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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Russland informiert sich aus dem Fernsehen, doch das Fernsehen liefert nicht nur Information. Das Kulturportal Colta.ru veröffentlichte im August eine Serie von Berichten aus dem Inneren der staatlichen TV-Sender, in denen Mitarbeiter schildern, wie Nachrichten in Propaganda verwandelt werden. Wir bringen Teile dieser Serie auf dekoder.

    Die folgenden Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK wurden aufgezeichnet von Alexander Orlow und Dimitri Sidorow. Orlow war stellvertretender Chefredakteur der Fernsehsender Rossija 24 und Rossija 2 und wurde im Juli 2013 wegen facebook-Postings entlassen, die Alexej Nawalny unterstützten. Er plant nun ein Buchprojekt zu den Arbeitsumständen bei den Staatssendern und hat uns [dem Internetprojekt Colta, Anm. dek.] einen Teil seines Materials im Voraus zur Verfügung gestellt.

    Ein ehemaliger Mitarbeiter der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK berichtet:

    Im Februar 2014 gab es eine Besprechung, bei der der Chefredakteur sagte, der Kalte Krieg fängt an. Nicht der Informationskrieg – der lief schon längst, darüber wussten sowieso alle Bescheid. Sondern so ein richtiger Kalter Krieg, etwas, das den meisten wie ein Atavismus vorkam. Er sagte, es beginnt eine Epoche, gegen die die 70er und 80er Jahre Kinderkram waren. Deshalb sollten sich die, die da nicht mitmachen wollten, besser gleich ein anderes Betätigungsfeld suchen, außerhalb des Nachrichtensenders. Und für alle anderen gilt: Welcome to the Club. Gegangen sind nur ein paar und auch nicht sofort, allmählich, nach und nach, ohne groß Porzellan zu zerschlagen oder ein Drama draus zu machen. Respekt für ihre Haltung und ihren klaren Kopf. Alle anderen sind geblieben.

    Die Leute im Top-Management waren ja nicht dumm. Alle heiklen Fragen wurden im engsten Kreis besprochen und nicht auf den großen Redaktionskonferenzen mit 25–30 Ressort- und Abteilungsleitern. Nach den Freitags-Briefings im Kreml kamen die Chefs zurück in den Sender, holten ihre engsten Vertrauten zusammen und hielten Besprechungen ab, zu zweit oder dritt. Sie legten die Kernthemen fest. Dann wurde alles nach unten weitergegeben. Die Politik im Sender war völlig undurchschaubar. Auch das war Teil des Kalten Krieges – alles lief extrem verschlossen ab, keinerlei offene Diskussionen.

    „Junta“, „Ukropy“ oder „Banderowzy“: Diese Begriffe sollten die Moderatoren benutzen – die, die vor der Kamera stehen. Extra für sie wurden solche Formulierungen bei den Treffen im engen Kreis zurechtgeschnitzt. Aus dem Mund des Chefredakteurs habe ich sie nie als Vorgabe gehört. Auf den Redaktionskonferenzen wurde eine Agenda formuliert. Es war klar, dass die Berichterstattung zur Ukraine voll aufgedreht werden sollte – unbedingt je eine Geschichte pro Tag von der Krim, aus Donezk und aus Kiew. Im März 2014, nach dem Referendum, war die übliche Ansage: jeden Tag mindestens ein neues Thema von der Krim, möglichst mehr. Jeden Tag musste berichtet werden, wie die Krim sich entwickelt, wie Wissenschaft und Gewerbe florieren und wie der Wohlstand und die Freude unserer neuen Mitbürger wachsen.

    Die Frage, von welcher Seite man das beleuchten sollte und ob man diejenigen erwähnt, die unzufrieden sind, stellte niemand, das war sinnlos, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche mit den Korrespondenten. Sie erfüllten eine rein technische Funktion – der richtigen Person das Mikro hinhalten, das richtige Statement aufnehmen, die richtige Info rausbringen.

    Die, die im Kriegsgebiet waren, die Kriegsberichterstatter, konnte man menschlich verstehen. Erstens wurden sie von ihren großen und kleinen Chefs mit massiver Propaganda zugedröhnt. Zweitens: Wenn du an der Front bist und auf dich geballert wird, dann hasst du nach ein, zwei oder drei Wochen die, die auf dich schießen – und die Jungs hockten dort anderthalb bis zwei Monate ohne Pause. Klar, dass sich in ihren Berichten die Akzente verschoben. Es gab aber moderate Korrespondenten, die aus einer Mücke keinen Elefanten machten. Wenn eine Granate fiel, sprachen sie auch von einer und nicht von einem Bombenteppich.

    Wie schon gesagt, alles wurde von Hand kontrolliert. Als die ersten Minsker Gespräche liefen und es hieß, dass wohl irgendein Frieden kommt,  gab es ein Verwendungsverbot für die Wörter „Faschisten“, „Banderowzy“ oder „Junta“. Danach schwang das Pendel zurück und alles ging von vorn los. Als Strelkow anfing, Städte einzunehmen, standen ihm sämtliche Kanäle offen, er wurde rauf- und runtergesendet. Später musste er dann weg aus dem Scheinwerferlicht, und wir haben ihn einfach nicht mehr so oft gezeigt.

    Die Propagandamaschine brachte es im Zusammenhang mit diesem Krieg zu unglaublichen Zuschauerzahlen. Die Quoten von Rossija 24 stiegen immer weiter – auf das Anderthalb-, Zwei- und Dreifache der Zeit vor dem Krieg. Wir beide wissen ja, Fernsehleute sind Adrenalinjunkies. Plötzlich ist Krieg. Richtiger Krieg – mit Blut, zerfetzten Eingeweiden und Einschlaglöchern von Geschossen im Boden und den Häusern. Kann sein, dass manche das als Spiel sahen, so was Postmodernes. Andere hatten einfach begriffen, dass sich damit richtig Kohle machen lässt – nicht mit dem Krieg als solchem, sondern damit, ihn im richtigen Licht darzustellen: Dass man so letztlich neue Hebel in die Hand kriegt und neue Finanzströme anzapfen kann. Und die setzen alles daran, ihr Ziel zu erreichen.

    Es tauchten auch sofort eine Menge Freelancer auf, die uns zugearbeitet haben, ein Haufen kleiner Produktionsfirmen. Sie haben Videos gemacht, keine besonders guten: Jemand schickte einen 45-minütigen Film über Donezk, in dem einfach Milizen hin- und herlaufen und rauchen, mit schlecht verständlichen Livepassagen und Synchronisierungen. Absolut wertlos, selbst unter Propagandagesichtspunkten, einfach verworrenes Zeug à la schlechtes Autorenkino. Und das wurde zur Primetime gesendet und am Wochenende viermal wiederholt. „Was soll dieser Mist?“, habe ich gefragt und kriege als Antwort: „Alter, du kapierst das nicht, das bringt Riesenquoten.“

    Anders als beim Krieg mit Georgien war das perfekt vorbereitet, ganz systematisch. So eine Vorbereitung ist nicht innerhalb von drei Tagen oder bei einer einzigen Besprechung zu machen. Das waren Wochen, Monate und Jahre.

    Einen Krieg der Sender untereinander, also einen Wettbewerb, gab es schon nicht mehr. Aus der Präsidialverwaltung kam die Anweisung: Schluss. Jetzt geht’s nicht mehr darum, wer hier der Tollere ist und mehr Exklusivmaterial hat. Exklusivbeiträge gingen nur dort, wo der eine die Großmutter von jemandem gefunden hat und der andere den Großvater von jemand anders. Alles andere floss zusammen in einen einzigen massiven Strom. Alle haben wild alles untereinander ausgetauscht – Bildmaterial, Sprecher, Kontakte. Alles wurde ein großes Ganzes. Aus unterschiedlichen Holdings, unterschiedlichen Aktionären, unterschiedlichen Medienstrukturen entstand ein gemeinsamer Propaganda-Organismus.

    Im Sender kamen keinerlei Diskussionen auf. Manchmal emotionale Ausbrüche im Raucherzimmer – aber auch das nur zwischen Leuten, die sich einigermaßen vertrauten. Nicht jeder redete mit jedem. Ein Klima des Misstrauens – die ständige Möglichkeit, dass jemand denunziert. Aber alle wussten eh alles voneinander. Der Chefredakteur kannte meine Überzeugungen, lud mich zu Besprechungen gar nicht erst ein, ihm war klar, dass ich da etwas nicht mögen würde. Mir war das absolut recht.

    Von den wirklich überzeugten Leuten, wie Mamontow oder Semin, die das alles tatsächlich glauben, gibt es nicht so viele. Im Grunde genommen sind alle so ähnlich wie Dimitri Kisseljow, Stufe-50-Trolle oder wie auch immer er sich da nennt. 40–50 Prozent von ihnen waren auf dem Bolotnaja-Platz, ihnen war das Ganze absolut zuwider. Aber gekündigt haben sie nicht, aus ganz trivialen Gründen – die Familie, Kredite. Außerdem war allen klar, dass man nirgendwohin wechseln kann. Manche haben ihren Kummer im Wein ersäuft, andere Drogen genommen. Oder sie haben sich stattdessen in die innere Emigration begeben, am Wochenende Bücher gelesen und versucht, alles von Montag bis Freitag zu vergessen. Für mich selbst war das alles – ich scheue das Pathos nicht – eine Tragödie. Mir war klar, dass ich mich seit anderthalb Jahren mit ziemlich beschämenden Sachen beschäftigte.

    Aber 25 % waren überzeugt und glaubten, dass sie das Richtige taten. Ich und meine Freunde – die echten, nahen, von denen die allermeisten nichts mit dem Fernsehen zu tun haben – wir haben uns sofort darauf geeinigt, über dieses Thema einfach nicht zu sprechen. Allen ist klar, in welcher Scheiße wir stecken, was im Land vor sich geht. Da muss man nicht noch weiter Salz in die Wunden streuen. Aber wenn du das Zeug selbst produzierst und innerlich nicht so stark bist, dann fängst du womöglich nach einer Weile an, es zu glauben. Die 86 % Zustimmung für Putin sind ja schließlich real.

    Meine persönliche, nur durch meine Gefühle belegte soziologische Analyse ist: 50 % der Leute im Sender waren ähnlich wie ich, 25 % waren überzeugt und den restlichen 25 % ist einfach alles komplett egal. Wenn Chodorkowski an die Macht käme und seinen Sender aufbauen würde, würden sie dort arbeiten – und wenn ein Faschist an die Macht käme, dann eben für den … Diese Leute wären, wenn sich die Lage mal grundsätzlich ändert, nicht in der Lage, zu einem normalen Journalismus und zu normalen Standards zurückzukehren – einfach deshalb, weil sie sie gar nicht kennen. Irgendwann wird man die alle durchsortieren müssen, aus dem Beruf werfen. Man muss völlig neue Leute auswählen und sie anders ausbilden.

    Ehemaliger Mitarbeiter im Nachrichtenbereich der WGTRK:

    Freitags um 12 Uhr mittags gab es ein Briefing im Kreml, zu dem alle Chefredakteure kamen. Der Chefredakteur unseres Senders erhielt einen gedruckten Plan, in dem alles stand: Wie und was und wer als Experte eingeladen werden sollte. Praktisch eine Anleitung, ein Stapel A 4-Blätter, 1 Zentimeter dick. Bei dieser Besprechung notierte der Chefredakteur Anmerkungen, die Korrekturen wurden direkt mit Bleistift eingetragen. Ich erhielt einen Teil dieses Stapels und arbeitete danach wie nach Plan.

    Die Besprechungen im Kreml wurden von verschiedenen Leuten geleitet. Ganz früher war das Alexej Alexejewitsch (Gromow – Anm. der Red.). Bei Surkow bin ich mir nicht sicher. Dann hat Dimitri Sergejewitsch (Peskow – Anm. der Red.) sie abgehalten. Als er anfing, war das zunächst ganz in Ordnung. Aber später kam man nicht mehr einfach so an ihn heran – hier per Brief, dort mit extra Anmeldung. Es entstand eine Art Kult um Peskow, er verhielt sich à la Putin – das bin ich. Er hat das nie gesagt, aber es wirkte so. Alexej Alexejewitsch hat dagegen immer gesagt: „Leute, wendet euch an mich, ich helfe bei allem, was nötig ist.“

    Jetzt gab es plötzlich „Telefonkonferenzen mit Peskow“, morgens und abends. Ich weiß nicht, ab wann. Ich glaube, es war frühestens zwei Wochen nachdem Putin zuerst verschwunden und dann triumphal zurückgekehrt war. Die liefen über die direkte Regierungsleitung, das gelbe Wählscheibentelefon. Da geht etwas vor sich. Keine Ahnung, was, ich bin zum Glück nicht dabei.

    Früher gab es bei unserer Arbeit keine großen Veränderungen. Man hatte das Gefühl, alles ist ruhig und friedlich, und dann kamen plötzlich ohne Ende Instruktionen von oben. Inzwischen gibt es immer Anrufe von oben oder nach oben, wenn im Sender solche Entscheidungen und derartige Fragen besprochen werden. Der Chefredakteur kann frei entscheiden, ob über einen Unfall im Moskauer Umland berichtet wird oder nicht. Aber was die große Politik, Krieg und Frieden, angeht, hat er keine Freiheit.

    Zum Beispiel war da diese Parade in Serbien. Nicht direkt zu Ehren von Putin, zu Ehren des Sieges [im Zweiten Weltkrieg; dek.]. Aber Putin war, sagen wir mal, anwesend, auch wenn er sich etwas verspätete. Die Parade war wirklich flott, wahnsinnig schön. Rossija 24 nahm das Signal vom serbischen Fernsehen auf und übertrug es nach Moskau. Die Serben hatten alles organisiert, wir nur eine Dolmetscherin für den Moderator der Parade besorgt. Es gab lediglich eine kleine Beschwerde, weil die Dolmetscherin eine Frau war. Der Chefredakteur war gerade nicht da, aber sein Stellvertreter. Der Chefredakteur hatte ihm vorher gesagt: „Wir zeigen die Parade so und so lange, dann gehen wir raus und machen Bild im Bild weiter.“ Offenbar hatte er diese Frage nicht abgestimmt, und es passierte Folgendes: Die Parade läuft, sie ist wirklich gewaltig, niemand hätte das erwartet. Und dann macht der stellvertretende Chefredakteur, was sein Chef ihm gesagt hat: Er lässt die Parade eine Zeitlang übertragen und verlegt sie dann in ein kleines Fensterchen.

    Da bricht die Hölle los, Dobrodejew ruft drei oder vier Mal an und brüllt wie von Sinnen, dass die Parade sofort wieder gezeigt und bis zum Ende übertragen werden soll. Zugleich regt er sich über die weibliche Dolmetscherin auf – warum übersetzt kein Mann? Es gab einen derartigen Zirkus wegen dieser Parade … Wir haben natürlich alles rückgängig gemacht und die Parade bis zum Schluss übertragen. Danach gab es wieder Anrufe: „Wie konntet ihr nur, was macht ihr da eigentlich für Mist?“ Die Festreden waren lange vorbei, er (Putin – Anm. der Red.) war längst nach Mailand weitergeflogen, und wir übertrugen immer noch. Bitte sehr, die Entscheidung hat der Chefredakteur getroffen – und obwohl er eigentlich Herr über den Sender ist, hatte er falsch gelegen und kriegte aufs Dach.

    Einmal haben wir über ein Arbeitstreffen zwischen Putin und dem kirgisischen Präsidenten berichtet, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Die Sache ist die: Früher gab es die Richtlinie, dass wir Veranstaltungen, an denen der Präsident teilnimmt, nicht ankündigen, mit Ausnahme bedeutender und internationaler oder wichtiger nationaler Anlässe, zum Beispiel mit der Botschaft an die Föderalversammlung. Bei regulären Arbeitstreffen wird weder die Region bekannt gegeben, in der sie am Folgetag stattfinden, noch irgendetwas anderes. Solche Treffen wurden nur äußerst selten und auf besondere Weisung vorher angekündigt. In der Regel haben wir am gleichen Tag darüber berichtet, und fast immer im Nachhinein. Es hatte einmal ein Riesenproblem gegeben, als der Korrespondent während einer Liveübertragung sagte, dass das Flugzeug gelandet sei, obwohl es noch gar nicht gelandet war. Es ging um einen Unterschied von fünf Minuten, aber es war ein höllischer Skandal. Bei der Sache mit Kirgisistan war die Dame, die im Sender darüber berichtete, ohnehin keine große Leuchte. Sie schreibt selbst kaum Texte, sondern beschäftigt sich lieber mit ihrem Make-up. Die Regel, dass nichts vorab angekündigt werden darf, hatte sich ihr mit den Jahren fest eingebrannt, nachdem sie deshalb früher schon Ärger gehabt hatte. Und nun sah sie plötzlich die im Futur formulierte Meldung, dass das Treffen voraussichtlich nächste Woche stattfinden wird und sagte aus alter Gewohnheit „stattgefunden hat“. Und als es weiter unten im Text hieß „sie werden besprechen“, machte sie daraus in Gedanken „haben besprochen“.

    Die manuelle Kontrolle erstreckte sich sogar auf die Wettervorhersage, es gab dazu direkte Anweisungen. Zum Beispiel, dass sofort der führende Meteorologe Wilfand eingeladen werden muss, damit er sagt, dass ein furchtbarer Winter bevorsteht und wir alle frieren werden. Man fragt: „Und was, wenn kein kalter Winter kommt?“ Denn es sieht eher nach einem milden Winter aus. Aber es gibt die allgemeine Tendenz, auf der Abhängigkeit der anderen herumzureiten. „Wartet nur, bald drehen wir euch den Gashahn ab, und ihr werdet alle frieren.“ Also war die ständige Leier: „Uns steht ein kalter Winter bevor.“

    Auch bei den Briefings hieß es ständig: „Veranstaltet mehr Höllenzauber!“ Da kommt zum Beispiel von oben die Anweisung, dass eine Kamera gebraucht wird, bei irgendeiner Veranstaltung, und die Leute in der Besprechung fragen: „Was sollen wir denn da machen? Das ist doch ziemlich öde.“ Ein Kulturzentrum einer Botschaft organisiert eine Lesung – natürlich fragt man sich: Wozu braucht es da eine Kamera? Weil dort bestellte Leute hinkommen und eine Show inszenieren. So kann etwa irgendein passender Historiker auftauchen und losbrüllen: „Sie versuchen, unsere Geschichte umzulügen!“ Man trommelt arme alte Leutchen zusammen, die seit Jahren zu solchen Anlässen gehen und schickt eine Kamera und eine bestimmte Person, faktisch einen Provokateur.

    Die TV-Fragestunde des Präsidenten wird überwiegend von der WGTRK organisiert. Vom Ersten Fernsehprogramm, von der WGTRK, jeder kriegt seinen Anteil. Eine Abordnung fährt vorher zur Präsidialverwaltung und durchläuft mehrere Instruktionsrunden – zum Was und Wie und dazu, welche Regionen und Städte ausgewählt werden. Dort fahren dann Kamerateams hin, eine Menge verschiedener Leute sind vorher da, laufen mit den Gouverneuren und anderen herum, organisieren Treffen mit den passenden Leuten, wählen Themen aus, alles wird hundert- und tausendfach abgestimmt. Es gibt eine sogenannte Voraufführung, wie beim Theater für die Mamas und Papas. Eine komplette Durchlaufprobe. Putin nimmt nicht daran teil, aber Peskow. Er beantwortet natürlich keine Fragen an Putins Stelle, aber er kontrolliert alles. Ein Aufnahmeteam stellt den Ablauf ungefähr nach. Leute, die dabei waren, haben mir gesagt, dass sie wie vor den Kopf geschlagen waren. Sie seien regelrecht vor Scham gestorben, weil alte Leute mit ihren Fragen zum Aufnahmeteam kamen und gar nicht daran zu denken war, diese Fragen in die Sendung aufzunehmen.

    Die Sache ist die, dass es das Fernsehen als solches nicht mehr gibt. Selbst wenn du im Kulturressort arbeitest, sagen sie dir: „Diesen Regisseur unterstützen wir, aber den da nicht“. Du kannst dich entweder damit abfinden und lächeln oder nicht mehr arbeiten und weggehen – wenn das Niveau endgültig in den Keller geht und dir klar wird, dass du nicht mehr bleiben kannst.

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  • Kaliningrader Bundesflagge

    Kaliningrader Bundesflagge

    Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Aktivisten will mit der deutschen Bundesflagge ein ironisches politisches Statement setzen, aber der Ablauf der nächtlichen Aktion gerät durcheinander, die Flagge landet am denkbar ungeeignetsten Gebäude und auch das Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung der politischen Grundfesten aller Bürger Russlands“ läuft bald ein wenig aus dem Ruder. Ein Einblick in die Graswurzel-Schicht des russischen politischen Lebens. 

    Alles begann am 11. März 2014: Die Krim war noch nicht unser, aber viel fehlte nicht mehr dazu, an den Gebäuden der Stadtverwaltungen im Südosten der Ukraine hingen russische Flaggen über Flaggen. „Begonnen hatte alles mit einem Scherz. Einer von uns sagte: Was wäre wohl, wenn man in Kaliningrad die deutsche Flagge raushängen würde?“, erzählt der Angeklagte Oleg Sawwin dem Richter. Er und Michail Feldman sind örtliche Bürgeraktivisten. Dimitri Fonarjow ist ein Freund von ihnen aus Moskau.

    Auf dem Weg zur Aktion irgendwie verlaufen

    Die Aktion ging ziemlich daneben, es ist verwunderlich, dass überhaupt etwas dabei rauskam. Die Aktivisten sagen, ihr Plan sei eigentlich gewesen, eine Flagge an einem Baum in der Nähe eines Verwaltungsgebäudes zu befestigen: „Wir wollten zeigen, dass Russland haargenau so viel Recht auf die Krim hat wie die Bundesrepublik Deutschland auf die Kaliningrader Oblast." Sie hatten dafür heimlich eine Leiter zusammengenagelt und sie im nahegelegenen Park versteckt. Aber als sie im Morgengrauen mit der Leiter zu dem Gebäude kamen, merkten sie, dass sie unter dem Gewicht eines Menschen zusammenbrach. „Mischa zimmert sogar Plakatlatten so schief zusammen, dass man sie hinterher geraderichten muss – ich kann mir schon vorstellen, was das für eine Leiter war“, sagt Anna Marjassina vom Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), der Organisation, der auch Feldman und Sawwin angehören.

    Im Dunkeln, als es noch ruhig auf den Straßen war, hatten sich die drei auf den Weg gemacht. „Wir waren ungefähr zwei Stunden unterwegs, hatten uns irgendwie verlaufen, inzwischen wurde es hell und es waren mehr Leute unterwegs. Ich sagte, wir müssten das ein andermal machen, dann eben ohne Fonarjow“, führt Sawwin aus. Fonarjows Zug nach Moskau fuhr bereits in ein paar Stunden. Sie waren schon auf dem Weg zur Bushaltestelle, da fielen dem Moskauer leere Flaggenhalter an einem einstöckigen Gebäude mit einem Garageneinfahrtstor ins Auge. Er nahm Feldman die Stange mit der Flagge aus der Hand und sprang, mit einem Fuß auf den Mauervorsprung gestützt, in die Höhe und steckte sie in den Flaggenhalter. Seine Freunde wussten nicht, wie ihnen geschah. Fonarjow sei gekränkt gewesen, dass die Aktion ohne ihn durchgeführt werden sollte, so erzählt Sawwin. Der Moskauer wusste nicht, dass diese Garage ohne Schild oder sonstige Erkennungszeichen dem FSB gehörte.

    In der ersten Version der Anklageschrift hieß es, die drei hätten „die politischen Grundfesten aller Bürger Russlands beleidigt“. Diese Formulierung war offenbar sogar der Staatsanwaltschaft seltsam erschienen, sie schickte den Fall zweimal zur Nachermittlung. Im Endeffekt werden die Aktivisten nun beschuldigt, Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs beleidigt zu haben – ungeachtet dessen, dass es nicht die Flagge des Dritten Reichs, sondern die der Bundesrepublik Deutschland war, die an der Garage gehisst wurde, und das morgens um sieben für ungefähr drei Minuten.

    Es gibt auch einen Betroffenen in der Sache: den gekränkten Vorsitzenden des örtlichen Veteranenrats (geboren übrigens 1947, also nach Kriegsende). Der Vorsitzende will sich gegenüber der Presse nicht äußern und war auch schon zur ersten Sitzung nicht erschienen.

    Im März 2014 war der Strafrechtsparagraf zum Separatismus noch nicht in Kraft getreten. Also drückte man ihnen den Paragrafen Rowdytum aufs Auge: Der Artikel 213 ist einer der dehnbarsten Artikel des russischen Strafgesetzbuchs, deshalb wird er gern bei politischen Prozessen verwendet. Pussy Riot wurden nach ihm verurteilt, die Greenpeace-Leute wurden für ihre Aktion auf der Arktis-Plattform Priraslomnaja auf seiner Grundlage verfolgt. Feldman, Sawwin und Fonarjow droht nun ein siebenjähriger Freiheitsentzug.

    Wer wurde eigentlich beleidigt, die kämpfenden Frontsoldaten oder die an der Heimatfront?

    Die Anklage schreibt den drei Angeklagten Hass und Feindseligkeit gegenüber der sozialen Gruppe der Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs zu. Die Angeklagten erwidern, auch ihre eigenen Großväter hätten im Krieg gekämpft und seien gefallen, von welchem Hass denn hier eigentlich die Rede sein könne. „Was soll das heißen, ‚soziale Gruppe der Veteranen’? Wer ist denn damit gemeint, die Frontsoldaten oder die an der Heimatfront? Nur diejenigen, die in der Kaliningrader Oblast leben, diejenigen in ganz Russland oder alle Veteranen in allen Ländern des postsowjetischen Raumes? Sicher haben sie alle unterschiedliche Blickwinkel auf die Sowjetmacht: Der eine ist vielleicht Kommunist geblieben, ein anderer, wie z. B. Solschenizyn, geht hin und schreibt Archipelag GULAG“, sagt Sawwin vor Gericht. Immer wieder hört die Sekretärin auf zu tippen und blickt vorwurfsvoll in Richtung des Angeklagten. Oleg Sawwin ist 27, er ist ein wenig beleibt und sehr pedantisch. Seine detaillierten Ausführungen zum Geschehen dauern zwei Stunden. Genauso hatte er kurz nach seiner Festnahme über den Rechtsanwalt seinem Vater eine akribische Nachricht zukommen lassen, in der er genaueste Anweisungen gab, wie seine Spinnen, die er als Haustiere hielt, versorgt werden müssten. Auf keinen Fall dürften sie tote Fliegen bekommen, er solle auf jeden Fall die Spezialnahrung kaufen!  „Die kleinen Spinnlein sind wohl inzwischen ohne mich groß geworden“, schreibt Sawwin in Briefen aus dem Gefängnis.

    Die rätselhaften „politischen Grundfesten“ stehen jedenfalls nach wie vor in der Akte. Der Anwalt Dimitri Dinse, den die Organisation Agora stellte, befragt die Angeklagten: „Wissen Sie, was das bedeutet: ‚politische Grundfesten’? Hat der Ermittler Ihnen erklärt, wen oder was Sie beleidigt haben?“

    „Ich verstehe nicht, wie Bürger in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt einheitliche politische Grundfesten haben können“, erwidert der hochaufgeschossene, magere Michail Feldman leicht stotternd. Die Ermittlungen schreiben ihm die führende Rolle bei dieser Aktion zu: In den Akten wird angeführt, dass es Feldman gewesen sei, der die Flagge gehisst habe, nachdem er auf die zur Räuberleiter ineinander verschränkten Hände seiner Mitstreiter gestiegen sei. Den Ermittlern war es dabei egal, dass Feldman durch die Bewegungsstörung ICP nur über eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit verfügt, so dass es mehr als unwahrscheinlich erscheint, dass er dieses Kunststück hätte ausführen können.

    Die Sache ist die, dass Feldman als Erster gefasst wurde. In dem Moment, als er am Morgen des 11. März die Flagge an der Garage fotografieren wollte, wurde er von Männern in Zivil mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt gestreckt, seine persönlichen Gegenstände wurden ihm abgenommen. In seinem Rucksack wurde später Hexogen gefunden, somit sind es bereits zwei Paragrafen, die Feldman gegen sich hat, da nun auch noch der Besitz von Sprengstoff hinzukommt. Sawwin und Fonarjow gelang es zu flüchten, doch den Zug nach Moskau schaffte Fonarjow nicht mehr: Sie wurden am Bahnhof festgenommen. Es folgten lange Tage im Untersuchungsgefängnis, angeblich wegen obszönen Fluchens in der Öffentlichkeit. Anschließend waren sie 20 Tage auf freiem Fuß. Danach folgte die Inhaftierung, diesmal bereits in einer Strafsache.

    „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“

    „Sawwin redet sich heraus und schwärzt Fonarjow an. Ich beantrage daher, Rechtsanwältin Bonzler von der Verteidigung eines der beiden Angeklagten zu entheben“, fordert plötzlich der Staatsanwalt. Feldman und Sawwin beharren schon den ganzen Prozess über darauf, dass es Fonarjow gewesen sei, der die Flagge aufgehängt habe, zudem aus eigener Initiative. Und Fonarjow selbst, ein hübscher blasser Junge von 24 Jahren, sitzt die ganze Zeit mit abwesendem Blick da und schaut aus dem Fenster, als ob ihn all das überhaupt nichts anginge. Aber jetzt steht er auf und erklärt ganz ruhig, er habe der Rechtsanwältin nichts vorzuwerfen, im Übrigen stimmten seine Aussagen mit denen Sawwins überein. Damit wird klar, dass er wissentlich alles auf sich nimmt. Im Unterschied zu seinen Mitstreitern gesteht er seine Schuld teilweise ein. Dass er den Arm zu einem „Sieg Heil“, erhoben habe, leugnet er jedoch. Die Anklage bleibt hartnäckig dabei, der Aktivist habe Hitler unter der Flagge des heutigen Deutschland, wo die Nazi-Symbolik verboten ist, die Ehre erwiesen. Fonarjow war früher einmal Nationalist (aber niemals Nazi). Im Gegensatz dazu bezeichnet er sich jetzt als Weltbürger, als Kosmopoliten im Sinne Kants. Im Gefängnis ist es einsam, an Verwandten hat er nur seine Mutter (der Bruder starb, während er im Untersuchungsgefängnis saß), und die wohnt in Moskau und konnte bisher nur einmal zu Besuch kommen, es fehlt an Geld. Sie schickt dem Sohn Päckchen mit dem von ihm geliebten Tee, Halwa und Zucker. Fonarjow ist, was Essen angeht, sehr wählerisch und isst von dem, was es im Gefängnis gibt, fast nichts. Die Rolle der Mutter übernimmt vor Ort die geschäftige Anna Marjass1ina. Im Gerichtssaal erkundigt sie sich hastig bei den Angeklagten, wem sie was bringen soll, bis der Gerichtsvorsteher sie laut brüllend unterbricht: „Sprechen verboten!“

     „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“, wird Fonarjow spöttisch vom Staatsanwalt gefragt. Tatsächlich hatten er und Sawwin sich in Vkontakte, dem russischen Facebook, kennengelernt: aufgrund gemeinsamer politischer Interessen. Fonarjow war dann einige Male nach Kaliningrad gekommen. Beim letzten Besuch hatte ihn Sawwin in Feldmans geräumiger Wohnung einquartiert, dort entstand auch die Idee zu der Aktion, von dort waren sie im Morgengrauen zu dem Verwaltungsgebäude aufgebrochen.

    Feldman ist 43 Jahre alt, er ist deutlich älter als seine Tatgenossen, dennoch fanden sie zusammen. Er ist Meeresbiologe, hat 11 Jahre lang im Institut für Ozeanographie AtlantNIRO gearbeitet und war auf die Buchten und Küsten des Baltikums spezialisiert. Aber später verließ er die Wissenschaft und jobbte als Journalist, verfasste Werbeartikel, getreu dem Motto: Wenn die Politik deine Arbeit behindert, schmeiß sie hin. Während Sawwin darüber klagt, dass er schlecht schlafe, da er sich über den Krieg in der Ukraine Sorgen mache, wobei er nicht die geringste Möglichkeit habe, irgendwie auf das Geschehen einzuwirken, betrachtet Feldman sogar seinen eigenen Strafprozess ironisch. „Wann hat man schonmal die Chance, mehrere Bände eines Fantasy-Romans auf einmal zu lesen, und dann noch über sich selbst, den liebsten aller Helden“, scherzt er in Briefen. Feldman schreibt selbst und hatte bereits im Untersuchungsgefängnis einen Auftrag für eine Serie von Fantasy-Erzählungen erhalten, worüber er sich diebisch freut: „Die Möglichkeit, im Gefängnis Geld zu verdienen, verschafft einem ein ungeahntes Gefühl von Freiheit.“ Es war der umtriebige Feldman, der Sawwin mit dem historischen Wikingerkram ansteckte. In Kaliningrad waren sie zu dritt, drei Wikinger, Feldmann, Sawwin und die schwarzhaarige Wika. Sie fuhren zusammen auf Festivals, bastelten skandinavische Schwerter, Äxte und Bögen. Nun ist die Bogenschützin Wika auf sich allein gestellt und kommt ins Gericht, um den Freunden von der anderen Seite des Gitters aus zuzulächeln. Für Politik interessiert sich Wika gar nicht, aber im Gericht fasst sie sich besorgt an ihren Sonnenrad-Anhänger: „Wer weiß, vielleicht gilt das bei denen auch schon als Verbrechen." Als Sawwin zum zweiten Mal in der Strafsache festgenommen wurde, war sie dabei: Die Freunde waren auf dem Weg zu einem Bekannten, als neben ihnen ein Auto anhielt, aus dem Männer in Zivil heraussprangen, die nichts sagten außer: „Sie kommen mit.“ Sawwin konnte gerade noch Wika darum bitten, seinen Freunden Bescheid zu sagen, dann war es aus mit der Freiheit.

    Die Fäuste des Antimaidan und der Mandarinen-Jahrmarkt

    Das Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), das jetzt eigene politische Gefangene hat, kann nun nicht mehr ruhig an Flaggen anderer Länder in der Stadt vorbeigehen: vor Hotels, auf Schildern, an Bars. Man fotografiert alles und stellt es ins Internet, nach dem Motto: Schaut her, ihr Leute, Verbrechen am helllichten Tage! Über ihre Aktion mit der Flagge hatten die drei sich mit ihren Kollegen nicht abgesprochen, darüber ist man dort verstimmt. „Man hätte zum Beispiel in der ganzen Stadt Flyer kleben können, sodass viele Leute sie hätten lesen und etwas erfahren können. Aber das wäre wohl keine solche Heldentat gewesen“, meint Anna Marjassina dazu.

    Unabgestimmte Aktionen, so etwas macht das KÖS nicht, Flaggen aufhängen oder Leuchtraketen anzünden, das ist nicht sein Stil. Sie agieren nur innerhalb des rechtlichen Rahmens, ihre Aktivisten wurden schon oft auf Versammlungen festgenommen, nur dass eben das Gericht bisher stets zu ihren Gunsten entschieden hatte. Die Leute vom KÖS hatten zäh und hartnäckig jedes Mal Anzeige wegen unrechtmäßiger Festnahme erstattet. Innerhalb einiger Jahre erstritten sie sich so vom Innenministerium eine Summe von 302.000 Rubeln [etwa 5000 Euro]. Aber dennoch war diesmal dem an Festnahmen gewöhnten Feldman das Versäumnis unterlaufen, die Stückliste der Dinge aus seinem Rucksack zu unterschreiben, ohne sie vorher durchgelesen zu haben. Nun ist das Gericht nur noch schwer davon zu überzeugen, dass das Hexogen in seinem Rucksack nicht von ihm stammte.

    Das KÖS versammelt sich allwöchentlich auf einem der zentralen Plätze. Man steht im Kreis auf dem Platz, Anna Marjassina spielt auf der Flöte die ukrainische Hymne als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Brudervolk – das ist das Einzige, was man sich noch traut. Früher organisierte man Mahnwachen und Demonstrationen, zur Unterstützung der Demos auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, für Pussy Riot, gegen den Fall vom 6. Mai, gegen den Krieg in der Ukraine … Aber am 21. September wurde der örtliche kleine Friedensmarsch von kompakten Burschen mit Georgsbändern umringt. Der Antimaidan begann in Kalinigrad früher als im übrigen Russland: Diese Leute überschrien die Demonstration und bewarfen und bespritzten die Oppositionellen mit Eiern und Brilliantgrün, aber das war noch nicht alles. Nach der Demonstration lauerte jemand zwei Teilnehmern, Alexander Gorbunow und Andrej Bogdanow, auf und verprügelte sie. Das waren die ersten Schwalben. Zwei Monate später wurden nach dieser allwöchentlichen Mahnwache des KÖS Wassili Adrianow und Jewgeni Grischin überfallen, letzterer verlor infolgedessen auf dem einen Auge fast das ganze Sehvermögen. Wiederum einige Tage später wurde Dimitri Irkitow zusammengeschlagen. Der aufgrund eines schweren Lungenleidens ohnehin bereits Schwerbehinderte erlitt derartige Schläge im Brustbereich, dass er operiert und ihm Teile des einen Lungenflügels entfernt werden mussten. Jetzt demonstriert das KÖS nicht mehr. Zeit und Ort der allwöchentlichen Versammlungen werden vorsichtshalber ständig geändert. Schweigend lauschen die Aktivisten der ukrainischen Hymne, danach gehen sie auf den Markt, um Lebensmittel für die Gefangenen zu kaufen. Gleich neben dem Markt sammeln unter der Flagge Neurusslands andere, feindliche, Aktivisten materielle Unterstützung für die Lugansker Separatisten. Übrigens halten selbst die ideologischen Gegner den Strafprozess für Unfug: Ein Mitglied der Bewegung Neurussland, Jewgeni Labudin, stand dem Kaliningrader Friedensmarsch mit einem Plakat zur Fünften Kolonne gegenüber, aber sogar er hat schon einmal ein Päckchen zu Fonarjow gebracht: „Die Fünfte Kolonne heizt die Lage an, aber die müssen es ausbaden!“

     „Sie brauchen Obst, es ist Frühling, Vitaminmangel“ Alexander Schidenkow, ein Mitaktivist, kauft Granatäpfel – er scherzt, es seien ja keine explosiven Granaten – und Orangen auf dem Markt. Im Winter brachte man den Gefangenen der Flagge immer Mandarinen mit, diese Frucht hat zudem eine ideologische Bedeutung. Im Jahr 2010 gab es die zahlenmäßig größte Demonstration in der jüngsten Geschichte der Stadt: den Mandarinen-Jahrmarkt, einen Protest gegen den Kaliningrader Gouverneur Boos (und seine Partei Einiges Russland). Das, was für Moskau die Bolotnaja-Proteste im Jahr 2011 bedeuten, ist für Kaliningrad der Mandarinen-Jahrmarkt. Die örtlichen Behörden verweigerten die Genehmigung einer Protestdemonstration unter dem Vorwand, der Platz sei bereits belegt, dort fände der allwinterliche Mandarinen-Jahrmarkt statt. Aber die Leute kamen dennoch: Viertausend Menschen hielten Mandarinen in die Höhe als Zeichen ihres Protests. Gerade an diesem Tag waren Feldman und Sawwin zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei, bald wurden sie Mitglieder des KÖS und vier Jahre später politische Gefangene.

    gekürzt – dekoder

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    „50 Kolionen sind eine Gans“

  • „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Welche Rolle spielt das Fernsehen derzeit in Russland? Ist das Internet immer ein Garant für Informationsfreiheit? Wie hängen Patriotismus, Medien und Politik zusammen? Wie populär ist Putin wirklich, und bei wem? Diese Fragen verfolgen Yevgenia Albats und Iwan Dawydow von The New Times im Interview mit dem profilierten Ökonomen Konstantin Sonin, HSE Moskau und seit September 2015 auch University of Chicago.

    Internet versus Fernsehen

    Bekanntermaßen hängen Demokratisierungsprozesse unmittelbar mit dem Zugang zu Informationen zusammen und damit, ob Menschen die Möglichkeit haben, Alternativen abzuwägen. Eben darum schien mit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Internets in Russland keine ernstzunehmende Rückwärtsbewegung mehr möglich: Solange die Behörden das Netz nicht einfach dichtmachen, würden die Menschen wachgerüttelt und die Aussicht, erneut hinter einem eisernen Vorhang zu landen, ließe sie schaudern. Doch was in unserem geliebten Vaterland geschehen ist, scheint ganz und gar unerklärlich. Zugang zum Internet, zu alternativer Information ist da, doch das Land klebt an den Fernsehgeräten, die Leute schlucken, was vom Bildschirm auf sie einströmt, und unternehmen nicht einmal den Versuch, den Inhalt auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu prüfen. Das Internet ist der Fernsehpropaganda unterlegen. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Gerade das letzte Jahr gibt uns in dieser Hinsicht zu denken, offenbar sind Informationen kein so einfacher Gegenstand, wie es scheint. Die Erfahrung von 2014 hat gezeigt: Die Tatsache, dass Informationen zugänglich sind, bedeutet noch nicht, dass sie in irgendeiner Form genutzt würden. Zum einen hat ein und dieselbe Information für verschiendene Menschen unterschiedliche Bedeutung, je nach dem Weltbild, das in den Köpfen bereits vorhanden ist. Zum anderen bauen die Menschen jede neue Information so in ihr Bild der Gegenwart und der Zukunft ein, wie es ihren Vorlieben entspricht: Die passenden Bausteine nehmen wir uns, den Rest lassen wir liegen.

    Das heißt aber nicht, dass über das Fernsehen jeder beliebige Inhalt lanciert werden könnte. Nehmen wir doch einmal folgendes Szenario, als Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, die Ressourcen, die auf die Propaganda für den Ukrainekrieg und die Annexion der Krim verwendet wurden, wären stattdessen darauf gerichtet gewesen, dass die Oblast Rostow an die Ukraine abgetreten werden soll. Hätten wir die Oblast Rostow dann tatsächlich der Ukraine gegeben? Ich bin überzeugt, dass das nicht geschehen wäre. Das bedeutet, dass die Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt oder auf gewisse zuvor nicht realisierte, aber doch lebendige Vorlieben trifft.

    Die Propaganda funktioniert, wenn sie das innerste Wesen des kollektiven Bewusstseins anspricht. Ich glaube, in jedem Land kann sich ein Politiker, wenn er das will, des aggressiven Wesens des Menschen bedienen. Aber längst nicht alle setzen zur Erhaltung ihrer Macht auf diesen Weg.

    Ich denke, wir müssen einsehen, dass der mögliche Zugang zu Quellen unzensierter Informationen, zur freien Presse nicht so entscheidend ist, wie wir angenommen haben. Wir sehen heute, dass es Dinge gibt, die tiefer liegen. Das hätten wir allerdings auch schon früher begreifen können. Als zum Beispiel in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, ging dies zwar mit Gewalt einher, es existierte aber dennoch eine verhältnismäßig freie Presse. Was die Mehrheit allerdings nicht daran hinderte, dem Irrsinn zu verfallen und mit Hitler zu sympathisieren.

    Die Büchse der Pandora

    Denken Sie an den arabischen Frühling. Die Medien schrieben: Am Anfang war ein Wort, und dieses Wort war ein Tweet.

    Massenkundgebungen und spontane Aufstände gab es lange vor der Erfindung des Internets und sogar vor der Erfindung der Schriftsprache. Twitter hat die Versammlung auf dem Tahrir-Platz leichter gemacht, aber es ist nicht gesagt, dass sich dort nicht auch sonst Massen von Menschen zusammengefunden hätten. Ich würde die Rolle der sozialen Netzwerke auch im Fall der Mobilisierung für den Bolotnaja-Platz und Sacharow-Prospekt nicht überbewerten. Auch ohne die Internet-Aufrufe wären nicht weniger Demonstranten gekommen. Man braucht nur an die riesigen Kundgebungen Ende der 1980er Jahre zu denken: Damals wurde jedes Flugblatt, das mit Durchschlag auf der Schreibmaschine getippt wurde, einzeln in einen Briefkasten gesteckt, und es kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen – wesentlich mehr als heute mit Hilfe des Internets.

    Wir haben die kühne Hypothese aufgestellt, Glasnost hätte nichts mit dem Niedergang des sowjetischen Regimes zu tun. Die Perestroika – ja, das Gesetz über die Kooperativen und die missglückten Wirtschaftsreformen – ja, die wirtschaftliche Stagnation – ja, aber Glasnost – nein.

    Mir kommt es vor, als hätte das Volk Sehnsucht nach Propaganda. Die gigantischen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jubiläum des Tags des Sieges haben eine Explosion der Begeisterung ausgelöst, alle schauten die alten Filme, hörten die alten Lieder. Was hatte die Leute vorher davon abgehalten? Sie hätten sich jederzeit eine DVD oder eine CD kaufen und für sich alleine feiern könen! Aber nein. Im Fernsehen sollte das alles kommen. So ist es auch mit der Propaganda. Unterschwellig entsprach ihre gegenwärtige Thematik den Erwartungen: Keiner mag uns und wir mögen die anderen auch nicht – besonders die Ukrainer und die Amerikaner. Und schuld an allem sind die Juden und die Liberalen. Das passte bestens zu den politischen Zielen der Führung unseres Landes.

    Ich glaube, wenn beispielsweise Alexej Nawalny oder Wladimir Ryshkow freien Zugang zum Fernsehen hätten, würden die mit Äußerungen wie „Jakunin mit seinen Pelzdepots soll verurteilt werden und hinter Gitter kommen“ allgemeine Zustimmung erreichen. Wenn man aber die gesamte Prime-Time darauf verwendet zu begründen, dass wir eine rechtsstaatliche Gesellschaft brauchen, also ein faires und unabhängiges Gericht mit Einhaltung parlamentarischer Verfahren bei der Annahme von Gesetzen und der Gewährleistung freier Konkurrenz auf dem Markt – dann geht all das ins Leere, und da hilft auch keinerlei propagandistische Ressource.

    Überdies hat das heutige Regime mit seiner Hetzpropaganda eine Pandorabüchse so voller Hass geöffnet, dass es auch einer nachfolgenden Regierung kaum gelingen wird, sie wieder zu schließen. Zu dem Thema habe ich mich einmal mit Michail Chodorkowski unterhalten. Ich frage ihn: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen an die Macht und haben sich, sagen wir, den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. Das Volk fordert von Ihnen, alle korrupten Beamten und Politiker hinter Gitter zu bringen. Werden Sie sie hinter Gitter bringen?“ „Nein, das kann ausschließlich ein von mir unabhängiges Gericht“, antwortet Chodorkowski. „Aber das Volk verlangt trotzdem, dass Sie persönlich darüber entscheiden, wer wie lange hinter Gitter kommt“, wende ich ein. „Ihre Argumente für ein Gerichtsverfahren werden als Schwäche aufgefasst: Das Volk will umgehende Bestrafung, und Sie schlagen ein kontradiktorisches Verfahren vor.“ Es ist eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Wer auch immer als nächstes an die Macht kommt, wird gewissermaßen Geisel der heutigen Vorlieben und Erwartungen sein.

    Trügerische Zahlen

    Sehr wichtig ist zu verstehen, dass es nichts bringt darüber zu lamentieren, ob das Volk nun gut oder schlecht ist, aufgeklärt oder ungebildet – man muss an die gebildeten Schichten, an die Elite appellieren. Aber eines ist doch bemerkenswert: Unter den Putinanhängern, den Befürwortern von Krymnasch und dem Krieg in der Ukraine, findet sich eine große Zahl von Leuten, die keine Steuern zahlen und denen ihr Salär einfach im Umschlag ausgehändigt wird. Man sollte meinen: Eine starke Armee erfordert eine Menge Geld, also unterstütze die Macht, welche auch immer, und zahl Steuern. Die Antwort: „Wozu? Die stecken sich doch sowieso alles in die eigene Tasche.“

    Das ist eines dieser mystischen Dinge – die ständig auftauchenden Zahlen zu Putins großer Popularität, und dabei ist es gar nicht so einfach, diese uneigennützigen Fans seiner Politik im wirklichen Leben zu Gesicht zu bekommen. Auch in meinem Umfeld gibt es Leute, die Putin unterstützen, allerdings – für Geld. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass diese Unterstützung eine Scheinunterstützung ist. Wie viele Menschen bekommt Putin denn zusammen für eine Kundgebung, wenn er sie nur über das Fernsehen anspricht, ohne Administrative Ressource, ohne die ganzen Busse, die angeblich seine glühenden Anhänger herankarren! Ich vermute, gerade mal tausend.

    Aber was bezeichnen wir dann als Popularität? Bei uns ist die Popularität des Präsidenten eine sehr spezielle Popularität. Wenn die Soziologen bei uns einen Menschen fragen, ob er für den Präsidenten ist, dann antwortet er: Ja. Ansonsten ist er in den meisten Fällen gar nicht für ihn. Er beklagt sich über sein schweres Los. Schimpft auf die Beamten. Kann die Abgeordneten nicht leiden. Er ist der Ansicht, dass an der Macht sowieso alle stehlen. Kurz, im täglichen Leben sagt er durchweg „nein“, aber bei der Umfrage „ja“.

    Ich möchte aber noch etwas anderes zu bedenken geben. Die sehr wichtige Entscheidung über den Beitritt der Krim wurde ja in engen Kreis getroffen, ohne Beteiligung von Vertretern des Wirtschafts- und Finanzblocks. Das ist ein Merkmal einer Dysfunktion, eines Versagens im System der Staatsverwaltung. Infolge dieses Funktionsversagens befinden wir uns heute in einer äußerst schwierigen Situation mit einer fatalen inneren Entwicklungslogik.

    Wir haben faktisch eine Armee, die Kriegshandlungen durchführt, und dazu haben wir offenkundig noch einen Super-Überbau, der damit beschäftigt ist, diese Armee so aussehen zu lassen, als sei sie keine Armee. Eine gewaltige Menge von Menschen und eine noch gewaltigere Menge an Geld ist involviert in das, was sich im Osten der Ukraine abspielt. Und noch mehr sind mit der Vorbereitung auf irgendeinen fantastischen großen Krieg beschäftigt. Und wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, ist völlig unklar.

    Nutznießer der Verhältnisse

    Es gab also ein Versagen im System der Staatsverwaltung. Warum hat man die Sache danach noch weitergetrieben? Ging es den Profiteuren des Regimes nicht auch ohne Krieg in der Ukraine bestens?

    Kurzfristig ziehen alle Leute, die in der Kriegsindustrie sitzen, Vorteile aus dieser Situation. Heute werden, so weit ich sehe, alle wesentlichen Entscheidungen von einer ganz kleinen Gruppe getroffen, in der die Silowiki und die Militärs absolut überproportional vertreten sind. Das heißt, anstelle eines Gremiums, in dem das größte Gewicht bei den Ministern für Wirtschaft und Finanzen liegt, wird heute alles von den Silowiki entschieden. Aber für einen Hammer sieht alles um ihn herum aus wie ein Nagel. So auch für die Silowiki – ihre Prioritäten bestehen einzig darin, dass der Krieg weiter finanziert wird. Und heute zu erwarten, dass von den Silowiki einer aufsteht und sagt: Nein, Leute, wir können nicht so viel für den Krieg ausgeben und die ganzen Mittel vom Konsum abziehen – das ist naiv.

    Die Militärausgaben führen unvermeidlich zu Abstrichen bei den sozialen Haushaltsposten, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – auch für die, die jetzt Putin applaudieren.

    Wenn wir in dieser Weise über den Haushalt sprechen, haben wir es mit Metaphern zu tun, aber in Wirklichkeit ist der Haushalt zum Teil ein Gummihaushalt, entscheidend sind die Prioritäten. Man kann noch mehr Panzer fabrizieren, noch weniger für Bildung und Gesundheit ausgeben und noch mehr für Propaganda, und die Militärausgaben noch einmal verdoppeln. Das Material wird sich widersetzen, aber es wird Rogosin nicht zwingen, den Weg freizumachen. Rogosin wird Druck machen. Zumal er die Folgen nicht ausbaden muss. So wie zum Beispiel der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow. Er machte Druck und blieb stur, und die Folgen musste das ganze Land ausbaden, das dann in der Folge auch zusammenbrach. Heute kann man unseren Haushalt so straffen, Investitionsprojekte und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung so sehr zusammenkürzen, dass man den Militärhaushalt verdoppeln kann. Verdreifacht man ihn, gehen die Lehrer auf die Straße, und in den Krankenhäusern geht das Licht aus – aber auch das ist möglich. Vervierfachen geht wahrscheinlich nicht. Aber diese Richtung kann man jedenfalls noch lange weiterverfolgen.

    Und dazu braucht man dann auch die Propaganda: der Feind steht vor den Toren.

    Genau. Darum liebe ich das Beispiel von Slobodan Milošević. Während er Präsident von Serbien war, schrumpfte das Land auf die Hälfte zusammen, der Lebensstandard der Serben halbierte sich, krasser als bei uns in den schlimmsten Momenten der 1990er Jahre. Bei seinen letzten Wahlen erhielt er fast 36 Prozent der Stimmen. Die Propaganda hatte ihr Werk getan. Die Ausbeutung nationalistischer Ambitionen kann Menschen dazu bringen, große Probleme zu beschönigen und gravierende Opfer zu rechtfertigen.

    Die Krim-Hysterie hat sich gelegt, das Projekt Noworossija wird offenbar langsam eingestellt …

    Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine Menge Leute, die ein Interesse an der Fortführung des Projekts Noworossija haben. Seine Nutznießer sind die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex, außerdem gibt es Leute, die damit ihre Popularität aufrechterhalten. Es ist ja unverkennbar, dass viele die Fortsetzung des Banketts wollen.

    Und trotzdem muss man nachlegen, damit das patriotische Feuer weiter brennt?

    Ich glaube, Sie überschätzen die Dimension der Absichten. Ich gehe davon aus, dass es innerhalb der Macht keinerlei Gedanken daran gibt, die Bevölkerung zu betrügen. Putin und seine Entourage glauben selbst daran, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die NATO vor den Toren steht. Und nicht nur das, die Leute, die diesen Glauben nicht teilen, werden aus den höheren Machtetagen verdrängt. 

    Dazu kommt, je mehr sie sehen, dass sie von Feinden umgeben sind, desto mehr rechtfertigt dies den eigenen Verbleib an der Macht. Angeblich sitzen wir im Schützengraben, wir kämpfen gegen den Feind, und wenn wir den Schützengraben verlassen, werden die Feinde unser Territorium besetzen. Eben dieses Motiv rechtfertigt auch zehn Jahre Führung durch Staatskorporation. Es wird im großen Stil geplündert, alles ist entsetzlich ineffektiv, aber die Hauptsache ist, ich sitze im Schützengraben. Mit einer derartigen Argumentation kann ich alles rechtfertigen, was mit mir passiert, und hinsichtlich dessen, was ich über mich höre, eine kognitive Dissonanz zulassen. Und wenn ich gehe, bricht überhaupt alles zusammen. Das ist das Modell, das heute in Kraft ist.

    Wie wird das weitere Szenario aussehen?

    Wenn es nicht zu irgendwelchen außerordentlichen politischen Entscheidungen kommt, etwa Mariupol, Charkow und Kiew anzugehen, was vor zwei Jahren ausgeschlossen und heute bloß noch eher unwahrscheinlich erscheint, kann die Wirtschaft im heutigen Zustand noch fünf bis zehn Jahre so weiterbestehen – und zwar ohne besondere Probleme. Aber dann wird es erneut zu einer Krise wie 1991 kommen, d. h. einer Haushaltskrise und einer politischen Krise. Allerdings ein paar Nummern kleiner. Ich sehe keine besonderen Anhaltspunkte für einen Zerfall des Landes oder so etwas. Aber die ganze Sache wird mit Stagnation und dem Verfall des politischen Regimes einhergehen.

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  • Produktion von Ungerechtigkeit

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Olga Romanowa ist eine bekannte Journalistin, die sowohl im Fernsehen wie auch in Printmedien gearbeitet hat. Außerdem ist sie Direktorin einer Organisation zur Strafgefangenenhilfe. Sie berichtet, wie einer ihrer Besuche im hohen Norden sie in eine Welt entführt, in der die Haft selbst nur eine Nebenrolle spielt.

    „Sagen Sie mal, Iwan Stepanowitsch, Pekinesen … Gibt es die hier wirklich?“
    „Klaro.“
    „Diese kleinen wuscheligen mit Palmen auf dem Kopf. Und Stupsnasen …“
    „Klaro.“
    „Was machen die denn hier und woher kommen sie?“
    „Aus dem Wald. Die leben hier seit eh und je.“

    Mir scheint, einer von uns spinnt. Ich fahre seit vielen Jahren in diese Gegend, in die entlegenen Gefangenengebiete des russischen Nordens, wo die Taiga in den Bergen endet und erste Anzeichen der Tundra zu sehen sind. Etwas weiter weg gehen die Berge in Hügel über, und dort beginnt die Tundra. Hier aber ist noch Wald, bevölkert von Bären, Wildschweinen, Wölfen und anderen niedlichen Pelztieren. Und schon seit vielen Jahren reibe ich mir die Augen, wenn aus diesem Wald, in den man sich nicht einmal zum Pinkeln hineintraut, eine Meute wilder Pekinesen, angeführt von einem kessen Alpha-Männchen, herauskommt, die kleine Siedlung durchquert, die Schuppen umschnüffelt, sich mit den ansässigen riesigen Hofhunden anbellt, die versuchen sich der Meute anzuschließen, aber verscheucht werden – und dann stolz im Kiefernwald verschwindet.

    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa
    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa

    Ich kenne mich mit Hunden aus, ich sehe, dass das erstklassige, gezüchtete Rassehunde sind. Die können hier nicht überleben: Ich komme im Sommer in Sandalen aus Moskau in die Gebietshauptstadt geflogen und ziehe mir im Taxi Filzstiefel an, die nächste Stadt ist 400 km von hier entfernt. Ich kenne den Unterschied zwischen Winterfilzstiefeln und Sommerfilzstiefeln.

    In Sommerfilzstiefeln bin ich einmal zum von der Straße abgelegenen Ende der Siedlung gegangen, um zu sehen, warum die Schafe und der Bock dorthin laufen. Jetzt in Winterfilzstiefeln schafft man es nicht dorthin, im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen.

    Im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen

    Jedenfalls laufen die Schafe und der Bock zu einem Ding, das von weitem aussieht wie ein weißer Stein, sie scharen sich um ihn, und dann treten die älteren Tiere näher und berühren den Stein mit der Stirn, doch das ist gar kein Stein, sondern ein alter Schafsbockschädel.

    „Iwan Stepanowitsch, da ist doch so ein Schafsbockschädel, zu dem die hinlaufen, kennen Sie den?“
    „Klaro. So’n Schädel eben.“
    „Iwan Stepanowitsch, und warum fliegen die Bienen hier immer im Kreis um den Bienenstock?“
    „Olga, du Dummchen. Wohin sollen die denn sonst fliegen?“

    Ich frage, er antwortet. Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Ich bin das Moskauer Dummchen und er der Oberst der Föderalen Strafvollzugsbehörde, ein hohes Tier, Herr über die hiesigen Ländereien mit all ihren Lagern und Strafkolonien. Er versteht nicht, warum ich wieder hergekommen bin, obwohl er sich anscheinend schon dran gewöhnt hat.

    Ich kenne seine beiden Frauen und die meisten seiner Kinder, sie begegnen mir so offen und freundschaftlich wie man, sagen wir, einer Katze überhaupt begegnen kann – einem rätselhaften, aber insgesamt harmlosen Wesen, solange es die Pfoten von der Smetana lässt. Ich versuche zu erklären, warum ich gekommen bin:

    „Ich habe so eine Art Patenschaft für hiesige Häftlinge übernommen.“
    „Was bitteschön für eine Patenschaft bei welchen Häftlingen? Dein Mann hat seine Strafe doch schon lange abgesessen. Übrigens ein guter Kerl, vom Lande, dass er zwei Hochschulabschlüsse hat, da würde man nicht drauf kommen, eher ein Einfaltspinsel, aber mit einem eigenen Kopf, auf jeden Fall: Alle erinnern sich hier noch, wie er mal mitten im Winter Rosen für dich aufgetrieben hat, als du zu Besuch kamst. Und was soll das jetzt, was für Häftlinge?“
    Hundertneunundfünfziger.“
    „Hättst du das doch gleich gesagt.“

    Und dann fährt er mich zu dem abgelegenen Lager, wo meine Hundertneunundfünfziger einsitzen, Unternehmer, einer davon ziemlich bekannt, ich kenne seine alte Mutter gut, eine verdienstvolle Lehrerin, und seine junge Frau, die ihn im Lager geheiratet hat – einen völlig ruinierten, nicht mehr jungen, recht fülligen Mann mit sehr langer Haftstrafe.

    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist
    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist

    Die junge Frau ist ein gutes Mädchen, eine ganz rechtschaffene, ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt und verliebt haben – zu einem Zeitpunkt, als niemand überhaupt an so etwas wie Liebe dachte und schon gegen ihn ermittelt wurde. Jetzt lerne ich ihn also kennen, wir wissen schon viel voneinander, haben nur noch nicht miteinander gesprochen, aber nach dem ersten „Tagchen!“ wird alles einfach und klar: Er ist ein selten kluger und bezaubernder Mensch, und so lausche ich ihm mit offenem Mund.

    Mein zweiter Schützling ist Philosoph, Absolvent der Moskauer Universität, promoviert, Tätigkeit in der Präsidialverwaltung, 14 Jahre Haft – die sitzt er für jemand anders ab. Seine Frau hat ihn sofort verlassen, aber er hat über einen Briefwechsel ein Mädchen aus Tschita kennengelernt, sie haben geheiratet, jetzt ist sie schwanger.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt: Was für Menschen! Und damit meine ich nicht einmal so sehr die Verurteilten, sondern die, die dort arbeiten. Bis zum Anschlag rechtschaffene und gute Leute, die haben nichts Böses. Verständnisvoll, alle miteinander. Einer bringt mich noch ein Stück und zeigt auf die Überreste einiger Holzhäuser:

    „Sieh mal, hier stand im Herbst noch ein solides Haus.“
    „Und wo ist es hin?“
    „Der Besitzer kam für zwei Wochen ins Krankenhaus, da haben wir sein Häuschen zerlegt, Balken für Balken. Siehst du den Hund dort? Der hat da in der Hütte gelebt, jetzt kriegt er bei uns zu fressen.“
    „Ist der Besitzer gestorben?“
    „Wieso gestorben? Ausgenüchtert haben sie ihn, unseren guten Wirtschafter. Was haben wir gelacht! Er kommt raus, und sein Haus ist weg, hat sich einfach so in Brennholz verwandelt.“
    „Und wo wohnt er jetzt?“
    „Drüben im Wohnheim. Aber er soll bald ein Zimmer in der Stadt bekommen, heißt es.“

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle. Seine alte hat er für gleichzeitig zwei neue verlassen, eine mit Irka und eine mit Nataschka, die beiden Frauen arbeiten auch in den Lagern, die eine als Inspektorin, die andere als Hausmeisterin. Sie sind ein bisschen eifersüchtig aufeinander, aber er lebt abwechselnd in beiden Familien, versucht keine zu benachteiligen – immerhin sechs Kinder sind dabei rausgekommen. Die älteren Söhne arbeiten auch in den Lagern, einer sitzt, wegen Drogen.

    Wodka trinkt man hier im Grunde erst mit über vierzig. Was heißt Wodka, das ist ein Witz. Selbstgebrannter Fusel und Methylalkohol.

    „Olja, komm, wir schauen uns den Bären an.“ Iwan Stepanowitsch holt mich mit dem Auto ab, er hat extra für mich einen Bären wecken lassen.

    Fast in jedem Lager leben hier Bären. Die Jäger (also die Häftlinge oder Arbeiter) töten eine Bärin, und wenn sie Junge hat, nehmen sie die mit ins Lager. Ist natürlich schade, dass sie den armen Bären jetzt wecken, der dämmert schon in den Winterschlaf hinüber, aber sie sind nicht davon abzuhalten. Füttern ihn grade mit einem leckeren Apfel. Ich frage, was er sonst noch zu fressen bekommt – doch wohl nicht nur Äpfel, ja und Schweinefleisch werden sie ihm wohl auch nicht kaufen, das wäre übertrieben.

    Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz

    Der gute Iwan Stepanowitsch sagt mir, was er frisst. Besser gesagt, wen. Nein, das schreibe ich nicht auf, das brauchen Sie nicht zu wissen. Sie würden sonst noch anfangen, die ganze Menschheit zu hassen. Weil Sie dort in Ihren Hauptstädten und Ihrer Zivilisation hinter Ihren schicken Laptops sitzen und über Humanismus, Umwelt und Schädlichkeit von Margarine philosophieren – und die wird hier von Häftlingshänden aus Palmöl produziert.

    Die Menschen hier erleben Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit genauso, wie sie all das im 16. Jahrhundert erlebt haben, sie selber produzieren Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit und verstehen, dass das nicht anders sein kann, so ist die Welt beschaffen, so und nicht anders. Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!
    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!

    Stepanytsch und ich setzen uns in den UAZik, seinen russischen Geländewagen, und fahren in ein anderes Lager, nicht weit weg, rund 50 Kilometer. Auf einmal läuft vor uns eine Kuh auf die Straße, hinter ihr noch eine. Ohne auf das Auto zu achten, überqueren sie gemächlich die Straße und verschwinden im Gestrüpp.

    „Iwan Stepanowitsch, Kühe! Aus dem Wald! Hier gibt es doch nichts als Wald, kein Dorf, kein Lager, keinen Stall und im Wald sind Bären!“
    „Olja, du kleines Dummchen. Mal sind’s Pekinesen, mal Kühe … Die leben nun mal hier. Muss dich nicht kümmern. Maljawka, mein Kätzchen, weißt du, gestern hat sie einen Luchs abgemurkst. Soll ich jetzt einen Brief an Im Reich der Tiere schreiben?

    Ich schweige. Wir fahren weiter, vor uns taucht ein Bahnübergang auf. Auf den schneeverwehten Gleisen der Schmalspurbahn steht ein neues Paar eleganter Herrenschuhe. Lackleder mit Absatz. Keine Seele weit und breit. Ich schweige. Iwan Stepanowitsch schaut sich die Schuhe an und wirft sie in den Kofferraum.

    „Na, das ist ein Ding … Hast du die Sohle gesehen?“
    „Welche?“
    „Olja, du bist echt so ein Dummchen? Die haben dünne Sohlen! Ganz dünne! Völlig rutschig. Solche Sohlen eignen sich nur für den Sommer in Orenburg.“
    „Warum in Orenburg?“
    „Da machen wir immer Urlaub, im Schwarzen Delfin.“
    „Das ist doch ein Lager für Lebenslängliche.“
    „Na, in eurem Scheiß-Moskau werden wir ja nun nicht gerade Urlaub machen! Im Delfin ist es im Sommer schön, Seen in der Nähe, ich nehm die Kinder mit, oh ja, ihnen gefällt es da, schön warm, nur ziemlich weit weg, die Fahrt find ich echt anstrengend.“

    … Jaja, im Schwarzen Delfin ist es schön, was sonst. Mir fällt wieder ein, dass auf Stepanytschs jüngere Kinder statt eines Kindermädchens zwei Häftlinge aufpassen, zwei Hundertfünfer, ich weiß, dass der eine 23 Jahre aufgebrummt bekommen hat, wegen besonderer Grausamkeit. Stepanytsch mag ihn sehr, sagt, er ist ein guter Mensch. Denn im Suff kann sowas ja schnell mal passieren.

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  • Albrights Un-Worte

    Albrights Un-Worte

    Das Internet wimmelt vor Gerüchten und Legenden, Halbwahrheiten und kruden Theorien – auch und gerade in Russland. Manche von ihnen werden zum regelrechten Politikum: etwa, dass die ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, gesagt haben soll, Russland besitze Sibiriens Bodenschätze zu Unrecht. Die Journalistin Julija Latynina geht der Frage nach, wie es zu der beeindruckenden Karriere dieses Zitats kam, durch die es in eine der wichtigsten Fernsehsendungen des Landes gelangte. Wenn es denn eines war.

    Yes! Lange habe ich darauf gewartet, dass sie das auch offiziell sagen – und jetzt ist es passiert.

    Der Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew erklärte in einem Interview mit der Zeitung Kommersant, die USA „hätten es sehr gerne, wenn Russland überhaupt nicht existierte“, „weil wir über sehr große Reichtümer verfügen. Und die Amerikaner glauben, dass sie illegal und unverdient in unserem Besitz seien, da wir sie, ihrer Meinung nach, nicht so verwenden, wie wir sie verwenden sollten. Sie erinnern sich sicherlich an die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, dass weder der Ferne Osten noch Sibirien Russland gehöre.“

    Die Entstehungsgeschichte dieser Äußerung ist überaus interessant. Das erste Mal taucht sie, soweit ich das recherchieren konnte, im Juni 2005 als Zitat in einem Internetforum auf. Damals schrieb eine gewisse Nataly1001 im Blog „Seltsame politische Situation“ vom 07.06.05 des Forums forum.germany.ru Folgendes:

    „Da meine Arbeit mit dem Internet zu tun hat, lese ich regelmäßig die aktuellen Nachrichten und dort habe ich in der letzten Zeit eine sonderbare politische Tendenz beobachtet. Von den russischen Medien wurde recht oft das Thema der nationalen Sicherheit aufgekocht … Zu hören war die Äußerung der früheren US-Außenministerin Frau Albright: 'Solange ein Territorium wie Sibirien von diesem einem Land beherrscht wird, kann von einer weltweiten Gerechtigkeit keine Rede sein. Wäre es ein anderes Land, sähe die Sache freilich anders aus! …' Ehrlich gesagt, auch wenn diese Äußerung die Meinung einer Privatperson und ehemaligen amerikanischen Politikerin wiedergibt, sie gibt zu denken….“

    Nataly1001 trug alle Merkmale eines Kreml-Trolls. Nach der Veröffentlichung dieses Artikels entbrannte eine heftige Diskussion. Die Skeptiker forderten Quellenangaben, ihnen wurde entgegnet: „Lest bitte Zbigniew Brzeziński.“

    Die Skeptiker gaben sich damit nicht zufrieden. „Wenn besonders betont wird, dass ein bedeutender Politiker so etwas gesagt hat, lässt das Zweifel daran aufkommen, dass er es tatsächlich so gesagt hat, und deshalb fordern wir einen Beleg, na, und aus dem können dann Schlüsse gezogen werden.“

    Die Trolle antworteten: „Beweise wofür? Es ist doch klar, dass sich die westlichen Politiker allesamt von Äußerungen dieser Art distanzieren werden!“

    Kurz gesagt: Zwei Dutzend Seiten des Forums wurden gefüllt mit Verwünschungen an die Adresse von Albright, Quellenangaben existierten allerdings auch danach nicht.

    Damit war die Sache in der Welt. Die Äußerung von „Madeleine Albright“ war nun eingeführt, jetzt konnte man den Prozess zu ihrer Legitimierung auf eine neue Ebene bringen.

    Am 14. Juli 2005, einen Monat nach ihrem unbelegten, durch den Fleiß anonymer Trolle ermöglichten Auftauchen, wurde die Äußerung von Alexej Puschkow, dem Chef der Fernsehsendung Postskriptum, zitiert.

    „Bekanntlich werden Madeleine Albright“, erklärte Puschkow, „die Worte zugeschrieben, dass 'Sibirien ein zu großes Territorium sei, um einem Staat allein zu gehören.' Selbst wenn sie es nicht genau so gesagt haben sollte, so haben sie oder einer der gar nicht dummen Leute in Amerika doch etwas Derartiges gemeint.“

    Danach bezogen sich alle Quellenangaben bereits auf die Sendung von Puschkow. „Wie Madeleine Albright in der Sendung von Puschkow gesagt hat …“ In Wahrheit hat nicht sie etwas gesagt, sondern Puschkow. Und vielleicht auch gar nicht gesagt, sondern nur gemeint. Und vielleicht auch nicht Albright, sondern „irgendjemand dort drüben“.

    Ein Jahr später sollte sich allerdings herausstellen, was Madeleine Albright tatsächlich gemeint hatte. Am 22. Dezember 2006 gab Generalmajor Boris Ratnikow ein Interview in der Rossijskaja Gaseta. Das Interview trug wirklich die Überschrift: „Die Tschekisten haben die Gedanken Albrights gescannt“.

    Nun ist es so, dass Generalmajor Boris Ratnikow vom russischen Schutzdienst FSO eine Spezialabteilung beaufsichtigte, die sich mit den Geheimnissen des Unbewussten beschäftigte. Und so hatte der Generalmajor am Vorabend des Jugoslawienkriegs im Verlauf seiner astralen Schlachten eine „Sitzung zum Anschluss an das Unterbewusste der Außenministerin Albright“ organisiert.

    „In den Gedanken von Frau Albright konnten wir einen pathologischen Slawenhass entdecken“, erklärt der Generalmajor. „Darüber hinaus hat sie die Tatsache verärgert, dass Russland über die weltweit größten Vorkommen an Bodenschätzen verfügt. Ihrer Meinung nach sollte über die russischen Bodenschätze in der Zukunft kein Land allein, sondern die gesamte Menschheit verfügen können, natürlich unter Führung der USA.“

    Weniger als ein halbes Jahr nach dieser Veröffentlichung, am 18. Oktober 2007, gab es im Fernsehen eine Fragestunde mit Präsident Putin. Bei der bat ein einfacher Mechaniker aus Nowosibirsk den Präsidenten, die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA Madeleine Albright darüber, dass Russland „ungerechterweise allein über die natürlichen Ressourcen Sibiriens verfüge“, zu kommentieren.

    Putin erklärte, dass ihm diese Äußerungen Albrights nicht bekannt seien, allerdings „wisse er, dass solche Ideen in den Köpfen einiger Politiker vor sich hin gärten“. „Das ist, meiner Meinung nach, so eine Art politische Erotik, und vielleicht verschafft sie sogar irgendjemandem Befriedigung, sie wird aber kaum zu positiven Ergebnissen führen“, bemerkte der Präsident.

    Diese Frage und Antwort während der Liveschaltung, für die einfache Mechaniker sorgfältig ausgewählt und herbeigeschafft wurden, waren ganz offensichtlich ein weiterer Baustein zur Legitimierung der Äußerung und alles war außerordentlich fein konstruiert. Einerseits war diese Äußerung nun im ganzen Land zu hören gewesen, und ja, sogar in einer Livesendung mit dem Präsidenten. Andererseits – siehe Putins Antwort.

    In Patruschews Interview mit der Zeitung Kommersant schloss sich der Kreis. Das nicht existierende Zitat, das durch die Kreml-Trolle in die Internetforen geschleust und durch den sich zu den Sternen erhebenden General Ratnikow zitiert worden war, verwandelte sich in ein Glaubensbekenntnis und in ein Axiom jener nichteuklidischen Politgeometrie, in der der kollektive Kremlverstand zu Hause ist.

    Das Mittelalter war bekanntlich eine Zeit des fanatischen, aufrichtigen und ekstatischen Glaubens. Und gleichzeitig war es eine Zeit, in der gefälschte Reliquien – die Nägel, mit denen man Jesus Christus ans Kreuz geschlagen hatte, die Knochen von Johannes dem Täufer und anderes – als Massenware im Umlauf waren, so dass allein aus den Nägeln ein ganzes Schiff hätte zusammengenagelt werden können. Mich hat immer interessiert, ob eigentlich die Lieferanten der falschen Knochen selbst an die Echtheit ihrer Knochen glaubten?

    Nach dem Interview mit dem Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew kann man sicher sagen: sie glaubten daran.

    Und diese wunderbaren Menschen haben das Sagen in Russlands Politik und Strategie. Wieso eigentlich nicht? Sie können ja sogar Gedanken lesen.

     

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    Warum sind Polizisten bestechlich?

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    Leviathan gegen Leviathan

  • Warum sind Polizisten bestechlich?

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Antikorruptionskampagnen, höhere Gehälter und verschärfte Strafen für Bestechung helfen nicht gegen Korruption. An der Moskauer Hochschule für Wirtschaft HSE wurde eine Untersuchung mit tatsächlichen Mitarbeitern der russischen Polizei durchgeführt. Sie nahmen an einem Spiel teil, das ihre Neigung zur Korruption aufzeigen sollte. An diesem Spiel nahmen auch gewöhnliche Studenten teil. Die Polizisten waren dabei insgesamt öfter bereit, Bestechungsgelder zu nehmen oder zu zahlen, sogar wenn es sich offensichtlich nicht lohnte. Korruptionsprinzipien und -normen waren für sie wichtiger als Gewinne oder Risiken.

    Eine Gruppe von Forschern der Hochschule für Wirtschaft hat sich ein für Russland leidiges Thema vorgenommen: die Korruption bei der Polizei.

    Sie sind davon überzeugt, dass Korruption in einer bestimmten Kultur und bestimmten Prinzipien begründet liegt, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind: Wenn man einem Mitarbeiter der Staatlichen Straßenverkehrsinspektion Geld zusteckt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass er das Geld nimmt und bei dem Vergehen ein Auge zudrückt. Wenn man einem Polizisten vorschlägt, man könne sich doch „einigen“, gibt es eigentlich keinen Zweifel, dass das funktioniert.

    Innerhalb der Polizei haben sich mittlerweile feste Korruptionsstrukturen herausgebildet. Beamte der mittleren Ebene nehmen Bestechungsgelder von den normalen Bürgern und – damit es nicht herauskommt – teilen sie sie hinterher mit ihren Vorgesetzten. So entsteht ein funktionierendes Korruptionsnetz. Dabei haben die Polizisten, wie die Studie zeigt, diese Prinzipien derart verinnerlicht, dass sie nicht von ihnen ablassen, selbst wenn die Korruption sich finanziell nicht lohnt. Sie sind bereits eine in sich geschlossene Gruppe, die durch eine bestimmte Kultur mit bestimmten Werten und Prinzipien verbunden ist.

    Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler aufgrund eines Experiments, das mit russischen Polizisten vom Polizeihauptmann bis hin zum Oberst durchgeführt wurde, von denen alle einen Zusatzlehrgang der Akademie des russischen Innenministeriums absolviert hatten. Das Durchschnittsalter der Versuchspersonen betrug 36 Jahre. Die russische Polizei befand sich während der Untersuchung gerade in einer Phase der Umstrukturierung.

    Dieselbe Untersuchung wurde mit Studierenden der Hochschule für Wirtschaft durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden mit denen der Polizeibeamten verglichen.

    Korruptionsspiel

    Das Experiment bestand aus einem Spiel. Ziel war nicht, einem konkreten Beamten seine Neigung zur Bestechlichkeit nachzuweisen, sondern zu verstehen, wie die Polizisten interagieren und was ihr Verhalten motiviert. Es wurde kein echtes Geld verwendet.

    Die Offiziere wurden in Gruppen zu je 5 Mann eingeteilt, alle saßen am Computer. Sie wussten, dass sie mit Leuten aus dem Raum, in dem sie saßen, in einer Gruppe waren, wussten aber nicht mit wem.

    Das Spiel bestand aus 24 Runden, die in drei Spielphasen aufgeteilt waren.

    Erste Spielphase

    In jeder Runde erhält jeder Teilnehmer 100 Punkte, das ist sein Einkommen. Dieses kann er mithilfe einer beliebigen Menge von Bestechungseinnahmen aufbessern. Dabei werden die Handlungen des Spielers mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit überwacht. Wird er geschnappt, muss er alle Bestechungspunkte zurückgeben und noch dazu 50 Strafpunkte zahlen.

    Die Mitglieder einer Gruppe können Geld in einen gemeinsamen Topf geben, quasi als kollektives Bestechungsgeld für den Vorgesetzten, der sie kontrolliert. Schaffen sie 500 Punkte zusammenzubringen, hört die Überwachung auf.

    Nach jeder Runde zählen die Teilnehmer, wie viel Geld sie bekommen und wie viel sie ausgegeben haben, dann treffen sie ihre Entscheidung für die nächste Runde.

    Damit wird modellhaft folgende Situation nachgestellt: Nehmen wir ein konkretes Polizeirevier. Die Offiziere der mittleren Ebene stehen vor einer schwierigen Wahl: Ihr Gehalt ist niedrig, es besteht jedoch die Möglichkeit, es durch Bestechungsgelder aufzubessern. Dabei besteht das Risiko, dass sie von ihren Vorgesetzten erwischt werden. Dieses Risiko kann man jedoch senken, wiederum mithilfe von Schmiergeldern: Für eine Belohnung verschließt der Vorgesetzte die Augen vor dem Vergehen des Untergebenen. Auf diese Weise entsteht ein Korruptionsnetz.

    Neuer Vorgesetzter

    In der zweiten Spielphase nach acht Runden werden die Regeln geändert: Nun kann der gemeinsame Topf plötzlich unkontrolliert verschwinden. Wenn dies geschieht, sind die Gelder der Teilnehmer verbrannt, ihre Bestechlichkeit wird nicht länger gedeckt.

    Im richtigen Leben sähe das so aus: Der Vorgesetzte wird durch einen Neuen ersetzt. Von ihm ist nicht bekannt, ob er Schmiergelder akzeptiert oder nicht. Wenn er ehrlich ist, hat die Existenz eines gemeinsamen Topfs keinen Sinn mehr. Schmiergeld nimmt der neue Vorgesetzte sowieso nicht und er hat auch nicht vor, die Vergehen seiner Untergebenen zu decken.

    Gehaltserhöhung

    In der dritten Runde steigt das Einkommen der Teilnehmer auf 300 Punkte, Schmiergeld nicht eingerechnet. Doch wenn man geschnappt wird, muss man alle Bestechungsgelder zurückzahlen, plus in dieser Runde 300 Punkte. Doch die Spieler wissen nicht, ob der Vorgesetzte bestechlich ist oder nicht, genau wie in der zweiten Spielphase.

    Tatsächlich wurde diese Methode – Gehaltserhöhung in Kombination mit drastischen Strafen – im Kampf gegen die Korruption in Georgien und vielen anderen Ländern angewandt.

    In einer solchen Situation sollte jemand, der kein Risiko will, besser kein Bestechungsgeld annehmen.

    Kultur zwingt Polizisten bestechlich zu bleiben

    Die Unterschiede zwischen den Studenten und den Polizisten wurden sofort offensichtlich. Die Wissenschaftler hatten die Regeln sachlich neutral erklärt. Den Studenten war bis zum Schluss nicht klar, dass es sich um eine Art Test auf Korruptionsanfälligkeit handelte. Den Polizisten hingegen war dies sofort klar, als sie die Spielregeln hörten.

    Die Studenten bevorzugten insgesamt wesentlich öfter ehrliches Verhalten, während die Polizisten in der Mehrheit der Fälle Korruptionsnetze aufbauten.

    Interessant war, dass die Polizisten in der ersten Spielphase weniger Bestechungsgelder nahmen, später dann die Zahl der Bestechungsfälle anstieg, obwohl sich Korruption wirtschaftlich immer weniger lohnte. Dies bestätigte, dass in Bezug auf Korruption folgendes Gesetz gilt: Je mehr Druck der Beamte ausgesetzt ist und je höher das Risiko, desto aktiver nimmt er Bestechungsgelder an. Mithilfe der Bestechungsgelder versucht er, die gestiegenen Risiken zu kompensieren. Faktisch bedeutet das, dass Antikorruptionskampagnen im Rahmen der geltenden Normen nicht funktionieren. Doch Kultur und Normen bei der Polizei ändern sich sehr langsam.

    Die Entscheidung, kein Schmiergeld mehr an die Vorgesetzten zu zahlen, trafen die Polizisten erst in der dritten Spielphase, und auch dann nicht in allen Fällen. Die Studenten versuchten insgesamt seltener, ihre Vorgesetzten zu bestechen. Solche Versuche hatte es vor allem in der ersten Spielphase gegeben, in der zweiten und dritten Phase nahmen sie ab.

    Die Strategie der Studenten war verständlich: Sie nahmen Bestechungsgelder während der ersten und zweiten Spielphase, als es sich lohnte, in der dritten Phase bevorzugten sie ehrliches Verhalten. Die Polizisten ließen sich dagegen eher von gewissen Normen und Prinzipien leiten, denen eine Korruptionskultur zugrunde liegt. De facto verhalten sich Polizisten solidarisch und wählen, ohne sich untereinander abzusprechen, die korruptionsträchtigsten Vorgehensweisen.

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    Kontakt der Zivilisationen

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Stalins Follower

    Stalins Follower

    Angeblich „immer mehr Russen befürworten die stalinistischen Repressionen“, so lautete die erstaunliche Botschaft im Kommentarverlauf zur jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Allerdings war das, offen gestanden, gar nicht direkt gefragt worden. Es würde ja wohl auch kaum einem Menschen klaren Verstandes und mit nur einem Fünkchen Gewissen in den Sinn kommen, sich mit jemand wie Pol Pot auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, in Anbetracht der Zahl seiner Opfer. Dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass immer mehr Russen dem geschichtsträchtigen Generalsekretär gegenüber positiv eingestellt sind.

    Sie sind bereit, ihm Denkmäler zu errichten, nach ihm benannte Museen zu gründen und seine strategischen Leistungen im Krieg zu preisen. Bisher sind diese seine Neu-Anhänger oder „Follower“ (das Wort fiel mir ein, nachdem ich den blutrünstigen Thriller The Following gesehen hatte, den ich nicht empfehle, der aber daran erinnert) Gott sei Dank noch nicht die Mehrheit. Sondern die Minderheit. Sie treten jedoch als eine gut organisierte und äußerst aktive, um nicht zu sagen erboste Gruppe auf. Was zumindest an der enormen Anzahl von Kommentaren zu sehen ist, die sie unter jedem Themen-Artikel hinterlassen.

    Mal schlagen sie dem Autor vor, er soll sich seine „Bürne anne Wand einhaun“, weil er sich gegen jegliche Diktatur ausspricht. Mal soll er sich in ohnmächtigem Zorn lieber gleich aufhängen, denn, so heißt es da, „bald benennen wir Wolgograd wieder in Stalingrad um“. Und dem mythischen Drachen namens Stalin raten sie, endlich aufzuräumen mit all den Betrügern und Bürokraten. Mit der Fünften Kolonne. Mit der Ukraine. Und auch gleich noch mit der jüdischen Mafia, das ist ja bei uns schon Tradition. Das darf nicht fehlen.

    Aber machen wir uns nichts vor: Gewiss hätte keiner der Follower seine eigenen Töchter und Söhne den treuen Mitstreitern Stalins – Jagoda, Jeshow und Berija – zum Fraß vorgeworfen. Ebenso unvorstellbar wäre für sie, dass die oben erwähnten Genossen, wenn sie sich, wie von den Followern unmissverständlichen erwünscht, materialisierten, nachts bei ihnen in der Wohnung auftauchen und klären würden, was da so läuft, wie es in den unvergesslichen 1930ern geschah. Nicht den realen Stalin beten sie an – den kleingewachsenen, nicht akzentfrei russischsprechenden Georgier mit der verkümmerten Hand –, sondern den anderen, den aus dem Kino, den klugen, im weißen Dienstrock, der wortgewandt jeden beliebigen Intelligenzling am Telefon zu Tode erschrecken konnte: „Auf der Sssscchhtelle wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen.“ Ich gebe zu, auch ich liebe dieses Motiv, von dem sich unsere Generation garantiert niemals befreien können wird.

    Nehmen wir zum Beispiel den berühmten antisowjetischen englischsprachigen Film Der rote Monarch (Red Monarch, 1983). Ach, was war das für ein toller Stalin, ein rechter Schelm in einer echten Schelmenposse. Wie er da ärgerlich die Porträtbüste Lenins anschaut, der ihm selbst nach dem Tod noch die Liebe des Volkes wegfrisst.

    Sieht ihm das ähnlich? Klar. Ist das lustig? Klar.

    Oder der Stalin in Wassili Aksjonows Roman Moskwa-kwa-kwa, seinem besten, wie ich finde. Folgende Szene: Winter, Schneegestöber, der protzige Schriftsteller Smeltschakow, der in dem berühmten Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße in Moskau wohnt, trinkt armenischen Kognak der Marke Ararat und stößt übers Telefon mit Genossen Stalin persönlich an. „Ararat ist Scheiße“, sagt ihm sein nächtlicher Trinkgenosse Stalin. „In einer halben Stunde bekommst du eine Kiste Gremi. Trink meinetwegen solange noch deinen scheiß Ararat, dann machst du weiter mit Gremi.“ Und dann plaudern sie über den „Bluthund Tito“.

    Auch hier naive Malerei: der Traum der sowjetischen Elite vom intimen Verhältnis zur Macht. Und Aksjonow kann man nun wahrlich nicht als Stalinisten bezeichnen, sein Vater und seine Mutter wurden 1937 verhaftet, er verbrachte seine Kindheit im Heim. Nach 18 Jahren Lagerhaft (!) schreibt seine Mutter, Jewgenija Ginsburg, ihre Memoiren Krutoj marschrut (deutsch: Marschroute eines Lebens und Gratwanderung). Doch Stalin hatte sich ins Hirn eingebrannt, einerseits als Alptraum, andererseits als Märchenfigur. Und falls es einen gegeben hätte, so hätte er sehr gut einen wunderbaren Prototyp für Voland abgeben.

    Ja, diese Sichtweise gibt es. Ich unterstütze sie selbstverständlich nicht, denn ich empfinde diese Deutung als sehr platt. Aber wenn man sich Stalin als das personifizierte Schicksal der russischen Geschichte vorstellt, das das Gute nicht kennt, aber manchmal gerechten Einfluss ausübt (mit der Erschießung der großen Mehrheit von Dämonen der Revolution, der Mitläufer und Speichellecker), dann passt das Bild von Voland!

    Mit anderen Worten, Stalin ist mit uns. Er ist unser ein und alles. Und soll auch gefälligst mit uns verschwinden. Aber ihn in die Zukunft mitzuziehen, zu unseren Kindern, in Form von Denkmälern und einer Zurschaustellung irrationaler Liebe zur Gewalt – was könnte sinnloser und schlimmer sein? Was wollen sie denn damit sagen? Dass sie ihm furchtbar dankbar sind? Wofür? Wer durch die Hölle gegangen ist, der ist nicht dankbar. Die Opfer des Holodomor sind nicht dankbar. Nicht dankbar sind auch die „Millionen Opfer der Willkür des totalitären Staates“ – das ist nicht meine Formulierung, sondern ein Zitat aus dem Gesetz Nr. 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Die verbannten Kulaken (heute würden wir sie Landwirte nennen) sind nicht dankbar. Auch nicht die Bauern, die ihr gesamtes Leben in äußerster Armut und ohne Pässe verbrachten. Und wer nicht durch die Hölle gegangen ist, der wird wohl kaum was verstehen. Für ihn ist es ein historischer Holzschnitt.

    Oder gefällt ihnen die Gegenwart so sehr, dass sie bereit sind, sich vor den längst verwesenen Führern zu verbeugen, die sie hierher gebracht haben? Das kann ich nicht glauben. Denn sonst würden sie dem Autor nicht vorschlagen, sich seine „Bürne anne Wand einzuhaun“. Nicht gegen die Ukraine kämpfen, einen der wichtigsten Teile der UdSSR. Und würden nicht das Beil gegen die Oligarchen schwingen. Unsere Gegenwart ist auch für Stalins Follower kein Zuckerschlecken.

    Wesentlich ist etwas anderes. Worin genau sind sie sich einig, wenn sie über Stalin diskutieren? Darin, dass es Ideen gibt, für die es sich lohnt, Millionen umzubringen, damit andere Millionen überleben und sich freuen? Oder darin, dass es eine „Gerechtigkeit“ eines Herrschers gibt, die höher steht als die Wahrheit, höher als die Humanität, höher als Gesetze und höher als jedes Gericht? Dass das Bespitzeln von Mitmenschen bis hin zur Denunziation und zum Abtransport in die Folterkammer normale Praxis ist und eine normale Moral?

    Ich weiß es nicht. Da setzt sich dieser durchgeknallte Enkel Jewgeni Dschugaschwili hin und schreibt Klagen. Auf formaler Grundlage: Schau mal, in Nürnberg wurde die Erschießung von Zehntausenden polnischer Offiziere in Katyn nicht [als sowjetisches Verbrechen] verurteilt. Folglich sind alle, die dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten und als persönliches Verbrechen Stalins, ohne dessen Sanktionen so etwas nicht möglich gewesen wäre, selbst Verbrecher laut Artikel 354.1 (Rehabilitierung des Nazifaschismus), Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Und haben so zwei, drei Jährchen verdient …

    Er schwärzte den Historiker Feldman an. Dann den Historiker Zharkow. Er tippt und tippt. Die Verbrecher sind seiner Meinung nach nicht diejenigen, die Zehntausende ohne Gerichtsverhandlung und ohne Untersuchung erschossen. Auch nicht unsere Zeitgenossen, die dies für richtig halten, für gerechtfertigt oder als nie dagewesen, nie passiert abtun usw. Sondern die Historiker, die Publizisten, die gelegentlich daran erinnern … Erstaunlich!

    Obwohl, eigentlich sollten wir Dschugaschwili dem Jüngeren dankbar sein. Dafür, dass er, selbst ein Follower, ja geradezu die Quintessenz der Followerschaft, den anderen Followern eine klare Perspektive für ihren Neostalinismus aufgezeigt hat. Und sie auch uns anderen gezeigt hat. Ohne eine deutliche juristische und moralische Bewertung („Jetzt entscheidet euch doch endlich, habt euch nicht so, dann seid ihr mich auch wieder los!“) unserer politischen Vergangenheit haben wir keine Chance, in die Zukunft zu gehen.

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    Der russische Frühling

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Produktion von Ungerechtigkeit

  • Mine im Livekanal

    Mine im Livekanal

    Im Petersburger Holiday Inn soll eine Diskussionsveranstaltung beginnen: Michail Chodorkowski, nach Begnadigung und Entlassung aus der Haft inzwischen im Ausland lebend, wird über Video in den Saal geschaltet. Kaum sind die ersten Worte gesprochen, ertönt auch schon ein Alarm und der Saal wird geräumt. Die meisten Besucher sind mit solchen Vorkommnissen bereits vertraut. Der Journalist Ilja Milschtein kommentiert.

    Das Gebäude ist vermint. In dem verminten Gebäude sind Strom und Internetverbindung gekappt. Wieder eine Bombe, wieder eine Evakuierung. Menschen werden aus dem Saal geführt, Menschen leisten Widerstand. Vor den Fenstern heult eine Sirene.

    Die gestrigen Nachrichten aus dem Petersburger Hotel Holiday Inn Moskowskije Worota stifteten als Genre-Chaos ordentlich Verwirrung: War es eine Übung, wie damals in Rjasan, war es eine Geiselnahme, nur dass die Terroristen irgendwie unentschlossen und sonderbar gekleidet waren – in Polizeiuniform? Es gab aber keinen Anlass, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wie soll man sagen: Die Videoschaltung zwischen russischen Bürgern und Michail Chodorkowski fand nun einmal während einer Art Anti-Terror-Operation statt. War ja nicht das erste Mal, etwas Ähnliches war schon einmal vorgekommen. Mit Stromausfall und unterbrochenem Internet. Man sollte sich wohl einfach daran gewöhnen. Genau das ist jedoch schwierig. Zum einen, weil es schwierig ist, mit jemandem zu sprechen, wenn überall Fremde herumrennen und ihn beim Reden stören: Das spürt man, selbst wenn man nicht im Raum ist. Zum anderen ist unklar, was das alles soll. Wenn die Aufgabe darin bestand, das Treffen von Chodorkowski mit seinen Zuhörern in Russland platzen zu lassen, dann wurde die Aufgabe nicht erfüllt. Wenn man die Absicht hatte, die obersten Chefs als trostlose Deppen zu präsentieren, dann kann man den anonymen Drehbuchautoren gratulieren. Aber war das der Sinn? Es bleibt ein rätselhafter Spuk.

    Eine Erklärung ist, dass der ehemalige politische Gefangene Chodorkowski im Kreml gefürchtet ist. So sehr gefürchtet, dass die Kremlherren schon allein beim Gedanken, dass er frei vor Publikum auftreten könnte, ganz blöde werden, und das mündet dann in ein solch herzzerreißendes Spektakel: Auf der Bühne eines verminten Saals, in dem unbehelligt Polizisten, Journalisten, Abgeordnete und normale Bürger herumspazieren, hängt ein Bildschirm, aus dem Chodorkowski zu hören ist.

    Aber weshalb hat Wladimir Wladimirowitsch Putin Angst vor Michail Borissowitsch Chodorkowski? Laut allen Beliebtheitsumfragen liegen die Werte des nationalen Führers astronomisch hoch, Chodorkowski aber rangiert unter ferner liefen. Die Landsleute interessieren sich zwar nach wie vor für den ehemaligen YUKOS-Chef, mehr aber auch nicht. Und mit seinen bei dem Auftritt kundgetanen strategischen Gedanken zum Wahlkampf wird er es wohl kaum schaffen, die Grundpfeiler des Putin-Regimes ins Wanken zu bringen. Das teilte Chdorkowski dem verminten Publikum im Grunde auch mit, als er äußerte, die Machthaber würden die Wahlen vollständig kontrollieren und unerwünschten Kandidaten den Zugang verwehren.

    Es gibt auch die Erklärung, dass die Machthaber Chodorkowski nicht fürchten, sondern schlicht hassen. Und eine solche Abneigung gegen den Betroffenen hegen, dass ihnen der Appetit vergeht und sie jeden seiner Auftritte vor russischem Publikum als persönliche Beleidigung empfinden. Und wenn Wladimir Wladimirowitsch Putin erfährt, dass Michail Borisowitsch Chodorkowski schon wieder plant, vor russischem Publikum aufzutreten, dann gehen die Mitarbeiter des Innenministeriums automatisch in Alarmbereitschaft und die besten Mineure des Landes, Seite an Seite mit Elektrikern und, wie heißen sie noch, Providern, entschärfen rasch die Bombe, den Strom, das Internet und den Feind.

    Aber man hasst ja im Kreml momentan ausnahmslos alle: von Obama bis zu den kleinsten Banderowzy in der Ukraine. Es ist also vollkommen unverständlich, weshalb ausgerechnet Chodorkowski eine solche Ehre erwiesen wird. Außerdem ist er bei weitem nicht der radikalste Regimegegner, und wenn es um kalte Rache ginge, hätte Putin dann nicht an Chodorkowskis zehn Jahren in fernen Lagern sein Mütchen kühlen können? Wenn Wladimir Wladimirowitsch Michail Borisowitsch tatsächlich so sehr hassen würde, wie man es immer wieder hört, dann hätte kein Genscher dem Gefangenen helfen können und wir würden heute totgelangweilt den zäh verlaufenden dritten YUKOS-Prozess verfolgen.

    Also, worum geht es? Wahrscheinlich könnte man die Situation viel einfacher und mit weitaus schwächeren Emotionen als Angst und Hass beschreiben. Beispielsweise mit dem Bestreben, Chodorkowski und seinen Mitstreitern, die die Führungsriege heftig ärgern, einfach ordentlich in die Suppe zu spucken. Tja, solcher Sadismus zeigt sich nicht nur in den Beziehungen des Kremls zu Chodorkowski. Er zeigt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen.

    Nehmen wir die „zivilgesellschaftliche“ Eigeninitiative eines Dimitri Enteo, der Plakate auf Ausstellungen oder Rock-Konzerten zerreißt, oder eines Witali Milonow mit seinen orthodoxen Aktivisten, die überall dort provozieren, wo sie Schwule und Lesben wittern. Es kommt auch vor, dass die Leute des Landesherren, eben jene Policemen, eine Liveschaltung mit Kiew kappen – wobei völlig klar ist, dass die Moskauer Teilnehmer dieser Liveschaltung weder tierische Angst noch bodenlosen Hass bei den Machthabern auslösen. Aber ihnen den Abend zu verderben, die Liveschaltung abstürzen zu lassen, die Zuschauer in einen Polizeitransporter zu sperren, die eigene Allmacht zu genießen und den anderen in die Suppe und auf das Gesetz zu spucken – das ist doch ganz angenehm, geben Sie’s zu. Es ist eine Winzigkeit, aber sie kitzelt sanft die Herzen der Mächtigen im Land, die von den tagtäglichen Sanktionen und heiligen Siegen ganz erschöpft sind.

    Daher kommt der ganze Spuk – vom Wort spucken.

    Kurz, es muss äußerst gute Gründe für solche Aktionen geben, wenn die Machthaber sogar riskieren, wie komplette Idioten dazustehen, und diese Gründe gibt es. Keine großartigen, aber jedem verständliche, der die Regierung über die letzten anderthalb Jahrzehnte beobachtet hat: Eben jenen Wunsch, jeden, der nicht einverstanden ist, mit einer Sirene auszuschalten, jegliches andere Gedankengut niederzutrampeln und jede Ansammlung von Menschen, die einem Dissidenten zuhören wollen, aufzulösen – der Wunsch ist klar und übermächtig. In gewisser Weise sogar rührend, wenn auch ermüdend. Denn Bürger, die nicht einverstanden sind, gibt es immer noch ziemlich viele und auf alle muss man aufpassen, indem man ihnen irgendeine Fiesheit serviert.

    Eine Tretmine unterjubelt, bildhaft gesprochen. Sie zum Verhör bestellt, und dann sollen sie mal, während sie gemütlich russische Bücher lesen, grübeln, was sie vor den Steuerbehörden verheimlicht haben. Das sind kleine Schweinereien, im Grunde unbedeutend im Hinblick auf die Interessen einer Atommacht, aber sie wärmen die Seele. Die kalte, man kann ruhig sagen, eingefrorene Seele des Herrschers und seiner treuen – unverfrorenen – Diener. Wie dem auch sei, es ist ihnen ein Vergnügen und davon haben sie momentan nicht viele.

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  • „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    Seit inzwischen vier Monaten stehen in Moskau vier Basejumper unter Hausarrest. Sie waren am 20. August [2014 – dekoder] auf einen der Türme des Hochhauses am Kotelnitscheskaja-Ufer geklettert und von dort mit ihren Gleitschirmen abgesprungen. Am gleichen Tag – jedoch auf einem anderen Turm des gleichen Gebäudes – hat jemand den weithin sichtbaren Sowjetstern auf der Spitze des Turmaufbaus in den Farben der Ukrainischen Landesflagge angestrichen: gelb und blau. Dies führte zu einem gehörigen Skandal.

     

    Kaum waren die Basejumper in der Nähe des Gebäudes gelandet, wurden sie umgehend festgenommen. Binnen kürzester Zeit jedoch stellte sich heraus, dass nicht sie für die provokative Stern-Aktion verantwortlich waren, sondern ein ganz anderer Extremsportler: Ein ukrainischer Hochhauskletterer mit dem Spitznamen „Mustang“. Er veröffentlichte auf seiner facebook-Seite Fotos von seinem Kletterausflug, komplett mit Bildern, die ihn mit Pinsel und Farbeimer in der Hand zeigen. Zugleich entlastete er ausdrücklich die vier russischen Basejumper, von deren Anwesenheit auf dem Nebendach er überhaupt nichts mitbekommen hatte. Auch keines der bei Gericht angefertigten Gutachten hat irgendwelche Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Russen am Vorfall mit dem Stern liefern können. Dennoch wurde die Anklage gegen die Basejumper nicht fallengelassen. 
    Und so warten die vier jungen Leute – Anna Lepeschkina, Alexej Schirokoshuchov, Alexander Pogrebow und Jewgenija Korotkowa – weiterhin auf ihre Verhandlung. Aufgrund der vom Gericht verfügten Einschränkungen können sie mit niemand kommunizieren ausser mit ihren Anwälten und den engsten Familienmitgliedern. Sie dürfen weder Internet noch Telefon benutzen, sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten, zu studieren oder Sport zu treiben. Wie lange der Arrest sich noch hinziehen wird, weiss niemand. Am 17. November 2014 ist er um zwei Monate verlängert worden. So hat sich aufgrund eines zufälligen Zusammentreffens in schwindelnder Höhe das Leben der vier Sportler und ihrer Familien von einem Moment auf den anderen vollkommen verändert. Darüber, wie es sich anfühlt, wenn ein Familienmitglied zum Beschuldigten in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Verfahren wird, befragten wir den Vater des Basejumpers Alexej Schirokoshuchov.

    Fotos von Georgij Sultanow / Yod
    Fotos von Georgij Sultanow / Yod


     
    Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb ihr Sohn immer noch unter Hausarrest steht?


    Ich habe einige Bekannte im Polizei- und Justizsystem. Nach Alexejs Festnahme habe ich sie um ihren Rat gebeten. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass der Ausgang des Verfahrens „ganz oben“ entschieden wird. Vor einigen Jahren hätte man eine solche Sache noch mit Geld oder einer anderen Gefälligkeit lösen können … Aber heute, wenn es eine Anweisung von oben gibt, hilft weder Geld noch das Gesetz. Man bekommt einen Menschen aus diesem Räderwerk nicht so einfach wieder heraus. Selbst dann nicht, wenn er vollkommen unschuldig ist. Der Kommissar, der das Verfahren leitet, hat es genau so auch Alexej gesagt: „Ich weiss ja, dass nicht du es warst, der den Stern angestrichen hat. Aber ich kann nicht zulassen, dass das Verfahren eingestellt wird.“ 
    Der Kommissar ist auf unserer Seite, ein sehr netter und gutwilliger Mensch, aber er hat eine Aufgabe bekommen, und er führt sie aus. Genauer, er kann sie eben nicht ausführen, denn das Verfahren gegen die Jumper löst sich sowieso vor aller Augen in Luft auf, es gibt ja keinerlei Indizien gegen Alexej. Deshalb wird dem Kommissar, wie er hat durchblicken lassen, wohl auch bald nichts anderes übrig bleiben als zu kündigen, beziehungsweise ihm wird gekündigt werden. Die Anwälte, die sich um Alexej und die anderen kümmern, haben ihm neulich schon tröstend auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, sie könnten ihm dann vielleicht einen neuen Job bei einer Bürgerrechts-Organisation vermitteln. Mir tut dieser Kommissar leid – er ist eigentlich ein guter Kerl. Aber er arbeitet eben für das System, und zugleich ist er selbst dessen Opfer. Meistens sind die Leute von der Polizei und den anderen Staatsorganen ganz sympathisch, wenn man von Mensch zu Mensch mit ihnen redet. Aber im Dienst verwandeln sie sich in Wölfe. Als sie unsere Kinder festgenommen haben, gab es gleich ein sehr starkes Pressing. Im Revier wurde ihnen die Oberbekleidung weggenommen, sie haben kein Wasser bekommen, ihnen wurde nicht erlaubt, die Eltern anzurufen. Statt dessen hieß es: „Wir organisieren jetzt erst einmal die nötigen Indizien für euch.“ Klar, was damit gemeint war. Die Vernehmungsbeamten haben auch versucht, unsere Kinder untereinander in Streit zu bringen, damit sie gegeneinander aussagen. Erst nachdem Mustang, der ukrainische Kletterer, öffentlich bestätigt hat, dass er unsere Kinder gar nicht kennt, haben sie mit dem Pressing aufgehört.


    Was haben Sie nach Alexejs Festnahme als erstes getan?


    Ich habe von der Verhaftung meines Sohnes überhaupt erst aus dem Radio erfahren. Und davon, dass es einen Gerichtsprozess geben soll, auch nur von einem Mitarbeiter des FSB, der zusammen mit Alexej Basejumping macht. Weil Hausarrest nur an der offiziellen Meldeadresse möglich ist, wohnt Alexej derzeit in unserer alten Wohnung, die wir schon längst an jemand anders vermietet hatten. Diese Mieter haben wir, gleich als wir von dem Verfahren erfahren haben, bitten müssen, unverzüglich auszuziehen. Ja, man kann schon sagen: Wir haben sie vor die Tür gesetzt. Das ist nicht schön, natürlich, aber in solch einer Lage denkst du nur an eins: Wie kannst du es schaffen, dass dein Sohn nicht im Gefängnis landet? Wir haben den Leuten als Ausweichmöglichkeit sogar unsere eigene Wohnung angeboten, aber sie sind dann doch zu Bekannten umgezogen. 
    Jetzt sitzt Alexej den lieben langen Tag allein in seinen vier Wänden. Er hat mit niemandem Kontakt ausser mit den engsten Familienmitgliedern, seinem Anwalt, dem Ermittlungsbeamten und den Mitarbeitern des Strafvollzugs. Ich muss sagen, ich war seelisch darauf vorbereitet, dass seine Basejumping-Leidenschaft schlecht ausgehen könnte. Wir leben ja schon lange in dauernder Angst um Alexej. Ich habe ihm oft gesagt: „Eines Tages wird dich nach einem Sprung noch der Leichenwagen einsammeln, oder du sitzt im Rollstuhl, oder es geschieht irgendetwas Drittes – ich weiss nicht, was, aber etwas Schlechtes.“ Und so ist es gekommen.



    Erzählen Sie doch einmal, wie Alexej unter den Bedingungen des Hausarrestes lebt.


    Ich haben meinem Sohn eine gute Nähmaschine gekauft. Alexej näht ganze Tage lang Fallschirme und Gleitschirme, danach übergebe ich diese Erzeugnisse unseres „Häftlings“ an seine Freunde in der Freiheit. Alexej freut sich, wenn er hört, dass sein Material im Einsatz war. Er beklagt sich eigentlich nie – er ist sowieso eher ein verschlossener und schweigsamer Mensch. Aber ich sehe: Es geht ihm schlecht. Für Bücher oder Filme hat er nie eine besondere Leidenschaft gehabt, aber ohne Basejumping und seine Freunde kann er nicht leben. Einmal ist er nach einem Sprung schlecht gelandet, er hatte an beiden Füßen offene Brüche. Man konnte da von aussen bis auf den Knochen sehen. Ich dachte, nach solch einem Unfall hört er auf zu springen. Aber kaum konnte er wieder einigermaßen laufen, hat er weitergemacht. Alexej ist schon immer so gewesen. Er braucht zum Leben das ständige Adrenalin. Wenn er sich nicht bewegt und nicht an der frischen Luft ist, bekommt er Depressionen. 
    Es gibt eigentlich nur ein Gutes an dieser Situation – unsere Familie ist sehr zusammengerückt. Mein Sohn und ich haben uns schon lange nicht so häufig gesehen und so viel miteinander unterhalten wie jetzt. Der Arrest hat unsere Familie zusammengeschweisst. Das letzte Mal waren wir so eng verbunden nach der Geburt unserer jüngsten Tochter. Neujahr werden wir mit der ganzen Familie in der Wohnung feiern, in der Alexej jetzt lebt.


    Seit der Festnahme ihres Sohnes haben Sie viel mit der Polizei, den Gerichten, dem Strafvollzug zu tun, und Sie waren bei den Gerichtsverfahren anwesend. Hat das Ihre Einstellung zum Staat in irgendeiner Weise verändert?


    Ich habe mich schon früher immer bemüht, mich so weit wie möglich von unseren Staatsstrukturen fernzuhalten. Ich habe mich politisch nie besonders engagiert. Berufsmäßig bin ich selbständig, ich bin viel herumgereist. Ich würde mich zur Mittelklasse zählen, wenn sie, natürlich, als solche bei uns existiert. Ich habe vier Kinder: Die beiden älteren Mädchen leben ständig in Europa. Bezüglich des russischen Rechtssystems und der Willkür bei den Gerichten habe ich mir niemals irgendwelche Illusionen gemacht. Meine Hoffnung war, dass nie jemand von uns mit unserer Polizei oder unseren Gerichten überhaupt etwas zu tun haben muss.


     
    Wieviel Geld haben sie ausgegeben, um ihrem Sohn zu helfen?


    Die Hauptausgaben waren die für den Anwalt. Er wurde uns vom Vorsitzenden der Bürgerrechtsorganisation „Agora“, Pawel Tschikow, vermittelt. Ich war schon vorher ihm über Twitter verlinkt. Den ersten Anwalt, den Tschikow uns vorgeschlagen hat, haben wir abgelehnt: Er hatte vorher eine bekannte Regimegegnerin verteidigt, und wir konnten keinen Anwalt gebrauchen, der überall schon gleich in die Schublade eines Oppositionellen gesteckt wird. Unsere Kinder sind keine Oppositionellen, sie sind Extremsportler. Sie mischen sich nicht in die Politik ein, sie leben für ihre eigenen Interessen, in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten. Und sie haben ein sehr gutes Verhältnis untereinander: Die anderen Basejumper aus dem Freundeskreis von Alexej haben mir zum Beispiel geholfen, Geld für seinen Verteidiger zusammenzubringen. Für die Dienste des Anwalts haben wir ungefähr 300.000 Rubel [damals etwa 8000 Euro] ausgegeben. Das ist für uns nicht übermäßig viel Geld. Wir haben alle feste Arbeit, und Alexej selbst hat auch viel gearbeitet vor seiner Festnahme. Er ist Ingenieur in einer Baufirma, ein Spezialist für Bauwerksplanung. Sein Arbeitgeber hält große Stücke auf ihn. Deshalb entlässt er ihn jetzt auch nicht. Er hält die Stelle frei, bis Alexej wieder zur Arbeit zurückkehren kann. 
     

    Was werden Sie machen, wenn die Basejumper zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden?


    Nun, ich werde wohl keine Meetings und Mahnwachen zur Verteidigung meines Sohns organisieren. Dabei – auch mich haben die Wahlfälschungen bei der Dumawahl von 2011 empört und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Mitglieder von Pussy Riot nicht im Gefängnis sitzen sollten. Aber der Großteil der russischen Bevölkerung steht eben auf der Seite von Putin. In ihren Augen sind die Mitglieder und Sympathisanten der Protestbewegung nichts als Vaterlandsverräter, die Fünfte Kolonne oder einfach Verrückte. Ich will nicht, dass landesweit Fernsehsendungen ausgestrahlt werden, die mich mit einem Protestplakat in der Hand zeigen. Sollte der Prozess tatsächlich nach dem schlimmsten Szenario ablaufen, werde ich versuchen, die Frage auf juristischer Ebene zu entscheiden und Briefe an die verschiedensten Instanzen schreiben. Putin habe ich früher schon einmal geschrieben.


    Wie kam es denn dazu?


    Vor einiger Zeit bekam ich ständig Anrufe von einer Bank mit der Forderung, einen Kredit abzubezahlen. Die Sache ist, dass ich diesen Kredit überhaupt niemals aufgenommen hatte. Es war eine Art Erpressung. Alle meine Beschwerden über die Bankmitarbeiter blieben wirkungslos, die Belästigungen gingen einfach weiter. Und da habe ich eine Beschwerde an Putin geschrieben. Nach einiger Zeit kam auch tatsächlich eine Antwort. Man schrieb mir zurück, dass meine Beschwerde an die Bezirksstaatsanwaltschaft weitergeleitet worden sei – und die Anrufe hörten auf. Ich vermute, dass, wenn ein Brief an Putin geschrieben wird, die Präsidialverwaltung verpflichtet ist, mit ihm auch irgendetwas zu tun – man muss ja einen Bericht vorlegen können über die durchgeführten Maßnahmen. Wenigstens lesen müssen sie ihn ja. Auf wen kann man denn sonst noch hoffen?

    Auf die Presse, die Blogger, die öffentliche Meinung?

    Die Journalisten haben sich zu Anfang aktiv für uns interessiert, als unsere Kinder gerade festgenommen worden waren. Vor unserem Haus stand rund um die Uhr ein Wagen des Fernsehsenders NTW. Ein Freund von mir, der bei NTW arbeitet, hat mich aber gleich gewarnt, dass man diesem Sender besser keine Interviews geben sollte. Das Interesse der Journalisten liess dann schlagartig nach, als klar wurde, dass unsere Kinder mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten. 


    Dass sie unschuldig ein halbes Jahr unter Arrest zubringen müssen, ist also nicht interessant?


    Nein, inzwischen hat der Journalismus uns vergessen, die ganze Angelegenheit ist aus den Medien verschwunden.


    Gib es etwas, woraus Sie derzeit so etwas wie moralische Unterstützung beziehen?


    Ein wenig beruhigt mich der Gedanke, dass der Staatsanwalt und der Richter eines Tages auf langsamem Feuer in der Hölle köcheln werden. Aber im Ernst: Dass sie unsere Jungs und Mädchen immer noch nicht freigelassen haben, ist ohne Zweifel eine Ungerechtigkeit. Aber das Leben in unserem Land ist überhaupt ungerecht, und nicht nur in unserem Land. Ich habe mich daran gewöhnt und mache mir keine unnötigen Hoffnungen. Dennoch lässt mir natürlich die Frage keine Ruhe, wie es mit Alexej und den anderen weiter gehen soll. Allen ist inzwischen klar, dass die Basejumper an dem Tag nur zufällig auf dem gleichen Gebäude waren, und auch die Gerichtsexperten haben ihre Schuld in keiner Weise bestätigt. Aber sie werden nicht freigelassen. Statt dessen wird der Hausarrest wieder und wieder verlängert. Alle unsere Vorschläge, den Arrest in einen Freigang zu verwandeln, dass Alexej und die anderen sich also per Unterschrift verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen, sind abgelehnt worden. Das Gericht sagt, es bestehe die Vermutung, dass sie dann weiter „gesetzwidrigen Aktivitäten nachgehen“ werden. Dabei ist keiner von ihnen in irgendeiner Weise zuvor auffällig geworden oder gar vorbestraft. Sie arbeiten alle oder studieren. Sie waren einfach nur durch Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber der Prozess geht weiter, und ein Ende ist derzeit absolut nicht abzusehen … 


    Am 10. September 2015 sind alle vier Basejumper vom Tagansker Bezirksgericht in Moskau freigesprochen worden, nachdem sie über ein Jahr unter Hausarrest zugebracht haben. Mediazona hat eine online-Reportage aus dem Gerichtssaal (auf Russisch). Die Anwälte der Angeklagten gehen allerdings davon aus, dass gegen den Freispruch von Seiten der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt wird. [dek]

    update: Auf jetzt.de gibt es eine großartige Geschichte über hardcore-Skater, die mit den Basejumpern befreundet sind. Die Skater berichten dort auch vom Schicksal ihrer gleitschirmspringenden Freunde, wie es der Vater von Alexej in diesem Interview schildert.

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