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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Kirche des Imperiums

    Die Kirche des Imperiums

    Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.

    Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.

    Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.

    Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.

    Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.  

    Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.

    Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.  

    Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.

    Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.

    In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.

    Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.

    Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.

    Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um

    1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und

    2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.

    Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.

    Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von der Heiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rom begeistern.

    Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.

    Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“

    Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.

    Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?

    Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.

    Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:

    1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.

    2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.

    Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.

    So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.

    Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.

    Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.

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  • Fernseher gegen Kühlschrank

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.

    Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.

    Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.

    In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.

    Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.

    Die Utopie des Krieges

    Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.

    Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.

    Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.

    Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“

    Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.

    Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.

    Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens

    Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.

    Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?

    Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?

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  • Presseschau № 12: Justiz 2015

    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Diese Woche stehen in Russland die Räder noch weitgehend still. Nach den Neujahrsfeierlichkeiten  gönnt sich das Land traditionell eine Auszeit. Gedruckte Zeitungen erscheinen erst nächste Woche wieder, online beschränken sich viele Medien auf Rezept-Tipps und Ratschläge, wie man Streit mit der Familie und Freunden während der Feiertage vermeidet.
    Die Pause im Nachrichtenstrom bietet eine gute Gelegenheit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, welches vor lauter Ukraine,  Syrien, Sanktionen und Gegensanktionen in der ausländischen Wahrnehmung oft zu kurz kommt: dasjenige der Rechtsprechung. Dass diese in Russland oft ihren eigenen, für den Außenstehenden wenig transparenten Regeln folgt, ist bekannt. Schuldsprüche sind in mehr als 90 Prozent aller Prozesse an der Tagesordnung. Die offensichtlich politisch motivierten Urteile gegen die Brüder Alexej und Oleg Nawalny sind ja auch im Westen ausführlich diskutiert worden.

    Auch das vergangene Jahr war nicht arm an kontroversen Gerichtsurteilen. Medial den ganzen Sommer über breitgetreten wurde der Fall Jewgenija Wasiljewa. Er bot einigen Sprengstoff: Die hochgestellte Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums hatte durch manipulierte Verkäufe staatlicher Immobilien Gelder in Millionenhöhe veruntreut. 2012 wurde der Skandal aufgedeckt und kostete nicht nur sie selbst, sondern auch Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, mit dem sie gerüchteweise mehr als nur eine Geschäftsbeziehung verband, den Job. Bereits die Untersuchungshaft verbrachte Wasiljewa recht kommod in ihrem Moskauer Luxusappartement unter Hausarrest, betätigte sich kreativ und veröffentlichte sogar einen Song über die Pantoffeln des Herrn Verteidigungsministers. Offensichtlich war der Arrest aber nur Formsache, denn tatsächlich wurde sie regelmäßig auf Shoppingausflügen angetroffen. Im Mai 2015 erging dann unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit das Urteil, Wasiljewa wurde zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Ob sie überhaupt je einen Tag hinter Gittern verbrachte, ist allerdings unklar, denn auch weiterhin wurde sie in Freiheit gesehen, angeblich in einer Moskauer Bankfiliale. Gerüchteweise ließ sie sich im Straflager durch ein Double vertreten. Bereits im August wurde ihr dann die restliche Gefängnisstrafe auf Bewährung erlassen – ihrer positiven Charaktereigenschaften wegen, so das Gericht.

    Die Öffentlichkeit reagierte mit Unverständnis. Vor drei Jahren berichteten Medien noch von 1500 Stück Schmuck, welche Ermittler in Wasiljewas 13-Zimmer-Wohnung beschlagnahmt hatten. Von einer Durchsetzung der staatlich propagierten Antikorruptionskampagne konnte offenbar nicht die Rede sein. Privilegien und Beziehungen erlaubten es der Beamtin, sich ihrer Strafe zu entziehen. Übrigens: Ex-Verteidigungsminister Serdjukow ging gar völlig straffrei aus. Sogar mit seiner Karriere geht es nun wieder steil nach oben. Im Oktober 2015 wurde er auf einen Direktionsposten bei der Staatskorporation Rostechnologii berufen.

    Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt das System jedoch in anderen, oft minderschweren Fällen. Etwa bei Oleg Senzow. Der ukrainische Filmregisseur und sein Mitangeklagter Oleksandr Koltschenko wurden in einem harten Urteil Ende August zu 20, respektive zehn Jahren Haft verurteilt. Die beiden wurden beschuldigt, 2014 auf der frisch durch Moskau annektierten Krim Terroranschläge auf Infrastrukturobjekte geplant und ausgeführt zu haben. Senzow, welcher international bereits mit seinem Film Gaamer in Erscheinung trat, streitet die Vorwürfe ab. Er habe als Aktivist der pro-ukrainischen Automaidan-Bewegung nur ukrainische Truppen mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgen wollen, als diese im Februar 2014 durch die plötzlich auftauchenden Grünen Männchen am Verlassen ihrer Stützpunkte gehindert wurden. Beobachter kritisierten den Prozess als politisch motiviert. Koltschenko gibt an, einzig an einem Brandanschlag auf das Büro der Kremlpartei Einiges Russland in Simferopol teilgenommen zu haben. Vor Gericht widerrief einer der Zeugen der Anklage sein Geständnis, es sei unter Folter zustandegekommen. „Ein Gericht von Besatzern kann per Definition nie gerecht sein“, gab sich Senzow bei seinen letzten Worten im Gerichtssaal kämpferisch. 

    Die beiden Ukrainer sind nur ein Beispiel für die selektive Anwendung der Rechtsprechung 2015. Zunehmend machten russische Gerichte im vergangenen Jahr von repressiven Gesetzen Gebrauch, schreibt Vedomosti. Unabhängigen Informationszentren wie OVD-Info zufolge sei die Zahl politisch motivierter Strafverfolgungen von 184 im Jahr 2014 auf 230 in diesem Jahr gestiegen, so Vedomosti weiter. Das bislang letzte umstrittene Urteil erging Anfang Dezember: Der Aktivist Ildar Dadin wurde wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Demonstrationen zu drei Jahren Straflager verurteilt. Zum ersten Mal kam dabei ein Artikel zur Anwendung, der wiederholte Verletzungen des Demonstrationsrechts unter Strafe stellt. Wie bereits berichtet, sind noch weitere Personen aufgrund dieses Artikels angeklagt, etwa Wladimir Ionow. Der 75-jährige Aktivist entzog sich jedoch der russischen Justiz und floh kurz vor der Verkündung seines Urteils ins ukrainische Charkiw.

    In Russland wird das Strafgesetzbuch immer stärker zum einzigen Instrument des Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, fasst die Novaya Gazeta die Entwicklung der vergangenen Monate zusammen. Die hier geschilderten Fälle bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Zu den prominentesten Häftlingen, welche derzeit noch auf ihre Urteile warten, gehört etwa die ukrainische Militärpilotin Nadja Sawtschenko. Ihr wird vorgeworfen, während des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine Informationen an Artillerieeinheiten weitergegeben zu haben, die dann zum Tode zweier russischer Journalisten führten. Zudem wird sie beschuldigt, illegal die russische Grenze überquert zu haben. Dem hält Sawtschenko entgegen, dass sie durch prorussische Separatisten im Juli 2014 gefangen genommen und gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden sei. Zuletzt wurde ihre Untersuchungshaft bis zum 16. April 2016 verlängert, im Falle eines Schuldspruches drohen ihr bis zu 25 Jahre Haft.

    Ebenfalls noch in Untersuchungshaft befindet sich Pjotr Pawlenski, welcher im November die Eingangstür der FSB-Zentrale an der Lubjanka in Brand gesteckt hatte. Der Performancekünstler hatte bei seiner Anhörung explizit auch für sich eine Anklage wegen Terrorismus gefordert und auf Senzow und Koltschenko und die Taten verwiesen, die ihnen zu Last gelegt werden.

    Die Eigenheiten des russischen Rechtssystems zeigen sich auch an dem nach wie vor nicht aufgeklärten Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Die Bilder aus der Mordnacht und vom Gedenkmarsch, auf dem eine Woche später Zehntausende des Oppositionspolitikers, ehemaligen Vizeministerpräsidenten und Abgeordneten des Regionalparlaments von Jaroslawl gedachten, gehören zu den eindrücklichsten und verstörendsten des gesamten Jahres.

    Bereits kurz nach der Bluttat am 27. Februar wurden fünf Verdächtige den Medien vorgeführt, Ende Dezember Anklage erhoben. Die Spuren des Mordes führen in Kreise tschetschenischer Sicherheitskräfte. Laut dem Ermittlungskomitee hat der Fahrer des ranghohen tschetschenischen Polizeioffiziers Ruslan Geremejew, Ruslan Muchudinow, das Verbrechen organisiert und in Auftrag gegeben. Geremejew selbst zu befragen, schafften die Behörden nicht, auch mögliche Verstrickungen von Republikchef Ramsan Kadyrow wurden nicht untersucht. Die Anklage geht davon aus, der Mord sei aus Rache erfolgt, wegen der öffentlichen Unterstützung Nemzows für das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, schreibt der Kommersant. Die politische Tätigkeit des Kremlkritikers scheidet laut den Ermittlern als Motiv aus. Muchudinow ist zurzeit international zur Fahndung ausgeschrieben.

    Die offizielle Version trifft bei politischen Weggefährten und Angehörigen des ermordeten Kremlkritikers auf Unverständnis und Empörung. Wadim Prochorow, der Anwalt der Hinterbliebenen, kritisiert in einem Interview mit der New Times, dass die Behörden den Vorgesetzen Muchudinows aus ihren Untersuchungen aussparten, sämtliche Angeklagten hätten nicht aus eigener Initiative gehandelt. Ein persönliches Motiv hätten auch die anderen Beschuldigten nicht, nur ihre Hintermänner. Er sei überzeugt, dass die Auftraggeber durch den Mord Russland von einer angeblichen Fünften Kolonne säubern wollten,  so der Anwalt weiter. Von einem politischen Motiv geht auch Tochter Shanna Nemzowa, welche Russland nach dem Mord verlassen hat, aus. Die Journalistin, welche nun für die Deutsche Welle arbeitet, macht sich erst für die Zeit nach Putin Hoffnung auf eine restlose Aufklärung des Verbrechens.

    Beobachtern zufolge sollen die harten und oft selektiv anmuntenden Gerichtsurteile des vergangenen Jahres in erster Linie potentielle Kritiker davon abhalten, öffentlich ihren Unmut zu äußern, sind im September 2016 doch Dumawahlen geplant. Politische Proteste seien für den Einzelnen vor dem Hintergrund einer sozialen Krise gefährlich, kommentiert Vedomosti. Dies stimmt wenig hoffnungsvoll für den Start ins neue Jahr.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Aus der Tiefe

    „Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.

    Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.

    Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.

    Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.

    Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“

    Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima

    Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.

    Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.

    Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.

    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow
    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow

    Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“

    Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“

    Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.

    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow
    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.

    Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.

    Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher

    „Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.

    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow
    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“

    Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle

    Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.

    An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.

    Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.

    Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.

    In der „Notschleshka“ ist er seit zwei Tagen: Er war schon beim Arzt, hat einen Pass beantragt und sich in der Bibliothek Anna Karenina, Die Stechfliege und Das Ende einer Utopie: Aufstieg und Zusammenbruch der Finanzpyramide ausgeliehen.

    Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden

    Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.

    Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.

    Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten

    Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.

    Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.

    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow
    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow

    In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.

    Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.

    Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.

    Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld

    Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.

    Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.

    „Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.

    Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“

    Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“

    Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren

    Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“

    Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.

    Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.

    Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen

    Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“

    Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.

    „Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“

    An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.

    Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat

    Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.

    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet - täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow
    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet – täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow

    Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“

    Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.

    Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.

    Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses

    Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.

    In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.

    Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“

    Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.      

               

     

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  • Bestrafter Protest

    Bestrafter Protest

    Seit Juli 2014 ist in Russland ein Gesetz in Kraft, nach dem Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht als Straftat geahndet werden können. Nun ist das neue Gesetz zum ersten Mal angewendet worden: Für vier Protestaktionen im Laufe des vergangenen Jahres muss der Aktivist Ildar Dadin für drei Jahre ins Lager. Damit fällt die Strafe sogar höher aus, als vom Staatsanwalt gefordert. Beobachter sehen darin eine Warnung davor, sich im politischen Protest zu engagieren.

    Der politische Aktivist Ildar Dadin ist vom Basmanny-Gericht in Moskau wegen wiederholten Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht zu drei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden. Er ist damit die erste Person in Russland, deren Verurteilung mit dem neuen Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs begründet wurde. Dieser Artikel stellt den wiederholten Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen unter Strafe. Der Staatsanwalt hatte nur zwei Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug beantragt – also ein weniger strenges Strafmaß, als es Richterin Natalja Dudar letztlich verhängte. Dadin lehnte es ab, sich schuldig zu bekennen.

    Ildar Dadin wurde die Teilnahme an vier Aktionen im Jahr 2014 angelastet, wobei nach Auskunft seiner Anwältin Xenija Kostromina für drei dieser Fälle bereits rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfolgt waren; im vierten Fall war das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf  die Eröffnung eines Strafverfahrens eingestellt worden. Dem Aktivisten wird die Beteiligung an Protestaktionen am 6. und 23. August, am 13. September sowie am 5. Dezember 2014 angelastet. Bei der letzten Aktion hatten acht Aktivisten mit einem Transparent „Gestern Kiew – morgen Moskau“ die Straße blockiert, Fackeln angezündet und sich in Richtung Lubjanka bewegt. Dadin war am 15. Januar auf dem Manegenplatz festgenommen worden. Er erhielt 15 Tage Arrest. Am 30. Januar wurde er im Gerichtstermin dem Ermittlungsrichter überstellt, wo die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit verhandelt wurde. Am 3. Februar wurde Dadin unter Hausarrest gestellt. Der Ermittlungsrichter hatte Untersuchungshaft gefordert, mit dem Hinweis darauf, dass Dadin am Kiewer Maidan beteiligt gewesen sei. Zuvor waren Verfahren nach Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs auch gegen die Aktivisten Wladimir Ionow, Mark Galperin und Irina Kalmykowa eröffnet worden. Sie alle hatten sich an anderen oppositionellen Aktionen beteiligt.

    Die Verschärfung des Demonstrationsrechts nahm nach den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 ihren Anfang. Einen Monat später wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für Ordnungverstöße bei der Durchführung von Demonstrationen drastisch erhöhte. Im Juli 2014 traten dann die Änderungen im Strafgesetzbuch in Kraft. Vorgeschlagen hatten diese Gesetzesänderungen die Staatsduma-Abgeordneten Igor Sotow (von der Partei Gerechtes Russland) sowie Andrej Krassow und Alexander Sidjakin (beide von der Partei Einiges Russland). Sidjakin sagte, die Änderungen seien notwendig, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Ereignisse in Russland wiederholen. Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Bestraft wird der wiederholte Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen. Dazu müssen innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten nach Artikel 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten erfolgt sein.

    Zu dem Urteil erklärt Sidjakin: „Es widerspricht meiner Überzeugung als Jurist, das Urteil zu kommentieren, ohne alle Seiten des Verfahrens zu kennen. Das Strafmaß hat vier Funktionen: Schutz, Wiedergutmachung, Prävention und Bestrafung. Die Verteidigung wird wohl Berufung einlegen, und das Gericht wird alle ihre Argumente prüfen“, erklärt Sidjakin. Der Präsident habe in seiner letzten Ansprache gesagt, dass für kleinere Vergehen trotz allem administrative und keine strafrechtlichen Sanktionen in Betracht kommen müssten, bemerkt der Abgeordnete Rafael Mardanschin (Einiges Russland), Mitglied des Strafrechts-Ausschusses der Duma. „Aber die Ansprache liegt noch nicht lange zurück und die Anstrengungen zur Humanisierung haben gerade erst begonnen“.

    Der Menschenrechtsaktivist Pawel Tschikow sagt, dass dies das erste Urteil nach dem neuen politischen Artikel des Strafgesetzbuches sei und dass es kurz vor Beginn des Wahljahres Angst verbreiten solle: „Ein Urteil, das nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist, hätte eine Amnestie bedeutet. Und auch bei der Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis wäre er freigekommen, weil er sich schon fast ein Jahr unter Hausarrest befindet. Ein solches Urteil signalisiert, dass von den Richtern in Bezug auf diesen und andere Artikel keinerlei Erbarmen und Nachsicht zu erwarten sind.“ Laut Tschikow wird bereits am Dienstag bekanntgegeben, welches Strafmaß der Staatsanwalt für Ionow beantragt: „Ionow könnte wegen seines fortgeschrittenen Alters verschont bleiben. Kalmykowa hat sich bereits schuldig bekannt. Aber Galperin muss sich leider auf eine echte Haftstrafe gefasst machen.“

    Es werden Präzedenzfälle geschaffen, um ein Signal an alle zu senden, die bereit sind, sich in der Protestbewegung zu engagieren – so der Politologe Konstantin Kalatschew. „Vor dem Hintergrund der sozialen Krise wird der politische Protest zu einer gefährlichen Sache.“ Der Politologe hält solche Methoden jedoch für sinnlos, weil „man den Menschen den politischen Protest nicht aberziehen kann. Sie wissen, worauf sie sich einlassen und sind bereit, das Risiko einzugehen.“

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  • Vorbild Feind

    Vorbild Feind

    Ob im Kino, in der Wirtschaft, beim Urlaub oder in der Wissenschaft: Fast überall gelten westliche Standards wie selbstverständlich als das anzustrebende Vorbild. Andererseits scheint Russland vor Patriotismus und neugefundenem Selbstwertgefühl zu strotzen, und eben jener Westen ist für den Großteil der Menschen Gegner, ja Feind. Der Politologe Dimitri Trawin sieht in diesem Widerspruch eine Begleiterscheinung aufholender Modernisierung.

    Angenommen, wir würden beschließen, etwas Merkwürdiges zu tun: Wir lassen die russische Bevölkerung abstimmen, welchen Devisenkurs sie möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gäbe es ein Votum für eine Stärkung des Rubels, wobei sich gebildete und erfolgreiche Bürger genauso verhalten würden wie die große Masse. Wir bekommen unsere Löhne ja alle in der nationalen Währung ausgezahlt. Doch sobald Gebildete und Erfolgreiche reales Geld in der Tasche spüren, kaufen viele von ihnen Dollar, da sie genau wissen, wie unsicher Rubel-Ersparnisse sind.

    Haben wir es hier mit Doppelmoral zu tun? Keineswegs. Der Mensch verhält sich absolut aufrichtig, sowohl, wenn er sich für ein Wachstum des Rubels ausspricht, als auch dann, wenn er dessen Stabilität durch seinen Gang zur Wechselstube untergräbt.

    Dieses nicht ganz ernste Beispiel hilft, die Logik der Russen zu verstehen, denen man heute oft eine uneuropäische Mentalität vorwirft, eine mangelnde Bereitschaft zu Reformen und die Neigung, parasitisch vom Petrodollar zu leben. Wenn man sich die großen Umfragen ansieht, zeigen sich überall Patriotismus, Identifikation mit den Machthabern und ein beinahe einmütiges Jasagen. In gewisser Hinsicht ähneln solche Ergebnisse in der Meinungsforschung aber jenen in unserer hypothetischen Umfrage zum Rubel: Sie sagt nichts über das wirkliche Leben der Gesellschaft, sondern eher über das Streben nach einem Ideal.

    Die wahren Haltungen eines Menschen sind mit Umfragen schwer zu ermitteln. Wenn man dann gewisse Aspekte unseres Lebens genau unter die Lupe nimmt, entdeckt man plötzlich Dinge, die nicht in das übliche Bild passen.

    Professoren beklagen sich oft, dass ihre Publikationen in russischen Fachzeitschriften bei der Bewertung ihrer Arbeit immer seltener Beachtung finden. Dafür bekommt der, der einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift unterbringt, eine große Prämie. Ist das Kriecherei vor dem Westen, herkunftsvergessener Kosmopolitismus? Ganz bestimmt nicht. Es ist gewöhnlicher Pragmatismus, der Wunsch, Teil jener Wissenschaft zu sein, die heute als maßgeblich gilt. Wobei derselbe Rektor, der die Prämienanweisung unterschreibt, in öffentlichen Reden seine für die staatlichen Unterstützungsgelder so notwendige Liebe zur Krim, zu China, zur Importsubstitution und zur Partei Einiges Russland kundtut.

    Und nun ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich – dem Immobilienmarkt. In St. Petersburg werden potenzielle Käufer überschüttet mit Reklame für schwedische Wohnungen, finnische Häuser, 2- und 3-Zimmer-Studioapartments nach europäischem Standard und sogar ganze, nach westlichen Hauptstädten benannte Häuserblöcke. In diesem pragmatisch durchkonzipierten Business weiß man genau, wo die wirklichen Prioritäten zahlungskräftiger Menschen liegen, welchen Lebensstil sie attraktiv finden. Niemand versucht, einem erfolgreichen Menschen, der über ein paar Millionen für den Kauf einer Immobilie verfügt, Wohnanlagen namens Shanghai, Dubai oder Mumbai schmackhaft zu machen.

    Schauen wir vom Immobilienmarkt hinüber zum Sport. Hier herrscht, so will man meinen, unverhohlener Patriotismus. Hier jubelt man den eigenen Leuten zu und hasst aufrichtig sämtliche Gegner. Nur dass der Begriff „eigene Leute“ in letzter Zeit äußerst vage geworden ist. Wir unterstützen aufrichtig eine Fußballmannschaft, die beinahe gänzlich aus Legionären besteht, während sich unter den Gegnern massenhaft Landsleute finden. Und der Klub braucht nur die Legionäre auszuwechseln – und schon sympathisieren die Fans mit Spielern, die sie eben noch auspfiffen, als sie in der gegnerischen Mannschaft spielten.

    Das markanteste Beispiel für die Relativität unseres Patriotismus ist aber das Kino. Der Antiamerikanismus geht überraschenderweise mit einer großen Beliebtheit Hollywoods einher. In Umfragen verurteilen unsere Landsleute das amerikanische Militär voller Zorn, aber sobald sich der Befragte zum Zuschauer wandelt, bezahlt er Geld dafür, sich mit einem amerikanischen Marineinfanteristen oder Polizisten identifizieren zu dürfen. Aber auch hier geht es nicht um Doppelmoral. In einem professionell produzierten russischen Actionfilm steht derselbe Zuschauer ebenso gern auf der Seite des vaterländischen Fallschirmjägers oder Polizisten. Doch Hollywood ist stärker, reicher und in der Produktion solcher Spektakel erfahrener. Und ins Kino kommen wir wegen des Spektakels und nicht, um patriotische Gefühle an den Tag zu legen. Wir geben Geld aus für das, was wir brauchen, selbst wenn es das Produkt eines wahrscheinlichen Kriegsgegners ist.

    Ähnlich sieht es im Fernsehen aus. Patriotische „informativ-analytische“ Propaganda wechselt sich ab mit Serien und Shows, die auf Originalen aus Übersee basieren. Millionen von Bürgern werden ständig amerikanisiert, selbst wenn sie sich nie im Kino Hollywoodfilme ansehen. Wie die Erfahrung mit dem Fernsehen zeigt, weinen und lachen wir ungefähr gleich wie die Menschen im Westen. Unsere psychologischen Reaktionen sind ihren sehr nahe. Man kann uns mit ähnlichen Plots fesseln. Wir reagieren auf dieselben Reizfaktoren und ereifern uns, und wir entspannen uns, wenn wir eine Melodie hören, die einem Bewohner Bostons oder Kopenhagens genauso gut gefällt.

    Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen. Ließe ein Soziologieprofessor ein paar aufgeweckte Doktoranden in den Details des wirklichen Lebens der Russen herumwühlen, würden wir wohl mehr Informationen erhalten, als uns die Massenumfragen liefern. Denn bei denen geben die Menschen nicht ihr Alltagsleben wider, sondern ihre mentalen Konstrukte, die sich aus ihren Ängsten, Wünschen und Phobien ergeben, beeinflusst durch das System der Gehirnwäsche.

    Aber man darf die Fragebögen nicht einfach schlechtreden. Sie tun etwas Wichtiges, sie zeigen die Welt der Passionen, in der die Menschen leben. Man sollte bloß nicht glauben, dass es darin um das wirkliche Leben geht.

    Der Mensch einer sich modernisierenden Gesellschaft wird gewöhnlich von Widersprüchen gequält. Im wirklichen Leben orientiert er sich am Lebensstil der erfolgreichen Länder – er will konsumieren wie die dort, Urlaub machen wie die dort, sich vergnügen wie die dort. Doch da dies für die große Masse der Bevölkerung eines rückständigen Landes nicht möglich ist, herrscht in einer sich modernisierenden Gesellschaft Frustration. Und um sich davor zu schützen, baut der Mensch sich einen eigenartigen mentalen Schutzschild: In Wirklichkeit sind wir gar nicht rückständig, in Wirklichkeit sind wir besser, ehrlicher, richtiger.

    Sowohl der Konsum nach westlichen Standards als auch die mentale Ablehnung des Westens sind gleichermaßen ein Ergebnis der aufholenden Modernisierung. Ungefähr genau so, unter Widersprüchen leidend, versuchten seinerzeit die Deutschen, den Westen einzuholen. Und holten ihn schließlich ein, auch wenn die Modernisierung ihnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts übel mitspielte.

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  • Krasser Cocktail

    Im November tagte in der russischen Hauptstadt das „Weltkonzil des russischen Volkes“, ein Gremium von hochgestellten Vertretern aus Kirche, Politik und Wissenschaft. Kommersant-Ogonjok hat verfolgt, wie verschiedenste Stränge der russischen Geistesgeschichte zu einer neuen nationalen Idee des russischen Sonderwegs verflochten werden.

    Russland droht immer häufiger damit, einen Sonderweg einzuschlagen, macht sich aber nicht die Mühe, den Streckenverlauf dieses Weges näher zu definieren. Vergangene Woche nun ging es in puncto Formulierungen und Definitionen richtig zur Sache, und zwar beim XIX. Weltkonzil des russischen Volkes, das unsere politische Sprache um manche neue Begrifflichkeit bereichert hat.

    Die Experten des geschätzten Forums, das in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale tagte (neben geistlichen waren auch gänzlich weltliche Personen anwesend – von der Abgeordneten Irina Jarowaja bis zum Rektor der Moskauer Lomonossow-Universität Viktor Sadownitschi), erörterten gemeinsam das komplexe Thema Das Erbe Fürst Wladimirs und das Schicksal der historischen Rus. Im Laufe des Meinungsaustauschs zeigte sich eine völlige Übereinstimmung in den wesentlichen weltanschaulichen Positionen. Zusammen ergeben diese Positionen eine (aus Sicht der Veranstaltungsteilnehmer) durchaus organische Mixtur aus ideologischen und verhaltensbestimmenden Einstellungen. Hier die zentralen Punkte:

    – Russland soll keine Zivilgesellschaft, sondern eine „Solidargesellschaft“ sein.

    – Die Spaltung in links und rechts ist zu überwinden in der besonderen Ideologie eines „sozialen Monarchismus“, die nur unserer Zivilisation eigen ist.

    – Die Initiative orientiert sich nicht an fremden Werten (etwa einem „demokratischen Europa“), sondern an ureigenen, althergebrachten: Wir sind aufgerufen, ein „großmächtiges Russland“ zu errichten.

    Mit anderen Worten, die „souveräne Demokratie“ wird von einem neuen Ideologem abgelöst: dem „sozialen Monarchismus“. Dieser krasse Cocktail stößt unter Fachleuten auf unterschiedliche Reaktionen.

    „Natürlich ist die mangelnde Originalität unserer sämtlichen Sonderweg-Ideologen deprimierend“, meint Alexej Malaschenko, Leiter des Programms Religion, Gesellschaft und Sicherheit am Moskauer Carnegie-Zentrum. „Wir haben es mit Doubletten westlicher Vorlagen zu tun, ohne jeden Versuch einer Reflexion: Dort bei denen sieht die Gesellschaft so und so aus, und bei uns soll es so und so sein – Hauptsache, alles andersrum. Die Sonderwegler sind in erster Linie darauf aus, sich von allem Westlichen abzustoßen, und zum Abstoßen wird wahllos alles benutzt, was in unserer Kultur verfügbar ist: So erscheint Nikolaj Berdjajew plötzlich in enger Verbindung mit Iwan Iljin, der Sozialismus wird zum Synonym für Monarchismus und so weiter. Paradoxerweise muss man für die Konstruktion der eigenen Besonderheit den Reichtum der Kultur mit ihren verschiedenen Facetten opfern und sie über den Staatskamm scheren.”

    Irina Sandomirskaja, Professorin am Zentrum für baltische und osteuropäische Studien der schwedischen Södertörn University, hat darauf hingewiesen, dass die Themen Sonderweg und Russentum in der politischen Rhetorik des Landes in regelmäßigen Abständen auftauchen, und zwar stets begleitet von leidenschaftlichen Wortschöpfungen und plakativer Abneigung gegenüber Europa. Am Anfang gibt es Versuche, „wissenschaftlich“ zu formulieren und zu begründen, warum wir besser sind als alle anderen. Dann wird die „wissenschaftliche“ Basis durch eine emotionale Komponente untermauert, nämlich durch die Behauptung, die „Besonderheit“ des Vaterlandes werde von westlichen Feinden bedroht. Und schon sind wir bei der Heimat, die „immerfort ruft“ und dem Vaterland, das „immerfort in Gefahr“ ist.

    Als einer der ersten Begründer der weltlichen Vaterlandsreligion gilt in der Wissenschaft Alexander Schischkow, Held puschkinscher Epigramme und Staatssekretär, der das Primat staatlicher vor privaten Interessen begründete und die Notwendigkeit formulierte, den „verlogenen Gesinnungen“ des Westens zu trotzen (es sei bemerkt, dass Schischkow selbst Europa liebte und seine Kartenspielgewinne in Reisen nach Florenz und Rom investierte). In eine vollendete Formel gegossen wurden diese Ansätze in der Uwarowschen Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die von den russischen Sonderweglern bis heute verehrt wird: Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit. Wie der Historiker Sergej Solowjow bemerkte, ersann Graf Uwarow „als Gottloser die Orthodoxie, als Liberaler die Selbstherrschaft und als einer, der in seinem Leben kein einziges russisches Buch gelesen hatte und andauernd auf Französisch und Deutsch schrieb, die Volkstümlichkeit“[1]. Insofern gebührt dem Verfasser der „offiziellen Volkstümlichkeit“, der ebenso gekonnt wie zynisch den Staatsauftrag einer „besonderen Ideologie“ erfüllte, wohl der Titel des ersten russischen Polittechnologen.

    Heute beobachten wir im Konzept des „sozialen Monarchismus“ die Präsentation einer modernen Version dieser Ideologie, die wie ein Versuch wirkt, Russland mit seiner eigenen Vergangenheit auszusöhnen: Der Zar, heißt es, ist heilig und auch die KPdSU – die Architektin der Industrialisierung und des Großen Sieges. Schon finden entsprechende Ausstellungen statt, die alle mit allem versöhnen, es ertönen offizielle Reden. Und immer öfter der Refrain: Von außen kann man uns gar nichts – die Hauptbedrohung für unser Land sind innere Wirren, die die Einheit zerstören. Da möchte man fragen: Wartet das Glück, wenn wir die erstmal im Griff haben?

    Unterdessen lebt das Land, in dem alles in eins zusammengerührt wird, weiterhin in leichter Schizophrenie durch ständiges Vereinbaren des Unvereinbaren: Da wird ein genetisches Gutachten zu den sterblichen Überresten der – von den Bolschewiki gemarterten – Zarenfamilie angefertigt, gleichzeitig appelliert der Patriarch, den Blick zu richten auf die „Schönheit der Heldentaten unseres Volkes in den 20er, 30er und 40er Jahren“, und auf der Internetseite der Metropole Nowosibirsk ist ein rätselhafter Text über das „Rote Imperium“ zu lesen, das eine „neue, sonnige Zivilisation“ geschaffen habe, eine „Gesellschaft des Schöpfertums und des Dienens“, auf die der Westen das Dritte Reich „gehetzt“ habe …

    Es sind übrigens nicht viele, die sich an derartigen Widersprüchen stören. Die Vertreter der „orthodoxen Mehrheit“ (auch diese Wortverbindung war vergangene Woche aus dem Mund des Erzpriesters Wsewolod Tschaplin zu hören) sind ob der gewonnenen Klarheit sogar nahezu euphorisch gestimmt. In der Staatsduma wurde in erster Lesung bereits ein Gesetzesentwurf gebilligt, dem zufolge religiöse Organisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten, einer schärferen Kontrolle unterzogen werden sollen, und auf mehreren Fernsehkanälen wurden Beiträge ausgestrahlt, die zur Wachsamkeit bei der Begegnung mit „Sektierern“ aufriefen, wobei als „Sektierer“ Vertreter der anerkannten protestantischen Kirchen gezeigt wurden.

    „Die politische Religion ist unsere neue Realität, die wenig gemein hat mit dem orthodoxen Glauben“, erklärt Boris Knorre, Religionswissenschaftler und Dozent an der Higher School of Economics. „Die Kirche wird zum Treibriemen in der Staatsmaschinerie, wie es im Großen und Ganzen bereits 1993 beabsichtigt war, als das Weltkonzil des russischen Volkes unter Beteiligung von Vizepräsident Alexander Ruzkoi ins Leben gerufen wurde, um die Staatsideologie zu stärken. Doch alle diese Spiele sind äußerst riskant: Wir haben erreicht, dass der Fundamentalismus salonfähig geworden ist.“


    1.Die eindeutige Einschätzung von Sergej Solowjow, der Sergej Uwarow persönlich gut kannte, wird oft in Frage gestellt. Andrej Subow, Professor der Moskauer Universität für Internationale Beziehungen, merkt in einem Aufsatz an, dass Solowjew Uwarow gegenüber gehässig und äußerst unobjektiv gewesen sei, was wahrscheinlich persönliche Gründe hatte. – dek

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  • Liebe ist …

    Liebe ist …

    Das russische Volk steht geschlossen hinter seinem Präsidenten – dieser Eindruck jedenfalls ist weit verbreitet. Nur selten macht man sich die Mühe weiterzufragen: Was bedeuten die fantastischen Ergebnisse der Umfragen? Olga Dimitrijewa von „The New Times“ ist in eine Kleinstadt bei Nowosibirsk gefahren und hat mit Menschen gesprochen, weit entfernt vom Moskauer Politzirkus: über ihr Leben und über ihr Verhältnis zum Präsidenten, über seine Politik. Wie sich zeigt, sind nicht alle begeistert von Putin und die, die es sind, können nicht immer sagen, warum.

    … wenn das Gute wichtiger ist als das Schlechte

    Wie wohlhabend die Siedlung Listwjanka im Bezirk Iskitim im Gebiet Nowosibirsk ist, lässt sich am Zustand der Straßen ablesen. Zwei Stunden vom Flughafen in Nowosibirsk entfernt, verlassen wir die Fernstraße Nowosibirsk-Barnaul, und sofort fängt unser Auto heftig an über die Trasse zu holpern.

    „Haben Sie gemerkt? Die haben die Straße gemacht.“, sagt der einheimische Fahrer stolz.
    „Nein“, antworte ich unhöflich, aber ehrlich.
    „Die haben natürlich nur die Löcher zugemacht, nicht neu asphaltiert“, verteidigt der Taxifahrer den Straßenbaudienst.

    Offenbar stellt der Umstand, dass die Schlaglöcher nicht mehr so tief sind wie früher („Immerhin reißt es einem nicht mehr die Räder ab“) bereits einen großen Erfolg der Kommunalverwaltung dar.

    Insgesamt sind die Erfolge nicht sehr zahlreich. „Die Straße wurde neu gemacht; ein Kindergarten wurde eröffnet – jetzt müssen die Eltern ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto sonstwohin bringen. Der Bevölkerungszuwachs ist nicht groß, aber immerhin“, fasst Karina, eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung, zusammen. Karina mag ihren Job, sie pendelt für ein Gehalt von 13.000 Rubeln [195 EUR] sogar aus der Nachbarsiedlung nach Listwjanka. Überhaupt ist sie zufrieden: „Wir sind für Putin, für Einiges Russland. Ich bin Mitglied von Einiges Russland, wie der Rest der Verwaltung übrigens auch, wir sind alle in der Partei. Nicht weil wir irgendwelche Prämien dafür bekommen, sondern einfach so, wir sind von uns aus eingetreten, weil wir fanden, es ist nötig.“

    Iossif Dimitrijewitsch Sudakow, ehemaliger Deputierter des Dorfrats von Listwjanka, bildet die hiesige Opposition. Ein kleiner älterer Mann mit ordentlich gestutztem weißem Bärtchen. Mehrmals ist er schon verprügelt worden. Man hat Flugblätter gegen ihn aufgehängt. Ihn vor Gericht gezerrt. Doch er sagt, das kümmert ihn nicht.

    In der Wohnung der Sudakows wird renoviert – seit zwei Jahren schon, wegen der Krise. Im kleinen Zimmer sitzt die kranke Schwiegermutter vor dem Fernseher, in dem mit voller Lautstärke der Erste Kanal läuft. Im größeren Zimmer (15 m2), dem „Saal“, wie man hier in der Gegend sagt, tischt Iossif Dimitrijewitsch mir als Korrespondentin von The New Times Anekdoten aus dem Leben eines Dorfdeputierten auf, während seine Frau Tamara Wassiljewna einen Sauerkrautkuchen serviert.

    Der Krieg an der politischen Front von Listwjanka wird vor allem gegen die Misswirtschaft geführt. „Einiges Russland schickt die Deputierten laut Listenplatz zu uns – und hinterher gehen sie nicht mal zu den Sitzungen des Dorfrats“, klagt Sudakow. Die Beamten, auf lokaler wie auf Bezirks- und Gebietsebene, haben nur ihre eigenen Interessen: „Noch im kleinsten Dorf werden Mittel veruntreut“, erklärt Iossif Dimitrijewitsch.

    Das Budget von Listwjanka ist nicht groß, 20 Millionen Rubel [300.000 EUR]. Sieben Millionen davon bringt die Siedlung selbst auf, der Rest kommt vom Bezirk und der Gebietsverwaltung. Trotzdem „bedient sich, wer kann“: Man besorgt sich irgendwo umsonst Kohle, kassiert aber Geld für Heizkosten; Arbeiter, die das Klubhaus renoviert haben, werden nicht bezahlt; wieder woanders wird Holz geklaut …“

    Probleme auf Landesebene beschäftigen die Sudakows weniger. Was die Ukraine und die Krim betrifft, ist das Ehepaar sowohl untereinander als auch mit dem Kreml einig: „Das Gebiet gehört uns“, dort wohnen Russen, die Bergwerke im Donbass wurden schließlich von Russen gebaut. Zu Syrien befragt, meint die Frau: Wir werden den Islamischen Staat besiegen, und der Ehemann meint, wenn wir früher eingegriffen hätten, hätten wir bestimmt gesiegt.

    Schließlich kommen wir auf Putin und seinen jüngsten Rekord zu sprechen – 90 Prozent Zustimmung, den Umfragen zufolge.  

    „Uns hat keiner gefragt! Ich habe es im Fernsehen gehört – 1400 Personen sind befragt worden. Ist das etwa eine Zahl für so ein Viel-Millionen-Land?“, empört sich Tamara Wassiljewna.
    „Jetzt wirst du ja gefragt! Du bist die Nummer 1401. Also, was meinst du?“, foppt Iossif Dimitrijewitsch seine Frau.
    „Ich weiß nicht. Übrigens habe ich darüber auch noch nicht nachgedacht“, kontert Tamara Wassiljewna und denkt dann kurz nach: „ Nun, was er auf internationalem Parkett macht – also nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch – das finde ich gut. Dass wir nicht mehr vor Europa und Amerika einknicken.“
    „Und die Innenpolitik?“, fragt Sudakow nach.
    „Nun, die Innenpolitik – also, das sind ja wir, Russland.“ Tamara Wasiljewna wirkt traurig: „Innenpolitsch gefällt mir das nicht.“
    „Höret die Stimme des Volkes!“, schließt sich Iossif Dimitrijewitsch seiner Frau an. „Sie hat vollkommen recht.“

    Die Sache mit Putins einerseits guter Außen-, andererseits schlechter Innenpolitik werde ich im Gebiet Nowosibirsk noch öfter zu hören bekommen.

    … wenn man sich in Sicherheit fühlt

    „Bei mir kam ein junger Mann zum Vorstellungsgespräch, ein Psychologe – er hat keinen Dienstrang, keine Erfahrung, sein Gehalt beträgt fünfdreiachtzig im Monat (5380 Rubel, NT) [80 EUR]. Das ist das Gehalt eines Psychologen! Vielleicht kann ich noch ein halbes Monatsgehalt eines Sozialpädagoge drauflegen, das sind dann noch einmal dreitausend-irgendwas. Zehntausend – wird er dafür arbeiten? Kann er davon leben? Ich denke mir die Gehaltsstufen nicht aus! Das ist der allgemeine Tarif im Gebiet Nowosibirsk. Wie man davon leben soll, fragen Sie?“ Die Direktorin der Dorfschule erwartet keine Antwort auf ihre Frage. Albina Nikolajewna ist eine große, laute Frau, sie spricht wie auf einer Kundgebung. Ihre Stellvertreterin Marina Wiktorowna, in deren Raum das Gespräch stattfindet, ist ruhiger, meist nickt sie nur stumm. Ab und zu schauen Lehrer zur Tür herein.

    „Wir haben Besuch von einer jungen Frau, aus dem Ausland“, erklärt die Direktorin dann mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
    „Nicht aus dem Ausland, nur aus Moskau!“
    „Moskau ist für uns Ausland! Ein Staat für sich“, stimmen die Lehrer ihrer Vorgesetzten zu.
    „Ja, das müsste in Moskau mal jemand in der Zeitung schreiben: wie die Lehrer hier leben“, sagt die Chemielehrerin Irina Petrowna träumerisch. „Man terrorisiert uns mit Inspektionen. Es bleibt keine Zeit, mit den Kindern so zu arbeiten, wie man gern würde. Und dann noch das Personalproblem: Wenn unsere Generation irgendwann aufhört, kommen keine Jungen nach. Es gibt keine Wohnungen, keine anständigen Gehälter. De facto sinken die Gehälter – man sollte da nicht lügen! Wenn man sich das anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass den Staat die Zukunft unseres Landes überhaupt nicht interessiert.“  

    Dass der Staat sich stattdessen für die Zukunft anderer Länder interessiert, passt den Lehrern gar nicht.

    „Ukraine, Ukraine, ich kann es nicht mehr hören“, sagt Albina Nikolajewna. „Allmählich habe ich den Eindruck, das zeigen sie nur deshalb dauernd, damit ich nicht ans tägliche Brot denke …  Mir hat der Donbass zwar leidgetan, aber bei uns gibt es auch Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und das ist die Mehrheit … Manche Kinder in der Schule können sich nicht mal ein Brötchen kaufen. Es heißt, 78 LKW-Kolonnen hätten sie gerade wieder losgeschickt (in den Donbass – NT) – Medikamente, Lehrbücher und so weiter … Wie lange soll das noch so weitergehen? Brauchen die eigenen Leute etwa nichts? Wir haben das Gefühl, wir kommen zu kurz.“
    „Und was sagen Sie zu Syrien?“
    „Beängstigend ist das …“ Die Konrektorin flüstert fast: „Ich habe Afghanistan noch zu gut in Erinnerung …“

    Marina Wiktorownas Telefon klingelt alle fünf Minuten. Sie drückt die Anrufe weg: Es ist ihre Bank, es geht um die verspätete Rückzahlungsrate für einen Kredit. In diesem Gespräch kommt die These von der einerseits guten, andererseits schlechten Politik des Kreml nicht vor. Hier ist alles schlecht. Gleichwohl verleihen die Lehrer ihrer Unterstützung für Putin vehement Ausdruck.

    „Alle sind für Putin – es gibt keine Alternative. Wo ist die Alternative? Medwedew?“, ereifert sich Albina Nikolajewna, auch sie Mitglied von Einiges Russland. Den hatten wir schon. Und sonst? Es fehlt … an Stärke, sozusagen. Ich sehe nirgends eine starke Persönlichkeit. Außer Putin. Putin ist stark … Und wir sind an ihn gewöhnt.“

    Doch Dafür-Sein und Keine-Alternative-Sehen ist nicht dasselbe.

    „Ich bin wie alle für Putin – weil ich Frieden will. Nur Frieden, mehr brauche ich nicht!“, erklärt die Direktorin. „Denn wenn Krieg ausbricht, was habe ich dann von einem neuen Kleid und allem anderen?“

    In der Sicherheitspolitik, erklärt Albina Nikolajewna, sei die Position des Präsidenten richtig:

    „Es war gut, dass sie die Krim zurückgeholt haben, bravo! Das ist doch unsere Grenze! Die Schwarzmeerflotte! Von dort aus hätten uns die Amerikaner, die Japaner, weiß Gott wer noch alles gepiesackt … Bei einem Atomkrieg kriegen alle ihr Fett weg, das sage ich Ihnen als Physikerin. Uns wird jetzt beigebracht, wie man eine Gasmaske aufsetzt. Eine Gasmaske! Gegen Chemiewaffen oder Bakterien hilft die nicht. Wenn es so weit kommt, ist alles zu spät, wer sich da ansteckt, bleibt als Invalide zurück, als Krüppel. Davor habe ich Angst. Vor einer Provokation. Vor Biowaffen. So etwas ist wirklich schlimm. Unsere Aufgabe ist es, einen Krieg zu verhindern. Finanzprobleme sind dagegen nicht so wichtig.

    Davon, dass „uns Putin vor einem Krieg bewahrt“, sprechen die verschiedensten Menschen. Anfangs erscheint mir das als ein verzweifelter Versuch irgendwie zu erklären, worin eigentlich die Verdienste unseres Präsidenten bestehen. Aber wann immer ich nachfrage – „Haben Sie wirklich Angst davor, dass die Amerikaner uns angreifen werden?“ –, antworten alle, erstaunt über meine Naivität, mit einer Gegenfrage: „Ja! Sie nicht?“

    … wenn man trotz allem dafür ist

    „Ich kriege zum Beispiel rund 35.000 [525 EUR]“, erzählt Katja offenherzig. Sie ist hübsch, blond, 26 Jahre alt, knapp 1,80 groß und Oberleutnant der Polizei. „Alle glauben, wir Bullen kriegen zwischen 80 und 100.000 [1200–1500 EUR]. Woher nehmen die Leute das bloß? Und wenn wir wenigstens noch geregelte Arbeitszeiten hätten, ohne Wochenendschichten und Nachteinsätze wegen irgendeinem entlaufenen Schoßhündchen … 35.000 sind gar nichts heutzutage.“  

    Katja bekleidet den Rang eines Oberleutnants der Polizei. Dass sie bei den Sicherheitskräften arbeiten wollte, wusste sie schon während der Schulzeit. „Mein Traum ist wahr geworden … schön blöd“, sagt sie. Derzeit ist sie im Mutterschutz, und wahrscheinlich spricht sie deshalb so offen über die Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Innenministeriums: gestrichene Vergünstigungen, niedrige Gehälter, steigende Preise wie überall. Katjas Sorgen kreisen ums Abnehmen nach der Schwangerschaft und um die Hypothek, die sie aufnehmen will. Alles andere kümmert sie wenig.

    „Ganz ehrlich, uns ist es sch…egal, was da unten in der Ukraine passiert. Schlimm ist nur, wenn unsere Kollegen dort hinfahren, diese Irren, und dann kommen sie in Zinksärgen zurück. Syrien interessiert kein Schwein. Wir haben mit uns selber genug zu tun. Unsere Jungs werden nach wie vor nach Tschetschenien geschickt, nach Dagestan, und das ist Inland! Man hört heute zwar nicht viel davon, aber da unten gibt es immer noch Unruhen, Tote. Aber Syrien oder irgendwelche anderen Länder – das tangiert uns nicht, wenn du mich fragst.“

    Doch auf die Finanzen der Polizisten wirken diese „uns nicht tangierenden“ außenpolitischen Aktivitäten Russlands sich ganz direkt aus:

    „Früher gab es Prämien bei uns, wenn das Innenministerium zum Beispiel eine bestimmte Summe eingespart hatte – das war immer gutes Geld. Zum Jahresende wurde das unter den Mitarbeitern der Polizei aufgeteilt. Dabei kamen oft Prämien um die 20.000 Rubel [300 EUR] zusammen. In einem Jahr gab es bei uns sogar 50.000 [750 EUR] pro Nase. Aber das ist vorbei. Erst wurde alles Geld in die Olympiade gesteckt, dann kam die Krim, der man helfen musste, dann der Donbass, und jetzt ist es Syrien …“

    Katjas kleiner Sohn unterbricht uns, er ist aufgewacht und weint. Seine Mutter freut sich schon auf die Zeit, wenn er in den Kindergarten kommt und sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, „zu ihren Halunken“. Für heute beendet die junge Polizistin, die bald in den Rang eines Hauptmanns befördert wird, das Gespräch, ihr Kind hat Hunger.

    „Putin fand ich früher nicht gut und ich finde ihn heute nicht gut. Als Präsident“, sagt sie abschließend. „Schau dich doch um bei uns, gibt es irgendeinen Grund, für Putin zu sein?“  

    Andrej, der im Kohle-Tagebau arbeitet, vergleicht die Situation im Land mit der Lage in seiner Firma:

    „Wir hatte einen Chef hier beim Fuhrpark, der war fürchterlich, wir wollten ihn alle nur loswerden. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Inzwischen ist er versetzt worden, und sein Nachfolger ist zehnmal schlimmer! Und inzwischen denke ich, mit Putin ist es dasselbe.“

    Andrejs jüngste Kinder – zweijährige Zwillinge – gehen in den Kindergarten. Die ältesten sind schon fertig mit der Schule; seine Tochter studiert an der Universität, der Sohn an einer Fachschule für Verkehr und Technik. Zu Hause trifft man den Familienvater so gut wie nie an: Werktags fährt er seinen BelAZ-Muldenkipper, am Wochenende Taxi in Listwjanka. Mit seinem während der Krise auf 15.000 Rubel [225 EUR] gekürzten Gehalt kann Andrej seine vier Kinder nicht ernähren.

    „Aber was Putin macht – Hut ab. In der Außenpolitik zumindest. Innenpolitisch wird ihm allerdings keiner eine Träne nachweinen.“

    Der Gedanke kommt mir bekannt vor.

    „Und in der Außenpolitik, wofür schätzen Sie ihn da?“
    „Na ja, also die Krim, ich weiß nicht … das ist ja unheimlich teuer alles. Ich persönlich hätte das nicht gebraucht. Lauter unnötige Kosten! Am Ende sind es doch wir, denen das nach und nach abgeknöpft wird, wir haben ja auch eine Firma in Moskau, alles, was wir verdienen, fließt dorthin.“
    „Und dass Russland Flugzeuge nach Syrien schickt und dort bombardiert, was halten Sie davon?“
    „Genauso wenig. Das sind doch interne Konflikte dort, wieso mischen wir uns da ein? Wozu? Ich bin dagegen. Und das Geld dafür kommt ja auch wieder von uns. Im Fernsehen sagen sie das inzwischen ganz offen: Nachdem wir Syrien demoliert haben, werden wir es auch wieder aufbauen müssen.“

    Andrej schaut ständig auf ein mit Klebeband geflicktes Telefon – er fürchtet, einen Auftrag zu verpassen. Sein Tarif ist derselbe wie bei allen anderen: Eine Fahrt über die Schlaglöcher der instandgesetzten Straße in die Nachbarsiedlung kostet 200 Rubel [3 EUR], Fahrten im Dorf nur 50 [75 Cent] .  

    „Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Putins Außenpolitik gut finden …“
    „Na ja … irgendwie ist er schon klasse  … ich weiß auch nicht. Immerhin respektiert man ihn auf der ganzen Welt, das heißt, für irgendwas ist das alles schon gut. Aber dass er sich überall einmischt, das gefällt mir nicht.“
    „Trotzdem, noch einmal: Die Dinge, die Sie nicht gut finden, die Wirtschaftskrise, Syrien, die Ukraine – für all das ist doch Putin verantwortlich, aber auf die Zustimmung zu ihm wirkt sich das nicht aus …“
    „Ach, ich weiß auch nicht“, sagt Andrej verlegen. „Trotz allem … Es gibt zwar keinen richtigen Grund, für ihn zu sein, aber ich bin trotzdem für ihn. Mir gefällt er einfach als Mensch!“

    … nicht für alle Ewigkeit

    Zu den Sitzungen des Dorfrats und Treffen mit Regierungsbeamten nimmt Iossif Dimitrijewitsch Sudakow grundsätzlich ein Diktiergerät mit. Und sein altes Mobiltelefon zeichnet alle Anrufe auf. Sudakow ist stolz darauf, wie viele Beweise er für die Veruntreuung des kommunalen Haushalts gesammelt hat – keine Veruntreuung „in außerordentlich großem, aber schon in großem Stil“. Er glaubt, dass all diese Beweise ihm in nächster Zeit nützen werden, und dass es „viele Verhaftungen“ geben wird.

    „Mit diesem Syrien wird alles nur schlimmer“, versichert Iossif Dimitrijewitsch. „Die Leute werden bald genug haben, und dann geht es los.“

    Allgemein sind die Leute in Listwjanka sehr duldsam. Im Gespräch fällt jedem von ihnen ein Beispiel aus seiner persönlichen Erfahrung dafür ein, dass es auch schon schlimmere Zeiten gegeben hat, und die haben sie auch überstanden. Heute ist es „Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in den Neunzigern“. Der 53jährige Waleri allerdings rechnet mit tiefgreifenden Veränderungen, und er weiß auch schon, wann es so weit sein wird:

    „Die Leute finden sich so lange mit der Lage ab, bis die westlichen Geheimdienste eine neue politische Führungsfigur aufgebaut haben. Sobald das der Fall ist, wird es mit der Geduld vorbei sein. Die Leute haben es satt!“

    Waleri hat zwei erwachsene Töchter – die ältere lebt in Moskau, die zweite in der Nähe von Nowosibirsk, in der Forschungsstadt Kolzowo. Waleri und seine Frau hatten kurz vor Beginn der Krise eine Hypothek aufgenommen, um in die Nähe ihrer jüngeren Tochter umzuziehen. Jetzt wird die Familie ihre Pläne nicht schmerzfrei umsetzen können: Die Firma, in der Waleri arbeitet, ist mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. An die Ewigkeit des derzeitigen Regimes glaubt er nicht.

    „Das heißt, sobald es irgendeine Alternative zu Putin gibt, werden die Leute …“ Waleri fällt mir ins Wort:
    „Sofort! Im Moment ist ja wirklich niemand in Sicht, aber sobald irgendeine Alternative auftaucht, werden die Leute sich dem anschließen, der für diese Alternative steht! Putin wird im Nu vergessen sein, keiner wird mehr etwas wissen wollen von ihm!“

     


    Vorspann der Autorin
    Die Hof-Meinungsforscher verkünden einen neuen Rekord: Wladimir Putins Zustimmungwerte liegen mittlerweile bei knapp 90 Prozent! Es dürfte demnach gar nicht einfach sein, in diesem Land jemanden zu finden, der die Politik der Staatsführung nicht gutheißt. Neun von zehn Menschen auf der Straße sind voll und ganz dafür.
    Skeptiker rufen dazu auf, die Zahlen der offiziellen Meinungsforschung zu ignorieren. Unabhängige Meinungsforscher erklären, über Zahlen zu streiten sei sinnlos, doch die offensichtliche Beliebtheit Wladimir Putins zu leugnen, wäre schlicht dumm. Russlands Bevölkerung sei damit beschäftigt, das überraschend schwere Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verarbeiten, und sehe noch nicht den Zusammenhang zwischen dem sinkenden Lebensstandard und den außenpolitischen Erfolgen des Präsidenten. Politologen präzisieren: Wenn man nicht von einem abstrakten „Gutheißen“, sondern konkret von vergangenen und bevorstehenden Wahlerfolgen spreche, so gebe es für das Wunder der Liebe des Volkes zum Präsidenten auch eine prosaischere Bezeichnung: Wahlfälschung. Die Folge sei der Niedergang des politischen Systems. Psychologen wissen eine Antwort auf die Frage, wer die marginalen 10 Prozent sind, die noch immer nicht in patriotische Ekstase verfallen sind, und woher sie kommen.
    Russlands Bevölkerung indessen liebt ihren Präsidenten weiterhin, von allen Widersprüchen unbeirrt, wie es Liebende nun einmal tun. „Innenpolitisch gibt es dafür keinen Grund. Aber es gibt einfach niemand anderen. Und außenpolitisch … Syrien war natürlich ein Fehler. Und für die Krim zahlen wir einen hohen Preis. Aber klasse, dass man wieder Respekt vor der Großmacht hat. Den Amis haben wir es gezeigt. Auch wenn jetzt alles teurer geworden ist. Aber vor allem: Es gibt einfach niemand anders.“

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  • Junge Talente

    Seit einigen Jahren entstehen vermehrt patriotische Jugendbewegungen, die sich selbst als unabhängig bezeichnen: Sie treten als städtische Sittenwächter auf, die Videoclips von ihren Aktionen werden auf Youtube hunderttausendfach angeklickt. Kirill Rukow und Iwan Tschesnokow haben für „Yod“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Was haben diese neuen Initiativen mit den ehemals so mächtigen „Unsrigen“ zu tun? Wie sind sie organisiert, wie werden sie finanziert?

    Die Bewegung Lew protiw, was auf Deutsch so viel heißt wie Der Löwe ist dagegen, ist wenig älter als ein Jahr. Von Anfang an werden der Gruppe Verbindungen zu den Aktivisten von StopCHAM (Stoppt ROWDYS), zu der kremlnahen Bewegung Naschi (Die Unsrigen) sowie eine heimlich, still und leise Aneignung von Haushaltsgeldern nachgesagt. Yod bringt ans Licht, warum an den Verdächtigungen manches dran ist und die letzte Naschi-Generation bis heute nichtöffentliche, aber intakte Strukturen bewahrt hat.

    Am Freitag, den 3. Juli [2015 – dek] traf eine junge Moskauerin mit dem Spitznamen Sister ihre Punk-Freunde auf dem Bolotnaja-Platz, sagte Hallo und schlenderte mit einer Flasche in der Hand weiter durch die Parkanlage. Gegen 19 Uhr gingen mehrere Aktivisten der Bewegung Lew protiw zu ihr hin. „Leider konsumieren Sie alkoholische Getränke an einem öffentlichen Platz. Wir fordern Sie hiermit auf, diese zu entsorgen“, sagten die Aktivisten, wobei sie die junge Frau mit einer Kamera filmten. Sister weigerte sich, doch die engagierten Bürger ließen nicht locker. Die leicht angetrunkene Moskauerin begann, zusammen mit ihren Freundinnen lautstark zu protestieren: „Kamera weg und die Aufnahme löschen, sofort!“, schrie sie und versuchte, das Gerät an sich zu nehmen. Es kam zu einem Handgemenge; vier junge Männer rangen die junge Frau zu Boden, schlugen auf sie ein, einer von ihnen schlug Sister mehrmals ins Gesicht. Jemand rief die Polizei. Die diensthabenden Polizisten nahmen die junge Frau und die Hälfte der Aktivisten fest, darunter auch den Lew protiw-Gründer Michail Lasutin. So berichteten zwei Augenzeugen: eine Freundin von Sister, die sich Shadow nennt, und jemand namens Alexander Lustenko. Nach dem Vorfall erhob sich in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Welle der Empörung gegen Lew protiw. Die Menschen beschuldigten die Löwen, sie würden für Geld arbeiten, das Ganze sei ein PR-Projekt, sie seien genau solche wie die [Verkehrssünder-Jäger – dek] von StopCHAM; sie seien allesamt Naschisten.

    Diese Beschuldigungen sind durchaus nicht aus der Luft gegriffen – Lew protiw und StopCHAM verbindet dieselbe Führung, dieselbe Finanzierung über Präsidenten-Stipendien, die über ein Wettbewerbs- und Ausschreibungsverfahren vergeben werden. Hinter beiden Projekten verbergen sich eine Wohnung und vier Männer: Roman Schwyrjow, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Dimitri Alenin – ehemalige [sogenannte] Kommissare und Mitglieder der Naschi-Bewegung.

    Die Unsrigen – wie sie wuchsen

    Die Jugendbewegung Naschi wurde im Frühjahr 2005 von der Präsidialadministration ins Leben gerufen, um einer „russischen orangenen Revolution“ entgegenzuwirken. Geleitet wurde das Projekt von Wassili Jakemenko, der bis dahin an der Spitze der Bewegung Iduschtschije wmeste (Die zusammen Gehenden) gestanden und in der Präsidialadministration die Abteilung für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen geleitet hatte; Wladislaw Surkow, damals stellvertretender Chef der Kremladministration, wirkte als Kurator. Naschi setzte sich zusammen aus gewöhnlichen Mitgliedern, Kommissaren und dem Föderalen Kommissariat, das formal die Führung der gesamten Organisation darstellte. Die ganze Bewegung war in einzelne Projekte zergliedert, von denen jedes über ein eigenes Logo, eine eigene Fahne und eine eigene Struktur verfügte, beispielsweise die Dwishenije Stal (Bewegung Stahl) oder die Partei Umnaja Rossija (Kluges Russland).

    Zu ihren Zielen erklärten Naschi den Kampf „gegen faschistische Organisationen und die mit ihnen sympathisierenden Liberalen, Bürokraten und Oligarchen“ sowie die Unterstützung des politischen Kurses von Wladimir Putin. Berühmtheit erlangte die Organisation, deren Mitglieder ein anonymer Beamter aus der Präsidialverwaltung einmal [Putins – dek] „Jubelbande“ genannt hatte, dann allerdings dadurch, dass sie Hetzjagden auf den britischen Botschafter Anthony Brenton und den Journalisten Alexander Podrabinek veranstalteten, dass sie auf Porträts von Bürgerrechtlern herumtrampelten und dem Politiker Michail Kassjanow eine Harke vor die Autoräder warfen, und durch das Aufsehen erregende Seliger-Forum, das von 2005 bis 2014 alljährlich im Gebiet Twer stattfand. Bis 2008 war das Camp die Trainingsbasis für die Schulung der späteren Kommissare. Ab dem darauffolgenden Sommer wurde das Forum für die gesamte Jugend geöffnet, die Zahl der Teilnehmer betrug bis zu 50.000. Wladimir Putin war mehrfach zu Besuch im Seliger-Camp.

    Nach Angaben der russischen Tageszeitung Vedomosti erhielt die eigentliche Naschi-Organisation in den Jahren 2007–2010 über Staatsaufträge und in Form von Fördergeldern mehr als 26 Millionen Rubel [390.000 EUR]. Organisationen, an deren Gründung ehemalige Naschi-Führer beteiligt waren, erhielten noch einmal 441 Millionen Rubel [6.615.000 EUR]. Außerdem bekamen Naschi 347 Millionen Rubel [5.205.000 EUR] über Staatsaufträge, die mit der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh abgeschlossen wurden. Auch private Gelder flossen für die Jugendorganisation: 2010 stiftete der Geschäftsmann Michail Prochorow 45 Millionen Rubel [675.000 EUR] für das Seliger-Camp. Außerdem traten große westliche Firmen als Partner und Sponsoren des Forums auf, Mercedes-Benz etwa spendierte 2010 drei Fahrzeuge für Fahrten wichtiger Gäste, Intel stellte im gleichen Jahr die Computer-Ausstattung für die Seliger-Teilnehmer.

    2008 wurde Jakemenko Leiter der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh. Seinen Platz bei Naschi nahm Nikita Borowikow ein. Das bedeutete für die Organisation eine grundlegende Umstrukturierung: Sie wurde in autonome Projekte aufgeteilt, Einfluss und Finanzierung wurden stark reduziert. 2012 verlor die Bewegung zwei ihrer wichtigsten Fürsprecher – Wassili Jakemenko verließ Rosmolodjosh und Wladislaw Surkow die Präsidialverwaltung. Im Folgejahr wurde Naschi offiziell für nicht mehr existent erklärt, und die verwaisten Aktivisten wechselten angeblich von der Politik ins Soziale.

    Tessak plus Baptist gleich Löwe

    Im August ist der Lew protiw-Gründer Michail Lasutin 20 Jahre alt geworden. Er sei ein phantasievolles Kind gewesen, habe gern Fußball gespielt, erzählt seine Mutter Natalja. „Mein Mischulja hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und nie irgendwelche schlechten Angewohnheiten.“ Nach der Schule besuchte er die Moskauer Fachschule für Städtebau, Transport und Technik Nr. 41, die er im Juni dieses Jahres abschloss.

    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz
    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz

    Sein Anti-Raucher-Engagement habe vor etwas mehr als einem Jahr begonnen, erzählt Lasutin: Er habe an einer Haltestelle gestanden, neben ihm eine ältere Frau und ein Mann, der eine Zigarette rauchte. Da habe er spontan die Handykamera eingeschaltet und zu dem Mann gesagt, er dürfe in der Öffentlichkeit nicht rauchen. An jenem Tag fasste Lasutin den Entschluss, eine Bewegung gegen widerrechtliches Rauchen ins Leben zu rufen, und nannte sie Der Löwe ist dagegen. Gesellschaftlich engagiert war Michail Lasutin aber auch früher schon. Leicht findet man im Internet Videoclips des Projekts Lew protiw pedofilow, zu deutsch Der Löwe [ist] gegen Pädophile, in denen Lasutin auftritt wie der Occupy Pädophilie-Gründer Maxim Marzinkewitsch alias Tessak (das Beil). Angeblich ködert er dort Pädophile und macht dann Jagd auf sie. Er unterzieht seine Opfer drastischen Verhören, erniedrigt und demütigt sie, schlägt ihnen ins Gesicht, beschmiert das Gesicht mit Permanentmarker, und am Schluss des Videos hält er unbedingt den gekrümmten Daumen hoch: Tessaks Markenzeichen. Doch die Tatsache, dass Tessak-Marzinkewitsch derzeit bereits seine dritte Haftstrafe absitzt, hat Lasutin wohl veranlasst, sein Interesse von den Pädophilen auf die Raucher zu verlagern.

    Die zweite Schlüsselfigur in der Löwen-Mannschaft ist Leonid Lebed. Im Interview mit Yod bezeichnete er sich als „einen der markantesten Aktivisten des Projekts“. Leonid ist genauso alt wie Lasutin. Derzeit macht er eine Ausbildung zum Flugzeugtechniker. Wie ein Bekannter von ihm Yod berichtete, hatte Lebed seit dem Alter von acht Jahren die Mytischtschinski-Kirche der evangelischen Baptisten besucht, hatte jedoch aufgehört zu den Gottesdiensten zu gehen, als er 2014 bei Lew protiw eingestieg.

    Produktive Zusammenarbeit

    „Falls Ihnen das nicht klar sein sollte: Mischa [Michail Lasutin] war von Beginn an bei uns aktiv“, erzählt Dimitri Tschugunow, Gründer der Gruppe StopCHAM und Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Wann Lasutin zu ihnen stieß, kann Tschugunow nicht sagen, er sei nicht für die Organisation der Streifzüge zuständig, sondern gebe lediglich „ideologischen Input“, erklärt er.

    Die Streifzüge von Lew protiw und StopCHAM seien ganz ähnlich organisiert, erzählt Tschugunow. Lasutin habe das funktionierende Modell übernommen und für den Kampf gegen das Rauchen entsprechend angepasst; die StopCham-Aktivisten nähmen an den Aktionen von Lew protiw teil und umgekehrt; beide Projekte hätten ähnliche Videoclips. Wenn Lasutin oder seine Mitstreiter festgenommen werden, hilft Tschugunow, die Situation zu klären: „Wenn so etwas passiert und ich sehe, dass ich ein Video mit einer unrechtmäßigen Verhaftung vor mir habe, dann fahre ich dorthin und spreche als Mitglied der Gesellschaftskammer mit den Mitarbeitern der Polizei, ich finde heraus, auf welcher Grundlage sie den Betreffenden festgenommen haben und wie sie ihr Vorgehen begründen.“

    Tschugunow bestreitet nicht, dass StopCHAM präsidentielle Fördermittel erhält. „Das Geld wird für ein ganzes Jahr und für die gesamte Struktur vergeben. So können wir die Kosten für Verbrauchsmaterialien so gering wie möglich halten, das betrifft zum Beispiel die Postkarten (die wir in großer Stückzahl drucken) und die ständig kaputt gehenden Kameras, außerdem Fahrt-und Verpflegungskosten. Die Leute sollen nicht aus eigener Tasche draufzahlen, damit die sie sich nicht ausgenutzt fühlen oder so. Einen Teil des Geldes verteilen wir auch auf die Regionen“, erläutert Tschugunow. Ein Einkommen würde bei StopCHAM keiner bekommen, betont er, die Aktivisten schlössen sich der Bewegung der Idee und nicht des Geldes wegen an. Einnahmen erziele das Projekt außerdem durch die Monetarisierung von Youtube-Videos (in Videoclips mit einer hohen Zahl von Klicks wird Werbung geschaltet): „So können wir Profis beschäftigen oder zumindest zeitweise unter Vertrag nehmen, die qualitativ hochwertige Videoclips anfertigen. Es geht zum einen um die Montage, das ist klar, dann aber auch um SMM (Social Media Marketing) und die Verwaltung der Gruppen, von denen es irrsinnig viele gibt“, sagt er.

    Das mit der Youtube-Monetarisierung mache auch Lew protiw so, erzählt StopCHAM-Gründer Tschugunow. Doch die Einnahmen durch die Werbung seien gering, versichert er. Lebed pflichtet ihm ironisch bei: „[Unsere Werbeeinnahmen] sind höher als das Existenzminimum in Russland, aber niedriger als der Durchschnittslohn in Chile“ (wobei laut [dem Youtube-Statistik-Portal] Social Blade die monatlichen Einnahmen von Lew protiw bis zu 18.000 Dollar betragen könnten).

    Transparente Fördergelder

    Am 1. Juli 2015 erhielt eine gewisse autonome nichtkommerzielle Organisation namens Molodoj Talant (Junges Talent) für das Projekt Lew protiw präsidentielle Fördergelder in Höhe von 7.002.000 Rubel [105.030 EUR]. Gründer von Molodoj Talant sind laut Handelsregister: Dimitri Alenin, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Roman Schwyrjow. In offenen Quellen finden sich wenig Informationen zu ihrer Aktivistenvergangenheit, aber mit Sicherheit bekannt ist, dass alle vier Naschi-Kommissare waren.  

    Das Ausschreibungsverfahren für die Verteilung von Präsidenten-Grants existiert in dieser Form seit 2006. Bestimmt werden die Organisationen direkt durch einen Erlass des Präsidenten – die Undurchsichtigkeit dieser Auswahlphase fand sogar im letzten Bericht von Transparency International Erwähnung. Wie der Leiter des Russischen Jugendverbands (RSM) Pawel Krasnoruzki erklärt, müssen diejenigen, die sich um das „Präsidentengeld“ bewerben, zunächst bei einem konkreten Operator ihr Interesse anmelden, danach werden die Anträge innerhalb der Organisation etappenweise ausgesiebt: Im RSM wird die Einschätzung der Projekte durch einen Expertenrat vorgenommen. „Meist sind das habilitierte Wissenschaftler und Professoren aus den Bereichen, in denen ein bestimmter Wettbewerb stattfindet. Deren Identität geben wir nicht preis, wie Sie sicher verstehen, denn das würde sie enormem Druck aussetzen“, erläutert Krasnoruzki. „Zugänglich sind die Namen der Mitglieder der Wettbewerbskommission der nächste Etappe, die die endgültige Entscheidung trifft.“

    Die „Kommissarswohnung“

    Wie alle Firmen, die an irgendwelchen Ausschreibungen teilnehmen, müssen auch nichtkommerzielle Organisationen eine juristische Meldeadresse angeben. Für die autonome nichtkommerzielle Organisation Molodoj Talant (Junges Talent), die 2015 das Projekt Lew protiw vorgestellt hat, lautet diese Adresse: Ljuberzy, Oktjabrski prospekt 8, Korpus 3, Wohnung 48. Vor sieben Jahren, direkt nachdem Jakemenko zu Rosmolodjosh gewechselt war (es ist kein Geheimnis, dass er selbst aus Ljuberzy stammt), waren unter dieser Adresse innerhalb einer Woche noch drei weitere nichtkommerzielle Organisationen registriert worden, nämlich Mnogonazionalnaja strana (Multinationales Land), Sdorowoje pokolenije (Gesunde Generation) und Schag nawstretschu (Schritt aufeinander zu). Ihre Gründer sind eben jene Kommissare: Schwyrjow, Alenin, Tolokonow und Smirnow, wobei immer jeweils einer der vier den Posten des Direktors einnimmt. Über die Organisationen dieser Leute wurden also in der Folge mehrere Dutzend kremlnahe Projekte finanziert, die sich öffentlich für eigenständig erklärten.

    2010 war es noch Jakemenko, der für Rosmolodjosh die Finanzierung der „Kommissarsgemeinschaft“ regelte, doch die enormen Beträge riefen damals heftige Medienreaktionen hervor. Laut der Tageszeitung Vedomosti bekam die Organisation Gesunde Generation aus der Wohnung in Ljuberzy (diesmal trat Schwyrjow als Direktor auf) von Rosmolodjosh drei Staatsaufträge über einen Gesamtbetrag von 60,2 Millionen Rubel [903.000 EUR]. Die Tatsache, dass die Projekte der Naschisten mehr als die Hälfte aller Aufträge der staatlichen Jugendagentur erhielten, erklärte [die Rosmolodjosh- und frühere Naschi-Pressesprecherin Kristina] Potuptschik damals mit der „einzigartigen Kompetenz“ ihrer Mitglieder sowie der „Einzigartigkeit der Vorhaben“. Das Thema wurde schnell unter den Teppich gekehrt.

    Das Ljuberzyer Vierergespann und die unter ihrer Kontrolle stehenden nichtkommerziellen Organisationen haben in zweieinhalb Jahren 63,4 Millionen Rubel [905.000 EUR] erhalten. Das letzte Mal war es den Unterlagen zufolge Alenin, der im Februar 2015 in Erscheinung trat, als er in der entsprechenden Abteilung des Justizministeriums für das Moskauer Gebiet eine „Erklärung über die weitere Tätigkeit“ von Molodoj Talant unterzeichnete und damit bescheinigte, die Organisation erhalte keinerlei Gelder von ausländischen Organisationen. Wenn man aber Lebed und Tschugunow glaubt, denen zufolge das Molodoj Talant-Projekt Lew protiw durch die auf Youtube geschaltete Werbung tatsächlich Geld einnimmt, können die von ausländischen Werbekunden pro hunderttausend Views gezahlten Beträge formal auch bei Molodoj Talant gelandet sein.

    Zu der Adresse der „kommissarischen Viererbande“ in Ljuberzy gehört eine Telefonnummer, die in jedem Telefonbuch zu finden ist. „Was heißt junge Talente? Wir sind ganz normale Leute und wohnen hier“, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Auf die Frage, ob sie von einer Organisation dieses Namens schon einmal gehört habe, erwidert die Frau: „Kann sein, ja. Ein Freund meines Sohnes wollte irgendwo unsere Nummer angeben.“ Ihr Nachname sei Toloknowa, Denis Toloknow sei ihr Sohn, und der sei mit Dima (Alenin) seit Kindertagen befreundet: „Früher hat der Dima ja auch hier im Haus gewohnt, aber jetzt nicht mehr, der ist weggezogen.“


    Lew protiw – Der Löwe ist dagegen
    nichtkommerzielle Organisation, föderales Projekt
    Lew protiw ist eine russlandweite Bewegung, die gegen das Rauchen und den Konsum von Alkohol an öffentlichen Plätzen eintritt. Die Aktivisten der Bewegung gehen auf Streifzüge, bei denen sie rauchende Personen auffordern, ihre Zigaretten auszumachen und sich in speziell für das Rauchen ausgewiesene Zonen zu begeben, Alkoholkonsumenten werden gebeten, den Alkohol wegzupacken. Wenn jemand sich weigert, das Rauchen einzustellen, löschen die Teilnehmer der Bewegung die Zigaretten mit Wasser aus einer Sprühflasche. Alle Streifzüge werden mit einer Videokamera festgehalten, anschließend werden die montierten Clips auf Youtube hochgeladen. Lew protiw hat Zweigstellen in verschiedenen Regionen (z. B. in St. Petersburg, Woronesh, Rostow am Don) sowie in der Ukraine und Belarus – insgesamt ca. fünfzig. Bei vKontakte [dem russischen facebook – dek] haben sie 250.000 Follower. Obwohl die Aktivisten angeben, das Projekt sei nicht mit Politik, Religion o. ä. verbunden, beginnt einer der neuesten Clips von Lew protiw mit einer Jesus-Christus-Ikone und den Worten: „Gott gab uns das Leben …“
    StopCHAM – Stoppt ROWDYS
    nichtkommerzielle Organisation
    StopCHAM ist eine nichtkommerzielle Organisation, die im Jahr 2010 als eines der föderalen Programme der Jugendbewegung Naschi unter der Leitung von Dimitri Tschugunow, eines Komissars der Bewegung, gegründet wurde. Die nichtkommerzielle Organisation positioniert sich als russlandweites Projekt, das gegen Rowdytum und Verstöße von Autofahrern gegen die geltende Verkehrsordnung eintritt. Zweigstellen der Bewegung finden sich in den russischen Regionen (die größten in St. Petersburg, Petrosawodsk, Nowosibirsk und Rostow am Don) sowie in anderen GUS-Staaten wie der Ukraine und Belarus – insgesamt mehr als vierzig.
    2013 erhielt das Projekt aus präsidentiellen Förderprogrammen 5 Mio Rubel [75.000 EUR], im Jahr 2014 dann 6 Mio Rubel  [90.000 EUR] und in diesem Jahr [2015] 8 Mio. [120.000 EUR] Die Organisation ist berühmt für laute Skandale.
    Die heftigste Resonanz erfuhr eine Aktion im Frühjahr 2012, als die Gattin des Vizechefs der tschetschenischen Vertretung beim Präsidenten der Russischen Föderation Tamerlan Mingajew am Einkaufszentrum Jewropejski (Europäisch) falsch parkte. Die Auseinandersetzung endete in einer Schlägerei, während der die Gattin des diplomatischen Vertreters Madina Mingajewa und ihr Sohn versuchten, die Kameramänner dazu zu bringen die Videoaufzeichnung zu löschen, und den Aktivisten mit Rache drohten. Im Endeffekt entließ der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow den Vertreter Tamerlan Mingajew aus dem Amt.
    Ein anderer heftiger Skandal betraf den organisierten Abriss von Garagen im Timirjasew Bezirk in Moskau im August 2014. Damals traten Tschugunow und andere StopCHAM-Aktivisten zum Schutz der Eigentümer der Garagen ein und wurden von Unbekannten zusammengeschlagen. Tschugunow kam ins Krankenhaus.
    Im Februar 2015 wurden auf einem der vielen Streifzüge in Petersburg Aktivisten von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Ein Strafverfahren wurde eingeleitet, die Schuldigen wurden bis heute nicht gefunden. Im Frühjahr desselben Jahres schlugen Polizisten aus Chabarowsk dortige StopCHAM- Aktivisten zusammen, weil sie einen Aufkleber auf ein Polizeiauto klebten.

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  • „Die Ukraine hat uns betrogen“

    „Die Ukraine hat uns betrogen“

    Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.

    Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.

    „Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.

    Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht.
    „Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“
    „Ich bin auf eigene Faust da.“
    Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“

    Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.

    Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen

    Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.

    „Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr… – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.

    Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.

    „Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“
    „Wann?“, erkundige ich mich.
    „Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“
    „Wird der Staat Russland heißen?“
    „Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.

    Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau

    „Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“

    Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.

    „Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.

    Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit

    Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.

    „Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“

    Ich nicke verständig.

    „Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“

    Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.

    Es hätte eine Föderalisierung gebraucht

    Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.

    Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“

    Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“

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