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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Symbolischer Wohlstand

    Symbolischer Wohlstand

    Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.

    Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.

    Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.

    Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.

    Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).

    Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht  zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.

    Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.

    Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.

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  • Die Kirschhölle

    Die Kirschhölle

    Über hundert Jahre ist es her, da erzählte uns Anton Tschechow vom Ende des malerischen Lebens der Wohlhabenden und Gebildeten auf dem Lande, vom Ende des Kirschgartens, vom Ende der Unschuld. Über ein altes Herrenhaus ohne Kanalisation und Warmwasser und seine Bewohner berichten Andrej Urodow (Text) und Arthur Bondar (Fotos). Eine Reportage aus einer Welt, in der die Kirschgärten noch stehen, die alten Gärtner jedoch verschwunden sind.

    Ins Dorf Koltyschewo fährt nur ein einziger Bus, die Nummer 21. In Koltyschewo gibt es keine Straßen, nur Hausnummern. Das Haus Nummer 1 wird hier Herrenhaus genannt. Es ist ein altes Gutshaus, erbaut vor über zweihundert Jahren. Niemand weiß genau, wie alt es ist, selbst im Hausbuch steht „Baujahr unbekannt“. Nach der Revolution baute man die herrschaftliche Villa zu einem Mehrfamilienhaus um, und in den folgenden hundert Jahren ließ man es langsam, aber sicher verrotten. Aus der aristokratischen Vergangenheit ist noch die Lindenallee übrig, die mittlerweile zu Baracken führt.

    Fotos © Arthur Bondar
    Fotos © Arthur Bondar

    Im ersten Stock des Herrenhauses wohnt heute die Familie von Tatjana Iwanowa, einer Packerin 4. Ranges. In der einen Wohnung leben sie und ihre Kinder und Enkel, in der anderen ihre Mutter und ihr Bruder. Sie ist in den siebziger Jahren, noch als Kind, hergezogen und erinnert sich an die Erzählungen der Alteingesessenen.

    Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen

    „Als wir kamen, wohnten hier nur alte Mütterchen. Sie hatten schon viele Jahre auf dem Buckel und hatten noch bei unserem Gutsbesitzer Popow gearbeitet. Sie erzählten, dass es an der Kamenka früher einen Hühnerstall gegeben hatte, an der heutigen Bushaltestelle eine Nagelfabrik und beim Haus hinter den Linden große Pferdeställe. Davon ist heute nichts mehr übrig. Auf der anderen Seite der Straße, wo die Einfamilienhäuser stehen, wuchsen ringsum Birken, dort war ein Teich, an den erinnere ich mich noch aus den 1970er Jahren. Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen. All die alten Mütterchen lobten ihn in den höchsten Tönen. Sie erzählten, dass er seinen Arbeitern das Essen dreimal täglich direkt auf das Feld brachte.

    Es heißt, in der Tretjakow-Galerie hängt ein kleines Gemälde unseres Gutshauses, das Werk eines unbekannten Künstlers – da hatte unser Haus noch große Balkone und Stuck an der Fassade. Jetzt kann man das von unserem Haus wirklich nicht mehr behaupten. Ein paarmal sind Nachfahren der Gutsbesitzer gekommen – die alten Mütterchen haben sie noch durch das Dorf geführt, es ist lange her. Ein Neffe Popows kam eigens aus Paris angereist. Sie glaubten, man würde sich hier vor ihnen verneigen wie im Ausland ‚Bitte nehmen Sie es, es ist ja Ihres‘, stattdessen hieß es aber: ‚Bitte kaufen Sie es, es ist ja Ihres‘.“

    Vom Adelsnest ist fast nichts mehr übrig. Neben den Holzschuppen und dem neuen Spielplatz, der schon seit vier Jahren auf Sand wartet, steht ein Sockel. Darauf stand früher ein Denkmal – ein kleiner Engel. Hier wurde der jüngste, in früher Kindheit verstorbene Sohn des Gutsbesitzers Popow begraben. Daneben soll, so die Hausbewohner, auch der zweite Sohn Popows liegen, ein im Ersten Weltkrieg umgekommener Testpilot. Es gibt jedenfalls zwei kleine Hügel vor dem Denkmal. Die Skulptur verschwand vom Sockel, als ein Dorfbewohner nachzusehen beschloss, ob darin Schätze versteckt waren. Einen Meter vom Denkmal entfernt liegt ein betrunkener Mann in Tarnhosen. „Das kam zu Popows Zeiten wohl nicht vor“, denke ich und mache sorgfältig einen Bogen um den schlafenden Dorfbewohner.

    Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal

    Am Hauseingang treffe ich eine alte Frau, streng wirkt sie: Polina Pawlowna, Tatjanas Mutter. In den Händen hält sie ein kleines Einkaufsnetz und zwei dünne Stöcke, mit deren Hilfe sie zum Laden und zurück geht. Sie ist 82 Jahre alt und lebt im ersten Stock. Mit jedem Tag wird es schwieriger, die steile Treppe hochzugehen. Im Hof steht ihr großer Sessel, auf dem sie sich nach dem Einkaufen ausruht. Als sie sitzt, taut Polina Pawlowna sichtlich auf: Zuerst erscheint ein Lächeln, dann beginnt sie zu reden. Ihre Stimme ist sehr leise, ich muss mich neben sie auf die Erde setzen, um alles zu verstehen.

    „Eine gute Gegend ist das hier. Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Weiter hinten wird es sumpfig. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal. Ich selbst bin in Odessa geboren, aber ich scheue die Sonne. Kälte, Regen halte ich aus, aber die Sonne – wenn sie sich zeigt, fühle ich mich sofort unwohl. Mit meinem Mann bin ich seit 56 Jahren zusammen, früher sind wir hier überall herumgestreift. Er ist Invalide, beide Beine amputiert, er wohnt in einem Holzhaus hier in der Nachbarschaft. Dort hat er es einfacher. Und ich wohne mit der Familie im Herrenhaus.“

    Sobald sie sich im Schatten ein wenig von der verhassten Sonne erholt hat, gibt sich Polina Pawlowna ihren Erinnerungen hin:

    „Das Sterben macht mir keine Angst. Ich habe im Norden, in Uchta, als Aufseherin gearbeitet. Es war kein Umerziehungslager, es war ein echtes Gefängnis. Von dort kehrte man nicht unbedingt zurück. Es gab da eigene Gesetze, ist halt der Norden. Der schrecklichste Ort der Welt. Der Fluss Petschora – seine Ufer sind so hoch wie unser Gutshaus, und unten Wasser. Den ganzen Tag wird geflößt, verladen, abtransportiert. Da fiel oft jemand einfach zwischen den Stämmen ins kalte Wasser und war nicht mehr zu retten.

    Ich war sehr quirlig und half allen, aber die Vorgesetzten erwischten mich kein einziges Mal. Erzähl alles, was du willst, aber sag den Vorgesetzten nie die Wahrheit, zeig dich kooperativ, aber lass die Wahrheit weg. So lebten wir dort.

    Ich redete mit den einfachen Leuten, mit den reichen, mit den Gefangenen und mit den Vorgesetzten. Wenn man gescheit sein will, muss man mit den Leuten reden. Was bringt es, immer nur zu Boden blicken?“

    Unvermittelt kehrt Polina Pawlowna aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück:

    „Unsere jungen Leute sind einmal zur Verwaltung gegangen und haben gesagt: ‚Gebt uns Zement und Baumaterialien, wir renovieren alles selbst.‘ Aber die wollen nicht, die geben nichts, sie warten lieber darauf, dass das Haus einstürzt. Aber sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich.“

    Sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich

    In den letzten zwanzig Jahren gab es im Gutshaus keine einzige Grundsanierung. Vor zwei, drei Jahren wurden die Heizungsrohre ersetzt, weil die alten den Geist aufgegeben hatten. Der einzige gute Brunnen war schon kurz vor dem Brand von 1998 verseucht. Das Wasser wurde erst trüb und danach ganz schwarz. Man musste ihn zuschütten, deshalb führten sie vom Wasserturm her eine Leitung mit einem Kaltwasserhahn zum Haus – er befindet sich unten im Hausflur.

    Bevor man das Wasser trinken kann, muss man allerdings zwei, drei Tage warten, bis sich der Rost setzt. Der spezifische Geruch verschwindet auch dann nicht, sauberes Wasser muss man deshalb bei der Zapfsäule im Nachbardorf holen. Als neben dem Haus ein Graben ausgehoben wurde, erinnern sich die Bewohner, fanden sie darin Münzen aus Zeiten vor der Revolution, Geschirr und sogar einen alten Teekessel aus Bronze.

    Für ihre Kommunalka zahlen alle Bewohner gewissenhaft ein paar tausend Rubel [etwa 15 Euro] im Monat. Schulden haben sie keine, aber von Kanalisation und Gas haben sie auch noch nie etwas gehört. Sie waschen sich in den Banjas, die direkt im Hof des Herrenhauses stehen. Die Toilette ist im Freien. Wegen der Schulden der Firma Dubrawa, die früher für das Haus verantwortlich war, schaltete die neue Verwaltung im Mai das Licht im Eingang ab. Solange die Verwaltungen einander gegenseitig den verlotterten Zustand des Hauses vorwerfen, müssen die Hausbewohner alles selbst machen. Sie haben eine Lampe direkt aus einer Wohnung in den Eingang gestellt.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“

    Im Erdgeschoss wohnt Irina, ihr Mann ist Invalide. Vor zwei oder drei Jahren war der Fußboden im Erdgeschoss beschädigt, Irinas Mann konnte nicht mehr allein mit dem Rollstuhl in die Wohnung fahren. Die Verwaltung schwieg, und so betonierte sie einen Teil der Türschwelle selbst zu und baute eine kleine Rampe.

    „Ich habe ihn kürzlich aus dem Krankenhaus abgeholt, meine Schwester und mein Bruder haben mir dabei geholfen. Mit einem amputierten Bein ist er noch Auto gefahren, aber jetzt hat ihm auch das zweite den Dienst versagt. In unser Auto setzt sich keiner mehr, ich habe noch keinen Führerschein. Ich habe jahrelang im Nachbardorf in der Schule gearbeitet, als Laborantin, in der Mensa als Leiterin der Wirtschaftsabteilung. Dann wurde die Schule geschlossen, es blieben wohl nur der Kindergarten und die Anfängerklassen. Ich fand Arbeit in der Geflügelfabrik, aber auch dort gab es Entlassungen, und jetzt suche ich nach einer neuen Stelle … Bitte seien Sie leise. Meine Nachbarin im Erdgeschoß schläft gerade. Sie wohnt hier mit ihren Kindern, nachts arbeitet sie am Flughafen.“

    Wir bemühen uns, die Dielenbretter nicht knarren zu lassen und gehen hinauf zu Polina Pawlownas Wohnung im ersten Stock. Sie zeigt uns ihre Bücher und steckt uns Broschüren mit Auszügen aus der Bibel zu. Ein hagerer Mann in Tarnhosen platzt ins Zimmer. Derselbe, der neben dem Denkmal schlief.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“, sagt er enttäuscht und verschwindet in seinem Zimmer, aber er taucht gleich wieder auf und brummt irgendwas vor sich hin. Polina Pawlowna versucht ihn hinauszuführen. „Mein Sohn Pjotr ist meine schwierigste Prüfung“, seufzt sie. Pjotr lässt sich nicht beruhigen:
    „Ich habe im Donbass gekämpft, ich bin kriegsverletzt!“
    Er streckt uns einen Pass mit einem annullierten Stempel der russischen Durchgangskontrolle an der ukrainischen Grenze entgegen.
    „Wie hat es Sie dorthin verschlagen?“
    „Ein Freund aus der Armee war bei mir auf Besuch, wir sind angeln gegangen, haben dort ein bisschen gesoffen, na und dann sind wir hingefahren.“

    Polina Pawlowna schüttelt skeptisch den Kopf, sie scheint daran gewöhnt zu sein, nicht alles zu glauben, was der Sohn erzählt. Wir gehen zusammen in den Hof hinaus. Draußen ist es wie in einer Sauna, vermutlich kommt ein Gewitter. Im Schatten der alten Linde ist es weniger schwül. Die alte Frau nimmt ihren gewohnten Platz im großen Sessel ein und versinkt wieder in Erinnerungen.

    Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘

    „Ich war kampflustig und verprügelte meine Schwester, andere Kinder, alle. Ich ging auch alleine in den Wald, ich hatte vor nichts Angst. Man wird so geboren, so stark. Unser Papa war auch so. Die Häftlinge taten mir leid. Ich brachte ihnen im Ärmel Tee. Sie mussten sich doch Tschifir machen, aber es war kein Tee aufzutreiben. Wir Aufseher waren immer zu zweit unterwegs. Ich sagte zu meinem Partner: ‚Geh nur voraus, ich bringe kurz die Stiefel in Ordnung‘, und dann legte ich den Tee irgendwo auf dem Gelände unter ein Blatt. Und sie warteten natürlich schon auf mich. Es gab viele schlimme Dinge. Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen, ein Jude, erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘ Die Leute erfroren, starben, und man schichtete sie auf dem Berg auf, und von dort kam dann das Leuchten.“

    In der Stille vor dem Gewitter verstummt plötzlich alles. Selbst Pjotr hört auf, Radau zu machen. Auf dem Weg zur Haltestelle komme ich an dem Laden vorbei. An einem kleinen Plastiktisch trinken Männer Bier: „Hast du dich verlaufen, Junge? Was hast du hier überhaupt verloren?“

    Plötzlich erklingt in der Ferne ein ersterbender, trauriger Ton. Wenn man will, kann man sich einbilden, es wäre der Ton einer reißenden Saite, aber es ist nur der Bus Nr. 21, der beim Näherkommen ein Signal gibt.

     

    Namen teilweise geändert – dek

     

     

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  • Russland auf der Flucht vor sich selbst

    Russland auf der Flucht vor sich selbst

    Das neu von Russland zur Schau getragene Selbstbewusstsein, meint der Philosoph Alexander Rubzow, ist im Inneren teuer erkauft: Bildung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen geraten dramatisch ins Hintertreffen. Die Menschen werden in einen radikalen Geisteswandel hineingezwungen, der ihnen selbst kaum zu Bewusstsein kommt. Anstelle wirklicher nationaler Stärke entdeckt der Autor eher Anzeichen von kollektiver Neurose und Gedächtnisverlust. Einen gangbaren Weg in die Zukunft kann er im derzeitigen Aufbruch ins Außen nicht entdecken.

    Rubzow ist Leiter des Zentrums zur Erforschung ideologischer Prozesse am Institut für Philosphie der Russischen Akademie der Wissenschaften.

    Zu Beginn der 90er Jahre, man mag zu diesem Zeitabschnitt stehen wie man will, begann das bis dahin politisch extrovertierte Russland sich seinen eigenen Problemen zuzuwenden. Dies geschah nicht ohne Zutun der Krise, aber es tat dem Land gut und wurde als etwas lang Erwartetes aufgefasst. Die sowjetischen Menschen waren es längst leid, den sozialistischen Block durchzufüttern, dazu fremde Befreiungsbewegungen und eine Weltrevolution, die selbst im nahezu leblosen Zustand enorme Mittel verschlang. Diese Haltung wurde damals auch gegenüber den sowjetischen Bruderrepubliken eingenommen, in denen eine ideenlose Bevölkerung eher eine Last als eine Bereicherung sah. Dazu, dass die Masse den Zerfall der UdSSR als „Katastrophe des Jahrhunderts“ sah, kam es denn auch nicht sofort, sondern erst nach einer entsprechenden propagandistischen Anheizphase.

    Bis vor kurzer Zeit erhielt die Ideologie, die der Macht das programmatische Material liefert, ihre vorrangige Orientierung auf die innenpolitischen Probleme aufrecht. Die beiden Schlüsselbegriffe Stabilität und Modernisierung hatten vor allem mit „uns selbst“ zu tun, mit dem, was bereits getan war, und dem, was angeblich gerade getan wurde. Internationales Ansehen war für die Selbstwahrnehmung von Führern, Eliten und Massen zwar alles andere als unwichtig, es stützte sich jedoch vor allem auf die eigenen Erfolge – egal, in wie weit sie real waren oder von der Propaganda aufgebauscht.

    So sah es auch im Hinblick auf die Zukunft aus: Russland war durchaus um seinen Platz in der neuen Welt besorgt, doch mit Blick auf internationales Standing und Prestige diskutierte man in erster Linie, was sich im Innern verändern und wohin sich das Land entwickeln sollte. Entsprechend suchte man den Grund für die Probleme, welche die Entwicklung hemmten, vor allem im Inneren und konkret in den Unzulänglichkeiten des Staates, der „Machtvertikale“ und der Nomenklatura. Zwar distanzierte sich die politische Führung ebenso kühn wie elegant von den angeprangerten Verfehlungen, als hätte sie nichts zu tun mit der sozialen Spaltung, der Korruption, mit dem Druck auf die Wirtschaft und dem Ersticken von Innovationen, doch niemand versuchte die Sache so darzustellen, als hätten wir es hier nicht in erster Linie mit unseren eigenen Problemen und Aufgaben zu tun. Im Gegenteil, in den Reden über die neue Ausrichtung und das „Aufräumen“ in der sogenannten Machtvertikale wurde immer der Anschein von Ehrlichkeit, politischem Willen, Zuversicht und Entschlossenheit gewahrt – das schon seit Jelzins Zeiten bei unseren Redenschreibern so beliebte Spiel mit dem starken Mann und den starken Worten.

    Um den radikalen Geistesumschwung vollständig zu erfassen, braucht man eigentlich nur zwei, drei Jahre zurückzuschauen. Aber stattdessen leiden wir an einer Art kollektiven Gedächtnisverlustes! Die Menschen erinnern sich nicht, wie anders früher alles war, wie anders sie selbst waren in ihren Vorstellungen und Werten. Solche erdrutschartigen Verschiebungen in den Einstellungen und dem Weltgefühl sind eigentlich nicht normal, man kann sie kaum anders denn als pathologische Störung einordnen. Ein ideenmäßiger Schwenk um 180 Grad, der den Menschen nicht zu Bewusstsein kommt. Sie vergessen nicht einfach nur ihre gestrige Weltsicht, sondern verlieren auch im ganz direkten Sinne die „Erinnerung an sich selbst“ – daran, wer sie waren, was ihnen wichtig war, was sie wollten. In dieser akuten Form ist das, so muss man leider sagen, bereits die aus der Alzheimer-Erkrankung resultierende Demenz (vom lateinischen dementia – Wahnsinn): „eine erworbene Hirnschwäche mit dauerhafter Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und dem mehr oder weniger schweren Verlust früher erworbener Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten“. Das Problem ist nicht nur, dass die Leute durchdrehen, sondern das beängstigende Tempo, in dem sie das tun.

    Die Menschen richten nicht einfach so ihre Aufmerksamkeit aufs Außen – man lässt ihnen überhaupt gar keine andere Möglichkeit. Früher gab es selbst im russischen Fernsehen unterschiedliche Themen und Inhalte, die es einem erlaubten, gelegentlich die Blickrichtung zu ändern. Jetzt kehrt sich der Nachrichtenhorizont nach außen, wird dabei aber immer enger, das Bild wird extrem vereinfacht, und sein Umriss gleicht immer mehr dem einer Schießscharte. Die Fähigkeit selbst, den Blick auf etwas Anderes zu richten, wird unterdrückt, damit er ja nicht auf verbotenes Terrain wandern kann. Das sind keine Scheuklappen mehr, das ist eine Operation, nach der der Patient nicht einmal mehr in der Lage ist, den Kopf zu drehen. Dazu kommt die Neueinstellung der Sehschärfe, und zwar so, dass man in der Ferne alles sieht, aber vor der eigenen Nase nichts. Sogar die Zerrspiegel werden bereits aus dem Königreich hinausgeschafft, sie werden nicht mehr gebraucht – übrig bleiben Periskope und Zielmonitore.

    Schlimmer noch, auch die Wertsachen werden aus dem Haus getragen: die Bildung, die Wissenschaft, die Kultur, das Gesundheitswesen. Der Haushalt für das nächste Jahr zementiert unseren Rückstand in praktisch allem, was zum Zivilleben gehört – und zum Leben überhaupt. Russland „erhebt sich von den Knien“ und steht nackt da, doch für das letzte Geld rasselt es mit dem Säbel, um die Scham angesichts der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft zu übertönen. Wieder einmal lebt das Land, scheint es, nicht um des Lebens willen, sondern um einem kranken Ehrgefühl Genüge zu tun und dabei aller Welt Angst und Schrecken einzujagen.

    Ein russischer Imperator, den man den Friedensstifter nannte, sagte: „Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte“. Unsere Generation geht noch weiter: Nicht mehr lange, und in Russland gibt es überhaupt nichts anderes mehr als die Armee und die Flotte, wobei nicht einmal die gut versorgt sind, weder mit Geld noch mit Wissenschaft und Technik. Diejenigen, die nach dem Motto leben „Was braucht der Starke den Verstand“ vergessen, dass heutzutage sogar nackte Gewalt Köpfchen erfordert.

    All das ist eine Sackgasse, wenngleich eine kurze. Die Zeit der großen Mobilmachungen, als man von den Menschen noch verlangen konnte, Lebensqualität für Machtgewinn und Expansion zu opfern, ist vorbei. Ein Land, das der Welt nichts vorzuweisen hat als die Waffe im Anschlag, beeindruckt lediglich diejenigen mit schwachen Nerven, und auch die nicht für lange. Wer sich verloren hat in seinem Leben und von innen heraus zerfällt, verliert seine Kraft auch nach außen hin (von Achtung und Würde ganz zu schweigen).

    Der Selbstwertkrise versucht man mit der Vergangenheit beizukommen: mit mystischen Werte-Banden und Gerassel mit der großen russischen Kultur, von der Klassik bis zur Avantgarde, wie bei den Zeremonien der Olympiade. Doch auch hier verliert das Land sich selbst, wenn es keine andere Kulturschicht mehr übrig lässt, als eine in hoher Auflage verbreitete Geistlosigkeit und die archäologischen Ablagerungen der Gehwegplatten. Wir sind dabei, genau das zu werden, was die russische Kultur immer gehasst und verachtet hat, wogegen sie, oft opfervoll, gekämpft hat.

    Es ist anzunehmen, dass dies alles nicht aus Versehen oder mit böser Absicht geschieht, sondern aus purer Ausweglosigkeit. Hinter der phänomenalen Unterstützung der Macht und der Einschüchterung der Opposition verbirgt sich eine akute Neurose, ausgelöst durch den drohenden Totaleinbruch in lebenswichtigen Bereichen. Da oben kennt man den Preis für die Liebe des Volkes (und man kennt den Preis, den man für das professionelle Aufrühren dieser Leidenschaft gezahlt hat). Während der außenpolitische Wille Triumphe feiert und das dazugehörige Gejubel erklingt, werden insgeheim die katastrophalsten Szenarien entworfen, und zwar auch für die Staatsmacht selbst – das Regime und sein Personal. Wenigstens etwas hätte man aus der Geschichte lernen sollen, immerhin geht es ja um die eigene Haut. Bisher zeichnet sich allerdings eher die Impulsivstrategie ab, das Ende mit allen Mitteln hinauszuschieben, selbst wenn man die Lage dadurch lediglich verschärft und ganz und gar aussichtslos macht.

    Die Situation ist in vieler Hinsicht einzigartig und ein fertiger Ausweg nach dem Beispiel eines analogen Falls nicht in Sicht. Politische Wetterhähne zeichnen bereits das Bild von einem neuen liberalen Trend und der Aussöhnung mit der Welt, und dieses Mal soll alles ganz richtig und auf unsere eigene Art gemacht werden, denn jetzt handeln wir nicht mehr auf Weisung, sondern aus freiem Willen und aus einer Position der Stärke heraus.

    Falls doch irgendetwas imstande sein sollte, unser Land auf dem Weg in die Katastrophe zu stoppen, brauchte man sich mit derartigem Unsinn gar nicht erst zu befassen.

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  • Jenseits der Fotos

    Jenseits der Fotos

    Die 1990er Jahre hatten in Russland zwei Seiten: eine sehr üble und eine sehr hoffnungsvolle. Im Foto-Flashmob, der kürzlich das russische Internet erfasste und es mit Bildern des zwiespältigen, dabei aber so bedeutsamen Jahrzehnts überschwemmte, kamen sie beide zum Ausdruck. Sergej Kusnezow versucht mit seinem Essay auf inliberty.ru, hinter die Oberfläche der Fotos zu schauen. Was sagt diese Art und Weise, mit den 1990ern umzugehen, diese Uneinigkeit in Bezug auf die Vergangenheit, über das heutige Russland aus? Wie kann die Erinnerung vom gesellschaftlichen Spaltkeil zu einer Quelle gemeinsamer Identität und gemeinsamer Zukunft werden?

    Mit einer allgemeingültigen Einordnung der 1990er Jahre tut sich die russische Gesellschaft bis heute schwer. Die beiden existierenden Lesarten konkurrieren nicht einmal miteinander – sie heben sich gegenseitig auf und schließen die Möglichkeit eines Dialogs aus. Für manchen war es „die beste Zeit unseres Lebens“, „ein Jahrzehnt der Freiheit und Hoffnung“, der Mehrheit aber ist die Formel „die üblen 1990er“ [wörtlich „wilden“ – dek] weitaus näher. Emotional sind diese beiden Ansätze so verschieden, dass es nahezu unmöglich scheint, darauf etwas Verbindendes aufzubauen.

    Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen.

    Dabei sind die 1990er eine Schlüsselphase der jüngsten russischen Geschichte. Alles, womit wir heute zu tun haben, stammt aus dieser Zeit: die Korruption, die rigorose Unterdrückung der Opposition, die Kriege an den Grenzen, die Polittechnologien, der Wirtschaftsliberalismus, die Reisefreiheit, der freie Zugang zu westlicher Technologie, zu Büchern, Filmen und Musik … mit anderen Worten, alles Schlechte und alles Gute. Nicht zufällig entstammt die überwiegende Mehrheit der Politiker und der Medienpersonen den 1990ern.

    Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen. Und das heißt, wir können uns nicht weiterbewegen. Meines Erachtens muss der Ausgangspunkt die Anerkennung der Tatsache sein, dass die 1990er Jahre für Russland traumatisch gewesen sind, und zwar sogar für diejenigen, die diese Jahre als eine Zeit der Freiheit und Hoffnung in Erinnerung haben. Wer die Freiheit des Wortes, des Glaubens und das Recht auf Freizügigkeit herbeisehnte, rechnete nicht damit, dass es zu diesen Freiheiten diverse Extras dazugeben würde: die Kriminalisierung des Alltags, bettelnde alte Frauen in den Metrounterführungen und Panzerschüsse mitten im Zentrum der Hauptstadt. Diejenigen, die sich über die neuen Freiheiten freuten und über die Gewalt und die Armut hinwegzusehen versuchten, sagen heute: „aber dafür hatten wir damals Hoffnung“. Doch auch diese Haltung ist eine Art und Weise, das „Neunziger-Trauma” zu überwinden.

    (Natürlich gab es unter den heutigen Flashmob-Teilnehmern auch solche, die zu jung waren, um irgendein Trauma zu erleiden: In den 1990ern begannen sie gerade erst auf eigenen Beinen zu stehen und nahmen das Leben, wie es eben war – mit Kriminellen, Flüchtlingen, Bettlern und Drogentoten. Wie zu jeder anderen Zeit auch gab es Leute, die so sehr in ihr inneres und persönliches Leben versunken waren, dass sie überhaupt nicht bemerkten, was sich draußen vor ihrem Fenster abspielte. Für die meisten Menschen in Russland aber war es dennoch eine traumatisierende Erfahrung.)

    Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat. Das Modell der „wilden 1990er“ wurde von der Gesellschaft angenommen, weil es das einzige Modell war, in dem das allgemeine Katastrophengefühl Widerhall fand, das diese Jahre begleitet hatte – oder zumindest die Erinnerungen daran begleitet. Natürlich hat dieses Modell Mängel – unter anderem ignoriert es die Tatsache, dass die heutige Zeit das Erbe der 1990er Jahre in sich trägt, aber wie viele Elemente aus der Putinschen Mythologie scheint es für sich allein zu stehen und wirkt recht stabil: Versuche, es frontal anzugreifen, schlagen fehl, sowohl in den Medien als auch im direkten Gespräch.

    Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat.

    Aber schließlich kann kein historisches Modell ewig funktionieren – erst recht nicht in Russland mit seiner Tradition der „unvorhersagbaren Vergangenheit“. Vor ein paar Jahren hörte ich in einer russischen Provinzstadt, wie sich die Leute beschwerten, in den 1990ern sei es besser gewesen – damals seien es respekteinflößende junge Burschen gewesen, die alles geregelt hätten, heutzutage seien es „die Bullen“, die sich alles untertan machten. Mir persönlich leuchtet nicht ein, was an Banditenwillkür so viel besser sein soll als an Polizeischikane – doch damals begann ich zu ahnen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Neunziger-Nostalgie in Mode kommen würde.

    So war es auch mit der Sowjetzeit. In den 1990er Jahren behauptete kein Mensch, unter Breshnew sei das Essen gesünder und die Filme besser gemacht gewesen oder hätten mehr Seele gehabt: Die Mehrheit hatte es auf die an den Verkaufstresen neu aufgetauchten Snickers abgesehen und schaute auf Video Raubkopien der neuesten Hollywoodfilme. Für die Rehabilitierung des Sowjetischen brauchte es die nostalgische Einstimmung durch die „Alten Lieder über das Wesentliche“ und die ewigen Erinnerungen an die „Elektronika“-Spiele, den Tee mit dem Elefanten und weitere Wahrzeichen einer für immer vergangenen Zeit. Eine Zeitlang existierte diese Nostalgie in friedlichem Auskommen mit den Erinnerungen an den Mangel, die Schlangen und die miese Qualität der sowjetischen Konsumgüter. Und nach nur etwa zehn Jahren begann die junge Generation ernsthaft zu glauben, es sei tatsächlich ein „großes Land“ zerstört worden und nicht ein Reich der Armseligkeit.

    Die Nostalgie streitet nicht mit der Ideologie: Sie ignoriert sie. Darin liegt auch die einende Bedeutung des heutigen Flashmobs – ein Kindheits- oder Jugendfoto von sich kann jeder posten, ob er nun an die üblen 1990er glaubt oder sich an diese Zeit als Jahre der „Freiheit und Hoffnung“ erinnert.

    Die Geschichte, und zwar die der Mode vor allem, zeugt davon, dass Nostalgiewellen so unvermeidlich kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Anscheinend setzt jetzt eine Phase der Neunziger-Nostalgie ein – und das eröffnet die Chance, diese Periode realistisch einzuordnen.

    Die Frage ist, wie wir das Modell der „wilden 1990er“ ergänzen können. Wie wir es so verändern können, dass es nicht länger für die Negation der Freiheit und die Stärkung des staatlichen Paternalismus arbeitet. Ich denke, man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.

    Sie waren es, die für ein jämmerliches Gehalt als Lehrer oder Ärzte gearbeitet haben, sie waren es, die nicht in den Westen gegangen sind und weiter in Russland Wissenschaft betrieben haben. Die in karierten Reisetaschen Konsumgüter aus dem Ausland angeschleppt, in den Gärten Kartoffeln angebaut und in den Stadtwohnungen Kaninchen gehalten haben. Sie waren es, die sich als Kleinunternehmer versuchten und Reifendienste und Servicestationen, Cafés und Kioske eröffneten und dabei beim Gedanken an die neuen Banditen und das Gesundheitsamt zitterten. Sie waren es, die nach Wegen suchten, ihre Familien zu ernähren und für sich ganz neue Berufe entdeckten, die in dem Land, das gerade in die Brüche gegangen war, keiner je gelernt hatte.

    Wir sollten anerkennen: Diese Menschen hatten große Angst und es war für sie alles andere als ein Vergnügen – aber sie waren es, und nicht die Politiker und Oligarchen, die unser Land gerettet haben.

    Man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.

    Nur wenige dieser Menschen haben es damals zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht – es haben nicht einmal alle überlebt. Viele nahmen notgedrungen eine Beschäftigung an, die sie nicht froh machte, und denken heute nicht gerne daran zurück. Das verbindet die Veteranen der 1990er Jahre mit den Veteranen eines jeden Krieges – die ganz normalen Leute wollen lieber ihr Leben leben und nicht das Land retten: viel lieber wollen sie einfach nur zur Arbeit gehen und ihre Kinder großziehen.

    Den Kriegsveteranen wird als Entschädigung wenigstens noch Dankbarkeit entgegengebracht. Wer die 1990er mitgemacht hatte, wurde nicht einmal des Dankes für würdig befunden. Es wundert nicht, dass die Leute diese Zeit als „chaotisch” bezeichnen. Sie haben schließlich auch das Recht dazu – genau wie sie das Recht dazu haben, ihre empörten Kommentare unter die Fotos von Schülern und Studenten, die Bilder einer unbeschwerten Jugend zu setzen.

    Aber ich bin froh, dass ich, ausgehend von den Flashmob-Fotos, an dieser Stelle Gelegenheit gefunden habe, diesen Menschen danke zu sagen –  all denen danke zu sagen, für die die Erinnerung an die 1990er Jahre bis heute traumatisch ist.

    Ich glaube, die Überwindung dieses Traumas steht uns noch bevor.

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  • Russland als globaler Dissident

    Russland als globaler Dissident

    Seltsame Verkehrungen in Russlands Selbstbild beobachtet Maxim Trudoljubow von den Vedomosti: Die offiziellen Medien stilisieren die Weltgemeinschaft zu einer Art globaler UdSSR und messen Russland selbst in dieser die Rolle des standhaften, von allen drangsalierten Verweigerers an. Also dieselbe Rolle, welche in der echten, tatsächlichen UdSSR die Dissidenten innehatten. Da dasselbe Russland sich wiederum gern als direkten Nachfolger der Sowjetunion betrachtet, ist das nicht nur ein Widerspruch, warnt der Kolumnist, sondern Anzeichen eines bedenklichen Realitätsverlustes.

    Die russische Gesellschaft sieht sich nicht. Wie auch jede andere Gesellschaft und jeder Mensch sich selbst nicht sieht. Um sich selbst zu sehen, braucht man einen Spiegel. Häufig erfüllen die Medien diese Funktion in der Gesellschaft. In Russland spiegeln sie allerdings nicht das Leben der Bewohner Russlands wider, sondern das Leben der Anderen. Die Medien bombardieren die Bevölkerung mit Artikeln über Kriege, Gezänk und Krisen in Griechenland, im Nahen Osten, in Europa und selbstverständlich in der Ukraine. Überall Krisen, in jeder Regierung tummeln sich Politiker, die sich am Staat bereichern, alle Länder befinden sich im Würgegriff von verantwortungslosen Staatsapparaten, von Korruption und Fremdenfeindlichkeit. Doch in Russland geschieht so etwas natürlich nicht, denn es erscheint ja nicht auf den Fernsehbildschirmen.

    Und wenn dann doch in irgendwelchen Zusammenhängen mal negative Themen aufscheinen, so – und das leuchtet jedem sofort ein – liegen die Gründe für Rezession, Inflation, Ärztemangel und polizeiliche Willkür ausnahmslos außerhalb der Landesgrenzen. Die Gründe liegen immer im Außen. Es erstaunt wirklich, dass es in der russischen Geschichte eine Zeit gegeben hat, in der Bürger bei der Betrachtung von Kausalzusammenhängen tatsächlich die Staatsmacht miteinbezogen haben. Wie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor ist das heute wieder anders. Es ist eine alte Tradition. „Stalins politische Begabung bestand teilweise in seiner Fähigkeit, Bedrohungen von außen mit Misserfolgen in der Innenpolitik derart gleichzusetzen, als wären sie ein und dasselbe und als wäre er persönlich weder für das eine noch für das andere verantwortlich“, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. „Und 1930, als die Probleme der Kollektivierung offen zu Tage traten, sprach er bereits von einer internationalen Verschwörung der Trotzkisten mit verschiedenen ausländischen Staaten.“

    Demnach ist der Umstand, dass die Menschen in Russland weder sich noch die innenpolitischen Probleme sehen, wohl aber eine Welt da draußen, voller Gefahren und Verrat, also nichts Neues. Doch es wäre interessant zu wissen, was sie eigentlich sehen? Welches Bild eigentlich vor ihrem Auge entsteht, wenn die Erzeuger der medialen Welt ihre Instrumente zur Hand nehmen und mit ihrer schöpferischen Arbeit beginnen?

    Bei einer der wichtigsten Polit-Talkshows hat der bekannte Journalist Witali Tretjakow die Situation der Nicht-Einladung Russlands zum Treffen der G7 wie folgt kommentiert: „Es ist ehrenvoll, ein Dissident zu sein.“ Russland, erklärte Tretjakow, sei die wirklich „intelligente Minderheit“ dieser Welt. Man erklärt uns immer, die Mehrheit, das sei der Mainstream, die dumpfe Masse, und hier haben wir sie, die kluge Minderheit: Russland. Das ist ein tiefsinniger Vergleich. Es lohnt sich, ihn zu ergänzen um die seit Langem im Russischen gebräuchlichen Vergleiche von Washington und Brüssel mit dem seinerzeit sehr einflussreichen, allgegenwärtigen Obkom. Russland führt – wie ein kollektiver Dissident in der großen und autoritären Welt – einen ungleichen Kampf gegen die Kräfte eines Welt-ZK der KPdSU und KGB. Aufeinandertreffen dieser Art gibt es immer weider, sei es bei der FIFA-Affäre, in der Blatter fast schon als Dissident dargestellt wird, sei es in Geschichten über Griechenland, in der Tsipras die Rolle des Verfolgten spielt. Russland, der Bürgerrechtler, schützt selbstverständlich die Verfolgten. Und die „Obkoms“ knurren zurück. Sie sind nicht mehr die, die sie unter Stalin waren. Sie gleichen mehr den Staatsorganen der Breshnew-Zeit, in Maßen blutrünstig, vor allem aber hart und verschlagen. Mit Russland machen sie in etwa das, was die sowjetischen Organe damals mit den Dissidenten innerhalb Russlands gemacht haben. Sie trachten danach zu diffamieren, erheben diverse absurde Vorwürfe, verhängen Sanktionen, kappen Einkommensquellen, verurteilen und schicken in die Verbannung. Russland heute, das ist in der Vorstellungswelt der medialen Propagandisten ein fabelhafter Sacharow, ein Herausgeber der Chronik des Zeitgeschehens (soll heißen jetzt: Russia Today), ein aller Auszeichnungen Beraubter (aus der Gruppe der G8 gejagt) und ein nach Gorki Verbannter (Einreiseverbot für einzelne Regierungsvertreter).

    Das bedeutet, dass die, die das Regime vertreten und verteidigen, sehr gern als hochgeschätzte Figuren angesehen würden – draußen in der Welt. Innerhalb des Landes, dem du die Macht gewaltsam aufdrängst, wird es keine echte Wertschätzung geben, also gehst du ins Außen. Die sowjetische Lebenswelt hat wahrscheinlich jene stark traumatisiert, die sich heute als Elite und politische Klasse bezeichnen. Sie möchten gern ebene jene „kluge Minderheit“ sein, doch innerhalb von Russland ist das nicht möglich, dieser Platz ist besetzt von der Opposition und denkenden Menschen. Die gilt es kaltzustellen, was wiederum heißt, in der höchst unangenehmen Rolle als Vertreter des Pöbels aufzutreten. Allein der Umstand, dass die Welt, die die russischen Propagandamacher malen, ein große weltumspannende UdSSR ist, sagt uns viel über sie.

    Sie malen eine Welt, die der UdSSR ähnelt, und wollen aussehen wie die Mächte des Guten, wobei Dissidententum als das Gute gilt. Dabei muss ihnen doch eigentlich klar sein, dass sie unter Bedingungen eines durchchoreographierten öffentlichen Lebens nicht die Kräfte des Guten sein können. Aber eines ist merkwürdig. Es ist merkwürdig, dass eine derartige Menge ganz normaler und im Grunde genommen nicht schwertraumatisierter Bürger Russlands mit Vergnügen dieses tägliche Theater im Fernsehen mitansehen. Möglicherweise ist es ihnen, wie auch den Kreml-Chefs, einfach zu traurig, sich wirklich umzusehen. Man will sich einfach nicht mit dem beschäftigen, was ansteht, man will es den Nachgeborenen überlassen.

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  • Neue Tomographen genügen nicht

    Neue Tomographen genügen nicht

    Russische Mediziner haben einst großes Ansehen genossen. Heute ächzt das Gesundheitsystem unter vielen Lasten: Die Pharmaindustrie kauft Ärzte für zweifelhafte Studien, die Ausbildung ist praxisfern und veraltet, und für gute Mediziner gibt es kaum Karriereperspektiven. Der Autor des Artikels, selbst Kardiologe und in leitender Management-Position in einer großen Krankenhausgruppe tätig, nennt die Missstände beim Namen und fordert einen tiefgreifenden Wandel im Medizinsektor.

    Wollte man das russische Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Form durch höhere Geldinvestitionen verbessern, könnte man auch gleich versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Selbst in dem hypothetischen Fall, dass alle russischen Kliniken von einem Moment auf den anderen auf dem neuesten Stand der Technik wären, über die modernsten Medikamente verfügten und die dort arbeitenden Ärzte genauso viel verdienten wie ihre amerikanischen Kollegen, hätte dies, wie ich vermute, auf die Qualität der Behandlung der meisten Patienten wenig Auswirkungen.

    Zwar würde sich die Behandlung einiger klar umrissener Patientengruppen, die vor allem auf bestimmte Arzneimittel angewiesen sind, spürbar verbessern. Das sind z. B. Kinder mit sogenannten seltenen Krankheiten, Patienten mit Hämoblastosen (Blutkrebs) oder mit Infektionen, die eine moderne intravenöse Antibiotikatherapie erfordern, aber auch einige zehntausend Patienten mit vergleichsweise seltenen schweren Erkrankungen, bei denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht angeschlagen haben und die nun auf die Verschreibung extrem kostspieliger Arzneimittel hoffen, z. B. Targetproteine, Biologika. Doch bei Millionen Patienten, die an weit verbreiteten Krankheiten leiden, an koronarer Herzkrankheit, an Bluthochdruck, Magengeschwüren, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Harnsteinen oder operierbaren Krebsformen, um nur einige zu nennen, würde sich wohl selbst dann kaum eine rasche Besserung einstellen, wenn das Gesundheitssystem über unbegrenzte Mittel verfügte.

    Ohne gute Ärzte können Apparate nicht heilen

    Der Krebs, der nicht entdeckt wird, weil der Arzt den Patienten nicht zur Diagnostik schickt, wird weiterhin nicht diagnostiziert werden. Eine Struktur, die bei einem gewöhnlichen Ultraschall oder CT nicht gefunden wird, wird auch dann nicht erkannt werden, wenn man dem untersuchenden Arzt ein Gerät der Extraklasse hinstellt. Ein Notarzt, der heute bei einem Infarkt keine Lyse einleitet (in der Hauptstadtregion gehören die hierfür nötigen Präparate zur Ausstattung), wird dies auch nach einer Gehaltserhöhung nicht tun. Neurologen werden ihre Patienten weiterhin mit den ihnen vertrauten, gänzlich ineffektiven Nootropika und Gefäßpräparaten behandeln, und der Allgemeinmediziner verschreibt bei einer einfachen Erkältung Immunmodulatoren und virenhemmende Mittel, die nicht nur unwirksam, sondern auch nicht ungefährlich sind. Auch wenn Bauchchirurgen bei einer Operation an der Bauchhöhle die besten Endoskop-Modelle verwenden, macht sie das nicht effektiver oder sicherer. Und so weiter und so fort.

    Ich versichere Ihnen, es wird nach wie vor Millionen nicht diagnostizierter Krankheiten und Falschbehandlungen geben, denn der Erfolg einer Behandlung hängt nicht davon ab, ob die Ausstattung und Labors topmodern und die Medikamente die allerneuesten sind; in erster Linie kommt es darauf an, dass der Arzt sein Fach beherrscht, im klinischen Denken erfahren und mit neuen Heilverfahren vertraut ist. Die Anwendung hochwirksamer biologischer Präparate durch einen schlecht ausgebildeten Arzt kann mehr zerstören als die eigentliche Krankheit. Der kritische Zustand der russischen Medizin ist vor allen Dingen bedingt durch die tiefgreifende Krise der medizinischen Ausbildung. Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion galt zu Recht als eine der besten der Welt. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er jedoch erlebte dieses System einen Niedergang. Nur wenige blieben in der Medizin, höchstens ein Drittel aus glühender Leidenschaft für den Beruf – für die meisten wurde es ein Tribut ans Überleben zu lernen, irgendwie Geld lockerzumachen.

    Mediziner haben sich von der Pharmaindustrie kaufen lassen

    Zahlreiche Professoren der Medizin, die heute von oben herab auf Kollegen und Patienten blicken, waren jahrelang gezwungen, vor der Regierung und der Pharmaindustrie zu Kreuze zu kriechen. Man kann sie dafür schwerlich verurteilen, konnten mit den Geldern doch Institute und Fakultäten am Leben erhalten werden. Der Nebeneffekt jedoch war furchtbar: Russische Fachzeitschriften quollen über vor tendenziösen, von der Pharmaindustrie bezahlten Artikeln, Vorträge „führender Wissenschaftler“ bei großen Kongressen enthielten unverhüllt Werbung für pharmazeutische Produkte, und zwar keineswegs für die besten. Die angewandte medizinische Wissenschaft, ganz zu schweigen von der Grundlagenforschung, geriet in eine starke Abhängigkeit von der Industrie.

    In den darauffolgenden fetten Jahren vergaßen etliche Professoren, die inzwischen Karriere gemacht hatten, wofür sie unter solch großen Mühen Mittel beschafft hatten, und steckten die Gelder, die mittlerweile flossen, nicht länger in die Forschung und den Unterhalt des Personals. Anstatt junge Ärzte auszubilden und wissenschaftliche Studien durchzuführen, zogen sie es vor, im ganzen Land umherzureisen, um durch Sponsorengelder finanzierte Vorträge zu halten und wissenschaftlich gänzlich wertlose Auftragsstudien über Pharmazeutika durchzuführen. Sie wurden benutzt, um die Medikamente auf dem russischen Markt zu promoten und sie im Register der lebensnotwendigen und wichtigsten Medikamente zu platzieren. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überzeugen, können Sie jede beliebige große russische Fachzeitschrift aufschlagen und die Artikelüberschriften und Lobhudelei in den Ergebnissen lesen.

    abgeschnitten vom internationalen know-how, oft mit gefälschten Diplomen

    Die letzten zwanzig Jahre waren die Ärzte dauerhaft mit einem überaus heiklen ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder du verkaufst dich, oder du führst ein Leben in Armut. Die Lebensbedingungen der Fakultätsangehörigen und Lehrer der medizinischen Hochschulen, die ihren moralischen Prinzipien treu geblieben sind, haben sich katastrophal verschlechtert. Hier kommt erschwerend hinzu, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche Ausbildung sehr teuer ist. Die heutigen Ärzte und Mediziner waren vom Zugang zu akademischem Wissen abgeschnitten: Bibliotheken schafften keine westliche Literatur an, das Abonnement einer Fachzeitschrift (ca. 100–500 $ pro Jahr) oder der Ankauf von wissenschaftlichen Artikeln (5–30 $ pro Stück) galten als Luxus. Die Lektüre neuerer russischer Bücher oder Artikel hatte im Allgemeinen entweder aufgrund der schlechten Qualität oder aufgrund des tendenziösen Inhalts praktisch keinen Sinn.

    Parallel dazu mehrte sich das Phänomen der Pseudowissenschaftler mit gefälschten Dissertationen. Manche von ihnen waren in wissenschaftlichen Kreisen und Medien ausgesprochen aktiv und verbreiteten komplett falsche Informationen unter den Medizinern, die aus Sowjetzeiten noch gewohnt waren, den „Doktoren aus der Hauptstadt“ zu vertrauen. Zudem wurde das System der akademischen Grade und Titel in den Augen der Wissenschaftsgemeinde durch gehäuft auftretende dreiste Titelbetrüger faktisch entwertet. Wobei der Doktortitel oder die Habilitation als unabdingbare Voraussetzung dient für den Erhalt von Fördergeldern, für eine Publikation in einer renommierten Zeitschrift oder für die Möglichkeit, Vorträge vor einem Ärztepublikum zu halten.

    Die Ausbildung junger Ärzte an den medizinischen Hochschulen und Fakultäten stützte sich in vielem noch auf die Lehrer der alten Garde, die auch unter Krisenbedingungen in der Lage gewesen waren, dem Nachwuchs medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Doch die medizinische Wissenschaft entwickelt sich in rasantem Tempo (Innovationen erreichen Russland mit einer Verzögerung von 10 bis 20 Jahren), so dass die Kenntnisse der Lehrer der alten Schule schnell veralteten. Und das betrifft nicht nur die Spitzentechnologien, sondern auch das ganz gewöhnliche ärztliche Tagesgeschäft.

    fast keine Praxis mehr in der Ausbildung

    Gegenwärtig wird die Situation noch dadurch verschärft, dass man den Kurs verfolgt, Lehre und Behandlungspraxis stark voneinander zu trennen. Der Kontakt der Studenten mit Patienten ist sehr beschränkt, die Ausbildung erfolgt anhand von Modellen und Lehrbüchern in großen Gruppen. Die Fakultätsangehörigen mit der größten Erfahrung, die jahrzehntelang Krankenhausabteilungen betreut haben, werden massenhaft von der praktischen Behandlung der Patienten und der wissenschaftlichen Forschung abgezogen. All das wird mit juristischen Feinheiten begründet und kommt selbstverständlich den Chefärzten der Kliniken zupass, die so an ihren eigenen kleinen Hierarchien basteln können.

    Die meisten meiner Kollegen, die an staatlichen medizinischen Einrichtungen geblieben sind, müssen ärztliche Praxis, Forschung sowie Organisation unter einen Hut bringen und dazu noch an der Uni lehren. Die Versorgung der Patienten hat Priorität, da bleibt wegen des Zeitdrucks oft der Unterricht auf der Strecke: Für gewöhnlich überträgt man die Ausbildung Assistenzärzten und Doktoranden, so bekommen auch die schwächsten Studenten ihre Testate. Darum sind die Hochschulabsolventen und glücklichen Besitzer eines Arztdiploms – sofern sie für den Erwerb von Kenntnissen nicht außerordentliche Willenskraft aufgewendet haben – überhaupt nicht in der Lage, selbst die einfachsten Fälle zu behandeln.

    Der Mangel an Erfahrung führt bei den Ärzten zu Angst vor neuen Behandlungsmethoden, die man nicht überwinden kann, wenn man keinen Lehrer hat, der einem die Nebenwirkungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung erklärt. In manchen medizinischen Fachgebieten sind Ärzte, die über Expertenwissen zu modernen Technologien verfügen, gänzlich verschwunden. Auch bildet niemand mehr Lehrer aus, geschweige denn die praktischen Ärzte. Die Fortbildungen, die wir alle fünf Jahre besuchen müssen, um unsere Zulassung zu verlängern, sind reine Scheinveranstaltungen. Das Wissen, das man dort vermittelt bekommt, erinnert an das Licht ferner Sterne, das die Erde erst erreicht, nachdem sie längst erloschen sind.

    Telemedizin, writing centers und ein neues Akkreditierungssystem könnten helfen

    Immerhin: Das russische Gesundheitsministerium scheint den Ernst der Lage durchaus zu erkennen. Der Weg vom Abschluss des Medizinstudiums bis zur Facharztprüfung ist wesentlich länger geworden. Um der Verteidigung minderwertiger Dissertationen vorzubeugen, wurden in den letzten Jahren die Anforderungen durch die Höhere Attestierungskommission stark verschärft. Dies betrifft allerdings im Wesentlichen die Einholung aller möglicher Gutachten und Dokumente, was eine Menge bürokratischer Verzögerungen mit sich bringt, jedoch nicht immer effektiv ist.

    Ab 2016 wird statt der bisherigen Abschlüsse für Ärzte ein dem europäischen ähnliches Akkreditierungssystem eingeführt. Es sieht vor, dass sich Ärzte kontinuierlich weiterbilden und durch den Besuch von Lehrgängen und Kongressen sowie durch Publikationen Punkte sammeln können, wodurch sie zu ständiger Wissenserneuerung angeregt werden sollen. Um die Situation grundlegend zu verändern, ist es jedoch notwendig, die medizinische Ausbildung vollkommen umzugestalten. In sie muss investiert werden und nicht in die Anschaffung irgendwelcher Tomographen. Die Gehälter der medizinischen Hochschullehrer sollten mit dem Einkommen eines erfolgreichen Arztes vergleichbar sein. Die Betreuung von Krankenhausstationen und jungen Ärzten in Ausbildung sollte wieder zu einer breiten Praxis werden und zusätzlich entlohnt. 

    Russische Studenten müssten an den besten medizinischen Hochschulen der Welt studieren (mit der vertraglichen Garantie einer anschließenden Anstellung in Russland). Leitende Oberärzte und Professoren sollten zu Fortbildungszwecken in den besten Kliniken der Welt praktizieren, um hinterher diese Kenntnisse an die Ärzte vor Ort weiterzugeben. Zur Unterstützung russischer Mediziner, die ihre Artikel nicht in westlichen Zeitschriften publizieren können, sollten Schreib- und Übersetzungszentren geschaffen werden (nach dem Vorbild der writing centers an US-amerikanischen Universitäten). Forschern, die es geschafft haben, in einschlägigen westlichen Zeitschriften einen Artikel zu veröffentlichen oder für einen Vortrag bei einer internationalen Konferenz eingeladen werden, sollte der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie international erfolgreichen Sportlern. Zumindest sollten sie Förderungen erhalten, die die Reisekosten decken. (Geisteswissenschaftler und Techniker staunen nicht schlecht, dass man als Arzt sämtliche Konferenzreisen aus eigener Tasche zahlt).

    An den russischen Universitäten und den großen Kliniken sollten medizinische Fachzeitschriften verfügbar sein, die kostenpflichtige Artikel publizieren. Aktuelle medizinische Kenntnisse an Ärzte, selbst in der entlegensten Provinz, zu „befördern“ ist mittels Telemedizin möglich. Ebenso könnte man auf diese Weise in komplizierten klinischen Situationen schnell und kostengünstig Expertenmeinungen einholen.

    Leider wird infolge der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Arbeitsleistung der praktischen Ärzte zunehmend nicht nach Qualität bewertet, sondern nach der Höhe der für die Abteilung verdienten Geldbeträge und nach Erfüllung rein formaler Kriterien. Deswegen kann es keine wirksamen Maßnahmen zur Verbesserung geben, solange für die Ärzte kein Anreiz zur Erhöhung der eigenen Qualifikation besteht.

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  • Die unbemerkten Flüchtlinge

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Nur ein kleiner Teil der Menschen, die zur Zeit global auf der Flucht sind, reist nach Russland ein. Die wenigsten von ihnen erhalten Flüchtlingsstatus. Aus Syrien sind über die letzten Jahre ganze drei Flüchtlinge in Russland registriert worden. Tausende Menschen aus verschiedenen Ländern leben jedoch in einer unklaren Rechtslage, wofür auch politische Gründe eine Rolle spielen. Pawel Aptekar von Vedomosti gibt einen Überblick.

    Die mit dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa verbundene Krise zwingt, den Blick auf Russland lenken. Da scheint es zunächst, Russland könnte bei der Aufnahme von Flüchtlingen ruhig Engagement zeigen – es wäre eine Friedensgeste, wir würden unseren Nachbarn helfen, wir würden den Vorwürfen, Konflikte zu unterstützten, konkrete Taten zur Rettung von Konfliktopfern entgegenstellen. Doch dies erweist sich als allzu schwierig.

    Auch nach Russland kommen Flüchtlinge, doch von den Hundertausenden, die wegen Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen haben, haben nur einige wenige den Flüchtlingsstatus. Tausende Menschen beantragen vergeblich Asyl, viele von ihnen sind gezwungen, über Jahre mit halblegalem Status zu leben oder andere Möglichkeiten aufzutun, ihren Aufenthalt in Russland zu legalisieren.

    Nach Angaben der Föderalen Migrationbehörde (FMS) sind in Russland nur 816 Flüchtlinge registriert, davon 385 Menschen afghanischer und 285 ukrainischer Herkunft. Die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina erklärt, im ganzen Jahr hätten lediglich 2 Menschen syrischer Herkunft den Flüchtlingsstatus erhalten. Das FMS hat im Laufe mehrerer Jahre 3 syrische Flüchtlinge registriert. Die geringe Zahl der offiziell anerkannten Flüchtlinge ist dem komplizierten Verfahren geschuldet. Der Antragsteller muss den Antrag und weitere Unterlagen selbst oder mit Hilfe eines Übersetzers in russischer Sprache ausfüllen. Für die Sachverhandlung sind zwei Monate angesetzt, doch häufig zieht sich das Verfahren in die Länge. Im Jahr 2013 wurden 1977 Anträge gestellt, 2014 waren es 6976 und in den ersten sieben Monaten des Jahres 2015 850. Als Flüchtlinge anerkannt wurden jeweils lediglich 64, 19 und 81 Menschen.

    Mit dem Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine wurde ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt eines zeitweiligen Asyls eingeführt. 2014 wurden von der Föderalen Migrationsbehörde 276.764 Anträge geprüft, in den ersten Monaten des Jahres 2015 weitere 112.805. Über 90 Prozent davon wurden bewilligt.

    Der zeitweilige Asylstatus erlaubt es, die ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu behalten. Viele Ukrainer wollen später in ihr Land zurückkehren. Doch die Syrer etwa können nirgendwohin zurück. Fachleute und Menschenrechtler gehen davon aus, dass es einen informellen politischen Beschluss gibt, diese Menschen nicht als Flüchtlinge zu legalisieren, um so den Bau neuer Unterbringungszentren zu umgehen. Russland hat die UN-Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll unterzeichnet, die die aufnehmenden Staaten verpflichten, den Flüchtlingen Unterkunft und entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen.

    Es bestehen offensichtliche bürokratische Schwierigkeiten. Das an Friedenszeiten gewöhnte System des Föderalen Migrationsamtes ist dem infolge der Konflikte in der Ukraine und in Syrien wachsenden Flüchtlingszustrom offenkundig nicht gewachsen. Es ist fehler- und korruptionsanfällig geworden, man wartet auf Befehle von oben. Die Wirtschaftskrise hat die Chancen der Migranten auf reale Hilfe verringert, insbesondere in den Regionen, wo man sie hinschickt und sie in Obhut der lokalen Behörden stellt. Bei der Unterbringung der Migranten aus der Ukraine wird kaum berücksichtigt, ob sich dort Chancen auf einen Arbeitsplatz finden, oftmals werden sie in heruntergekommenen Wohnungen untergebracht, erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin und Meinungsforscherin der Moskauer Staatlichen Universität Olga Tschudinowskich. Von der einheimischen Bevölkerung werden die Flüchtlinge oft feindselig aufgenommen, da man sie als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt und beim Beziehen staatlicher Hilfen betrachtet.

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  • Kontakt der Zivilisationen

    Kontakt der Zivilisationen

    Den für den 1. März 2015 geplanten Anti-Krisen-Marsch nahm der Satiriker, Drehbuchautor und Putin-Kritiker Viktor Schenderowitsch zum Anlass, eine grundlegende Kluft in der jungen Bevölkerung auszuloten: zwischen den Verfechtern oppositioneller Demonstrationen und denen, die den Straßenprotest für unnötig halten. Als sehr erhellend dafür erwies sich eine Unterhaltung auf Facebook.

    Mitja Aleschkowski wurde am Abend der Nawalny-Kundgebung am 30. Dezember 2014 auf dem Manegen-Platz verhaftet, verbrachte die Nacht mit anderen Festgenommenen in einer kalten Zelle des Bullenreviers und berichtete nach seiner Freilassung kurz auf Facebook: „Meine Zellengenossen und ich sind wieder frei. Verhandlung ist am 12. Auf dem Boden geschlafen. Kein Essen, kein Trinken, kein Telefon. Verhaftung ohne jeden Anlass, nicht gebrüllt, keine Sprechchöre, keinen Widerstand geleistet …“

    Schrieb es – und erntete als Kommentar umgehend Unverständnis von Seiten einer freundlichen Elena: „Mitja, warum sind Sie denn dorthin gegangen? Was genau wollten Sie bewirken?“

    Die freundliche Elena, so ist aus ihrem Profil ersichtlich, arbeitet als Produzentin bei der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK. Sie war früher Korrespondentin des Nachrichten-Fernsehsenders Rossija 24. Ist also eine Art Journalistin. Und weitere Fragen hatte sie nicht: Warum wurde Aleschkowski plötzlich verhaftet, warum sperrte man ihn ein, ohne Essen und Trinken, ohne Erlaubnis, seinen Anwalt anzurufen … Wer verweigerte es ihm? Warum verbrachten die Verhafteten die Nacht auf einem kalten Zellenboden? Tja: Hätte diese Elena ein bisschen auf Facebook herumgeklickt, hätte sie leicht eine Antwort auf all diese leider nicht gestellten Fragen gefunden: Die Bullen erklärten dem bald eintreffenden Anwalt gegenüber arglos, dass sie speziell harte Order von oben hätten … Woher genau „von oben“? Oh, das hätte ein Thema für einen wunderbaren journalistischen Beitrag auf WGTRK sein können.

    Kleiner Scherz.

    Es geht hier nicht um die Pflichten von Journalisten und nicht einmal darum, was aus dem staatlichen Journalismus geworden ist – es geht um einen mentalen Riss. Um ein Verständnisloch, das, so scheint es, durch keinen Dialog mehr zu schließen ist.

    Denn nach allem, was wir wissen, ist Elena kein schlechter Mensch. Nun, zumindest mit Abstand nicht der schlechteste, nicht mal in den Weiten von Mitjas Facebook. Allerdings gelten für sie staatliche Handlungen stillschweigend als Norm, Aleschkowskis Verhalten hingegen erscheint ihr sehr merkwürdig! Sie hat nichts gegen ihn; beschimpft ihn und die anderen, die mit ihm auf den Platz gegangen sind, nicht (das findet man in benachbarten Einträgen des Kommentar-Verlaufs). Elena versucht aufrichtig, ihn und unsere Logik zu verstehen.

    Und kann es nicht!

    Und wir können es nicht erklären (weder ihr noch den Millionen ihrer mentalen Brüder und Schwestern), was uns geritten hat, was uns damals in dieser Hundekälte auf die Manege drängte, nachdem die Richter des Samoskworetschjer Gerichts Oleg Nawalny hinter Gitter geschickt und Alexej Nawalny die soundsovielte Bewährungsstrafe verpasst hatten. Wir bleiben beim Offensichtlichen stecken, besser gesagt bei dem, was offensichtlich scheint, und zwar uns. Und lassen bei den ersten Worten hilflos die Arme hängen.

    Denn das ist so ein Fall, von dem man sagen kann: Wenn es eine Erklärung braucht, braucht man es gar nicht erst zu erklären.

    Und zum hundertsten Mal heißt es, sich an Montaigne zu erinnern: Nicht die Dinge quälen uns, sondern unsere Vorstellung von ihnen. Darin besteht der ganze Kern und das ganze Grauen der Hoffnungslosigkeit. Die Gesetzlosigkeit im eigenen Land quält Mitja Aleschkowski, nicht aber Elena, das war’s! Und Mitjas gibt es weitaus weniger als Elenas.

    Für Aleschkowski (Gandlewski, Bykow, Rubinstein, Tschudakowa und einige Tausend weniger bekannte Menschen, die auf dem Manegen-Platz waren) bedeuteten die Ereignisse im Gericht von Samoskworetschje an jenem Tag eine persönliche Ohrfeige. Für Elena waren sie kein Anlass, sich vom Leben ablenken zu lassen. Und daran ist nichts zu ändern.

    In beiden Fällen ist es zu spät.

    Denn das Verständnis und die Vorstellungen der Menschen von sozialen Verhaltensregeln, von Pflichten und Scham – all das wird in der Kindheit geprägt, und danach, wie bei analogen Fotografien, nur noch entwickelt und allmählich zum Vorschein gebracht. Im Alter von 30–40 wird es in der Lösung der Biographie fixiert.

    Das entstandene Bild zu ändern, ist nicht mehr möglich.

    Deswegen ist es genauso unmöglich, Elena angesichts der willkürlichen Verurteilung ihres Landsmanns ein Empfinden von Scham aufzuzwingen, wie es unmöglich ist, Mitja patriotische Freude angesichts der Angliederung der Krim aufzuzwingen. Das liegt in beiden Fällen jenseits der Grenzen persönlicher mentaler Erfahrung.

    So knallen im engen Kosmos von Facebook zwei einander fremde Zivilisationen aufeinander und senden sich in gegenseitigem Unverständnis Signale: Piep, piep ….

    Vielmehr sendet Mitja nicht einmal ein Piep … er kreist einfach auf seiner merkwürdigen Umlaufbahn. Und Elena, die ach so anständige, normale, vom Allrussischen Sender WGTRK, zeigt sich interessiert: Was macht denn der da bloß?

     

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  • Die Propagandamacher (Teil 2)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Wie werden Nachrichten in Propaganda verwandelt? Das Kulturportal Colta.ru hat Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus dem Inneren russischer TV-Sender veröffentlicht. Hier nun der zweite Teil dieser Materialien auf dekoder.

    Sergej Semjonow (Name geändert), Producer (REN TV)

    Ich habe bei der Sendung Sonderprojekt gearbeitet und bin dann vor einem Jahr gegangen. Aber den April und Mai habe ich noch mitbekommen – wie sich die Krim abspaltete und die ersten Säuberungen nach dem Maidan anfingen. Wir hatten den Auftrag für den Film Liebling, ich mach grad Revolution! Wir wollten da das aktuelle Thema Ukraine aus einer etwas anderen, persönlichen Perspektive angehen: Wir haben alle Revolutionsführer genommen, unsere guten Jungs von der Krim und die bösen Anführer des Maidan, und wollten zeigen, wie ihre Ehefrauen sich fühlen, wenn der Mann sagt: „Liebling, ich mach grad Revolution!“, wie die Familie das erlebt.

    Natürlich haben wir bei den bösen Figuren nicht nach guten Eigenschaften gesucht – dass sie eine Ehefrau, Kinder und eine Mutter haben – sondern nach einer Geliebten, nach abträglichen Seiten im Privatleben. An die Anführer der antirussischen Revolution heranzukommen war für russische Sender völlig unmöglich. Wir konnten unser Aufnahmeteam nicht dorthin schicken. Eine Akkreditierung hatten nur die Nachrichtenredaktionen. Alle anderen, auch Dokumentarfilmer, wurden damals wie heute nicht in die Ukraine gelassen. Also mussten wir uns was ausdenken. Deshalb wurde alles über Freelancer erledigt, aber kein ukrainischer Freelancer wollte etwas mit russischen Sendern zu tun haben.

    Als wir an einem Beitrag über den mittlerweile toten Musytschko alias Sascha Bilyj arbeiteten, haben wir uns einer jungen Freelancerin nicht als russischer, sondern als amerikanischer Sender vorgestellt. Wir haben gesagt, dass wir ihn als dynamischen Menschen zeigen möchten, der gut ist und Gutes will. Kurz, wir haben sie angelogen.

    Es war schwierig, Leute vom Maidan vor die Kamera zu bekommen. Aber diese Freelancerin kannte Musytschko persönlich und hat einen Termin mit ihm organisiert gekriegt, zwischen zwei Veranstaltungen. Er hat sich natürlich in gutem Licht dargestellt, aber wer sich mit Schnitt auskennt, weiß, dass man alles so zusammenschneiden und montieren kann, wie man es gerade braucht. Eine große Hilfe dabei war sein Background: Auf öffentlich zugänglichen Videos benahm er sich wie ein Verbrecher, mit Maschinenpistole schnappt er sich Beamte und packte sie bei der Krawatte. Das alles haben wir mit den Gesprächsaufnahmen gegengeschnitten, in denen er mit seinem bedrohlichen, vernarbten Kopf zu sehen ist und erzählt, wie nett und puschelig er ist, wie sehr er das Angeln, Eichhörnchen und seine Liebste mag. Außerdem haben wir noch ein Video hervorgeholt (das erstmals einige Tage zuvor auf NTW gezeigt worden war – Anm. Colta), in dem jemand auf dem Boden liegt, der dem armen Musytschko von weitem sehr ähnlich sieht, dahinter ein Mädchen im Sessel, die ihm mit einem schwarzen Stiefelabsatz ins Gesicht tritt – so Sadomaso-Zeug. Diese Bilder haben wir zwischen zwei Aufnahmen gepackt, in denen er besonders eifrig einen auf netter Kuschelbär macht – das Ergebnis war ein Porträt eines kompletten Perverslings.

    Als wir das alles zusammengeklatscht hatten, kriegte ich plötzlich große Angst: Was wird denn jetzt mit dieser armen Freelancerin, die das Ganze organisiert hat? Musytschko war ja knallhart – sein Großvater war Nationalist und Verfolgter [während der stalinschen Repressionen – dek], sein Vater ist da im Norden, im Lager aufgewachsen und hat dann später gesessen. Der Hass auf die Sowjetmacht war bei ihm erblich bedingt, er verband sie mit der russischen Besetzung der Ukraine. Für ihn waren die Russen immer schon Feinde und alle, die gegen sie sind, Freunde. Wir hatten echt Angst: Wenn er sieht, was wir da bringen, schlägt er diese Freelancerin ganz einfach tot, mit einer Eisenstange auf den Kopf und das war's.

    Die Sendung sollte am Mittwoch kommen. Am Montag haben wir angefangen zu überlegen, wie wir die Freelancerin da raushauen, haben einen ausführlichen Plan gemacht, aber in der Nacht auf Dienstag wurde er erschossen. Und so kam es, dass wir das letzte Interview mit ihm hatten – über sein Privatleben und Sexualexzesse.

    Das Einzige, was ich bei seinem Tod spürte, war Erleichterung wegen des Schicksals der Journalistin. Ich bin ein gläubiger Mensch, ich hatte gebetet: „Gott, wie kann ich sie retten? Gott, soll diese Sünde wirklich auf meiner Seele lasten? Für mich ist das einfach nur noch ein Film, aber sie wird erschlagen und Schluss.“ Aber die himmlische Hand hat alles gefügt, obwohl wir danach im Studio noch lange rumgescherzt haben, dass ich den Mord an Musytschko bestellt habe.

    Bei unserer Sendung änderte sich vor allem das Themenspektrum: Vor den aktuellen Ereignissen waren unsere Hauptfeinde solche wie die Rothschilds, Morgans und die ganze übrige Verschwörung des Weltkapitals, das uns mal mit schlechtem Essen vergiftet, mal den Ölpreis erhöht oder senkt. Als die Ereignisse in der Ukraine anfingen, wurde aus dem allgemeinen ein konkreter Feind. Aber das Redaktionsklima bei den Produktionen hat sich nicht verändert. Alles war wie immer, wir haben zur üblichen Zeit Mittagspause gemacht und zur üblichen Zeit die Bahn genommen. Bei uns waren auch Leute beschäftigt, die aus dem Donbass oder der Ukraine stammten, aber sie hatten keinerlei Probleme damit, die Dinge im gewünschten Licht darzustellen. Journalisten und Prostituierte unterscheiden sich nur dadurch, dass die einen es mit dem Körper tun und die anderen mit dem Kopf. Auch unsere finanzielle Lage hat sich nicht verändert. Das gibt es nur in schlechten Propagandafilmen: „Sie werden jetzt besser bezahlt und laufen schneller.“ Warum sollte ein Arbeitgeber das tun? Die Sendezeit bleibt gleich, der Produktionsumfang bleibt gleich. Es gibt einfach nur ein neues Brennpunktthema. Aber natürlich war das viel interessanter zu bearbeiten als die Rothschilds und Rockefellers. Es gab hier weniger Hirngespinste und mehr echten Stoff, emotionaleres Material.

     

    Stanislaw Feofanow, Producer (NTW, REN TV, TWZ)

    Zu Beginn der Ereignisse in der Ukraine habe ich für Die Woche gearbeitet, bei Marianna Maksimowskaja, von der Besetzung des Maidans bis zum Abzug der [ukrainischen – dek] Truppen von der Krim. Die Sendung unterschied sich sehr von dem ganzen Mist, der sonst auf REN TV lief. Wir haben versucht, objektiv zu berichten. Ich weiß noch, als das Regionalverwaltungsgebäude in Donezk besetzt wurde, sprachen wir erst mit den [separatistischen – dek] Milizen und fuhren dann viele Kilometer, um mit den ukrainischen Militärs zu reden. Ich staune immer, wenn erzählt wird, dass man nicht von zwei Seiten aus filmen kann. Alles geht, man muss es nur wollen! Ich erinnere mich, wie Puschilin uns erzählte: „Die Soldaten aus Kiew fressen der hiesigen Bevölkerung die Haare vom Kopf.“ Wir dachten: Ja, interessante Geschichte. Wir fuhren in ein Dorf, sprachen mit den alten Mütterchen dort, und die sagten: „Niemand wird armgefressen, wir kommen gut miteinander aus.“ Dann gingen wir zu den Soldaten, sie gruben gerade einen Panzer ein. Wir dachten, dass die uns auf der Stelle festnehmen, aber sie sagten gleich: „Wir können gern reden, worum geht‘s? Ob wir den Leuten was wegfressen? Ach wo, wir haben doch eine Feldküche.“ Während des Gesprächs kamen zwei Autos vorbei – in einem brachten Einheimische den Soldaten Borschtsch, im anderen wurde leckerer Speck rangekarrt. Wenn du natürlich mit der Vorstellung ankommst, dass hier Strafkommandos sind – mit denen braucht man gar nicht erst zu reden, ihre Gesichter sprechen für sich – dann sehen die Bilder hinterher auch so aus. Aber bei uns wurden die Themen ausgewogen dargestellt, wir haben beide Seiten zu Wort kommen lassen.

    Ich kann mich an keine Fälle von direkter Zensur bei der Woche erinnern. Die Leitung des Senders hat vielleicht bestimmte Fragen mit Marianna diskutiert, aber ich habe so etwas nicht mitbekommen. Trotzdem war klar, dass die Sendung an einem seidenen Faden hing, das Ende der Woche kam nicht unerwartet. Nach dem Abschuss der Boeing wurde es völlig unmöglich, so zu berichten, wie wir es bisher getan hatten. Aus allen Kanälen dröhnte und polterte es über die Junta, die Strafkommandos, die das Flugzeug abgeschossen hätten. Wir waren gerade im Urlaub, als die SMS von Marianna kam: „Liebe alle! Es ist soweit, unsere kleine, stolze Sendung wird abgesetzt. Vor uns liegt eine schöne neue Welt, in der das Leben anders sein wird.“ Heute arbeiten einige aus dem Team als Freelancer, andere gar nicht, wieder andere sind im Nachrichtenbereich von REN TV geblieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.

    Die Sendung Die Verteidigungslinie bei TWZ, bei der ich jetzt arbeite, ist ein Grenzfall. Es gibt bei uns Filme wie Die fünf Versprechen von Poroschenko, aber sie sind eher ironisch als propagandistisch. Ich selbst mache Beiträge zu abseitigeren Themen. Direkte Propaganda zu drehen, wird mir nicht angetragen, und ich würde das auch nicht machen. Ich hab jetzt Angebote vom Film und sollten die mir im Sender sagen: „Du musst das und das tun“, dann werd ich sagen: „Müssen muss ich gar nichts, auf Wiedersehen.“

    Natürlich ist die Verteidigungslinie nach der Woche ein Rückschritt. Aber was soll man machen? Man muss ja irgendwie leben. Ein Haufen talentierter Leute finden für sich beim Fernsehen keinen Platz mehr, wie zum Beispiel Roman Super oder Andrej Loschak, der kürzlich in einem Interview gesagt hat: „Vielen jungen Journalisten sagt mein Name vielleicht nichts mehr, weil ich vom Bildschirm verschwunden bin.“ Und Wadim Kondakow ist zu einem beschissenen Wirtschaftsforum gefahren, um dort Werbung zu drehen. Ich habe Angebote von den Sendern LifeNews und Swesda gekriegt, aber damit will ich gar nichts zu tun haben.

    Bei TWZ muss ich mich nicht verbiegen. Aber mir passt es nicht, dass im Umfeld unserer Arbeit zweifelhafte Sachen ausgestrahlt werden – keine regelrechte Propaganda, aber mit einem deutlichen Beigeschmack. Für mich ist das Fernsehen nicht mehr kreativ. Das betrifft vor allem die Themenwahl. Es gibt eine Zensur unter dem Deckmäntelchen: „Das Thema bringt keine Quote.“ Ich habe vorgeschlagen, darüber zu berichten, wer an den Bändchen und Schirmmützen zum 9. Mai verdient hat. Die haben teilweise 300 Rubel pro Stück gekostet – bei 100.000 Käufern sind das 30 Millionen Rubel. Also lasst uns einen Film darüber machen, wie man mit dem Patriotismus Geschäfte macht. Nein, das bringt keine Quote. Wir machen lieber was über eine russische Wanga, irgendein altes Mütterchen, das Vorhersagen macht. Bei TWZ werden von einem Dutzend Themen, die dich reizen, bestenfalls ein oder zwei genehmigt, ansonsten muss man an Sachen arbeiten, die man nicht mag.

    Vor REN TV war ich zusammen mit Katja Gordejewa und Andrej Loschak bei Beruf – Reporter auf NTW. Wir haben dort aufgehört, als sie nach unserem Film über die Proteste 2011–2012 die Daumenschrauben angezogen haben. Die Sendung ist praktisch gesprengt worden. Geblieben ist nur die Marke – sie wird zwar immer noch gesendet, aber gemacht wird sie von der NTW-Leuten aus der Kriminalabteilung. Wir hatten gehofft, dass die Demonstrationen, die Welle der Empörung den Niedergang aufhalten würde, dass sie den Damm brechen würde und daraus ein freies Fernsehen entsteht. Damals hatten die Leute noch zwischen NTW als Sender und der Sendung Beruf – Reporter unterschieden. Doch einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, war ein Gespräch auf der Kundgebung Beerdigung von NTW am Ostankino-Gebäude. Ich wurde gefragt, wie ich mich als anständigen Menschen betrachten kann, wenn ich da arbeite, wo Anatomie des Protests gemacht wird. So ein Gefühl wie „Wem haben wir da nur den Sender überlassen?“ kam gar nicht erst auf – es war schon klar, wem.

    Wer beim Ersten Kanal und bei Rossija 24 richtige Propaganda macht, dem ist alles sonnenklar. Hypotheken, Schulden, Probleme zu Hause. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bin in einer ähnlichen Lage: Ich lebe in einer Mietwohnung, im Herbst werde ich einen Kredit für eine Wohnung aufnehmen, aber ich begreife nicht, wie man den Leuten Scheiße in die Ohren kippen kann. Ich muss in solchen Fällen immer an meine Mutter denken. Sie ist sowieso schon so gehirngewaschen, dass ich manchmal nicht weiß, worüber ich mit ihr reden soll, außer über Haushalt. Bei ihr läuft dauernd der Fernseher, Kisseljow schwadroniert, Mamontow orakelt, und ich denke mir: „Wie kann ich bloß meine eigene Mutter belügen?“ Ich merke, dass ich auch mein Scherflein dazu beitrage.

    Früher haben wir über die Leute gelacht, die die Kriminalsendungen bei NTW machen. Es war widerlich, wenn ein irgendein Korrespondent unter irgendeinem Vorwand in eine Wohnung eindrang und das dann landesweit ausgestrahlt wurde und die Mitkowa allen eine Mail schickte: „Schaut mal, Leute, was für coole Arbeit die Kriminalabteilung abgeliefert hat!“ Wir dachten: Das geht nicht – Sicherungen rausdrehen, damit die Leute dir die Tür aufmachen, und dann alles mit versteckter Kamera aufnehmen. Aber die, die so etwas nicht fertigbrachten, wurden von einer Welle skrupelloser Journalisten schlichtweg verdrängt.

    In dieser Zeit jetzt denkt man nicht so sehr an Status als vielmehr ans Gewissen. Wie kann man sich in die Augen schauen? Wenn man in den Spiegel blickt. Du wachst morgens auf und denkst: „Gestern habe ich ja ganz schön Blabla produziert, was?“ Und kannst du damit weiterleben? Aber die meisten tun das natürlich.


    Diese Gespräche mit Mitarbeitern russischer Fernsehsender wurden aufgezeichnet und für Colta zum Druck vorbereitet von Dimitri Sidorow.

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  • Entlaufene Zukunft

    Entlaufene Zukunft

    Zwar gibt es keine genauen Statistiken, doch vieles spricht dafür, dass die Zahl der gut ausgebildeten russischen Auswanderer steigt. Iwan Dawydow von The New Times versucht, die aktuelle Lage greifbar zu machen und geht der Frage nach, was die jungen Menschen antreibt.

    Der neue politische Kurs des Kremls hat allerlei Auswirkungen, sichtbare wie verborgene. Eine der verborgenen ist die Entstehung einer neuen Klasse von Auswanderern. Junge, talentierte Leute, die in Russland bereits erfolgreiche Unternehmer sind oder beschlossen haben, anderswo bei null anzufangen, verlassen das Land oder planen den Aufbruch. Dabei geht es hier nicht um eine Massenflucht. Beim Großteil der Bevölkerung ist alles genau umgekehrt. Soziologen des Lewada-Zentrums stellen fest: Im Jahr 2015 ist die Zahl der Ausreisewilligen gesunken. Waren im Mai 2012 noch 46 % der Russen dezidiert gegen Emigration, so sind das jetzt 57 %, und die Zahl jener, die definitiv ausreisen wollen, ist im selben Zeitraum von 6 % auf 3 % gesunken. Auf die Frage „Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, aus Russland auszuwandern?“ haben 2012 noch 67 % der Befragten geantwortet: „Daran denke ich überhaupt nicht“, 2015 waren das 73 %.

    So muss es auch sein: Der Hurra-Patriotismus der Propaganda wird ja gerade von den Massen jubelnd begrüßt, die bisher die Folgen des Konflikts mit dem Westen nicht ernsthaft am eigenen Leib gespürt haben. Wobei nach Angaben des Außenministeriums die Zahl der Russen, die ständig im Ausland leben, im vergangenen Jahr um 26.000 gestiegen ist und damit die 2-Millionen-Marke überschritten hat. Aber in den Reihen derer, die sich gestern noch in Russland selbständig machen wollten, die bereit waren, Talent und Grips in die Entwicklung des Landes zu stecken, die nicht von einer Karriere in der Stadtverwaltung oder beim FSB träumten, scheint gar niemand mehr übrig zu sein, der sich nicht für die Preise erschwinglichen Wohnraums in Portugal interessieren, nicht ein bisschen ins tschechische Recht reinschmökern, nicht gelegentlich überlegen würde, womit man denn in London die Leute auf sich aufmerksam machen könnte …

    Genaue Statistiken gibt es dazu noch keine, man muss mit indirekten Daten operieren oder sogar seinen persönlichen Eindrücken. Michail Denisenko, stellvertretender Leiter des Instituts für Demografie an der Higher School of Economics, meint dazu gegenüber The New Times: „Es wandern vor allem Reiche, Gebildete, Fachleute und junge Menschen aus.“ Ihm zufolge ist allein die Zahl jener, die nach Europa ziehen, seit fünf Jahren im Steigen begriffen. Man könne jedoch nicht von einem steilen Wachstum innerhalb eines Jahres sprechen, denn die statistischen Kennzahlen in Europa erfassen längere Zeiträume. Entscheidend ist hier aber nicht, wie viele Leute weggehen, sondern: welche. Anfang der Neunziger liefen vor der russischen Armut jene davon, die sich den Westen als leuchtenden Supermarkt erträumten. In den Jahren des Ölreichtums waren es die Begüterten und die wahren Herrscher über das Land – Silowiki und Staatsbedienstete – , die sich Yachten und Paläste anschafften. Die neuen Emigranten sind ein ganz anderer Fall. Das sind Menschen, die bereit sind, mit eigenen Händen Zukunft zu erschaffen, ihre eigene und die ihres Landes. Und natürlich werden sie das auch machen, sie sind schon mittendrin, bringen Europa zum Staunen: „Die Russen können ja mehr als Kalaschnikows und Panzer herstellen.“ Nur erschaffen sie diese Zukunft weder in Russland, noch für Russland.

    Auch indirekte Anzeichen weisen auf die neuen Emigranten hin. „Das Interesse an der Ausfertigung von Aufenthaltsberechtigungen ist gewachsen, in den letzten zwei Jahren ist etwa die fünffache Menge an Anträgen eingegangen“, erklärt Sofija Axjutina, Koordinatorin für internationale Projekte in der Agentur Euro-Resident. „Früher sind Leute mit beträchtlichen finanziellen Möglichkeiten ins Ausland gegangen, jetzt wollen es auch welche mit kleinem Budget tun.“ Am beliebtesten, sagt sie, sind Spanien, Italien, Deutschland und Belgien sowie, etwas abgeschlagen, Kroatien und Montenegro, wobei früher viele dort hinzogen. Die neuen Emigranten sind also alles andere als Milliardäre und suchen sich wohlüberlegt Orte aus, wo man nicht nur angehäuften Besitz verleben, sondern auch arbeiten und Geld verdienen kann. Politische Reden schwingen sie zwar nicht, ihre Entscheidung ist aber zweifellos als politische Geste zu verstehen. Sie sind nicht gewillt, ihre eigene Zukunft in einem Staat zu riskieren, der von den Silowiki beherrscht wird.

    Sang- und klanglos zu verschwinden ist auch eine Art, in einem Land Politik zu machen, in dem die Bürger keinerlei Möglichkeiten haben, das Vorgehen der Machthaber zu beeinflussen. Der Held aus Tschechows „Fall aus der Praxis“ beantwortet die Frage, was unsere Kinder und Enkel machen werden, so: „Wahrscheinlich lassen sie alles liegen und gehen fort … Einem guten, klugen Menschen steht ja die ganze Welt offen.“ Der Klassiker hat es erraten: Sie gehen fort.

     

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