und deswegen wollen sie nicht, dass sie weiterhin diese Lügen hört. Es war übrigens ihre Idee, diese Tricks mit dem Radio zu veranstalten. Ich habe sie zu nichts aufgefordert. Und dafür haben sie meine Hochachtung, dass sie einen wirklich sehr menschlichen Weg gefunden haben, der Lüge entgegenzutreten.
Ihr Mann ist solidarisch mit Ihnen?
Mein Mann ist einer von den „Uneindeutigen“. Wissen Sie, einer von denen, die oft sagen: „Krieg ist natürlich etwas Schlechtes, das ist schrecklich, aber alles ist nicht so eindeutig …“ Einerseits sieht er meine kategorische Haltung und meine Unbeugsamkeit, und er versucht, das zu akzeptieren. Andererseits, wenn wir dann doch mal darüber reden, dann gerät er wieder in die eingefahrene Spur, nach dem Motto: „Ja, Krieg ist schon schlecht, aber dir ist ja wohl klar, dass wir provoziert wurden. Es stimmt zwar, dass wir angefangen haben. Aber andernfalls hätten sie uns doch angegriffen …“ Er ist gegen die Luftangriffe, gegen eine Konfrontation; er ist für Verhandlungen. Ich dagegen bin für einen vollständigen Sieg der anderen Seite! Manchmal scheint mir, dass er eher auf der anderen Seite steht. Für ihn ist die NATO ein Feind, Amerika ist ein Feind … Putin hat er aber nie gemocht. Na immerhin.
Hat dieser Krieg die Haltung Ihrer Familie zu Putin verändert?
Das kann man eigentlich nicht sagen: Mein Mann hat ihn nie gemocht, meine Mutter hingegen fand ihn immer gut.
Haben Sie sich vor dem Krieg an Protestbewegungen beteiligt? Etwa an Nawalnys Bewegung gegen Korruption, oder haben Sie vielleicht an Protesten im Zusammenhang mit der Ermordung Nemzows teilgenommen?
Es ist mir peinlich …, peinlich, das zu sagen, aber ich … ich habe mich ausschließlich um die Kinder gekümmert.
Warum ist Ihnen das peinlich?
Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich nichts gesehen, nichts gemerkt habe. Schließlich hat der Krieg ja nicht aus dem Nichts begonnen. Und jetzt fragen mich viele, wo ich denn eigentlich früher war? Früher habe ich in einer Idealwelt gelebt.
Haben Sie keine Angst, hinter Gittern zu landen? Sie haben in Gefangenentransportern gesessen, wurden auf dem Polizeirevier festgehalten. Haben Sie keine Angst vor dem russischen Gefängnis?
Natürlich habe ich Angst, aber längst nicht in dem Maße, wie ich Angst um meine Kinder habe. Es gab einen Augenblick, während einer der Festnahmen, da dachte ich, dass sie mich diesmal nicht wieder frei lassen. Das dauerte nur zwei Stunden. Aber ich dachte: Das war’s jetzt! Ich erinnere mich genau an meinen Zustand in diesen zwei Stunden, wenn man an die Kinder denkt. Als das Schloss der Zellentür eingerastet war und ich auf dem Boden lag und mit aller Kraft versuchte, Gedanken an die Kinder zu vermeiden, daran, was mit ihnen passieren wird. Weil mir ganz schrecklich zumute war: Was wird aus ihnen, wer wird ihnen bei den Schulaufgaben helfen, wer bringt sie zu den AGs, wer wird sie in ihrer Entwicklung fördern, und vor allem – wer wird sie vor der Propaganda schützen?
Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil.
In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“
Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?
Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.
Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten.
Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.
Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.
Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.
Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.
Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden.
Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)
Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.
Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte.
Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind.
In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“
Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges.
Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen.
Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen.
Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.
Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“
Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?
Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“.
Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.
Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.
Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.
Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.
Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“
Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.
Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung.
„Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …
Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde).
Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.
Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.
Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?
In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“
Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?
Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:
MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);
NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);
UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter.
Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“
Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.
Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden.
Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.
Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.
Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.
„Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen.
Die literarische Karriere des Dichters Gennadij Rakitin war steil aber nicht von langer Dauer. Über den Zeitraum von einem Jahr erschienen unter seinem Namen 18 Gedichte zu patriotischen Themen. Zahlreiche Abgeordnete der Kreml-treuen Staatsduma freundeten sich auf social Media mit ihm an. Er kam sogar fast in die Endrunde eines Literaturwettbewerbs. Doch dann erschien sein letztes Gedicht:
Lang drehte hier Gennadij Aus Z-Gedichten einen Strick, Am Ende aber sprach er: Scheißkrieg.
Tatsächlich war es das einzige, das er selbst verfasst hatte. Genauer gesagt: Die Gruppe von Kriegsgegnern, die sich den patriotischen Dorflehrer Rakitin ausgedacht hatten. In Wahrheit handelte es sich bei den Gedichten, die russische Patrioten so begeistert hatten, um Übersetzungen deutscher Dichter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Alexander Estis hat für Mediazona mit einem der Initiatoren über die Aktion gesprochen.
Gennadij Rakitin, 49 Jahre alt, Lehrer in einer kleinen Schule im Moskauer Umland und Hobby-Poet, war eine Erfindung russischer Anti-Kriegs-Aktivisten. Das Bild ließen sie von einer KI erstellen. / Screenshot: VK
Der fiktive Poet Gennadij Rakitin ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Wer hat ihn erfunden?
Aus naheliegenden Gründen können wir die Namen dieser Menschen nicht öffentlich machen. Am besten formuliert man das so: Es handelt sich um gewöhnliche Bürger Russlands, die keiner Partei oder politischen Bewegung angehören. Eine Gruppe von Freunden hat sich einfach zusammengefunden und beschlossen, so ein Projekt zu machen. Ohne jegliches Budget, in der Freizeit. Denn das Schlimmste, was man heute tun kann, wäre zu schweigen und nichts zu tun – im Glauben, jemand würde den Kampf an deiner statt führen.
Wann und wie entstand die Idee zu diesem Projekt?
Die Idee entstand größtenteils dank Margarita Simonjan und dem Schriftstellerverband Russlands. Im Frühling 2023 begannen sie, ihre beiden Anthologien von Z-Poesie intensiv zu bewerben. Wir haben sie – natürlich nicht in Gänze – gelesen und waren erschüttert: Darin verströmt beinah jedes zweite Gedicht, wenn man so will, den Geruch von ganz gewöhnlichem Faschismus.
Mit dem Projekt Gennadij Rakitin wollten wir den Lesern von Z-Poesie demonstrieren, dass sie sich für Texte begeistern, die sich kaum von der Lieblingslektüre der Nationalsozialisten unterscheiden. Ein besonders bedeutsamer Aspekt, über den wir lange nachgedacht haben: Wie können wir ein antimilitaristisches Statement machen, um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin gegen den Krieg sind, sondern umgekehrt solche, die ihn befürworten? Wie können wir ihnen in gewissem Sinn den Boden unter den Füßen wegziehen? Damit sie, sobald sie wieder ein „patriotisches Gedicht“ sehen, darüber ins Grübeln geraten, ob es nicht genau den Nazismus enthält, gegen den sie zu kämpfen vorgeben. Natürlich verstehen wir, dass dieses Ansinnen höchst idealistisch bleibt.
Hat der erfundene Name des Fake-Dichters irgendeinen bestimmten Sinn?
So gut wie keinen. Zunächst haben wir über irgendwelche Anagramme oder andere Wortspiele nachgedacht. Aber dann kamen wir zu dem Schluss, dies könne riskant sein: Man sollte uns ja nicht früher entlarven, als wir es selbst wollten. Also haben wir einfach einen Namen gewählt, der möglichst russisch klang – gemäß dem Prinzip Rakitin-Bereskin (von beresa – „Birke“). Dagegen stammen die Fotos der „heimatlichen Gefilde“, die auf Rakitins Profil im Netzwerk VK zu finden sind, aus deutschen Wäldern. Das war eine weitere Stellungnahme zum Thema „Einzigartigkeit der russischen Natur“.
Auf seinem Profil im Netzwerk Vkontate veröffentlichte Rakitin Bilder der einzigartigen russischen Natur. Auch hierbei handelte es sich in Wahrheit um Fotos aus deutschen Wäldern / Screenshot: VK
Und was ist mit den Fotos von Gennadij Rakitin selbst? Wie viele Bilder gibt es überhaupt von ihm?
Das war ein einfacher Prompt an eine KI, so etwas wie „ein russischer Intellektueller auf der Datscha in einem Moskauer Vorort“. Insgesamt gibt es nur zwei Fotos von Gennadij Rakitin.
Haben Sie sich von der Tradition literarischer Fälschungen und Mystifikationen inspirieren lassen?
Vielleicht nicht unmittelbar, aber selbstverständlich lieben wir unterschiedliche Mystifikationen. Etwa die Geschichte mit Jonathan Swift und seiner Suppe aus Säuglingen als Beispiel doppelten Trollings.
Wer erstellte die Übersetzungen und Adaptationen?
Wir selbst. Ein Kollektiv aus einigen wenigen Freunden.
Nach welchen Kriterien wurden die Originaltexte ausgewählt?
Uns stand kein umfangreiches Archiv nationalsozialistischer Poesie zur Verfügung – nur das, worauf man über Google frei zugreifen kann. Tatsächlich folgten wir keinen strikten Auswahlkriterien. Wir wollten, dass die Gedichte zur russischen Gegenwart passen – aber es passten beinah alle. Aussortiert haben wir vor allem diejenigen, die zu eindeutigen Anachronismen geworden wären, weil darin beispielshalber irgendwelche Ackerbauern, Bergmänner, Propeller oder Trommeln erwähnt werden.
Von welchen Prinzipien ließen Sie sich bei der Übersetzung der Texte leiten?
Wir haben uns um maximale Nähe zum Wortlaut des Originals bemüht. Nach Möglichkeit fast schon eine Interlinearübersetzung. Es scheint, als sei uns das lediglich beim ersten Gedicht nicht ganz gelungen. Aber bei den meisten Übersetzungen versuchten wir sogar das jeweilige Reimschema beizubehalten, obwohl in unserem Kollektiv weder professionelle Lyriker noch professionelle Übersetzer sind. Wir mussten so gut wie nichts verändern. Außer höchstens „Russland“ statt „Deutschland“ oder einfach „Uniform“ anstelle von „braunes Hemd“. Natürlich nahmen wir uns bei der Übersetzung ab und an kleinere Freiheiten heraus, aber die waren ästhetisch bedingt und hatten nicht das Ziel, die Quelle irgendwie zu verschleiern.
Wie gelangte Rakitin zu Anerkennung innerhalb der Z-Community?
Als wir anfingen, wussten wir nicht genau, ob das Projekt Fahrt aufnehmen würde und wie wir es genau vorantreiben sollten. Zuerst wollten wir einfach eine gewisse Menge an Internet-Freundschaften sammeln, in der Hoffnung, dass der Motor irgendwie von selbst anspringt. Dann sahen wir plötzlich, wie Rakitin auf dem Kanal Kriegspoesie zum militärischen Sondereinsatz geteilt wurde – dem größten digitalen Kanal, der ausschließlich der Z-Poesie gewidmet ist. Erst danach verstanden wir, dass wir auch selbst bei verschiedenen Foren anklopfen und um Veröffentlichung von Rakitins Texten bitten konnten. Die meisten publizierten es. Einige Foren mit mehreren hunderttausend Followern verlangten Geld, in diesen Fällen nahmen wir davon Abstand.
Erhielt Rakitin auch persönliche Zuschrifen?
Persönlich schrieben nur wenige. Meist wurde direkt unter den Posts kommentiert: „Gut gemacht!“, „Alles richtig!“ Es gab auch einen lustigen Kommentar: „So jung – und schon so ein Guter!“ Dabei ist Rakitin 49 Jahre alt.
Gab es auch Kritik?
Eigentlich nicht. Einmal schrieb jemand, es sei inhaltlich alles richtig, aber holprig formuliert. Und einmal wurde Rakitin, nachdem wir ein Gedicht zum Geburtstag des Führers beziehungsweise Putins gepostet hatten, von ein paar Leuten „entfreundet“.
Hat jemand im Laufe der Zeit Verdacht geschöpft?
Erstaunlicherweise nicht. Tatsächlich kann man sämtliche Texte Rakitins in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht aus Gedichten, die Krieg und Heimat verherrlichen. Also reinste Z-Poesie. Dass man sich dafür begeistert, das ist das Kranke am heutigen Russland. Die zweite Gruppe bildet gewöhnliche Lyrik über allgemeinmenschliche Kümmernisse (insbesondere über die Trauer des Verlusts), die theoretisch jeder erdenkliche Mensch in einer jeden Epoche und einem jeden Land hätte schreiben können. Dass sie den russischen Patrioten gefielen, bedeutet nicht, dass sie darin nazistische Ideen entdeckt und geschätzt hätten. Es war uns aber enorm wichtig, mit diesen Beispielen zu zeigen, dass es keine besondere russische Spiritualität – keinen kulturellen Code oder was auch immer man heute wieder predigt – gibt, die den russischen Menschen irgendwie den anderen gegenüber abheben, geschweige denn über sie stellen würde. Die dritte Gruppe umfasst zwei „Führergedichte“. Wir waren überzeugt, dass solch ein Unsinn nun wirklich niemandem schmecken könne. Im 21. Jahrhundert jemanden auf diese Art lobpreisen – ernsthaft? Das wäre nur in Nordkorea vorstellbar. Doch dann erwiesen sich diese Gedichte überraschend beinah als die populärsten. Und niemandem fiel etwas auf.
Wie würden sie die heutige russische Propagandalyrik einordnen?
Äußerst selten begegnet man guten Gedichten von Z-Poeten, und dies nur, wenn sie über echte menschliche Gefühle schreiben, über den Schmerz. Also wenn es sich letztlich auch gar nicht mehr um propagandistische Poesie handelt. Doch schauen Sie sich ein beliebiges Forum zur Z-Poesie an – eine überwältigende Mehrheit der Gedichte ist schlichtweg grauenvoll. In dieser Hinsicht hatte Rakitin ein Problem: Je besser in künstlerischer Hinsicht ein Gedicht gelang, desto weniger Chancen auf Erfolg hatte es.
Wie sehr ähnelt diese Art von Lyrik der propagandistischen Literatur des Dritten Reichs?
Danach zu urteilen, dass wir beinah jedes Gedicht wählen, übersetzen und für ein zeitgenössisches russisches Gedicht ausgeben konnten, ist die Nähe groß. Insbesondere natürlich in der Verherrlichung und Erhebung eines Volkes über alle anderen. Genau das stach sofort hervor in den Sammlungen, die ich oben erwähnte. Darüber hinaus stimmen natürlich auch die Ideen von der Pflicht gegenüber der Heimat überein. (Die Einstellung zum »Führer« kann unter den Z-Dichtern variieren, aber in der Propaganda ist sie naturgemäß einheitlich.) Der einzige Unterschied, den wir bemerkt haben, besteht wohl darin, dass „Disziplin“ als Vorstellung, wie sie in Gedichten nationalsozialistischer Zeit recht oft begegnet, der russischen Propaganda und Z-Poesie völlig abgeht.
Inwieweit lässt sich das heutige Russland insgesamt mit Hitlerdeutschland vergleichen?
Einerseits möchte man derartige Vergleiche aufgrund ihrer Begrenztheit immer vermeiden. Andererseits drängen sie sich wie von selbst auf. Bücher über das Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre stoßen in Russland – innerhalb bestimmter kleiner Bevölkerungssegmente – in jüngster Zeit auf große Nachfrage. Und eines springt ins Auge: Hier wie dort existiert eine verhältnismäßig kleine Zahl (aber es sind Zehn- oder Hunderttausende) аn Regimegegnern, eine deutlich, wenn auch nicht übermäßig größere Zahl an Hurra-Patrioten, aber zugleich existiert eine enorme Menge, eine erdrückende Mehrheit von Menschen, die versuchen wegzuschauen. Eines der Ziele unseres Projekts war es, dass dort, wohin sie schauen, kein Band mit Z-Poesie stehen möge.
Warum haben Sie beschlossen, den Fake zu enthüllen?
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens ist es sehr bedrückend, sich in derart toxischen Sphären zu bewegen – wenn man einerseits nationalsozialistische Zeitschriften der Dreißiger und Vierziger studieren, andererseits durch den Newsfeed scrollen und die »Werke« neuer russischer Patrioten zur Kenntnis nehmen muss. Und während du derartige Übersetzungen machst, entsteht der Eindruck, als würdest du etwas sehr Schmutziges berühren, etwas, das – ich entschuldige mich für den pathetischen Ausdruck – eine Spur in deiner Seele hinterlässt. Der zweite Grund hat mit gewissen Kommentaren zu tun. Viele der Gedichte thematisieren, das ist augenfällig, Krieg und Tod. Darunter erschienen nun Worte der Dankbarkeit und Sympathie von Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg gegen die Ukraine verloren hatten. Das nun ist ein sehr kompliziertes Gefühl – wenn du diesen Krieg mit Leib und Seele verachtest, aber doch auch diese Menschen bedauern musst, die den Tod ihrer Nächsten beweinen.
Sind weitere ähnliche Aktionen bereits in Planung?
Unser kleines Kollektiv von Freunden hat bereits weitere Projekte. Und indem wir dieses beenden, denken wir bereits an neue – aber die decken wir vorerst natürlich nicht auf.
Was wird jetzt aus Gennadij Rakitin?
Das wissen wir nicht. Nazidichter wird er jedenfalls nicht mehr übersetzen.
Seit Wladimir Putin im Februar 2022 den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat, beschäftigt Beobachter im In- und Ausland eine Frage: Wie stehen die Menschen in Russland zu diesem Krieg? Umfragen haben in einer Diktatur nur begrenzte Aussagekraft. Nur sehr wenige sind überhaupt bereit, daran teilzunehmen. Und wenn für Kritik am Krieg hohe Strafen drohen, trauen sich viele Befragte nicht, ihre Ansichten frei zu äußern.
Eine Gruppe engagierter Sozialforscherinnen und Sozialforscher aus Russland hat sich bereits 2011 zum Public Sociology Laboratory (PS Lab) zusammengeschlossen. Weil Umfragen nur unbefriedigende Antworten zur Haltung der Russen zum Krieg geben konnten, versuchten sie einen anderen Ansatz: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Monate auf den Trobriand-Inseln in der Südsee verbrachte, am Leben der Bewohner teilnahm und deren Gesellschaft in seinem Buch Argonauten des westlichen Pazifik beschrieb. Das Werk wurde zu einem Klassiker der Sozialanthropologie. Andere Forschende entwickelten die Methode der teilnehmenden Beobachtung weiter und wandten sie auch auf die eigenen Gesellschaften an.
Im Sommer 2023 verbrachten Forscherinnen des PS Lab jeweils einen Monat in einer russischen Kleinstadt und führten ein wissenschaftliches Tagebuch über ihre Beobachtungen. Das Portal Re:Russia veröffentlicht die Beobachtungen aus einem Ort in der Oblast Swerdlowsk. In ihrem Feldtagebuch stellt die Beobachterin nüchtern fest: Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um überhaupt zu merken, dass das Land sich im Krieg befindet.
PARALLELES TSCHERJOMUSCHKIN. Gegenwart UND Abwesenheit DES KRIEGES IN EINER RUSSISCHEN PROVINZSTADT
Über diesen Text
Zu Beginn des Krieges war die wichtigste Frage für Experten, Politiker und Russen generell die nach den Merkmalen der Unterstützung für den Krieg: Wer unterstützt den Krieg, warum, und welchen Anteil machen diese Menschen an der Gesamtbevölkerung aus? Zwei Jahre später sind viele Bewohner Russlands unmittelbar vom Krieg betroffen. Weil sie an die Front müssen, Angehörige verlieren oder in grenznahen Gebieten Opfer von Beschuss werden. Derweil gewöhnen sich die Gesellschaft und die Wirtschaft an die Kriegswirklichkeit und passen sich an. Für Experten, Analytiker und das interessierte Publikum stellt sich damit eine neue Frage: Nehmen die Bewohner Russlands die Auswirkungen des Krieges auf ihr alltägliches Leben überhaupt wahr? Passen sie sich an das Geschehen an, und wenn ja, wie? Worüber freuen sie sich, womit sind sie unzufrieden?
Umfragen und formalisierte Interviews allein sind nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wie die Russen in dieser neuen Realität leben, von der der Krieg ein untrennbarer Teil ist. Dazu ist ein besonderer Forschungsansatz vonnöten, nämlich eine systematische teilnehmende Beobachtung. Wir wissen, dass Menschen brisante Themen untereinander ganz anders besprechen, als sie es Soziologen, also Fremden gegenüber tun würden. Trotz der vielen Risiken, die heute in Russland mit einem solchen Ansatz verbunden sind, war das Team von PS Lab mit seinem Projekt erfolgreich: Im Herbst 2023 fuhren die Mitglieder des Teams in drei russische Regionen – in die Swerdlowsker Oblast, in die Republik Burjatien und in die Region Krasnodar – und verbrachten dort jeweils einen Monat.
Während ihrer ethnografischen Studien nahmen unsere Forscherinnen neben den Tiefeninterviews auch den öffentlichen Raum in den Städten in den Blick, und notierten, wie der Krieg sich dort niederschlägt. Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen zum Krieg und zu patriotischen Themen, sprachen mit Taxifahrern, Verkäufern, Barmännern und mit Mitarbeiterinnen von Nagelstudios. Dabei fragten sie unschuldig, wie sich die „militärische Spezialoperation“ (russ. SWO) auf das Leben in der Stadt auswirke. Unmittelbar nach diesen Gesprächen hielten sie deren Inhalt sowie ihre Beobachtungen in ethnografischen Tagebüchern fest. Dadurch konnten neben den 75 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern dieser drei Regionen 698 Seiten (rund 330.000 Wörter) detaillierter Beobachtungen zum Alltag in Kriegszeiten und aus Gesprächen über den Krieg festgehalten werden, die in einer Atmosphäre stattfanden, die nicht durch eine Interview-Situation verfälscht wurde.
In diesem Beitrag veröffentlichen wir eine Analyse der Daten, die auf einer dieser Reisen erhoben wurden. Die Stadt Tscherjomuschkin, von der die Rede sein wird, sucht man auf der Karte der Swerdlowsker Oblast vergebens. Der Name ist erfunden, doch die Stadt, die sich dahinter verbirgt, ist real. Auch alle anderen Namen in diesem Text wurden geändert.
Irgendwo im Ural: Eine Stadtlandschaft zu Kriegszeiten
Die Swerdlowsker Oblast gehört zu den zehn industriell am stärksten entwickelten Regionen Russlands. Jekaterinburg ist die viertgrößte Stadt des Landes, die Oblast ist mit 4,2 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Region Russlands, wobei 86 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Den Daten der Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug 2023 das mittlere Einkommen 53.300 Rubel [derzeit knapp 560 Euro], es liegt damit leicht über dem russischen Durchschnitt von 51.300 Rubel [535 Euro]. Der Anstieg des Realeinkommens betrug gegenüber dem Vorjahr 6,5 Prozent und war damit höher als in ganz Russland (5,6 Prozent).
Einer Recherche von Washnyje istorii und dem Conflict Intelligence Team zufolge liegt der Anteil der Männer, die in die Armee einberufen wurden, in der Swerdlowsker Oblast mit rund 10.000 Personen etwa im russischen Durchschnitt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 12.500 Einwohner der Oblast 2023 einen Vertrag über einen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine abgeschlossen; bis April 2024 waren es weitere 2500. Wer einen solchen Vertrag unterschrieb, bekam von der Oblastverwaltung einmalig 100.000 Rubel [etwas mehr als 1000 Euro] ausbezahlt. Ab Juni 2024 wurde diese Summe auf 400.000 Rubel [knapp 4200 Euro] erhöht, wie regionale Medien berichteten.
Die Zahl der bestätigten Toten durch den Krieg liegt (nach Angaben eines Projektes von BBC und Mediazona) bei 1820. Damit rangiert die Region in Russland ganz oben, was zum Teil auf ihre hohe Bevölkerungszahl zurückzuführen ist (2,9 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung). Auf die Region entfallen 3,4 Prozent aller bestätigten Toten.
Auf dem Gebiet der heutigen Swerdlowsker Oblast befanden sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigsten Bergbauunternehmen Russlands. Rund um diese Industrieunternehmen entwickelten sich Siedlungen und in weiterer Folge Städte. In einigen Industriestädten der Uralregion hat der Krieg beträchtliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Produktionsstätten, die sich in den vergangenen Jahren im Niedergang befanden, sind nun auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Die Nachfrage schnellte in die Höhe, die Löhne stiegen, was Fachkräfte aus ganz Russland anlockte.
In Tscherjomuschkin, wo wir die Studie durchführten, ist all das jedoch ausgeblieben. Das stadtbildende Unternehmen ist bereits in den 1990er Jahren geschlossen worden. Tscherjomuschkin hat rund 12.000 Einwohner. Ein beträchtlicher Teil ist im öffentlichen Dienst angestellt und bekommt bescheidene Gehälter. Als vergleichsweise einträglich gilt eine Beschäftigung in der Zellulosefabrik. Nach Kriegsbeginn und Verhängung der Sanktionen brachen jedoch nach Aussagen unserer Gesprächspartner die Geschäfte in diesem Bereich ein, weil vorwiegend für den Export produziert worden war. Eine Fahrstunde von Tscherjomuschkin entfernt liegt eine recht große Strafkolonie. Einige Einwohner der Stadt arbeiten entweder selbst dort oder kennen Mitarbeiter oder Häftlinge persönlich. Sie wissen, was sich in der „Zone“ tut. Nachrichten über die Anwerbung von Häftlingen sind für viele Bewohner der Stadt nichts Besonderes.
Laut Aussage der Einwohner ist Tscherjomuschkin nach regionalen Maßstäben ziemlich arm. In vielen Häusern gibt es keine zentralisierte Versorgung mit Wasser und Gas. Das Verlegen einer Wasserleitung kostet rund 100.000 Rubel [etwa 1000 Euro], was für viele unerschwinglich ist. Unsere Feldforscherin, die rund einen Monat in der Stadt verbrachte, hatte den Eindruck, dass Tscherjomuschkin der Gebäudestruktur, den Alltagsbedingungen und der sozialen Organisation nach stellenweise an ein großes Dorf erinnert.
In der Stadt gibt es das klassische Repertoire von Orten und Einrichtungen, die in fast jeder russischen Stadt dieser Größe zu finden sind: einen zentralen Platz, ein Haus der Kultur, ein Museum, eine Kirche, einige Verwaltungsgebäude, Schulen und Kindergärten. In Tscherjomuschkin gibt es mehrere Cafés, Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäfte, Apotheken und Schönheitssalons. Trotz ihrer geringen Größe kann man nicht sagen, dass die Stadt von der Welt abgeschnitten wäre: Es kommen recht oft Touristen hierher, die im Ural umherreisen.
Stellt man sich jemanden vor, der in Tscherjomuschkin am 23. Februar 2022 einschläft und im Herbst 2023 aufwacht, würde dieser schwerlich merken, dass seit über anderthalb Jahren Krieg herrscht. Unsere Feldforscherin hat in den Wochen, die sie kreuz und quer durch die Stadt lief, nur selten Symbole entdeckt, die auf den militärischen Konflikt hinweisen: zwei, drei Autos mit Z-Aufklebern und patriotischen Parolen, zwei verblichene Flaggen an der Fassade des Hotels (eine mit einem Z, eine in den Farben des Georgsbandes), die aber kaum zu sehen sind. In der Stadt waren keine Werbetafeln für einen Dienst als Vertragssoldat und keine einschlägigen Symbole an den Türen staatlicher Einrichtungen zu sehen.
Nach Aussage der Unternehmerin Tonja, die mit den Ereignissen in ihrer Stadt gut vertraut ist, sind in Tscherjomuschkin sichtbare Hinweise auf den Krieg im Laufe des letzten Jahres fast vollkommen verschwunden. Die Leute haben die Aufkleber von ihren Autos entfernt. Verabschiedungen von Soldaten, die an die Front fuhren, Begräbnisse und Trauerfeiern für Gefallene, die früher Aufmerksamkeit erregten, ziehen kein unbeteiligtes Publikum mehr an. Die Leute in der Stadt unterhalten sich seltener über den Krieg.
In Tscherjomuschkin gibt es praktisch keinen öffentlichen Raum. Das Café Ulybka (dt. Lächeln) ist wohl der einzige Ort dieser Art. Unsere Feldforscherin besuchte es täglich, um dort zu Mittag zu essen, am Notebook zu arbeiten oder sich mit Informanten zu treffen. Sie versuchte zwar nach Kräften mitzuhören, worüber an den Nachbartischen gesprochen wurde, bekam jedoch nur einmal Gespräche über den Krieg mit. Eine Gruppe von acht, neun festlich gekleideten Männern und Frauen hatte sich dort tagsüber getroffen, etwa 50 bis 55 Jahre alt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich wohl um ein Klassentreffen.
Als die Musik mal leiser wird, kann ich einen Trinkspruch verstehen: „Also – auf den Sieg!“, sagt eine der Frauen. Die anderen stimmen ein: „Auf den Sieg!“, „Auf den Sieg!“ Das Klirren der Gläser verklingt, eine andere Frauenstimme ist zu hören: „Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“ Die Frage geht an einen großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit tiefer Stimme. Von seiner Antwort verstehe ich nur einzelne Worte: „Polen“, „Faschisten“, „NATO“. Nach dem Monolog erfolgt die Reaktion der Frau: „Ah, das heißt also, dass es noch lange dauern wird …“ Eine andere Frau schaltet sich in das Gespräch ein: „Als ich jung war, dachte ich immer: Wie schade, dass ich nicht während des Zweiten Weltkriegs gelebt habe – wie gern hätte ich eine Heldentat vollbracht! Jetzt denke ich: Was war ich doch für eine Idiotin! Jetzt weiß ich, dass ich das sicher nicht könnte.“ Wieder ist die Antwort des Mannes nicht zu verstehen. Nur, dass es jetzt um Prigoshin geht. Etwa zehn Minuten nach dem Toast „auf den Sieg“ wechselt das Gespräch zu Alltagsthemen; über Politik und den Krieg wird nicht mehr gesprochen. Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Es ist nur schwer abzuschätzen, inwieweit der beschriebene Fall exemplarisch ist. Möglicherweise wurde das Thema nur deshalb aufgegriffen und von einer ritualisierten Oberflächlichkeit auf eine konkretere Ebene verschoben („Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“), weil am Tisch ein „Experte“ saß. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein pensionierter Mitarbeiter des FSB war. Bezeichnend ist, dass das Thema Krieg mit Leichtigkeit aufgegriffen wurde und bei den Anwesenden zu keiner Anspannung führte. Genauso leicht wurde es aber auch fallengelassen, da es kein besonderes Interesse hervorrief und im Alltagsgeplauder versank.
Während es praktisch keinen öffentlichen Raum in der Stadt gibt, wird die Seite eines lokalen Mediums auf Social Media rege zum Austausch genutzt. Wie Informanten berichten, haben sich die Menschen dort in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn geäußert und über den Krieg diskutiert. Mit der Zeit allerdings wurden „unliebsame“ Kommentare und Posts (mitunter zusammen mit den Verfassern) schnell aus den Chats entfernt, wohl von einer Beamtin mit Administratoren-Status.
Alewtina Nikiforowna, eine Rentnerin, die sich mit Putzen und als Haushaltshilfe ihr Einkommen aufbessert und zu unserer Feldforscherin Vertrauen fasste, erklärte, dass auf kritische Kommentare zum Krieg „losgegangen“ wurde. Die Verfasser wurden mit den üblichen Beleidigungen überschüttet (Ukrop). Außerdem erhielt ein Einwohner von Tscherjomuschkin eine nach örtlichen Maßstäben empfindliche Geldstrafe, weil er ein Video mit Anti-Kriegs-Botschaften geteilt hatte. Diese Nachricht sprach sich herum (die Soziologin hörte von mehreren Seiten davon), woraufhin die Bewohner der Stadt keine Kommentare oder Reaktionen auf Nachrichten mehr in den sozialen Netzwerken hinterließen.
Andacht, Festzelt, Konzert. Öffentliche Veranstaltungen und institutionelle Unterstützung des Krieges
In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn und später, nach Verkündung der Mobilmachung im Herbst 2022, wurden in Tscherjomuschkin „patriotische“ und „Freiwilligen“-Veranstaltungen abgehalten, die der Heroisierung der „militärischen Spezialoperation“ (russ. SWO) und der Hilfe für die Front dienen sollten. Frisch eingezogene Soldaten wurden feierlich verabschiedet, für Bewohner der Stadt, die im Krieg gefallen waren, wurden öffentliche Beisetzungsfeiern abgehalten, das örtliche Museum veranstaltete Sammlungen, gemeinsam wurden Tarnnetze geknüpft und so weiter. Nach Aussagen von Informanten hat die Intensität dieser Veranstaltungen im Laufe des Jahres nachgelassen. Während unsere Feldforscherin in der Stadt war, konnten sich ihre Gesprächspartner an kein öffentliches Event aus den vergangenen Monaten erinnern, das mit dem Krieg zusammenhing.
In Tscherjomuschkin gibt es keine Organisationen, die mit dem Krieg zu tun haben und permanent aktiv sind – weder Freiwilligenverbände, noch Zentren zur patriotischen Erziehung oder Spendensammelstellen für die Front. Gesellschaftliches Engagement kann sich nur auf der Basis bestehender Plattformen entfalten – des Kulturhauses, des Heimatkundemuseums, der Bibliothek, der Kirche, der Schule. Meist steht und fällt es mit dem Engagement Einzelner. So wurde der Soziologin zum Beispiel von einer Sammlung von Hilfsgütern für die Front berichtet, die der Museumsdirektor Pjotr Iwanowitsch organisiert habe. Als die Feldforscherin dort vorbeischaute, war von einer Sammlung nichts mehr zu sehen. Und im Interview erwähnte der Direktor die Sammlung mit keinem Wort.
Von Ljubow Wassiljewna, einer Rentnerin, die in der Stadt häufig Veranstaltungen besucht, erfuhr unsere Feldforscherin, dass zu Beginn des Krieges das städtische Amt für Kultur- und Jugendpolitik halb freiwillige, halb erzwungene Spenden für die Front gesammelt habe: „Die von der ‚Kultur‘ sagten […]: Gebt so viel, wie ihr könnt“. Sie sprach über diese Initiative ohne Begeisterung und wie über etwas, das nicht mehr aktuell ist.
Angesichts des allgemein gesunkenen Interesses am Krieg stach ein Bewohner der Stadt deutlich hervor, nämlich der Priester der örtlichen Kirche, Vater Konstantin. Er war vor kurzem an der Front gewesen, wo er Totenmessen abhielt und Soldaten segnete. In Tscherjomuschkin organisiert Vater Konstantin regelmäßig sogenannte Kriegerandachten. Entgegen den Erwartungen, ein Priester würde religiös argumentieren, sprach er gegenüber unserer Soziologin in weltlichen Worten und verwendete Klischees, die man aus dem Fernsehen kennt. So sprach er ernsthaft von den Gefahren durch „ausländische Agenten“ und „Vaterlandsverräter“. Auch die Priester zweier anderer Kirchen in benachbarten Dörfern ignorierten entweder alle Versuche, das Gespräch in eine religiös-dogmatische Richtung zu lenken, oder sie stemmten sich aktiv dagegen.
Der Priester machte auf die Feldforscherin den Eindruck eines ideologisch überzeugten Verfechters des Krieges. Zumindest scheint sein öffentliches Engagement – die Andachten und die Reisen an die Front – einer persönlichen Begeisterung zu entspringen. Die Feldforscherin konnte zwei Andachten beiwohnen, die Vater Konstantin organisierte. Bei der ersten waren höchstens 15 Personen anwesend. Nach dem Gottesdienst erzählte der Priester kurz, wie er einen Monat an der Front verbrachte und Soldaten für den Kampf segnete. Er fügte hinzu, dass die sich alle „wacker halten und die Heimat verteidigen“, und dass sie „Gebete brauchen, Gott brauchen“.
Bei der zweiten Andacht waren es doppelt so viele Besucher. Zur üblichen Gemeinde hatten sich Frauen gesellt, die nach Aussage von Darja, einer Pädagogin und aktiven Kirchgängerin, Angehörige gefallener Soldaten waren. Der Soziologin fiel auf, dass die Anwesenden Listen mit den Namen derjenigen in Händen hielten, für deren Heil gebetet werden sollte (allesamt Männer). Eine Liste trug die Überschrift: „Zivile Bewohner des Donbass“. Die einstündige Andacht endete mit einer Predigt von Vater Konstantin, in der er dazu aufrief „nicht nachzulassen“, „nicht nur an der Front zusammenzuhalten, sondern auch hier, in der Kirche“ und „möglichst viel zu beten, damit unsere Angehörigen lebend und gesund zurückkehren“. Schließlich sei der Sieg in der „heiligen militärischen Spezialoperation“ „mit uns“. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Dadurch erzeugt Vater Konstantin zum einen in seinem Umfeld einen ideologisch aufgeladenen Raum. Andererseits zieht dieser Raum anscheinend nur einen begrenzten Kreis von immer denselben Leuten an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Tscherjomuschkin nicht vom übrigen Russland, da insgesamt nur etwa neun Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen.
Vom ersten Tag an verfolgte die Feldforscherin die städtischen Bekanntmachungen und studierte eingehend Informationstafeln und Plakate. Sie erwartete, in Tscherjomuschkin die Früchte der massiven institutionellen Unterstützung für den Krieg zu finden. Als Erstes fand sie eine Ankündigung für den Film Swidetel (dt. Der Zeuge) im Kino des Kulturhauses. Es handelt sich hierbei um einen propagandistischen Film, der eine „alternative“ Sicht auf die Ereignisse in Butscha vermitteln und die Version in Zweifel ziehen soll, dass die Kriegsverbrechen dort von Soldaten der russischen Armee begangen wurden.
In der Erwartung, etwas ethnografisch Wertvolles beobachten zu können, verlasse ich das Ulybka und gehe in Richtung Kulturhaus, das nicht weit entfernt steht. Es ist 17:55 Uhr, aber der Saal des Kulturhauses ist absolut leer. Ich frage die gelangweilte Kassiererin und erfahre, dass ich die Erste bin, die zur Vorstellung gekommen ist. Noch wurde keine einzige Karte verkauft. Ich setze mich auf die Bank gegenüber dem Eingang, aber die nächsten 15 Minuten kommt niemand. Ich frage bei der Kassiererin nach, ob das oft vorkommt. Sie meint: „Nicht oft, kommt aber vor.“Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Bemerkenswert ist, dass auch eine weitere Filmvorführung (ein vom Kulturhaus angekündigter und organisierter Filmabend im Zelt auf dem Platz) auf ähnliche Weise nicht zustande kam. Die Soziologin wollte hingehen, weil ein propagandistischer Film auf dem Programm stand. Als sie jedoch auf den Platz kam, waren dort weder ein Zelt noch sonstige Anzeichen öffentlichen Lebens zu entdecken.
Die größten Erwartungen der Soziologin galten dem Konzert zum Saisonauftakt im Kulturhaus mit dem Titel Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich. Das Plakat für das „Benefizkonzert zur Unterstützung der Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation“ war zwei Wochen zuvor ans schwarze Brett gehängt worden.
In der Halle des Kulturhauses hängt gegenüber dem Eingang das Rohmaterial für ein Tarnnetz. Daneben versucht eine Frau in einer Art Tracht herauszufinden, wie das Knüpfen geht. Eine Gruppe Kinder, vielleicht 12 Jahre alt, sitzt auf den Sofas und spielt auf Tablets. Rechts vom Tarnnetz eine Schautafel mit Fotos von Uniformierten mit der Bildunterschrift ‚Vaterlandsverteidiger‘. Die meisten Fotos zeugen von patriotischen Aktionen: Schüler schreiben Briefe an Soldaten, Frauen knüpfen Netze und stopfen Socken, Männer in Tarnkleidung verladen Kisten mit Hilfsgütern in Autos. Auf einem der Fotos entdecke ich Vater Konstantin, der mit einem Dosenlicht posiert. Auf der anderen Seite eine Installation und eine Fotostrecke à la ‚russisches Bauernhaus‘ mit Samowar und Trachtenhemden. Eine Frau sitzt in einem roten Kleid und einem Kokoschnik vor einem Haufen Birkenreisig für die Sauna (anscheinend ein Workshop für das Binden von Birkenreisig).
Im Saal die erste Nummer: Rund ein Dutzend Leute auf der Bühne, alle mit Mikrofon. Darunter der Leiter des Ensembles des Kulturhauses, eine Mitarbeiterin der Bibliothek und ein Schauspieler des örtlichen Theaters. Eine Komposition in Dur:
Wir wünschen dir Liebe Wir wünschen dir Reichtum … Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieg. Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieeeeehieeg. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Später stellte sich heraus: Das Lied heißt eigentlich Zum Geburtstag!, der Wunsch wird in der ersten Person Einzahl gesungen. Die Komposition wurde wohl wegen des Wortes „Sieg“, das in der letzten Zeile des Refrains langgezogen wird, als Eröffnungsnummer gewählt. Im Originaltext geht es übrigens nicht um einen Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern um eine abstrakte individuelle Leistung des Geburtstagskindes. Das Bild, das auf der Bühne erzeugt wurde, erinnerte in keiner Weise an den Krieg oder andere aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Alle weiteren Stücke waren für Kulturhäuser in Russland typisch und wurden kaum an das Veranstaltungsthema angepasst.
Die Moderatorin betritt die Bühne und verkündet feierlich: „Heute eröffnen wir mit Ihnen die Kultursaison. Und das ist der Moment von jenen zu sprechen, die sich ihr Leben nicht ohne Kunst vorstellen können und uns mit ihren Werken beglücken … Erlauben Sie mir, das größte und berühmteste Ensemble der Stadt vorzustellen, das Tanzensemble Feuervogel!“ In einer Pause zwischen zwei Stücken schaue ich mich um und versuche, in der Dunkelheit des Saales zu erkennen, was für Leute im Publikum sitzen. Die allermeisten sind Rentner. Einige jüngere Frauen sind wohl Mütter, deren Kinder bei dem Konzert mitmachen. Außerdem einige Frauen mittleren Alters, die wie Lehrerinnen oder Beamtinnen des Kulturamtes aussehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dienstlich auf der Veranstaltung.
Nach Feuervogel treten noch einige Musikgruppen auf: Ehrfurcht, Singende Birken, Allegro … Das Repertoire besteht entweder aus Folklore bzw. russischer Volksmusik mit entsprechenden Kostümen und Videos, oder aus Schlagern (Evergreens aus der russischen und sowjetischen Schlagerwelt, schlecht vorgetragen). Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Der einzige direkte Verweis auf die „militärische Spezialoperation“ kam von der Moderatorin ganz am Ende des Programms; er wurde aber auch nicht weiterentwickelt:
„Der heutige Abend steht unter der Devise: ‚Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich‘. Das Konzert zur Eröffnung der Saison ist eine Benefizveranstaltung. Die gesamten Einnahmen fließen in die Unterstützung unserer Landsleute, die an der ‚militärischen Spezialoperation‘ teilnehmen. Wir bitten nun die Leiterin der Verwaltung für Kultur, Tourismus und Jugendpolitik der Stadtverwaltung Tscherjomuschkin, Walentina Subikowa, auf die Bühne!“ Entgegen meinen Erwartungen gab es auch in der Rede von Frau Subikowa nur einen indirekten Hinweis auf den Krieg („[…] den Ensembles möchte ich vor allem eines wünschen: künstlerischen Erfolg, neue Tänze, neue Lieder, neue Kompositionen. Ich wünsche allen Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Und einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Allen viel Glück!“). Ein Kindertanz mit Breakdance-Elementen schließt das Konzert ab. Die Kinder sind jetzt nicht mehr in russischer Tracht, sondern in Jeans und bunten T-Shirts. Das Lied heißt: ‚Vorwärts ihr Jungen, Verwegenen!‘…
Alle verlassen das Kulturhaus. Nur am Fotostand bleiben zwei Frauen stehen. Sie reden über gemeinsame Bekannte, die sie auf den Fotos entdeckt haben. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Während, wie gesagt, nach Aussagen von Gesprächspartnern unserer Feldforscherin in den ersten Monaten des Krieges in Tscherjomuschkin noch ganz unterschiedliche Veranstaltungen zur Unterstützung des Krieges stattfanden, blieben mit der Zeit nur die Unterhaltungsprogramme übrig. Diese berühren das Thema Krieg übrigens nur in den Titeln und Ankündigungen. Einige von ihnen existieren nur auf dem Papier. Andere unterscheiden sich kaum von Veranstaltungen, wie sie Bewohnern russischer Kleinstädte wohlbekannt sind. Und wieder andere, wie die beschriebenen Andachten, sind nur sehr schwach besucht und bleiben im Grunde eine Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens.
Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um seine Unkenntnis zu überwinden: Der Krieg ist in der Stadt nicht nur kaum spürbar, die Menschen reden auch nur selten davon, weder auf der Straße noch in den lokalen Kanälen der sozialen Netzwerke. Bei Veranstaltungen sind nur äußere Attribute des patriotischen Narrativs zu erkennen. Das Gefühl, dass der Krieg aus dem Alltag entschwindet, hat eine Informantin im Gespräch kurz und bündig zusammengefasst: „Wenn nicht immer wieder die Nachrichten von Toten und die Begräbnisse wären, könnte man glatt vergessen, dass Krieg ist.“ Die Aussage zeigt immerhin auch, dass der Krieg nicht komplett vergessen wird.
Tod, Geld, Familie – der moralische Dreiklang einer Kleinstadt
Einen Blick hinter die Alltagskulissen von Tscherjomuschkin verdanken wir Tonja, der wichtigsten Auskunftsperson unserer Soziologin. Die beiden kannten sich schon vor Beginn der Studie. Tonja ist eine junge Unternehmerin aus Tscherjomuschkin. Sie ist Eigentümerin des Schönheitssalons Stil und leitet gleichzeitig das erwähnte Café Ulybka. Tonja ist ein musterhaftes Mitglied der örtlichen Gesellschaft mit hohem sozialen Status und einem großen Bekanntenkreis. Die unterschiedlichsten Tscherjomuschkiner – vom Beamten über den Polizisten bis zur Hausfrau oder dem Fahrer – kommen ins Ulybka, um zu Mittag zu essen, Geburtstag zu feiern oder sich einfach zu unterhalten. Die älteren Stadtbewohner kennen Tonjas Eltern, die in der Stadt einen guten Ruf genießen. Wegen alldem ist Tonja überall im Ort hochangesehen.
Gleichzeitig ist Tonja ein Mensch mit „hauptstädtischem Background“: Ihre Hochschulbildung hat sie in Moskau erhalten, sie hat viele Freunde in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und anderen Großstädten. Sie ist bei den tagesaktuellen Nachrichten immer auf dem neuesten Stand und liest alle wichtigen unabhängigen Medien. Im Kontakt mit anderen macht Tonja grundsätzlich keinen Hehl aus ihren oppositionellen Ansichten und ihrer Haltung gegen den Krieg, doch versucht sie diese auch niemandem aufzudrängen. Sie hält sich an die ungeschriebenen Gesetze des zwischenmenschlichen Umgangs, denen zufolge es eher nicht üblich ist, über Politik zu diskutieren. Im Gespräch mit anderen Bewohnern äußert sie immer wieder ihren Unmut über die Folgen des Kriegs (steigende Preise, drohende Einberufung ihrer Mitarbeiter und so weiter), spricht aber die Frage der moralischen, ethischen und politischen Rechtfertigung des Kriegs nicht an, weil sie weiß, dass sie nicht mit Verständnis rechnen kann. Wenn sie mit Vertretern der örtlichen Verwaltung zu tun hat, spart Tonja das Thema Krieg prinzipiell aus.
Tonja wurde in das Forschungsprojekt eingeweiht und zeigte sich sofort sehr interessiert. Dank ihrer Initiative und ihrer Position in der Gesellschaft konnte sie der Feldforscherin Zugang zu einem Kreis von Stadtbewohnern verschaffen, in dem ein freundschaftlicher Austausch im Alltag stattfand. Diese Menschen haben sich mit der Soziologin wohl gefühlt und ihr vertraut, obwohl sie eine Fremde war.
In den Gesprächen tauchten Themen rund um den Krieg selten von selbst auf. Öfter kam es vor, dass Tonja die Diskussion behutsam in die „nötige“ Richtung lenkte (zum Beispiel mit Fragen zu den damals aktuellen Nachrichten über Prigoshins Aufstand oder indem sie gemeinsame Bekannte an der Front erwähnte). Diese vorsichtigen Schritte zogen Gespräche über Themen rund um den Krieg nach sich. Einerseits verebbten diese wieder genauso leicht, wie sie begonnen hatten – die Beteiligten wechselten schnell zu anderen Themen. Es war klar, dass der Krieg in der Ukraine kein Thema war, das sie ständig beschäftigte. Andererseits hatten die Anwesenden immer etwas zu sagen, das auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg in Zusammenhang stand. Im Gegensatz zu den Gründen und Zielen des Kriegs waren es vielmehr dessen Folgen und Auswirkungen, über die sie regelmäßig diskutierten.
Die Anzahl der Tscherjomuschkiner, die an die Front geschickt wurden, war nicht sehr hoch: Tonjas Bekannte zählten rund 20 Häftlinge auf, die aus der nahegelegenen Strafkolonie in den Krieg gezogen sind, rund 60 Einwohner wurden einberufen, weitere 20 meldeten sich freiwillig. Gleichwohl war jeder Tscherjomuschkiner wenn nicht direkt, so wenigstens über Eck mit jemandem bekannt, der aus dem Krieg zurückgekommen oder im Krieg gefallen war oder sich an der Front befindet. Insofern wurde jede Nachricht über einen Gefallenen, jede Einberufung oder Rückkehr aus dem Krieg allgemein bekannt. Tscherjomuschkin kennt keine Anonymität.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vor allem Todesnachrichten über Bekannte.
„Aus unserer Verwandtschaft ist Wladik umgekommen. Den hat’s richtig zerfetzt. Wie war das noch? Im April ging’s los … Nein, es war März, als es ihn erwischte, aber zur Bestattung gebracht haben sie ihn erst im Juni“, erzählt Shanna, eine Krankenschwester im hiesigen Krankenhaus. Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Der Tod eines Menschen kann kollektive Emotionen und Anteilnahme erzeugen, vor allem wenn ihn alle kannten und schätzten. Ein gutes Beispiel ist der Tod eines Lehrers, der einberufen wurde und sieben Tage, nachdem er Tscherjomuschkin verlassen hatte, im Sarg zurückkam, ohne überhaupt die Front erreicht zu haben. Der Tod des jungen Mannes, der mehreren Informanten zufolge wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Liebe zu den Kindern „von allen vergöttert wurde“, war für die ganze Stadt eine Tragödie. Angeblich schluchzten die Trauergäste bei der Beerdigung vor Kummer und auch aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit.
„In Gesprächen äußern die Tscherjomuschkiner Bedauern über die Todesfälle – vor allem, wenn es darum geht, dass ganz junge Menschen in den Krieg geschickt werden. „Sie sind gerade mal mit dem Wehrdienst fertig“, ruft zum Beispiel die Nagelpflegerin Aljona. Ihre Kollegin Ljuda pflichtet ihr bei: „Sie schicken Kinder in den Krieg!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Solche Erwägungen lösen Kritik am militärischen Konflikt aus, wobei die Schuld an dessen Beginn abstrakten „Mächtigen dieser Welt“ zugeschoben wird, die ihre Ziele auf Kosten der einfachen Leute verfolgen. „Diese Arschlöcher haben einfach die Welt unter sich aufgeteilt! Und unsere Jungs müssen sterben, weil diese Scheißkerle sich nicht einig werden!“, resümiert Ljuda. Diese Kritik mündet jedoch nicht in eine Kritik an der russischen Regierung (die ja eigentlich die Entscheidung über die Mobilmachung getroffen hat). Und die Frage nach der Verantwortlichkeit konkreter Personen wird gänzlich ausgespart.
Als deutliche Antithese zum Krieg tritt das Paradigma der familiären Werte auf, in deren Licht die Kampfhandlungen definitiv verurteilt werden können. Die Rentnerin Ljubow Wassiljewna, die viele Jahre lang im Kulturzentrum gearbeitet hat, erinnert sich an den Tod eines anderen jungen Mannes, dessen Leiche nie in Tscherjomuschkin ankam:
„War ein netter Kerl, hat Akkordeon gespielt … Es gab nicht mal was zu beerdigen! Einen Kampfstiefel und ein Bein drin!“ Und sie wechselt sogleich vom persönlichen Charakter des Toten zu einem breiteren familiären Kontext, der für sie wichtig ist: „Die Mutter hatte nur den einen Sohn , sie hat ihn allein großgezogen, ohne Mann. Also, den Mann gab es schon irgendwo, aber sie waren getrennt. Ein einziger Sohn, und alt genug … Wenn er wenigstens einen Enkel hinterlassen hätte. Mädels, so ein Krieg ist wirklich was Furchtbares!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Genau wie andere Gesprächspartnerinnen der Soziologin auch, erlebt Ljubow Wassiljewna den Krieg als Bedrohung für die Familie, und zwar auch auf ukrainischer Seite: „Ich frage mich, wo die ukrainischen Mädchen jetzt, wo schon so viele tot sind, noch ihre Bräutigame finden sollen? Woher die Männer nehmen, wenn sie alle im Krieg fallen?“ Dabei sprach Ljubow Wassiljewna während der Begegnung mit Tonja und unserer Feldforscherin mehrmals von der „Unterdrückung russischer Bewohner der Krim und des Donbass“ und zog sogar den auch für sie selbst wenig tröstlichen Schluss: Um den Krieg bald zu beenden, muss unbedingt Kyjiw erobert werden. („Also, wenn es die Kiewer Rus gab – dann nehmt doch endlich Kiew ein. Besetzt die Oblast Kiew und Kiew.“) Die Unversehrtheit der Familie ist allerdings eine so zentrale Frage für sie, dass in diesem Kontext sogar die Meinungsverschiedenheiten mit dem „Feindesland“ an Bedeutung verlieren und das propagandistische Narrativ in den Hintergrund tritt.
Ein weiteres wichtiges Thema, das unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, ist Geld und alles, was damit zusammenhängt – Sold, Vergünstigungen, Kompensationszahlungen, Anschaffungen). Die Bewohner des eher ärmlichen Tscherjomuschkin beschäftigt dieses Thema nicht weniger als Tod und Familie. Im Unterschied zu großen Städten sind Fragen von Einkommen und Ausgaben hier alles andere als privat. Wenn sich jemand ein neues Auto kauft, seine Wohnung saniert oder ein hohes Gehalt bezieht, dann weiß man das in der Stadt. Der Krieg hat in Tscherjomuschkin eine Menge solcher „Wirtschaftsnachrichten“ mit sich gebracht.
Die Leute diskutieren rege darüber, wie man am Krieg verdienen kann: den Sold an der Front, das „Sarggeld“ und die Sozialleistungen. Tonjas ehemalige Mitschüler Artjom und Witja erinnerten sich bei einem Besuch bei ihr an gemeinsame Bekannte, die in den Krieg gezogen sind:
„Michailow sagt: ‚Ich krieg 180.000 [etwa 1900 Euro], geil!‘.“ Die Krankenschwester Shanna erzählt Tonja, was sie von einem aus dem Krieg zurückgekehrten Bekannten gehört hat: „220.000 [etwa 2300 Euro] im Monat – Nebenkosten, alles bezahlt.“
Tonjas Freund Kolja, der als Jugendlicher ein paar Jahre hinter Gittern saß, erzählte von einer jungen Bekannten, die es zu Reichtum gebracht hatte: Sie hatte einen Häftling geheiratet, den sie nur per Briefkontakt kannte, als der noch im Knast war. Bald hatte ihn die Söldnertruppe Wagner angeworben.
„Drei Monate hat er gekämpft, dann hat es ihn erwischt. Er war ein Heimkind, hat ihr alles sofort überschrieben. Sie hat sieben Millionen [73.000 Euro] bekommen. Und das für drei Tage, die sie ihn besucht hat!“, schloss Kolja lachend.
Abgesehen vom Einkommen sprechen die Tscherjomuschkiner auch darüber, was sie sich für diese „Kriegsgelder“ kaufen: Autos etwa oder Goldschmuck, den Sweta zufolge, einer Teilnehmerin an der „Frauenrunde“, „nur Leute kaufen, die Geld aus der Spezialoperation bekommen“.Ethnografisches Tagebuch, August/September 2023
Geld ist auch ein wichtiges Motiv, wenn über ethische und familiäre Konflikte gesprochen wird, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist das Verhalten der Witwe des an der Front gefallenen Lehrers. Für das Sarggeld kaufte sie sich ein teures Auto, und schon einen Monat nach dem Tod ihres Mannes tanzte sie „ausgelassen“ (wie Zeugen es beschrieben) in der Diskothek. Der Fall der Witwe wurde auch von der Krankenschwester Shanna aufgegriffen, als diese bei Tonja vorbeischaute. Shanna erzählte, die Witwe würde als „Flittchen“ und als „Rumtreiberin“ gelten. Shannas Urteil unterschied sich von jenem der Gesellschaft: „Was soll sie denn sonst tun? Das Leben geht weiter, ist doch so.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Ein vergleichbarer Fall wurde besprochen, als mehrere Frauen bei einer Mitarbeiterin des Schönheitssalons zusammensaßen. Die Nagelpflegerin Aljona erzählte von einer stadtbekannten Person: „Es gibt einfach solche Mädels à la Petrowa: Die hat sich für das Geld, das von ihrem Mann gekommen ist, eine Karre gekauft. Und in dieser Karre bumst sie ihren Liebhaber. Alle wissen das! Wenn er auf Fronturlaub ist, tut sie brav, hüpft und flattert um ihn rum, aber kaum ist er weg, geht es wieder rund.“
Über die Moral in „Kriegszeiten“ wird vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges geurteilt. Ljubow Wassiljewna nimmt den Krieg durch das Prisma ihrer sowjetischen Erziehung und ihrer Erfahrung in der Kulturarbeit wahr. Für sie ist „Krieg“ vor allem der „Große Vaterländische“. Und der beschäftigt sie vor allem als Thema, mit dem sie als Mitarbeiterin des Hauses der Kultur ihr ganzes bewusstes Leben lang zu tun hatte (sie wird noch immer bei Veranstaltungen der Stadt gebeten, Reden darüber zu halten, Gedichte über den „Großen Vaterländischen“ vorzutragen oder über den Krieg in Afghanistan). Im Gespräch mit Tonja und unserer Soziologin trug sie das Gedicht Offener Brief von Konstantin Simonow vor. Es erzählt von einer Frau, die nicht warten wollte, bis ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, und sich einen anderen nahm. Bevor sie es las, rief Ljubow Wassiljewna: „Wobei dieses Gedicht auch heute noch aktuell ist! Auch jetzt ist Krieg, also ist es wieder aktuell.“ Nach dem Vortrag fügte sie hinzu: „Das ist von 1943, wenn ich mich nicht irre. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Mädchen, Ehefrauen, haltet aus! Benehmt euch nicht wie Schweine, die sich Geld überweisen lassen und inzwischen hier … In der Sowjetzeit, da wurde noch auf die Moral geschaut.“ Die konkreten Umstände des Kriegs in der Ukraine lösen sich vollkommen auf; der neue Krieg kommt gelegen, weil er diesem Gedicht wieder Frische verleiht.
Geld ist zweifellos ein Gradmesser des Erfolgs; da verwundert es nicht, dass sich daran moralische Dilemmata kristallisieren. Geld steht wiederum familiären Werten gegenüber. Meistens zweifeln die Gesprächspartnerinnen an der Zweckmäßigkeit der Einkünfte aus dem Krieg, die für die Familien zerstörerisch sind. Sie messen der Familie einen großen Wert bei.
Shanna zum Beispiel erklärt damit, warum ihr Bekannter nicht an die Front zurückwill: „Na ja, die Frau ist zu Hause, Kinder wollen sie auch. Ist ja nicht gesagt, dass er wieder zurückkommt. Oder er wird irgendwie verletzt und kann nur noch liegen, macht sich in die Hose. Und dann, wer braucht ihn dann noch?“ Shanna war es wichtig, das zu betonen: „Ich finde, kein Geld der Welt kann das Leben aufwiegen … Sogar wenn er umkommt und sie kriegen dieses Geld, ist das doch alles Bullshit – der Mensch ist weg.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023.
Die Frauen, die zusammensaßen und über Krieg und Geld sprachen, kamen mehr oder weniger alle zu dem Schluss: „Das ist es nicht wert.“
„Geh lieber ins Sägewerk schuften“: kritische Töne und Gender-Debatten
Abgesehen von den Anschaffungen besprechen die Tscherjomuschkiner auch die kriegsbedingten Ausgaben, die den Soldaten und ihren Familien schwer auf den Schultern lasten – für Schutzwesten, Ausrüstung, Technik, Benzin und sonstige Ausstattung. Dass diese Ausgaben fällig werden, bestärkt sie in ihrer Meinung, dass die Einkünfte es nicht lohnten. Die Krankenschwester Shanna sagte auf Tonjas Frage, warum der Mann ihrer Freundin nicht in den Krieg gezogen sei, obwohl er da doch gut verdient hätte, dass es nichts bringe: „Sie müssen alles auf eigene Kosten kaufen, Ersatzteile, Schuhe …“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Während der Frauenrunde fing Ljuda, eine Mitarbeiterin des Schönheitssalons, fast an zu schreien: „Ich sag dir jetzt mal was! Ich hab eine Bekannte, deren Sohn wurde eingezogen, und sie hat einen Kredit über 100.000 [1000 Euro] aufgenommen, um ihr Kind ordentlich auszurüsten!“ Ihre Kollegin Aljona pflichtete ihr bei: Uns haben sie 180.000 abgenommen, 180.000 [1900 Euro]! Um das alles, diese ganze Ausrüstung zu kaufen!“ Ljuda fiel ihr ins Wort: „Verstehst du, die Eltern müssen selber die Schutzkleidung kaufen, Helme, Stiefel und diesen ganzen Scheißdreck, Handschuhe, alles!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Die Notwendigkeit, für die Ausrüstung Geld ausgeben zu müssen, empfanden die Sprecherinnen als unfair, und dieses Gefühl entlud sich bisweilen in kritischen Äußerungen über die Staatsmacht. Auf die vorsätzlich naive Frage der Soziologin an Ljuda und Aljona, warum einfache Menschen für den Krieg zahlen müssen, reagierte eine der beiden mit einem spitzen Kommentar: „Das fragst du mich? Frag doch die Regierung!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Meistens begannen unsere Auskunftspersonen den Krieg dann zu kritisieren, wenn sie „Insider-Infos“ von Bekannten an der Front teilten, die nicht mit dem offiziellen, propagandistischen Bild der „militärischen Spezialoperation“ übereinstimmten. Der 30-jährige Witja, Mitarbeiter einer Autowerkstatt, erklärte den Anwesenden mit Feuereifer: „Was sie im Fernsehen sagen, ist nichts als gequirlte Scheiße! Die Jungs, die jetzt dort kämpfen, sagen, man dürfe bloß keinem glauben. Dass unser Verteidigungsministerium berichtet, unsere Verluste seien minimal – das ist alles Käse. Jeden Tag gibt es enorm viele Tote, auf deren Seite genauso wie auf unserer.“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Nacherzählungen solcher Zeugenberichte „aus erster Hand“ zirkulieren ständig in der Stadt, sodass die Gesellschaft über die enormen Verluste auf beiden Seiten durchaus Bescheid weiß.
Die Situation des Kriegs macht für die Bewohner von Tscherjomuschkin die ukrainische Herkunft mancher Stadtbewohner auf unerwartete Weise aktuell. In der Frauenrunde wurde über eine Frau gesprochen, die nach den Ereignissen 2014 aus dem Donbas hierhergezogen war. Aus Aljonas und Marinas Sicht genießen solche Leute mit ukrainischem Pass großzügige Vergünstigungen: „Hypotheken und so, alles hat sie jetzt. Denen schenken sie alles, aber wir, wir müssen betteln, und dann? Nix!“ Bemerkenswert ist, dass sich die jungen Frauen ausschließlich für wirtschaftliche Aspekte interessierten, keine politischen oder ethnischen. In ihrer ganzen Zeit in Tscherjomuschkin hörte die Soziologin kein einziges Mal, dass jemand über Bewohner mit ukrainischen Wurzeln verächtlich oder misstrauisch sprach. Lediglich die „existenziellere“ Geldfrage veranlasste dazu, Ukrainer überhaupt als eigene Gruppe zu betrachten.
Witja und Artjom erwähnten in einer Männerrunde das Thema Ukraine auf ähnliche Weise. Sie sprachen darüber, wie teuer ein Gasanschluss für ein Grundstück in Tscherjomuschkin ist: „Gas ist in Russland die reinste Verarsche“, empörte sich Witja. „Die Hauptleitungen bauen sie ja, aber damit es zu dir nach Haus kommt – 200.000 [2000 Euro]“, fügte Artjom hinzu. „Aber drüben ist längst alles … Die Jungs, die jetzt im Krieg sind, erzählen: Alles voller Rohre, die ganze Ukraine!“, setzte Witja den Gedanken fort. „Auch in den Dörfern“, meinte Artjom, und Witja stimmte zu: „Ja, jedes Kaff hat sein Gas! Und das in der Ukraine!“Ethnografisches Tagebuch, September 2023.
Auf dieses überraschende Gefälle in den Lebensbedingungen reagierten die jungen Männer mit echter Empörung.
Für die meisten Tscherjomuschkiner ist „Politik“ selten Thema. Unsere Soziologin entdeckte bei ihren Gesprächspartnern ein ganzes Arsenal an Phrasen zur Abwehr „heikler“ Themen: „Lasst uns aufhören mit diesem Thema, mir reicht schon die ganze Politik im Fernsehen“, „Schluss damit, bloß nicht vom Krieg“. „Wir sind einfache Leute, wir verstehen nichts von Politik“ und so weiter.
Doch in Tscherjomuschkin gibt es auch Bewohner, die sich in dieser Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden. Zum Beispiel Tonjas kleiner Kreis von oppositionell gestimmten Freunden: Pascha, der mit Autos handelt und oft nach Moskau fährt, und Kolja, ein charismatischer Typ, der in einer Besserungsanstalt für Kinder sozialisiert wurde. Der Abend mit ihnen unterschied sich deutlich von den anderen Zusammenkünften. Den Großteil der Zeit diskutierten die Anwesenden über politische Themen. Pascha, Kolja und Tonja tauschten sich über die jüngsten Nachrichten und Beiträge diverser oppositioneller Blogger aus. Für sie gehören solche Gespräche zum täglichen Leben, sie sind Teil ihrer Identität.
Übrigens sprechen auch jene Tscherjomuschkiner, die die Politik „im Fernsehen schon satt haben“, je nach sozialer und persönlicher Erfahrung in unterschiedlicher Weise über den Krieg. Zum Beispiel besteht bei der Betrachtungsweise ein Gender-Unterschied: In der „Männerrunde“ interessierten sich Witja, Artjom und Ljoscha intensiv für „technische Aspekte“ des Kriegs: Waffen, Transport, Ausrüstung, Ausstattung der Lager und in ihren Augen faszinierende Kampfepisoden. Sie tauschten sich über Inhalte von Videoaufnahmen von der Front aus, die sie sich des Öfteren ansehen, und stritten hitzig über Granaten, Kalaschnikows und MG-Nester. Für sie ist der Krieg wie eine TV-Serie mit betont „männlichen“ Merkmalen.Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Die Frauen hingegen beschäftigt, wie bereits erwähnt, das Thema Familie, auf die sich die „Verlockungen des Kriegs“ zerstörerisch auswirken. Für sie ist der Krieg eine konkrete Bedrohung: Sie könnten ihre Männer oder Söhne verlieren. In der Frauenrunde wandte sich Ljuda aufgebracht an ihren Sohn (der zwar nicht an der Runde teilnahm, von dem aber alle Anwesenden wussten, dass er überlegte, in den Krieg zu ziehen): „Die gehen alle nur wegen dem Geld zur Armee. Einen Scheiß werd ich dich an die Front schicken!“ Aljona stimmte sofort ein: „Ich scheiß auf die verfickte Kohle! Die 200.000 verdien ich selber, dafür weiß ich dann, dass es mir an nichts fehlt und meine Familie gesund ist. Die Ohrringe kann ich mir selber kaufen, da hab ich lieber meinen Mann bei mir. Nie im Leben würd ich meinen Mann da hinschicken, in den sicheren Tod!“
Die Gesprächsteilnehmerinnen üben sich in Solidarität, argumentieren gegen die vermeintliche „männliche“ Logik, dass Krieg leicht verdientes Geld bedeute. „Ihr geht wegen der Kohle? Was braucht ihr diesen Scheiß?“ Ljuda pflichtet bei: „Sie dackeln nur dem Geld hinterher. Mein Kind hat gesagt: Ich geh zur Spezialoperation. Aber ich sag ihm: Kommt gar nicht in die Tüte, nur über meine Leiche!“ Aljona schloss sich an und äffte die Männer nach: „‚Ich verdiene da mehr. Ich verdiene da 200.000, wieso sollte ich im Sägewerk schuften.‘ Tausendmal besser, du buckelst im Sägewerk!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Das parallele Tscherjomuschkin: Der „ausgeblendete“ Krieg und das Dilemma der Mittäterschaft
Sowohl die Beobachtungen unserer Soziologin als auch die Aussagen ihrer Gesprächspartner haben ergeben, dass die Menschen in Tscherjomuschkin vom Thema Krieg genug haben. In der Stadt weisen praktisch keine sichtbaren Zeichen mehr darauf hin. Die Stadtbewohner thematisieren den Krieg sowohl online als auch im direkten Kontakt zueinander seltener als früher. Auch die institutionelle Unterstützung des Krieges ist deutlich leiser geworden: Öffentliche Veranstaltungen finden entweder nur auf dem Papier statt oder sie sind auf eine formale Hülle reduziert. Sie haben ihren militärisch-patriotischen Inhalt verloren und lösen sich in gewohnten Formaten mit minimalen Anspielungen auf den aktuellen politischen Kontext auf.
Seltene Ausnahmen in Form ideologisch aufgeladener Räume wie der Kirche stoßen nur bei einem beschränkten Kreis von immergleichen Gemeindemitgliedern auf Interesse. Die Situation ist heute eine andere als im ersten Kriegsjahr, als die Einbindung der Staatsbürger und die organisatorischen Bemühungen um eine „Solidarität mit der Front“ stärker waren.
Zugleich ist der Krieg im Leben der Kleinstadt im Hintergrund präsent. Nachrichten über Bekannte, die an die Front geschickt wurden oder dort gefallen sind, werden sofort zum Allgemeingut und sorgen für Resonanz. Der Tod von Einheimischen provoziert natürlich kollektive Emotionen. Zudem dringt der Krieg ständig in zentrale Lebenssphären ein, über die viel gesprochen wird: Familienverhältnisse und Einkommen. Die starken Sujets, die der Krieg im lokalen Leben erzeugt – vom Tod über Ehebruch bis hin zu Gehältern, Anschaffungen und den Verlust von Bekannten – bedeuten eine Herausforderung für die übliche Routine und stellen die Menschen vor neue moralische Dilemmata.
Je nach sozialem und persönlichem Hintergrund interessieren sich die Stadtbewohner für unterschiedliche Aspekte des Kriegs. Für einen kleinen Kreis von oppositionell eingestellten Tscherjomuschkinern stehen politische und mediale Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit und werden regelmäßig besprochen, während der Großteil der Leute sich im Gegenteil bemüht, Gespräche über Politik zu vermeiden.
Frauen sehen den Krieg als Bedrohung für die Gesundheit und das Leben ihrer Männer und Söhne. Junge Männer, die von Bekannten mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen versorgt werden, sind eher neugierig auf „interne Prozesse“ des Kriegs: Videos von Schusswechseln, Waffentypen, Transport, Verpflegung und so weiter. Ältere Generationen, die noch „sowjetische Kulturträger“ sind, sehen den aktuellen Krieg durch das Prisma tradierter Bilder vom Großen Vaterländischen Krieg.
Der hohe Sold und Prämien für Freiwillige und Vertragssoldaten erzeugen ein ganzes Feld von Themen, anhand derer über den Krieg gesprochen wird. Sie scheinen die Haltung zum Krieg jedoch nicht merklich zu beeinflussen. Einerseits sehen manche Männer den Krieg als Gelegenheit, Geld zu verdienen, vor allem, wenn das auf anderen Wegen schwierig oder unmöglich ist. Andererseits sind die Frauen, mit denen unsere Feldforscherin zu tun hatte, überzeugt, dass kein Geld der Welt den Tod im Krieg und die Zerstörung der Familie aufwiegen kann.
Die meisten unserer Gesprächspartner sind sich einig, dass die Leute entweder gezwungenermaßen in den Krieg ziehen (wenn sie eingezogen werden) oder wegen des Geldes, oder weil sie kein gutes Leben haben (wenn sie zum Beispiel nichts erreicht und keine Familie haben). Eine derartige Kritik lässt sie jedoch nicht an der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kriegs zweifeln, sie zieht auch keinen kritischen Blick auf das Vorgehen der russischen Regierung nach sich. Unangenehme Fragen zum „politischen“ Sinn des Kriegs wehren die meisten Gesprächspartner mit rhetorischen Plattitüden ab, die die Propaganda anbietet. Interessanterweise kommen diese Propagandamotive nicht zur Anwendung, wenn die Tscherjomuschkiner Probleme diskutieren, bei denen sie sich auskennen und die ihnen nahe sind.
Die Menschen in Tscherjomuschkin zeigen angesichts des Kriegs auf die eine oder andere Art Emotionen und klagen. Die Leute stoßen sich daran, dass im Krieg die Jungen sterben, und sind empört darüber, dass die Soldaten ihre Ausrüstung selbständig kaufen müssen: Waffen, Uniform, Proviant und Kleidung. Im Grunde würden alle unterschreiben, dass ein Krieg „schlecht“ und „schrecklich“ ist; manche Gesprächspartner räumten insbesondere ein, dass sie den Sinn dieses Kriegs nicht verstehen würden.
Wie aus den Beobachtungen unserer Soziologin hervorgeht, sind Nachrichten über große Verluste im Krieg für die Stadtbewohner kein Geheimnis, und Beerdigungen von einberufenen und freiwilligen Soldaten aus Tscherjomuschkin gestatten es ihnen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Trotz der großen Bandbreite an Emotionen im Hinblick auf den Krieg sprechen nur überzeugte Gegner der „Spezialoperation“ über den Schaden und das Leid, das er der Ukraine und ihren Bewohnern zufügt. Für die meisten Russen, die den Krieg rechtfertigen und gleichzeitig über etliche seiner Aspekte klagen, ist Kritik am Krieg als Verbrechen gegen die Ukrainer nicht relevant. Mehr noch, eine solche Kritik bringt sie dazu, zur Vermeidung des Dilemmas ihrer Mittäterschaft das Vorgehen Russlands zu verteidigen.
Wie finden ukrainische Kämpfer nach ihrem Armeedienst oder andere, die in russischer Gefangenschaft waren, den Weg zurück ins zivile Leben? Vor allem, wenn sie nach ihrem Einsatz an körperlichen oder psychischen Versehrungen und Traumata leiden und deswegen nicht in ihren alten Beruf zurückkehren können.
Die Journalistin Iryna Oliinyk erzählt für das ukrainische Online-Medium Zaboronadie Geschichte eines Betroffenen, der nach der Gefangenschaft einen beruflichen Neuanfang mit Hilfe des zivilgesellschaftlichen Projekts Heart of Asovstal schaffte, das auch Soldaten hilft, die im Frühjahr 2022 bei der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol im Einsatz waren.
Gefangenschaft und Neuanfang
Hennadii Assheurow hat über 30 Jahre lang bei der Streifenpolizei von Mariupol gearbeitet. Was Krieg ist, wusste er schon seit 2014 sehr genau, denn seitdem befand sich sein Heimatdorf Hranitne an der Kampflinie. Im Februar 2022 sollte der Mann in den Ruhestand gehen. Er erinnert sich, dass am Abend des 23. Februar mit schwerem Beschuss begonnen wurde: Da gelang es den russischen Streitkräften, das Dorf abzuschneiden und einzukreisen. Wenige Tage später kamen Soldaten aus der sogenannten Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik zu Hennadiis Haus und schnappten sich ohne Erklärung den Polizisten.
„Meine Familie und ich konnten nicht fliehen, alles ging sehr schnell“, erinnert sich Hennadii im Gespräch mit Zaborona. „Als die Besatzer mich holten, wussten sie genau, wer ich war und was ich machte, sie haben nicht einmal das Haus durchsucht. Sie brachten mich zur örtlichen Polizeistelle, wo ich seinerzeit den Dienst angetreten hatte, aber dort wurde ich nicht lange festgehalten.“
Dann ging es per Lastwagen in das besetzte Donezk: Zivilisten und Militärs zusammen, insbesondere vom Asow-Regiment und der Nationalgarde. Hennadii Assheurow berichtet, dass die Gefangenen hungerten und ihnen kein Wasser gegeben wurde. Während der Verhöre wurde Gewalt angewendet und psychologischer Druck ausgeübt. Einige Monate später wurde der Mann in die Strafkolonie in Oleniwka geschickt, wo er 40 Tage blieb.
„Anfang Mai kam ich nach Oleniwka. Zu dieser Zeit war die Kolonie mit ukrainischen Gefangenen überfüllt, aber die Russen brachten weiterhin unsere Leute dorthin, die zu dieser Zeit aus dem Asowstal- und Illich-Werk kamen. Ich wurde viele Male verhört, sie versuchten, wenigstens kleine Hinweise zu bekommen, aber vergebens. Und sie konnten keine Anschuldigungen erheben. Am Ende setzten die Russen mich und über 20 Leute einfach vor die Tür und sagten: Ihr seid frei!“, behauptet der Mann aus Mariupol. Er erhielt eine Aufenthaltsbescheinigung in Oleniwka, aber um persönliche Gegenstände und Dokumente aus Donezk abzuholen, musste er 40 Kilometer zurücklegen. Und dann auf eigene Faust weiter in freies Gebiet. Nach seiner Freilassung hatte Hennadii Assheurow keine Ahnung, was er im zivilen Leben tun würde, da er aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters nicht mehr zur Polizei konnte. Zusammen mit seiner Familie trat er in den Freiwilligendienst: Sie verteilten Lebensmittel an die Binnenvertriebenen. Das half, teilweise von den Gedanken an die Gefangenschaft und den Verlust der Heimat abzulenken, ergab aber keinen Plan für die Zukunft.
„Ich wandte mich an die Organisation Heart of Asovstal, wo mir kostenlose Schulungen im IT-Bereich angeboten wurden. Eines der Arbeitsfelder, die ich wählen konnte, war Human Resources, also das Personalmanagement. Ich kommuniziere gerne und knüpfe gerne neue Kontakte und Beziehungen, also interessierte mich das. Schließlich haben sich die früheren Erfahrungen aus der Polizeiarbeit als nützlich erwiesen. Die Online-Schulung bei dem Unternehmen Dan.IT dauerte sechs Monate“, sagt Assheurow.
So änderte der Mann sein Betätigungsfeld komplett: Im Alter von 55 Jahren begann er eine Karriere im Recruiting. Jetzt arbeitet Hennadii als Karriere-Mentor bei Heart of Asovstal: Nach dem Prinzip Peer-to-Peer hilft er den ehemaligen Kämpfern von Mariupol, eine interessante Richtung für Ausbildung und Umschulung zu wählen, und bietet umfassende Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung.
Psychologische Rehabilitation und Integration von Veteranen
Tausende ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene haben nach ihrer Rückkehr ins zivile Leben Schwierigkeiten: Wie soll man sich an das zivile Leben anpassen und in die Gesellschaft integrieren, fragt die Psychologin Natalja Schewtchenko. Ihr zufolge sind für die effektive Integration von Kriegsdienstleistenden in aller erster Linie die Stabilisierung des psychischen Zustandes und die Aufarbeitung der mit dem Krieg verbundenen Traumata notwendig.
„Die Veteranen spüren das besonders nach Verletzungen. Und dabei es geht nicht unbedingt um die Amputation von Gliedmaßen. Es gibt viele unsichtbare Verletzungen: Schädeltrauma, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, die Gliedmaßen sind nicht voll funktionsfähig oder es gibt Rückenprobleme. Für solche Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo sie in Zukunft arbeiten und was sie tun können“, sagt die Psychologin von Heart of Asovstal. — Dies sei insbesondere für Soldaten über 40 Jahre ein Problem. „Sie glauben nicht, dass sie lernen und umschulen können.“
Der Spezialistin zufolge dauert die psychologische Rehabilitation mindestens drei Monate. Eine der größten Herausforderungen bestehe darin, Veteranen bei der Überwindung von Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu helfen.
„Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist. Psychologen versuchen, ihnen dabei zu helfen, das, was sie durchgemacht haben, zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben. Außerdem haben die Veteranen einen geschärften Sinn für Gerechtigkeit, also werden sie durch alles getriggert, was mit dem normalen zivilen Leben außerhalb des Krieges zu tun hat. Wenn Menschen sich entspannen und irgendwo hingehen und das Leben genießen und woanders geht der Krieg weiter, ist das für sie wie zwei Parallelwelten“, bemerkt Natalja Schewtschenko. Die Verteidiger von Mariupol können von Heart of Azovstal umfassende Unterstützung im Rahmen der psychologischen Rehabilitation erhalten. Man kann sich einer Therapie in einem individuellen Format oder während des Gruppenunterrichts unterziehen.
„Wir führen eine sehr effektive Form der psychologischen Rehabilitation für Soldaten durch — das ist Dekompressionstherapie und körperliche sowie psychische Erholung, die sehr gute Ergebnisse zeigt“, erklärt Shewtschenko. „Wir arbeiten mit kleinen Gruppen von zwölf ehemaligen Soldaten und bringen sie in Rehakliniken, wo Psychologen zweimal täglich Gruppentherapie mit ihnen machen – hauptsächlich Kunst- und Reittherapie. So schaffen wir eine Gemeinschaft und zeigen Veteranen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern unter anderen Veteranen, die auch diesen Weg hinter sich haben.“
Auch wenn es auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt derzeit in vielen Branchen an Arbeitskräften mangelt, sind einige Arbeitgeber nicht bereit, demobilisierte Soldaten einzustellen, betont Natalja Slynko, Inhaberin der Consulting Firma Talent Match. Die Expertin erklärt, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitgeber nicht wissen, wie sie mit Veteranen umgehen sollen und dass sie nicht bereit sind, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dazu gehört vor allem die Schaffung spezieller Arbeitsplätze für die Bedürfnisse der Veteranen gemäß den gesetzlichen Anforderungen, die von den Unternehmen eingehalten werden müssen. Ein Soldat wird in der Regel aus Gründen der körperlichen oder geistigen Gesundheit demobilisiert, so dass er ein ärztliches Attest und einen Nachweis für Rehamaßnahmen hat. Dort sind insbesondere die Arbeitsbedingungen festgelegt, die bei der Einstellung eines Veteranen zu berücksichtigen sind.
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen besonderen Arbeitsplatz zu schaffen – so sagt es das Arbeitsrecht. Dies gilt ausnahmslos für alle Veteranen, die über eine Bescheinigung der Medizinischen und Sozialen Expertenkommission (MSEC) verfügen. In diesem Dokument sind die Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit die Rechte eines Veteranen nicht verletzt werden“, betont Natalja Slynko. „Normalerweise sind diese Bedingungen sehr individuell, aber manchmal widersprechen sie dem, was eine Person körperlich tun kann. Für einen Arbeitgeber ist es äußerst schwierig, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der der Beschreibung in der Bescheinigung entspricht. Außerdem drohen den Unternehmen hohe Bußgelder, wenn sie diese gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten.“
Ausbildung und Schulung von Veteranen
Laut Natalja Slynko sind heute nur große ukrainische Unternehmen und Firmen sozial orientiert und bereit, demobilisierte Soldaten umzuschulen und anzustellen. Und das gilt nur für Personen, die zuvor schon in dem jeweiligen Unternehmen gearbeitet haben, denn in vielen Fällen haben die Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz nicht neu besetzt. Die Expertin macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Arbeitsmarkt fünf bis sieben solcher Unternehmen gibt, die den Veteranen wirklich helfen, sich an ein neues berufliches Umfeld anzupassen – dafür gibt es spezielle Programme.
„Ich weiß mit Sicherheit, dass Ukrsalisnyzjaviel in dieser Richtung tut, weil man dort den größten Prozentsatz an mobilisierten Mitarbeitern unter den ukrainischen Unternehmen hat. Solche Unternehmen finden einen neuen Arbeitsplatz innerhalb ihrer Strukturen und schulen den Veteranen entsprechend um. Sie haben ein Zentrum für die Schulung und Zertifizierung von Mitarbeitern, und sie tun dies auf eigene Faust und auf eigene Kosten“, sagt die Recruiterin. „Es gibt auch andere Unternehmen, die ehemaligen Soldaten helfen, einen neuen Beruf innerhalb der Strukturen zu finden, aber dies wird durch Mentoring und Beratung von Kollegen umgesetzt.“
ORGANISATION FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG VON VETERANEN
Das Projekt Heart of Azovstal läuft seit Februar 2023, um Soldaten zu unterstützen, die seit Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation an der Verteidigung von Mariupol teilgenommen haben. Seitdem erhielten etwa 6000 Verteidiger der besetzten Stadt im Rahmen der Rehabilitation umfassende Hilfe nach ihrer Gefangenschaft.
Laut Tetjana Kuchozka, ebenfalls bei Heart of Azovstal beschäftigt, bekommen die Soldaten nach ihrer Entlassung mit Hilfe des Projekts eine langfristige physische und psychische Behandlung. Die NGO hilft Veteranen auch bei einer schnellen Anpassung an das zivile Leben, insbesondere bietet sie drei Optionen an:
eine kostenlose Ausbildung oder Besuch von Kursen an Hochschulen der Ukraine
einen Arbeitsplatz der jeweiligen Fachrichtung mit der Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung
Gründung eines eigenen Unternehmens.
„Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms werden derzeit 145 ehemalige Soldaten ausgebildet, um neue berufliche Fähigkeiten zu erlernen oder ihre Qualifikationen zu erweitern. Das sind vor allem Berufe im Bereich IT und Cybersicherheit sowie Fahrerberufe“, sagt Tetjana Kuchozka. Im Umschulungsprozess durchläuft ein Soldat alle Phasen mit Unterstützung eines Psychologen und eines beruflichen Mentors. Letzterer ist notwendig, um dem Veteranen zu helfen, aus den verschiedenen Berufen eine interessante und vielversprechende Richtung zu wählen, in der er sich erfolgreich einbringen kann. Der Mentor hilft auch dabei, die militärische Erfahrung im Lebenslauf korrekt und für den Arbeitgeber verständlich und überzeugend darzustellen.
„Während des Projekts haben wir festgestellt, dass Soldaten und andere Militärangehörige über sehr gute Managementfähigkeiten verfügen, die im zivilen Leben benötigt werden“, sagt die NGO-Vertreterin. „Sie haben auch Erfahrung mit der Arbeit in Krisensituationen und Kenntnisse in militärischer Dokumentation.“ Nach der Demobilisierung seien die Veteranen oft verwirrt und gestresst, denn der Dienst an der Front und das zivile Leben seien eben zwei verschiedene Welten. Nach einer Weile würden die Veteranen von Unsicherheit erfasst: „Oft können sie aufgrund von Verletzungen und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht mehr das gleiche tun wie vor dem Krieg.“
Hennadii Assheurow, beruflicher Mentor bei Heart of Azovstal, analysiert die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen jedes Kandidaten, um ein interessantes Tätigkeitsfeld anbieten zu können. Seiner Meinung nach können sich die ehemaligen Kämpfer von Mariupol in vielen Bereichen erfolgreich verwirklichen, indem sie ihre militärischen Vorerfahrungen nutzen. „Nach der Rückkehr ins zivile Leben hat man den Wunsch, sich in demselben Bereich weiterzuentwickeln, in dem man vor der russischen Invasion gearbeitet hat. Die meisten ehemaligen Soldaten lebten und arbeiteten in Mariupol. Daher binden wir im Rahmen des Projekts unsere Partnerunternehmen ein und suchen nach einem neuen Arbeitsplatz. Zu den beliebtesten gehören Sicherheitsdienste, weil die Jungs wissen, wie man mit Waffen umgeht und Befehle befolgt.“
Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus.
Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B.
Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.
Oder doch hierbleiben?
Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.
Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer.
Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is
Punkt ohne Wiederkehr
Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.
Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“
Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen …
Man muss fahren
Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden.
Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.
Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.
Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.
Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich …“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen.
Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.
Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.
Und danach?
Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche.
Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.
Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.