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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.

    Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

    Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

    Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slon erschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.

    Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.

    Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.    

    Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.

    Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.

    Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.

    Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.

    In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.

    Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.

    In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.

    In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.

    Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.  

    Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.    

    Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.    

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.

    Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.   

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.  

    Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.

    Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.


    1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.

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  • Die Silikonfrau

    Die Silikonfrau
    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft ist paradox: Zum einen sind fast alle Frauen berufstätig, mit großer Selbstverständlichkeit auch in typischen Männerdomänen – ein Erbe nicht zuletzt auch der sozialistischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite herrscht die Auffassung vor, Frauen haben vor allem eins zu sein: liebreizend, häuslich und auf charmante Weise schwach. Gerade am heutigen Weltfrauentag, der in Russland am Arbeitsplatz, mit Freunden und in den Familien ausgiebig gefeiert wird, ist das Klischee der „holden Dame“ immer wieder Leitmotiv.

    Irina Begimbetowa und Emma Tertschenko setzen sich damit auseinander, wieso sexistische Werbung und Marketingkampagnen in Russland ausgezeichnet funktionieren, weshalb Frauen weniger verdienen als Männer und doch soviel Geld dafür ausgeben, ihnen zu gefallen – und warum Feminismus in Russland heute selbst von Frauen immer noch als ein Schimpfwort verstanden wird.

    Die Schauspielerin Julija Topolnizkaja, die in dem Videoclip zu dem Leningrad-Song Exponat die Hauptrolle spielt, erzählte in Interviews, sie habe Angst gehabt, den Zuschauern könnte ihre Darstellung nicht gefallen. Wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Dafür spricht erstens der Irrsinserfolg des Videoclips: mehr als 51 Millionen Views auf YouTube innerhalb von einem Monat.

     

    Zweitens die dort geposteten Kommentare. Die schauspielerische Leistung beschäftigt die Zuschauer offensichtlich weniger, etwa die Hälfte der Kommentare betrifft – vollkommen ernst gemeint! – die Frage, welche Chancen die junge Frau mit den Mega-High-Heels wohl habe, ihren heißbegehrten Sergej zu erobern. „Die ist doch potthässlich!“, jauchzt eine gewisse X. „… und ihr Arsch ist echt ein bisschen zu fett“, meint Y. schadenfroh, und Z. merkt mitleidig an: „Die roten Schuhsohlen hätte sie sich auch sparen können. Ein Mann guckt nicht auf die Schuhe, den interessiert zuerst die Figur und dann das Gesicht.“ Oder, es wird gleich abgebügelt: „Mädchen, die fluchen – das ist nicht schön.“

    Die Ironie des Clips geht an den Kommentatorinnen weitgehend vorbei, dafür kennen sie sich mit den elementaren Dingen aus: Sollen sich doch irgendwelche abgehobenen Damen um ihre Frauenbefreiung kümmern – sicherer und kuschliger lebt es sich nach den Regeln der gewohnten sexistischen Welt.

    Die Angstverkäufer

    Eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper blickt lasziv von einem Plakat herunter, wobei sie ihre Brüste mit den Händen bedeckt. „Klein, aber mein!“, lautet der Text zu dem Bild. Es handelt sich um Werbung für Wohnungen in dem Neubaugebiet von Tscheboksary. Ihre Macher würden nicht nur in den USA, sondern vermutlich auch im traditionalistischen China zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden. In Russland ist so etwas an der Tagesordnung.

     
    „Klein aber mein“ – Werbung für Wohnungen in einem Neubaugebiet in Tscheboksary

    Oder: Der Showman Dimitri Nagijew wechselt in einem Restaurant vielsagende Blicke mit einer Unbekannten. „Sie ist aus Petersburg, aber sie kann auch asiatisch. Und sie ist jederzeit und überall bereit, meinen Hunger zu stillen“, ertönt eine Stimme aus dem Off. Es ist natürlich nicht die junge Frau am Tisch, die den Hunger stillen soll – gemeint ist eine Kette von Asia-Restaurants in St. Petersburg namens Eurasia. Ein weiteres Beispiel ist die Werbung für ICQ-Internettelefonie, bei der Pawel Wolja die Qualität des Internetsignals mit der Größe der weiblichen Brust vergleicht: „Internet 2G ist wie 70A: immerhin was da, Gott sei Dank.“

    Geht es um Mayonnaise oder Pampers, dann blicken uns Hausfrauen vom Bildschirm entgegen, alles Übrige sollen Busen und Popos an den Mann bringen, und für die Frauen selbst gibt es Dutzende, ja Hunderte von Kursen zum Thema Wie werde ich unwiderstehlich.

    Sexismus wird verkauft und gekauft. „Wir beobachten die sozialen Netzwerke und die Internetforen genau, bevor wir eine Werbekampagne starten: In Russland sind es wenige Leute, denen die Rechte der Frauen wirklich wichtig sind. Eine feministisch ausgerichtete Kampagne wird hier leider immer nur für eine kleine Zielgruppe funktionieren“, erklärt Michail Perlowski, Kreativ-Direktor der Werbeagentur AnyBodyHome! Und fügt in bester Sexismustradition hinzu: „Unter den Produktmanagern, unseren Auftraggebern, sind viele alleinstehende Frauen mit Kindern. Die kleben an ihren Sesseln, sie müssen ihre Familie ernähren. Die denken sich nichts Neues aus, verwenden einfach die althergebrachten Stereotype, die das Massenpublikum garantiert ansprechen.“

    Das Erfolgsrezept sexistischer Vermarktung heißt: Verkaufe Angst. Die Angst, alt zu werden, hässlich zu werden und allein zu bleiben. Es gibt zu wenig Männer, nicht genug für alle, und wenn du nicht schön bist, heiratet dich keiner, und selbst wenn, lässt er sich wieder scheiden und keiner will dich mehr haben. Mit Angst kann man einer Frau alles aufschwatzen, um diesem elenden Schicksal zu entrinnen.

    Die russischen Frauen springen voll darauf an. Daten des Branchenverbands Cosmetics Europe zufolge betrug das Marktvolumen für Kosmetik in Russland im Jahr 2014 24,6 Milliarden Dollar. Heruntergerechnet bedeutet das, dass eine Russin im Jahr durchschnittlich 192 $ für Kosmetik ausgibt. Mehr als eine Französin (166 $), eine Deutsche (142 $) oder eine Engländerin (165 $).

    Wenn man diese Ausgaben dann noch ins Verhältnis zum Durchschnittslohn setzt, erscheint das schier unbegreiflich: Eine Russin gibt ca. 30 Prozent ihres Gehalts für Kosmetik aus, während es für eine Französin oder Italienerin rund 5 %, für eine Deutsche ca. 4 % sind. Ein Drittel ihres Einkommens also wendet eine Russin für ihre Schönheit auf, obwohl (oder gerade weil? – das bleibt ein Rätsel) der geschlechtsspezifische Gehaltsunterschied in Russland größer ist als in allen anderen Ländern Europas. Die durchschnittliche Russin verdient um 30 % weniger als ihr Mann, der Durchschnittsrusse; die Deutsche um 21,6 %, die Engländerin um 19,7 %, die Französin um 15,2 %.

    Nicht einmal die Wirtschaftskrise wirkt sich auf die Ausgaben der Russinnen für ihre Schönheit aus – sie sinken kaum einmal, steigen sogar eher. Bei der letzten Erhebung des Lewada-Zentrums wurde auf die Frage, wie oft man zur Kosmetikerin gehe, um 10 % seltener „nie“ geantwortet als beim Mal zuvor.

    Feminismus verkauft sich nicht

    Sexismus ist in Russland eine heiße Ware, doch ein Ausgleich aus der feministischen Produktpalette fehlt. Formal war Russland (genau genommen, sein Vorgänger die Sowjetunion) weltweit das erste Land, in dem der Feminismus gesiegt hat. Doch dieser Sieg betrifft nur politische Rechte und das Recht auf Arbeit.

    Im kulturellen Diskurs fehlt der Feminismus fast vollständig, so dass man sogar gebildeten Leuten die Bedeutung des Begriffs erklären muss. Im Grunde sind nur die radikalen Ausläufer des Feminismus bekannt, beziehungsweise der Feminismus wird überhaupt nur in karikierter Form wahrgenommen.

    „Eine Feministin ist ein Mensch, der in mehreren früheren Inkarnationen ein Mann war und dann plötzlich, völlig unerwartet, als Frau auf die Welt kommt“, so der Crashkurs auf einer Website. „Natürlich ist dieser Mensch schockiert. Er ist empört! Vielleicht war er im vorigen Leben Fallschirmjäger. Und auf einmal wird er wie eine Frau behandelt. Soll Kinder gebären, Essen kochen und statt Granaten feurige Blicke werfen. Nichts ist schlimmer für einen gestandenen Mann, als für eine Frau gehalten zu werden! Und wütend beginnt er, für seine Rechte zu kämpfen.“

    Die Koordinatorin des Projekts Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Irina Kosterina, ist mit Aufklärungsveranstaltungen in ganz Russland unterwegs und erzählt, sie werde oft gebeten, das Wort „Feminismus“ nicht zu benutzen. „Was den statistischen Durchschnittsrussen angeht, ist dieser Begriff zu bestimmten progressiven, fortschrittlichen, gebildeten Gruppen durchgedrungen und sie haben keine Angst mehr davor. Aber manche fürchten ihn immer noch“, sagt Kosterina.  

    Die Schriftstellerin und Business-Trainerin Irina Chakamada meint, es sei überhaupt nicht mehr sinnvoll, vom Feminismus zu sprechen, denn die aufgeklärte Menschheit lebe schon lange im Zeitalter des Postfeminismus. Feminismus sei die Zeit der Revolution, des Kampfes für die Rechte der Frauen gewesen, im Postfeminismus ruhe man sich auf den Lorbeeren dieser Siege aus. Die Postfeministinnen pflegen das Vermächtnis der Feministinnen, doch anstatt für die Selbstverwirklichung zu kämpfen, können sie sich auf ihre Umsetzung konzentrieren.

    Vielleicht stimmt das für die aufgeklärte Menschheit, doch Russland ist einer kulturellen feministischen Revolution noch nicht mal nahegekommen. Da es keine revolutionäre Bewegung gibt, wirken auch Versuche, sich an ihre Spitze zu stellen, ziemlich fragwürdig.

    Vor vielen Jahren war es Maria Arbatowa, die die Rolle der Fahnenträgerin des russischen Feminismus für sich beanspruchte. Diese Rolle spielte sie in ihrer in den 90ern beliebten Talkshow Ja sama (Ich mach das selbst). Eigentlich sagte Maria im Fernsehen nichts Radikales, sondern predigte einfache Wahrheiten im Sinne liberaler europäischer Werte. 1999 verließ Arbatowa die Talkshow. Ihr Image zu Geld zu machen, gelang ihr jedoch nicht.        

    Heute darf die 35-jährige Journalistin und Bloggerin Bella Rapoport den Titel der berühmtesten Feministin für sich in Anspruch nehmen. Ihre Karriere als Feministin begann in den sozialen Netzwerken, wo sie ihre Gedanken mit Freunden teilte und idealistisch der Meinung war, sie lebe nicht vergeblich, wenn wenigstens einer Frau auf dieser Welt die Augen geöffnet würden.

    Vor zwei Jahren schrieb Rapoport in Snob eine Kolumne mit dem Titel Das Recht auf Sex, in der sie sich Gedanken über die Tatsache machte, dass das Recht der Männer auf Sex im herrschenden Wertesystem stärker gewichtet wird als das der Frauen. Die Kolumne brachte Bella Popularität ein (bis heute über 135.000 Aufrufe), woraufhin auch andere Medien sie als Autorin einluden.

    Weiter punkten konnte sie im Meduza-Gate: Im März des vergangenen Jahres publizierte das Online-Magazin Meduza die Anleitung Wie es funktioniert, in Russland kein Sexist zu sein und warb dafür in den sozialen Netzwerken mit dem Satz „Männer, hier lernt ihr, Miezen1 nicht zu beleidigen“. Mehr als ein Artikel befasste sich mit dem Wort „Mieze“, die Bloggerszene lief Sturm, und Rapoports Kolumne zu dem Thema auf Colta.ru erreichte fast 268.000 Aufrufe.

    In den letzten Monaten hat Bella übrigens nichts mehr veröffentlicht, und künftig will sie viel weniger über Feminismus schreiben als bisher. Sie brennt nicht darauf, das Banner der wichtigsten Frauenrechtskämpferin Russlands zu tragen. Sie sei müde und enttäuscht, sagt sie – darüber, wie die Gesellschaft auf sie reagiere und wie man in Russland mit Frauen umgehe. In den sozialen Netzwerken und den Kommentaren zu ihren Kolumnen hatte man Bella Rapoport rasch klargemacht, was sie „in Wirklichkeit ist“: Eine hässliche Jüdin, die die russischen Frauen ins Verderben stürzen wolle, eine Lesbe und einfach eine dumme Nuss.

    Wölfe als Hüter der familiären Werte

    Auf der Agenda des westlichen Feminismus steht derzeit, den Weg freizumachen für Frauen im Beruf, die Gehälter anzugleichen, Plätze in Aufsichtsräten sicherzustellen. Das wirkt in Russland, wo die Grundrechte der Frauen grob missachtet werden, eher wie eine Karikatur. Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Frauen an häuslicher Gewalt – 2013 waren es 9000. Der Statistik zufolge werden 40 Prozent der Gewaltdelikte innerhalb der Familie begangen.

    Dieses Problem lässt sich nicht ohne staatliches Eingreifen lösen, aber die Aktivistinnen haben Mühe, sich über all die Rhetorik der „spirituellen Klammern“ und der „Werte“ hinweg Gehör zu verschaffen. Eine kleine Anekdote: Im vergangenen Jahr war der Russische Frauenverband an der Vergabe der präsidialen Fördermittel für gemeinnützige Organisationen beteiligt. Er versagte einem Projekt die beantragten 4 Millionen Rubel für eine umfassende Informations- und Auskunftsplattform für weibliche Opfer häuslicher Gewalt. Dafür wurden 9 Millionen Rubel an den Biker-Club Nachtwölfe für die Organisation von Neujahrsfesten vergeben.

    Punktuell entstehen in Russland aber dennoch Projekte zum Schutz von Frauenrechten. Nachdem sie die Födermittel nicht erhalten hatten, realisierten die beiden Juristinnen Anna Riwina und Mari Dawtjan die Website in Eigenleistung, unterstützt von Freunden und Freiwilligen und in Zusammenarbeit mit einem Konsortium regierungsunabhängiger Frauenverbände.

    Es gibt auch ganz rührende Projekte im Geist der Suffragetten des frühen 20. Jahrhunderts, in St. Petersburg zum Beispiel die von den vier jungen Künstlerinnen Anna Tereschkina, Antonina Melnik, Maria Lukjanowa und Nadeshda Katastrofa gegründete Nähkooperative Schwemy. Die Kooperative funktioniert auf der Basis von Gleichberechtigung, sämtliche Entscheidungen werden im Konsens gefasst, und die Gründerinnen verstehen das Nähen als Prozess der Emanzipation: Sie steppen nicht einfach Nähte, sondern hören während der Arbeit Audiobooks, zum Beispiel von Marx.

    Ihren Prinzipien verleihen die jungen Frauen durch ihre genähten Werke Ausdruck. So nähten sie etwa die Kostüme für das Stück Vagina-Monologe – einem New Yorker Theatermanifest, das 1996 zum ersten Mal aufgeführt wurde, 2005 nach Russland gelangte und seither mehr oder weniger erfolgreich von Bühne zu Bühne zieht. Eine andere Spezialität des Ateliers sind die queer-feministischen Röcke – luftige Umhänge mit großen Taschen, die nach dem Willen der vier Näherinnen sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden sollen.

    Das mögen manche als lächerlich empfinden, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit Spießbürgern in der Sprache der Röcke zu sprechen. Diese Sprache ist ihnen im Gegensatz zu den Wörtern „Misogynie“ und „Objektivierung“, mit denen zeitgenössische feministische Autorinnen um sich werfen, vielleicht verständlich.


    1.In einer früheren Version hatten wir für russisch „tjolotschka“ die (nicht ganz korrekte, aber wörtlichere) Übersetzung „Kälbchen“ verwendet – „Mieze“ ist näher am russischen Idiom.

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  • Presseschau № 20

    Presseschau № 20

    Aufruhr in den sozialen Netzwerken: Am Montag machen Bilder einer Frau die Runde, die mit dem abgeschnittenen Kopf eines Kindes in der Hand in Moskau festgenommen wird. Staatliche TV-Sender schweigen zu diesem Vorfall und müssen sich den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Bei einem Grubenunglück in Workuta sterben 36 Arbeiter. Sind mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen die Ursache? Außerdem: Michail Gorbatschow feiert seinen 85. Geburtstag, doch seine Arbeit für das Land bleibt weiterhin umstritten.

    Senden oder nicht? Syrien, eine Pegida-Demonstration in Dresden und die Flüchtlingskrise in Europa. Soweit die erste Viertelstunde in den russischen 20-Uhr-Nachrichten am Dienstag. Kein Wort dagegen über eines der meistdiskutierten Themen der vergangenen Woche: Der Mord der Blutigen Nanny, wie russische Boulevardmedien die Frau tauften, die vor einer Moskauer Metrostation mit dem Kopf eines ermordeten Kindes in der Hand verhaftet wurde. Am Dienstagabend wurden in einer spontanen Gedenkveranstaltung Blumen, Spielzeuge und Ballons vor der Metrostation für das Mädchen niedergelegt.

    Das Schweigen der staatlichen TV-Kanäle führte zu heftigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Zensurvorwürfe wurden laut, über den angeblichen Fall Lisa in Deutschland hätten die Medien ausführlichst berichtet. Oleg Kaschin sprach auf Slon gar vom „demonstrativsten Akt von Zensur der vergangenen Jahre“. Die Vorwürfe wies Präsidentensprecher Dimitri Peskow umgehend zurück. Die Sender selbst hätten entschieden, nicht über die Bluttat zu berichten, auch wenn der Kreml die Initiative unterstütze. Der bekannte TV-Journalist Wladimir Posner verteidigte die Entscheidung der Staatsmedien mit dem Argument, auch die amerikanischen TV-Stationen hätten nach 9/11 nicht alle Bilder gezeigt. Alexej Nawalny sprach auf seinem Blog ebenfalls von Zensur. Es gehe aber nicht darum, möglichst schockierende Bilder zu zeigen, sondern das Staatsfernsehen solle seiner Pflicht nachkommen und darüber berichten, was passiert.

    Durch das Verschweigen der Bluttat sollten Fremdenhass und rechtsextreme Übergriffe verhindert werden, da die mutmaßliche Täterin aus Usbekistan stammt. Die Strategie zeigte jedoch keinen Erfolg. Online und in den Boulevardmedien wurden Name und Herkunft der Nanny prompt publiziert, ihr Gesicht nicht unkenntlich gemacht, Videos von der Metrostation veröffentlicht. Auf eine Verlinkung möchten wir an dieser Stelle allerdings verzichten. Unzählige Kameras waren bei der Tatortbegehung sowie bei der ersten Anhörung vor Gericht anwesend. Der kremlnahe Sender LifeNews sendete die Bilder genauso wie TV Dozhd. Ob das Staatsfernsehen über das Verbrechen berichtet oder nicht, ist für die Komsomolskaja Prawda deshalb Nebensache. Wer etwas wissen will, informiert sich längst im Internet, das Fernsehen habe seine Vorherrschaft verloren.

    Grubenunglück in Workuta. Die Bluttat im Zentrum der Hauptstadt war jedoch nicht die einzige Tragödie, die sich in der vergangenen Woche in Russland ereignete. Bei mehreren Methanexplosionen in einer Kohlemine in der Republik Komi kamen 36 Arbeiter ums Leben, am 29. Februar wurden die Rettungsarbeiten eingestellt. Auch Tage später hat sich die Situation immer noch nicht gebessert, immer noch brennt es im Schacht und laut dem Katastrophenschutzministerium drohen neue Explosionen. Die Aufsichtsbehörde Rostechnadsor geht von einer natürlichen Unglücksursache aus. Ermittelt wird jedoch auch weiter. Schon in den Tagen vor der Explosion hätten die Arbeiter über eine zu hohe Methankonzentration im Schacht geklagt, schreibt die Novaja Gazeta. Um während einer Schicht mehr Kohle fördern zu können und damit mehr zu verdienen, hätten die Arbeiter möglicherweise selbst die Sensoren der Methandetektoren manipuliert. Immer wieder kommt es bei der Kohleförderung in Russland zu tödlichen Unfällen, die Sicherheitsvorkehrungen in der Branche gelten als mangelhaft. Alleine in den Schächten des Unternehmens Vorkutaugol, das auch den Unglücksschacht in Komi betreibt und zum Stahlriesen Severstal gehört, starben seit 1994 nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums 116 Menschen. Jede Million Tonnen Kohle, die während der vergangenen 15 Jahre gefördert wurde, kostete zwei Arbeitern das Leben, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Jubiläum. Diese Woche gab es aber auch Grund zum Feiern. Michail Gorbatschow feierte am 2. März seinen 85. Geburtstag. Die Novaya Gazeta erinnerte aus diesem Anlass mit Zitaten und Auschnitten aus Reden und Interviews an Gorbatschows Regierungszeit (hier die wichtigsten Ereignisse). Andere Medien veröffentlichten Bildergalerien, TV Dozhd zeigte ein Interview. Auch in der New Times kam der Jubilar selbst zu Wort. Zudem wurden Politiker, Kulturschaffende und Studenten nach ihrer Meinung zu Gorbatschow gefragt. Das Verhältnis der Russen zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion bleibt gespalten: „Ich habe keine Meinung über ihn, weil ich kaum etwas weiß. Alles, was nach Stalin kam, ist für mich eine unverständliche Periode bis zur Wahl Putins“, antwortet eine Moskauer Studentin. Auch in Umfragen bleibt die Regierungszeit Gorbatschows eher in schlechter Erinnerung. 67 Prozent bewerten sie negativ, nur für zwölf Prozent überwiegen die positiven Errungenschaften der Perestroika, so eine aktuelle Lewada-Umfrage. In guter Erinnerung bleibt vor allem die Freiheit: 2015 gaben 35 Prozent an, die wichtigste Errungenschaft der Gorbatschow-Zeit sei die Reisefreiheit, 32 Prozent nannten die Redefreiheit.

    Nemzow-Mord. Mehr als 20.000 Menschen gedachten in Moskau am Wochenende des vor einem Jahr in Sichtweite des Kreml ermordeten Oppositionspolitikers. Laut der Behörde sind die Ermittlungen abgeschlossen, eine genaue Rekonstruktion zeigt aber, dass viele Fragen offen bleiben. Nun behauptete Wladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, hinter dem Mord an Boris Nemzow könnten ausländische Anstifter stehen – wird diese Vermutung, die sich auf eine eigenwillige Interpretation eines Communiqués des State Departements stützte, noch weiter eine Rolle spielen? Was aber nächste Woche sicher wichtig wird: Der Prozess gegen die angeklagte ukrainische Pilotin Nadja Sawtschenko neigt sich dem Ende zu, die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Haft. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow wird trotz aller Rücktrittsankündigungen wohl erneut für das Amt des Präsidenten in der russischen Teilrepublik kandidieren – in Grosny fanden bereits Demonstrationen für seinen Verbleib im Amt statt. Und vor den Dumawahlen 2016 wird das Amt des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission neu besetzt. Wladimir Tschurow, seit den letzten Dumawahlen 2011 wegen Fälschungsvorwürfen von der Protestbewegung kritisiert, ist zurückgetreten.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Gibt es Leben in Donezk?

    Über die vergangenen Monate ist es in den Medien stiller geworden um den Osten der Ukraine, auch, weil seit Oktober 2015 der russische Einsatz in Syrien ins Zentrum des internationalen Interesses getreten ist. Das russische Internetportal SLON veröffentlicht nun einen Text, der die derzeitigen Zustände in der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik aus erster Hand schildert.

    Doch zuvor eine kurze Chronik der Ereignisse: Im November 2013 begannen die Proteste gegen die Regierung Janukowitsch in der Ukraine, im Februar 2014 zerfiel die alte politische Führung. Im März folgte die russische Annexion der Krim, im April besetzten prorussische Demonstranten Verwaltungsgebäude in mehreren Gebieten der Ostukraine und riefen die Volksrepublik von Donezk, später die von Lugansk aus. Mithilfe der Armee versuchte die ukrainische Führung die Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Während die militärischen Konflikte andauerten, wurden im September 2014 und im Februar 2015 die beiden Minsker Abkommen ausgehandelt, ab September 2015 auch der Waffenstillstand in groben Zügen umgesetzt, wenngleich weiterhin vereinzelte Kampfhandlungen stattfinden. Genauere Informationen und Hintergründe zu diesen Themen bieten unsere Texte zur Annexion der Krim, zum Krieg im Osten der Ukraine und zur selbstproklamierten Donezker Volksrepublik DNR.

    SLON leitet seinen aktuellen Beitrag folgendermaßen ein:

    „Der Autor dieses Texts, ein in Donezk lebender und arbeitender Journalist, bat uns darum, seinen Namen in der Veröffentlichung nicht zu nennen. Obwohl es in diesem Artikel so gut wie nicht um Politik geht, sondern lediglich um den Alltag in der durch Separatisten von der Ukraine abgetrennten Region, könnten beim sogenannten Ministerium für Staatssicherheit (MGB) der Donezker Volksrepublik (DNR) Fragen aufkommen. Zumal es in der DNR in jüngster Zeit vermehrt zu Festnahmen von Aktivisten und Ehrenamtlichen gekommen.

    ‚Donezk ist ein Keller, aber hier wird hin und wieder gefeiert, geheiratet, kommen Kinder zur Welt. Menschen sind seltsame Wesen, sie überleben immer‘, bemerkt der Autor. Was von außen betrachtet wie dunkelste Vorzeit wirkt, empfindet man unter kriegsähnlichen Bedingungen irgendwann als Normalität – sowieso ist der Begriff der Normalität im postsowjetischen Raum durch Revolutionen, Kriege, Totalitarismus und den Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft ja stark ins Wanken gekommen. Nicht von ungefähr meinen die in diesem Artikel beschriebenen Pensionäre, sie wären ‚wieder in der UdSSR gelandet‘.“

    Die Frage: „Gibt es Leben in Donezk?“ ist merkwürdig und verrät einen sofort als Ortsfremden, einen, der nicht mit den hiesigen Realien vertraut ist. Leben gibt es immer, wo noch Menschen leben. Sogar in Stalingrad im Dezember 1942 oder in Berlin wie im April 1945. Warum dann nicht auch im jetzt verhältnismäßig friedlichen Donezk, in dem laut verschiedenen Schätzungen circa 600.000 Menschen leben, oder im gesamten von der DNR kontrollierten Gebiet, in dem 700.000 Menschen ihre Rente in Rubel erhalten und insgesamt fast zwei Millionen leben.

    Diese Menschen müssen Tag für Tag irgendwas essen, irgendwo arbeiten, zur Schule und zum Arzt gehen, heiraten, und manchmal sterben sie auch an ganz friedlichen Krankheiten. Und dann werden auch sie feierlich auf Friedhöfen in Särgen verschiedener Preis- und Qualitätsklassen beigesetzt und mit Trauerfeiern verabschiedet. Alles wie im 530 Kilometer entfernten Woronesch, bloß ein bisschen komplizierter.

    Zunächst einmal: Die Stadt ist tadellos sauber, die kommunalen Dienste arbeiten einwandfrei. Ebenso regelmäßig und ohne Störungen funktioniert der gesamte öffentliche Verkehr. Eine Fahrt mit dem Trolleybus oder der Tram kostet anderthalb Rubel (wobei der Preis für den Trolleybus allerdings gerade auf drei Rubel erhöht wurde), die Fahrscheine sind farbig bedruckt, das Design ändert sich praktisch jeden Monat. In den Bussen gibt es keine Fahrscheine, die Fahrt kostet drei Rubel.

    Der Krieg ist nicht mehr zu spüren. Besonders, wenn man ihn nicht spüren will. Bewaffnete Menschen sieht man seit den radikalen Säuberungsaktionen gegen die hiesigen Kosaken im April letzten Jahres so gut wie keine auf den Straßen, betrunkene Volksmilizen erst recht nicht. Schüsse sind zu hören, aber die hier lebenden Menschen unterscheiden zwischen Beschuss und Anflug. Jede Rentnerin im Trolleybus kann bei weit entfernten Schießgeräuschen großkalibriger Maschinengewehre sagen: das ist am Flughafen, oder: das sind Übungen auf dem Schießplatz in Durnaja Balka.

    Und dann ist da natürlich noch die Sperrzeit. Von 23:00 Uhr bis 5:00 Uhr früh. Sie wird streng eingehalten – nach 22:00 Uhr ist es schwer, ein Taxi zu bestellen, besonders in der Innenstadt. Die Taxifahrer sind auch nur Menschen, auch sie müssen rechtzeitig zu Hause sein, und die meisten Patrouillen sind im Zentrum unterwegs.

    Naja, und aus verständlichen Gründen gibt es weder einen Flughafen noch Eisenbahnverbindungen.

    Die Bevölkerung

    Wie viele Menschen leben in Donezk? Ein endloses Thema, heute genauso wie vor dem Krieg. Früher lag die Stadt knapp unterhalb der Millionengrenze. Eine zuverlässige aktuelle Statistik gibt es nicht. Der vom Oberhaupt der DNR Alexander Sachartschenko ernannte Bürgermeister Igor Martynow (ehemals Direktor eines Parks für Kultur und Erholung) behauptete eine Zeitlang, gemessen an der Menge des hergestellten Brotes würden in Donezk etwa 600.000 Menschen leben, und ließ, wie zuvor die gewählten Bürgermeister, wöchentliche Geburtsstatistiken drucken. Die Statistiken zeigten, dass die Geburtenrate um die Hälfte oder gar ein Drittel gesunken war.

    Laut einer ukrainischen Statistik haben 1,7 Millionen Menschen „einzelne Regionen“ der Gebiete Lugansk (Anfang 2014 bewohnt von 2,2 Millionen Menschen) und Donezk (Anfang 2014: 4,3 Millionen) verlassen und sich in anderen Gegenden der Ukraine angesiedelt. Fast 1 Million Menschen sind nach Russland ausgereist und etwa 400.000 nach Belarus. Besonders unter der Ausreise von Unternehmern, Professoren, Ärzten und Ingenieuren hat die Stadt zu leiden. Unter den Gebildeten und gut Situierten lag der Anteil der Ausgewanderten sicher bei über 50 Prozent. Nach fast zwei Jahren des Exils haben viele von ihnen in Lwiw, Kiew oder Dnipropetrowsk Fuß gefasst und nicht vor, in die geschundene Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren.

    In Donezk selbst jedoch sind Unterhaltungen darüber, wie sehr sich die Stadt zum Besseren gewandelt habe und wie viele Menschen zurückkehren würden, zum Volkssport und geworden und gelten als Zeichen, „dass es bald Frieden geben wird”. Beurteilt wird das zum Beispiel an der Menge von Autos auf den Straßen. Teure Autos gibt es im Vergleich zum Vorjahr wesentlich mehr. Manchmal bilden sich sogar Staus.

    Die Stadt

    Am meisten haben in Donezk die Außenbezirke gelitten, die an Kampfschauplätze grenzen – die Umgebung des Flughafens, die Vororte Peski, Marjinka. Man kann durchaus mal eben eine Spritztour in die halbverlassenen und beschädigten Viertel des Kiewski Rajon unterhalb der Putilowski-Brücke unternehmen und nach einer kurzen Exkursion in zehn Minuten wieder am Puschkin-Boulevard sein, dem Ballungszentrum der besten (regulär arbeitenden) Restaurants der Stadt. In den betroffenen Bezirken sind vor allem kaputte Fenster und ausgebrannte Buden und Verkaufspavillons zu sehen.

    Überall sind die Schulen und Kindergärten geöffnet. Schon im August und September des vergangenen Jahres waren mit zwei humanitären Konvois 1000 Tonnen neuer russischer Schulbücher gekommen. Ukrainische Geographie und Geschichte wurde verboten, jetzt ist das erste Thema nach der Heimaterdkunde die Waldtundra. Zu Beginn des Jahres wurde zusätzlich das Fach Staatsbürgerliche Erziehung zum Donbass-Bürger eingeführt. Für alle, von der ersten bis zur elften Klasse. Der Kurs ist in drei Abschnitte unterteilt: Donbass – mein Heimatland, Selbsterziehung zum Bürger der Donezker Volksrepublik, Donbass und Russki Mir. Um im Stundenplan Platz zu machen, hat man die Ukrainisch-Stunden reduziert und das Fach Ethik abgeschafft. Außerdem ist das Essen in den Kindergärten und Schulen seit dem 1. Januar kostenfrei. Eine extrem wichtige Erleichterung.

    Es gibt Kinderfeste, Pionierhäuser, Arbeitskreise und Tanzschulen. Adressen von zurückgekehrten Yogalehrern kursieren wie früher die Valuta. Schwimmbäder und Sportclubs sind wieder in Betrieb. Die Theater geöffnet. Alle sind bemüht, den Krieg nicht zu bemerken und alle möglichen „genauen Angaben“ über einen baldigen Frieden aufzuschnappen.

    Stromausfälle gibt es in Donezk und Makejewka so gut wie keine. Nur in der direkten Einschlagzone kommt es manchmal dazu, wenn eine Stromtrasse getroffen wird – in der sogenannten grauen Zone (ein neutraler Streifen zwischen den Kriegsparteien, der nach dem Abzug der Waffen von der Demarkationslinie entstanden ist, wie im Minsker Abkommen vereinbart).

    Bis zuletzt wurden sogar, anders als in der Ukraine, die Tarife für kommunale Dienstleistungen nicht erhöht. Wobei die Preise nach dem auf eins zu zwei festgesetzten Wechselkurs von Griwna zu Rubel berechnet und fixiert sind.

    Probleme gab es mit der Heizung und dem Benzin. Benzin wird aus Russland eingeführt, doch das Jahr 2015 stand ganz im Zeichen der Benzinkrisen. Mal gab es schlicht keinen, mal lag der Preis für einen Liter 95er bei 57 Rubel [0,70 Euro; zum Vergleich: in Moskau kostet der Liter circa 40 Rubel]. Benzin und Gas kamen über Briefkastenunternehmen des Oligarchen Sergej Kurtschenko in die DNR, der als Janukowitschs Brieftasche gilt. Die intransparenten Versorgungswege führten zu einer Reihe von Konflikten und organisierten Demonstrationen gegen ukrainische Oligarchen in Donezk, woraufhin in den Gasleitungen schlagartig der Druck abfiel. Heute ist die Wärmeversorgung stabil.

    Geld und Lebensmittel

    Die Gespräche der Menschen, die in der Stadt geblieben sind, drehen sich heute weniger um Politik als vielmehr ums Geld. Ärzte und Lehrer bekommen erst seit letztem Sommer regelmäßig Gehalt. Damals wurde der Wechselkurs von Rubel zu Griwna per Befehl auf zwei zu eins festgelegt (auf dem freien Markt liegt der Kurs bei drei zu eins). Die Gehälter rechnete man einfach um, indem man die ukrainischen mit zwei multiplizierte und in Rubel auszahlte. Lehrer und Ärzte hatten zuvor um die 4000 Griwna [im Juli 2015 etwa 170 Euro] verdient, jetzt bekommen sie im Monat also alle etwa 7000 bis 8000 Rubel [85 bis 100 Euro]. Dieses Gehalt gilt als gut. Etwa genauso viel verdienen zum Beispiel Mitarbeiter von lokalen Fernsehsendern. Für einen Job in einem Unternehmen mit einem Gehalt von 5000 Rubel [62 Euro] stehen die Leute Schlange. Aber es gibt auch nicht gerade viele funktionierende Unternehmen.

    Einige wenige Fabriken und Bergwerke sind in Betrieb, deren Prozessketten mit der Ukraine verbunden sind. Das sind Fabriken von Rinat Achmetow und Zechen, die Kohle an die Ukraine liefern. Ich hatte Gelegenheit, mit Mitarbeitern des Potschenkow-Bergwerks in Makejewka zu sprechen. Die dortigen Grubenarbeiter bekommen ihr Gehalt regelmäßig in Griwna auf ukrainische Konten gezahlt – im Durchschnitt etwa 10.000 [circa 340 Euro]. Nach hiesigem Maßstab sind sie reich. Ähnlich sieht es im Sassjadko-Bergwerk aus. Aber das sind einzelne Glückspilze.

    Ansonsten ist eine Deindustrialisierung im Gange. In Sneshnoje wurde eine bekannte Fabrik stillgelegt, die Schaufeln für Hubschrauberturbinen herstellte, in Donezk steht das Topas-Werk still, das früher das Funkmess-Überwachungssytem Koltschuga produzierte, in Makejewka ruht das Eisenhüttenwerk, stillgelegte Fördertürme werden zu Metallschrott verarbeitet.

    Die Preise für Lebensmittel sind in der DNR niedriger als auf der Krim, aber höher als im benachbarten ukrainischen Mariupol, an das die nicht anerkannte Republik unmittelbar grenzt. Urteilen Sie selbst: Schweinefleisch kostet 250 bis 320 Rubel [3 bis 4 Euro], fetter Speck 300 bis 320 Rubel [3,70 bis 4 Euro], tiefgefrorenes Hühnerfleisch 120 Rubel [1,50 Euro], Reis 60 Rubel [0,75 Euro] das Kilo. Das sind Lebensmittel, die nicht für jeden zugänglich sind. Wozu jeder Zugang hat, sind die humanitären Hilfspakete. Das Vorhandensein eines Autos oder eines Mannes, der von Montag bis Freitag zum Beispiel im besagten Mariupol Arbeit gefunden hat, ist ein bedeutender Vorteil. Viele Familien leben ausschließlich von ukrainischen Lebensmitteln, und von Sonntag auf Montag sowie freitags sind die Schlangen entlang der Blockposten für Ausreise aus oder Einreise nach Donezk besonders lang. Benzinkosten werden mithilfe des Internets gespart. Sehr beliebt ist die Seite BlaBlaCar, Mitfahrer bezahlen 150 bis 200 Griwna [5 bis 7 Euro] pro Kopf.

    In den letzten Monaten wurde es sehr beliebt, die Rolle Russlands bei der Sicherstellung des Lebens der Republik hervorzukehren. Früher sprach man in Donezk nur ungern über die „Kuratoren aus dem Kreml“ und darüber, woher die Rubel in der DNR kommen. Doch als im Herbst vorübergehend der Minsker Friedensprozess in Gang kam, als mit harten Maßnahmen ein zweimonatiger beidseitiger Waffenstillstand durchgesetzt wurde, machte sich gewisse Ratlosigkeit breit: „Lassen die uns etwa im Stich?!“ Wenn jetzt weiter über „russische Experten“, russische Armeeangehörige oder russisches Geld geredet wird, dann ist das daher auch ein Anzeichen dafür, dass Russland nicht vor hat, die Republiken aufzugeben.

    Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, welcher Anteil des hiesigen Haushalts durch eingeführte Rubel abgedeckt wird. Laut Nachforschungen deutscher Journalisten handelt es sich um circa 80 Millionen Euro pro Monat, die Russland als Hilfe bereitstelle. Das ergibt knapp eine Milliarde Euro im Jahr.

    Humanitäre Hilfe

    Noch ein Vorteil im Rennen ums Überleben ist die Möglichkeit, humanitäre Hilfspakete zu erhalten. Am weitesten verbreitet und am magersten sind die aus dem Fonds Wir helfen, der dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Sein Fonds ist der größte Abnehmer von Nahrungsmitteln aus der Ukraine. Pro Monat werden circa 20.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Donezk und Makejewka gebracht (nur dort läuft die Ausgabe der Hilfsgüter). Freiwillige Helfer sortieren in der Donbass Arena Monatsrationen in Tüten mit Firmenaufdruck, versehen sie mit „Nicht zum Verkauf“-Aufklebern. Die Freiwilligen arbeiten ehrenamtlich, bekommen dafür aber üppigere Lebensmittelrationen.

    Fette humanitäre Hilfe kommt aus Israel und Russland. Die israelische kommt über die Sochnut, die Jewish Agency for Israel und steht jedem zu, der jüdische Wurzeln nachweisen kann. Hier bilden sich ebenfalls stattliche Schlangen, auch Damen in Nerzpelzen sind zu sehen – in Donezk ist es keine Schande, humanitäre Hilfe zu bekommen. Die Tüten aus Russland und Israel sind besser bestückt und enthalten Fleischkonserven. Mit der Hilfe aus Russland ist es komplizierter. Die berühmten weißen Konvois helfen eher auf staatlicher Ebene – mit Lebensmitteln für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, mit Benzin für Fahrzeuge der Ambulanz, Polizei und des Katastrophenschutzministeriums sowie mit Baumaterial und Schulbüchern. Dass Hilfsgüter in Tüten ausgegeben werden, kommt eher selten vor. Ich kenne persönlich nur zwei Familien, die von sozialen Einrichtungen russische Hilfspakete erhalten. In einem Fall handelt es sich um die Familie eines Volksmilizen, sie sind Aussiedler aus Slawjansk, in dem anderen um eine alleinerziehende Mutter mit vielen Kindern.

    Am wohlhabendsten, wenn man das so sagen kann, sind in der DNR die Rentner. Darunter finden sich – kein Scherz – einige, die nichts dagegen hätten, wenn so ein Krieg ohne Geschützfeuer noch eine Weile andauern würde. Überhaupt ist alles wie zu Sowjetzeiten: Es gibt keine erkennbare soziale Ausdifferenzierung, und die Kinder und Enkel suchen die Nähe der Alten – denn die haben Geld. Die allermeisten Pensionäre erhalten ukrainische Renten. Die Mittel aus dem Rentenfonds der DNR werden dafür diskret „Hilfe aus Russland“ genannt. Die Summe ist für alle gleich: um die 2500 Rubel im Monat.

    1220 Griwna [circa 40 Euro] im Monat bekam früher, in der Ukraine, eine alte Dame aus einer der Siedlungen in Makejewka, mit der ich einmal ausführlich über das Leben debattierte. Die Unterscheidung in Reich und Arm verläuft jetzt entlang ganz anderer Grenzen. „Bei uns im Haus wohnt ein ehemaliger Grubenarbeiter“, erzählte sie. „Der bekommt 4000 Griwna [circa 135 Euro] ukrainische Rente. Dazu die Hilfe aus Russland. Und dann bekommt ja auch noch seine Frau Rente, so kommen sie zu zweit auf 20.000 Rubel [circa 245 Euro]. Solche Leute eben. Essen sogar Fleisch.“

    Ukrainische Renten bekommen die Menschen, indem sie sich im benachbarten Mariupol oder Pawlograd als temporäre Aussiedler registrieren lassen – selbst oder mit Hilfe einer der zahlreichen Firmen, die sich dem Thema „Rententourismus“ widmen. Neben Rentnerfahrten in die Ukraine gibt es auch das sogenannte Karten-Business, das heißt, jemand fährt mit zwei Dutzend Kreditkarten auf die ukrainische Seite und hebt am Bankautomaten gegen eine gewisse Provision die Renten ab.

    Auch Geschichten im Geiste von Gogols Toten Seelen gibt es: Weil die DNR von allen elektronischen Registern abgekoppelt ist, fließt weiterhin Geld auf die Rentenkonten, auch wenn der Inhaber bereits verstorben ist.

    Die medizinische Situation ist schwierig. Viele Ärzte sind schlicht ausgewandert. Was noch existiert und funktioniert sind das Zentrum für Brandverletzungen, die regionale Unfallchirurgie und die neuro- und herzchirurgischen Zentren der Kalinin-Klinik. Das ist im Moment der einzige Ort im ganzen Donbass, an dem noch Herzoperationen durchgeführt werden. Vor dem Krieg gab es vier solcher Abteilungen – eine in Lugansk, zwei in Donezk und eine in Mariupol.

    Die medizinische Versorgung in der DNR ist ausdrücklich kostenlos. Medikamente kommen aus Russland. Es gab einen Fall, da wurde das Forschungslabor der medizinischen Hochschule, das beste in der ganzen Region, von bewaffneten Leuten geschlossen, nachdem man für eine Kontrolluntersuchung Geld genommen hatte. Wo das Labor das Geld für die Chemikalien hernehmen soll, das ist seine eigene Sache.

    Business

    Man soll nicht glauben, dass es in schwierigen Zeiten allen schlecht geht. In Donezk gibt es eine Menge Menschen, die sich ziemlich gut eingerichtet haben.

    In erster Linie gehören dazu die Volksmilizen. Sie sind jetzt alle unter Vertrag und bekommen Gehalt. Im Schnitt 14.000 Rubel [170 Euro]. Dazu kommen Uniform, Verpflegung im Verband und manchmal Lebensmittelhilfen für die Familien. Dabei ist der „große“ Krieg seit einem Jahr vorbei – seit Debalzewo.

    Es gibt auch lokale Unternehmer. Die Geschäfte drehen sich hier vor allem um die Geldflüsse in Rubel. Erfolgreich läuft der Einzelhandel mit Lebensmitteln. Die nationalisierte Supermarktkette ATB ist der Kette „Supermarkt der Republik Nr. 1“ (Perwy respublikanski supermarkt) gewichen.

    Kleine Läden finden Wege, Waren aus der Ukraine einzuführen. Leute, die häufig über die Grenze müssen, bringen im Kofferaum Fleisch, Milchprodukte, Kosmetik, Unterwäsche und Haushaltschemie mit. Fast alles davon ist Mangelware.

    Es gibt viele Bargeldservice-Firmen. Für das Abheben von ukrainischen Karten streichen sie mitunter bis zu 30 Prozent ein. Der Prozentsatz für russische Konten ist bedeutend kleiner: Mit einer Karte der Sberbank kostet das Abheben sechs Prozent, bei größeren Summen ab 10.000 Rubel verringert sich der Kommissionssatz auf fünf Prozent.

    In meinem Lieblingscafé Gastropub am Prospekt Mira wurde letzte Woche eigens für mich das Licht angemacht. Ich war tagsüber der einzige Gast. Aber die Restaurants auf dem Puschkin-Boulevard sind in der Regel gut besucht. Es gibt jetzt auch viel Werbung mit Flyern, die werden einem packenweise ins Autofenster gereicht. Beworben wird alles Mögliche: Saunen, Massage- und Friseursalons, Tätowierstudios, Ankauf von Gebrauchtwagen mit ukrainischer Registrierung, KFZ-Werkstätten.

    Die ukrainischen Multiplex-Kino-Ketten sind in Donezk nicht in Betrieb, aber alte Kinotheater haben geöffnet – hierher schaffen es russische Uraufführungen und sogar ukrainisch synchronisierte Weltpremieren. Bei Letzteren sind sogar die Plakate in ukrainischer Sprache bedruckt.

    Das Echo des Krieges: Dienstleistungen wie die Rücksetzung von IMEI-Codes auf Handys zwecks Abhörverhinderung (300 Rubel [3,70 Euro] auf dem Markt für Radiotechnik) oder die Herstellung von exklusiven Schall- und Mündungsfeuerdämpfern für Kalaschnikow-Maschinengewehre durch in Fabriken angestellte Dreher.

    Das Leben in Donezk pulsiert den ganzen Tag und verhallt gegen 19:00 Uhr, um in der Nacht vollkommen stillzustehen. Die Menschen leben allen Widrigkeiten zum Trotz und vermeiden es, über schlechte Nachrichten zu sprechen. Für schlechte Nachrichten kommt man unter Umständen ins Ministerium für Staatssicherheit.

    Wollte man es auf eine Formel bringen: Angst, Geldlosigkeit und die Hoffnung, dass die Kanonen stumm bleiben – das ist es, was das Leben in Donezk aktuell ausmacht.

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    Helden eines „heiligen Kampfes“?

    Die Verflechtungen zwischen der orthodoxen Kirche und der russischen Politik sind über die letzten Jahre kontinuierlich enger geworden. Woher stammt die kriegerische Rhetorik im Diskurs der Kirche? Wieso hat sie gerade derzeit eine solche Konjunktur? Gibt es auch abweichende, weniger „imperiale“ Strömungen im orthodoxen Glauben? Sind von ihnen gar Anstöße zu sozialen oder politischen Veränderungen zu erwarten?

    Nachdem letzten Monat ein Artikel auf dekoder den Wandel von der Volks- zur Staatskirche beleuchtete, hier nun ein Interview zu den Fragen der politischen Orthodoxie mit dem russischen Religionswissenschaftler Boris Knorre, Dozent an der Higher School of Economics in Moskau.

    In Russland gibt es inzwischen viele Menschen, die sich bei ihren politischen Parolen auf die Orthodoxie berufen. Wie ist es dazu gekommen?

    Die gesamten 90er Jahre hindurch gab es an der kirchlich-monarchistischen Basis politisierte Gruppen, die sich der Kirche angeschlossen hatten. Damals stellten sich die Bischöfe einer Politisierung entgegen. Die entscheidende Veränderung erfolgte 2004, als der heutige Patriarch Kirill, damals Metropolit, beim Weltkonzil des Russischen Volkes die sogenannte Doktrin der orthodoxen Zivilisation vorstellte. Faktisch berief er sich auf Gedanken aus Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen und erklärte, Russland müsse eine dieser Kulturen sein. Die orthodoxe Zivilisation beschrieb er als spezielles geopolitisches Gebilde, bestehend aus jenen Ländern, „deren Kulturen“, hier zitiere ich, „entscheidend von der Orthodoxie beeinflusst worden sind – Bulgarien, Weißrussland, Griechenland, Zypern, Mazedonien, Russland, Rumänien, Serbien, Montenegro, Ukraine.“ Auch die Diaspora auf der ganzen Welt zählte Kirill zur orthodoxen Zivilisation.

    Der künftige Patriarch beschränkte sich damals auf Deklarationen und äußerte sich bald darauf kritisch über die politische Orthodoxie als solche. Praktisch gleichzeitig begann aber Wsewolod Tschaplin, konkrete, sehr radikale Prinzipien zu verbreiten, auf denen eine orthodoxe Zivilisation seiner Meinung nach gründen sollte. Im gleichen Jahr erklärte Tschaplin in einem Gespräch auf Echo Moskwy, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten. Zwei Jahre später veröffentlichte er in der Zeitschrift Polititscheski klass den Artikel Die fünf Postulate der orthodoxen Zivilisation. Zu diesen gehörten die Ablehnung der Marktwirtschaft und die Einheit von Kirche, Volk und Staat, da deren Trennung eine Sünde sei.

    Erzpriester Tschaplin erklärte, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten.

    2006 erschienen Artikel von Jegor Cholmogorow. Seine Worte über die „atomare Orthodoxie“ wurden mit der Zeit auch von Tschaplin und Ochlobystin verbreitet. 2011 stellte Ochlobystin in seiner Rede Doktrina 77 Überlegungen über die Russen an, die für den Krieg geschaffen seien und sich nur in zwei Fällen organisieren dürften – als Kirchengemeinde zum Gebet und auf dem Schlachtfeld für den Kampf gegen den Feind. Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“, des säubernden Kampfes gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

    Was bedeutet eigentlich der Begriff politische Orthodoxie?

    Der Philosoph Eric Voegelin verwendete den Terminus „politische Religion“ in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit totalitären Staatsideologien: Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus. Heute unterscheidet sich der Begriff „politische Religion“ aber grundsätzlich vom damaligen Voegelins. Es handelt sich um eine religionsinterne Strömung, die eine homogene, nach religiösen Prinzipien aufgebaute Gesellschaft zum Ziel hat. Die politische Orthodoxie fordert eine Verstaatlichung der Religion, den Export der entsprechenden religiös-moralischen Normen über die Grenzen der Kirche hinaus, sie will in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und die Lebensregeln nicht nur der religiösen, sondern auch der nichtreligiösen Menschen bestimmen. Und das setzt Lobbyarbeit für entsprechende Gesetze voraus, einen totalen Umbau der Staatsverfassung. Von den politischen Religionen hat diesbezüglich der Islam die größten Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch einen politischen Hinduismus, ebenso können der Protestantismus und der Katholizismus politisch sein.

    Sind politische Orthodoxe im Grunde genommen Fundamentalisten?

    Zum Teil ja, aber es gibt Unterschiede. Die Wissenschaftlerin Anastasia Mitrofanowa, die sich mit Politisierungsprozessen von Religionen befasst, weist darauf hin, dass Fundamentalisten ihren sozialen Raum einkapseln wollen, dass sie im Rahmen eines nationalen Projekts zu den Ursprüngen zurückkehren wollen, während sich die politische Orthodoxie sehr viel globalere Aufgaben vornimmt.

    Benutzt die russische Regierung derzeit die Orthodoxie für ihre Interessen oder kämpfen die Orthodoxen um Macht?

    Beides. Und jeder Schritt des einen Akteurs – der Regierung beziehungsweise der Kirche – verstärkt die Gegenreaktion des anderen. Als die Religion in den 1990er Jahren gerade erst zugelassen worden war, beklagten sich die Orthodoxen im Zuge der demokratischen Umwälzungen, die Veränderungen würden ohne Berücksichtigung der kulturellen und nationalen Rolle der Orthodoxie erfolgen. Die Kirchenführung und politisch aktive orthodoxe Gruppen an der Basis trachteten schon damals danach, die Elite zu beeinflussen. Besonders hervor tat sich dabei die Organisation Verband orthodoxer Bürger. Sie sagten: Es geht uns nicht um die Macht, wir wollen eine Art moralische Qualitätssicherung, wir wollen Politiker und Mächtige mit orthodoxer Weltanschauung unterstützen.

    Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“ gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

    Diese Gruppe hatte schon immer imperiale Ambitionen, noch bevor diese populär wurden. Ich habe selber gesehen, dass viele Geistliche die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie erlebten. In einer Kirchengemeinde, die ich im Winter 1991/92 besuchte, der Elias-Kirche in Ilinskoje, waren zornige Schmähungen an Jelzins Adresse und Klagen über das Ende der Sowjetunion Hauptthema der Predigt am Schluss fast jedes Gottesdiensts. Anscheinend hat sich die sowjetische Vergangenheit im Bewusstsein vieler Gläubiger so stark eingeprägt, dass diese mit ihrem Verschwinden zunehmend sakralisiert wurde.

    Haben diese Ideen gerade jetzt Hochkonjunktur, während der Ukraine-Krise?

    Ich würde sagen, ja. In Kirchenkreisen sind die imperialen Ideen der politischen Orthodoxie ziemlich populär. Die Gläubigen erlebten die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie, das Gebiet der Sowjetunion entsprach in ihrem Bewusstsein der heiligen russischen Erde. Die geopolitischen Ideen zeichneten sich also schon beim Zerfall der Sowjetunion ab, und 2014 bot sich die Gelegenheit, davon etwas umzusetzen. Aber wenn es der Regierung nicht dienlich gewesen wäre, hätte man die Ideologen des Russischen Frühlings nicht in die Staatssender und die wichtigsten Medien eingeladen.

    Der Staat verabschiedet Gesetze wie das zum Schutz der Gefühle von Gläubigen, um sich dadurch eine Truppe aufzubauen und sie im Bedarfsfall auf jemanden loszulassen?

    Nein, einen solche Absicht würde ich hinter diesem Gesetz nicht vermuten. Der Staat kommt der Kirche einfach entgegen, aber viel weniger, als die politischen Orthodoxen es möchten. Sie wünschen sich beispielsweise mehr Radikalität von Seiten des Präsidenten, was die Abschottung des Landes vom Westen betrifft.

    Im November, noch bevor er seines Amtes im Patriarchat enthoben wurde, verkündete Wsewolod Tschaplin: „Seit der Kubakrise befindet Russland sich auf dem Rückzug, wir fürchteten damals eine militärische Kollision. Dabei hätte wir auf unserem Standpunkt beharren sollen und können … Entweder wir gehen unter, oder wir leben – aber nicht nach den Regeln, die uns irgend jemand von Außen aufdrängen will.“

    Schon 2007 hat Tschaplin gesagt, es sei für gläubige Orthodoxe viel schlimmer, die Seele wegen einer Invasion von Atheisten und Andersgläubigen in unser Land zu verlieren, als in einer weltweiten Nuklearkatastrophe umzukommen. Und der Geistliche Ioann Ochlobystin verkündete 2011: „Wir werden dann keinen anderen Ausweg mehr haben, als die ganze übrige Welt, die wegen der Sünden und der Gleichgültigkeit komplett durchgefault ist, zu vernichten und unserem Leben ein Ende zu setzen, in der Hoffnung, dass aus wundersamerweise überlebenden menschlichen Wesen schließlich eine neue, bessere Menschheit entstehen wird.“ Aber das Problem sind nicht diese Äußerungen, sondern das Ausbleiben der erwarteten christlichen Reaktion von Seiten des Klerus. Erst im vergangenen Dezember wurde Tschaplin vom Patriarchen entlassen, obwohl er seine irren Ideen, die das Opfern fremder Leben zum Schutz des Glaubens rechtfertigen, schon seit über einem Jahrzehnt öffentlich verkündet. Wo waren die Stimmen der Priester, abgesehen von Kurajew und wenigen anderen?

    Aber es gibt dort auch vernünftige Leute, oder?

    Auf jeden Fall. Ich glaube, sie bilden sogar die Mehrheit. Aber erstens sind sie im Gegensatz zu den Möchtegern-Politikern und Fundamentalisten gewöhnlich passiv, zweitens nicht besonders interessant für die Medien und drittens wollen sie solchen offensichtlichen Absurditäten keine Beachtung schenken. Bis 2014 konnte man tatsächlich viele der Statements als Provokationen abtun. Aber seit der Donbass-Tragödie geht das nicht mehr. Ich möchte aber wiederholen, dass es in der Kirche viele Geistliche gibt, die nichts von Politik wissen wollen, die keine größenwahnsinnigen Ideen verfolgen, sondern lieber ganz banal Gutes tun.

    Gibt es in der Kirche aktuell Leute mit liberalen Positionen?

    Früher konnte man die kirchenreformatorischen Ideen des Geistlichen Alexander Borissow als liberal bezeichnen, aber er hat schon lange keine mehr vorgebracht. Meiner Meinung nach lässt sich der Begriff „liberal“ heute inhaltlich gar nicht mehr festmachen, da ihn viele als Etikett für „alles Üble“ benutzen, wenn sie einen Gegner angreifen. Man braucht nur einmal einen eigenen Standpunkt erkennen zu lassen, mit irgend einer Initiative zu kommen, und schon ist man „liberal“. Auch die Ideen von Gemeinschaft, von christlicher Solidarität im Gemeinwesen, für die sich beispielsweise Georgi Kotschetkows Bruderschaft der Verklärung einsetzt, werden von manchen als liberal bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit um den Versuch einer Organisation des Gemeinwesens geht, um das Bestreben, sich mit den kirchlichen Traditionen und evangelischen Normen, vor allem derjenigen der Buße, auseinanderzusetzen. Im vergangenen Jahr organisierten sie Ende Oktober eine Bußewoche zum Gedenken an die Opfer politischer Verfolgungen: Eine Woche lang entzündeten sie Kerzen im Gedenken an die Verfolgten.

    Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche

    Nach den heutigen Kriterien des Liberalismus ist übrigens Wsewolod Tschaplin der „Liberalste“ von allen. Seit seinem Rücktritt schlägt er Kirchenreformen vor, die Bestimmung von kirchlichen Würdenträgern und Bischöfen durch Wahlen, er fordert transparente Kirchenfinanzen und wirft der Führung den übertriebenen Luxus ihrer Residenzen vor. Aber das alles erst seit seiner Entlassung …

    Und was ist mit Kurajew?

    Das Phänomen Kurajew ist natürlich beispiellos. Da schafft es einer – trotz einer Atmosphäre des Verschweigens und der gleichgeschalteten Meinungen – zu sagen, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark. Dabei schließt sich Kurajew keiner ideologischen Partei an, weder der „Kriegspartei“ noch den Staatspatrioten noch den bedingten Liberalen.

    Hat sich die Russisch-Orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen Kirill verändert?

    Kirill unterstützte, was sich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre herauszubilden begann. Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche: Im Geist des Gottesnarrentums unterstrich man den Wert der Verlorenheit, badete in einer Ästhetik der Selbsterniedrigung. Angesichts der Abwendung von sowjetischen Stereotypen und des Widerstands gegen die neue Erfolgskultur betonten die Orthodoxen, man müsse der Jagd nach irdischem Heil entsagen, wolle man das Heil Gottes erlangen. Dieses Paradigma begann man in der Mitte der 2000er Jahre zu kritisieren: Da sich das Land  allmählich von den Knien erhebe, müssten sich auch die Orthodoxen von den Knien erheben. Kirill hat dazu beigetragen, dies systematisch umzusetzen. Doch damit trat das andere Extrem ein – Triumphalismus, Orientierung am Protokoll, Rechenschaftspflicht, das Bestreben, die Kirche einem präzisen Verwaltungsmechanismus unterzuordnen. In den 90er Jahren war jede beliebige Unzulänglichkeit zulässig, bloß nach Erfolg streben durfte man nicht. Im Jahr 2011 klang das schon ganz anders.

    Im November bin ich im Gebiet Swerdlowsk zu Rentnern in ein Dorf gefahren, denen eine orthodoxe Wohltätigkeitsorganisation beim Kauf von Brennholz für den Winter unter die Arme griff. Dort habe ich mich lange mit dem Dorfpriester unterhalten. Es war wie in den 90ern, alle klagten: Alles sei schlecht, keiner komme in die Kirche, es gebe kein Geld und die Kirche könne nur behelfsmäßig renoviert werden.

    Viele Kirchgemeinden sind äußerst arm, und die Leute spüren das Missverhältnis. Die frühere Stigmatisierung der Kirche ist in der Psychologie vieler Geistlicher erhalten geblieben, sie verbindet sich auf hässliche Weise mit der von oben aufgezwungenen Psychologie des Triumphalismus. Die Idee der Erhabenheit soll die Entbehrungen rechtfertigen. Statt nach einem Weg für die Lösung der Probleme zu suchen, sieht man die Idee der Erhabenheit als Kompensation an, als Rechtfertigung der Probleme. Das ist ein Spiegel unserer Regierung – die Kirche befindet sich ja nicht in einem Vakuum –, aber das Modell ist in der Kirche noch stärker ausgeprägt als in der Gesellschaft.

    Dieser Priester sagte auch, dass das soziale Engagement für die Kirche keineswegs das Wichtigste sei: Sie brächten den alten Frauen Holz, aber diese kämen trotzdem nicht in die Kirche. Doch solange man die Seelen nicht rette, die Leute also nicht zur Kirche fänden, könne ihnen nichts helfen.

    Genau, so geht es häufig, aber viele Geistliche sind nicht bereit, das einzugestehen. Die Erklärungen des Vorstehers einer Kirchgemeinde können sehr verschleiert sein: Natürlich müsse man unbedingt helfen, das sei die Bestimmung der Kirche … Doch das Leid, das die Leute treffe, bringe sie Gott näher. In der Gemeinde eines solchen Geistlichen gibt es durchaus Bedürftige, die Hilfe bräuchten, aber keine bekommen. Darin zeigen sich auch paternalistische Vorbilder: Wenn Gott einen Menschen nicht wie ein Vater straft, hat er ihn verlassen.

    Ist es möglich, dass in unserer Kirche eine neue Strömung entsteht und dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zu einem Motor für soziale Veränderungen wird?

    Wenn sich das politische System ändert oder die Gesellschaft des künstlichen Triumphalismus überdrüssig wird, kann auch bei Klerikern und Laien das Pendel in die andere Richtung ausschlagen, so dass sie auf Veränderungen in der Kirche drängen. Vielleicht wird es eine Aufteilung geben, in Anhänger des Autoritarismus und Anhänger des Gemeinde-Modells und der Selbstorganisation. Doch die Versuchung, durch die Kriegsbrille auf die Welt zu blicken, sich als Held eines „heiligen Kampfes“ zu fühlen, ist einfach zu groß.

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  • Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    „Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus“, so Andrej Loschak in seinem Kommentar für Colta.ru. Er fragt sich: Wird die Atombombe zur neuen Nationalidee?

    Vor zwölf Jahren war ich in der Demokratischen Volksrepublik Korea, um dort heimlich einen Beitrag für Namedni zu drehen. Ich wunderte mich damals über die vielen Plakatwände, die Straßen Pjöngjangs waren voll davon. Anstelle der üblichen Reklame gab es Militärplakate mit riesenhaften furchtlosen Nordkoreanern drauf, die kleinen feigen Amerikanern auf allerlei Art zusetzten. Das war ebenso komisch wie erstaunlich: Die lokale Propaganda schenkt den USA solche Aufmerksamkeit, während die Mehrheit der Amerikaner kaum eine Ahnung davon hat, dass es die Nordkoreaner überhaupt gibt.

    Wasserstoff-Bombe AN602, auch Zaren-Bombe genannt, in Originalgröße. Die im wissenschaftlichen Team des späteren Bürgerrechtlers Andrej Sacharow entwickelte Bombe wurde im Oktober 1961 bei einem Atomtest gezündet und verursachte damals die stärkste je von Menschen erzeugte Explosion. Foto © Sergej Nowikow

    Das kleine und schwache Nordkorea ist für seine Autarkie darauf angewiesen, dass man es fürchtet – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Weiter hat sie nichts zu bieten – keine Technologien, keine Reichtümer, keine Kultur. Die einzige Nachricht aus Nordkorea, die es regelmäßig in die Top Ten schafft, ist die Meldung, dass sie die Atombombe haben. Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist. Nicht umsonst wird im Hooligan-Jargon ein Messer als „Argument“ bezeichnet – es stimmt schon, wenn einem damit einer vor der Nase herumfuchtelt, wirkt es tatsächlich überzeugend, aber im Allgemeinen ist der Gebrauch eines derartigen „Arguments“ vor allem ein Zeichen von Dummheit, Niedertracht und Schwäche.

    Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist

    Als ich damals 2004 in Nordkorea war, glaubte man in Russland fest und unerschütterlich an Kohlenwasserstoffe. „In gas we trust“, so lautete das Credo der Regierenden. Ich weiß noch, wie Leonid Parfjonow in einer Namedni-Ausgabe eine Rede Putins vor der Föderationsversammlung mit dem Auftritt des Vorstandsvorsitzenden eines Mineralölkonzerns vor seinen Aktionären verglich. Seinerzeit hatte der Präsident keine andere Idee, als den Pipelines und Förderrohren ordentlich Profit zu entlocken. Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität. Und die Menschen glaubten gerne daran. Nach seinem Abgang 2008 wäre Putin denn auch als erfolgreicher Topmanager in die Geschichte des Landes eingegangen. Doch er ging nicht.

    Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität

    Seit dieser Zeit fielen die Preise für Energieträger mehrfach in den Keller, und es wurde klar – aus einer ephemeren Substanz wie dem Erdgas eine nationale Idee machen zu wollen, ist zumindest dumm. In Russland kam eine dumpfe Unzufriedenheit auf, der Topmanager erwies sich als doch nicht so effektiv. Viele nannten den Präsidenten sogar plötzlich einen Dieb, forderten ehrliche Wahlen und verwiesen dabei auf die westliche Demokratie. Das daraufhin inszenierte patriotische Projekt ließ die Russen angesichts der alptraumhaften Perspektive, sich in ein nächstes Gayropa zu verwandeln, enger zusammenrücken, aber zur nationalen Idee wurde es nicht. Niemand zeigte sich in der Lage, mitreißend zu erklären, was es mit „unseren Traditionen“, der geistigen Klammer und dem Sonderweg auf sich hat. Und je weiter man auf dem Sonderweg voranschritt (Leskow hielt diesen Weg übrigens für eine Sackgasse), desto steiler ging es mit der Stabilität bergab und die Feinde, die schuld waren an unserem Unglück, wurden immer mehr.

    Unerwartet aktuell war plötzlich die Erfahrung der nordkoreanischen Genossen: Die kriegerische Songun-Doktrin wurde zur neuen Ideologie der russischen Machthaber, und die Atombombe als gewichtigstes Argument zu ihrem Symbol. Vor zwölf Jahren kam mir Nordkorea wie ein absurdes Relikt der Vergangenheit vor, wie eine Parodie auf eine Antiutopie aus dem 20. Jahrhundert. Inzwischen ist mir die Lust vergangen, über Nordkorea zu spotten, denn das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln. Russland erinnert heute an Dr. Seltsam. Wir haben angefangen die Bombe zu lieben, als uns klar wurde, dass wir etwas Cooleres und Stärkeres sowieso nicht haben. Die Bombe ist unsere wichtigste „Klammer“, unser schwerwiegendstes Argument. Es ist offensichtlich, dass es bei uns in nächster Zeit ebenso wenig für einen Elon Musk oder einen Steve Jobs reichen wird wie für irgendwelche Wissenschafts-Nobelpreisträger. Aber die Bombe – die gute alte sowjetische Atombombe -, die ist da und rührt sich nicht vom Fleck. Wenn man uns schon nicht achten will (wofür eigentlich?), so soll man uns wenigstens fürchten.

    Das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln

    Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus. Den Anfang machten natürlich die berühmt gewordenen Eskapaden von Dimitri Kisseljow zur Zeit der Krim-Annexion: „Obama ist vor Angst ergraut“, „wir können die USA in radioaktive Asche verwandeln“ und so weiter. Wohl genau für das feinfühlige Erfassen dieses Trends wurde er in der Folge mit Huldigungen überschüttet. Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen.

    2015 beklagt sich eben jener Moderator Kisseljow auf einer Pressekonferenz bei Putin: „Es kann natürlich sein, dass ich an Paranoia leide, aber ich spüre förmlich den Würgegriff der NATO, ich fühle, wie ihr Ring sich immer weiter schließt und ich keine Luft mehr bekomme!“ „Keine Angst, wir haben doch selbst alle im Würgegriff“, beschwichtigt Putin und geht zu seinem Lieblingsthema über: den Kräften der nuklearen Abschreckung.

    Das Verteidigungsministerium hat letztes Jahr vorgeschlagen, einen neuen Feiertag einzuführen: den Tag der Kernwaffe – zum Gedenken an die Erprobung der ersten sowjetischen Atombombe. Ein Karikaturist der Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlicht eine Karikatur, die seinen ständigen Helden – einen etwas heruntergekommenen Bären – zeigt, wie er als Reaktion auf den gesunkenen Ölpreis Obama mit einer Rakete vor dem Gesicht herumfuchtelt. Gegenüber der amerikanischen Botschaft in Moskau hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Obama ist ein Mörder“, und auf den Straßen sind Autos mit antiamerikanischen Aufklebern unterwegs.

    „Die Ölpreise werden nie mehr hochgehen“ - „Ich habe da was – damit geht alles hoch.“ Karikatur von Witali Podwizki, veröffentlicht auf RIA Nowosti. Später wurde sie von der Website heruntergenommen. Quelle: buyro.ru

    Ich war diesen Sommer zwei Wochen in den USA – ich habe nicht einen einzigen Anti-Putin-Aufkleber gesehen. Die Amerikaner kümmern sich einen Dreck um ihn – sie haben wichtigere und interessantere Dinge zu tun. Dieser Krieg findet ausschließlich in unseren Köpfen statt – und zwar als Projektion der Launen des Präsidenten. Die Fixiertheit auf das Feindbild enthüllt einen ungeheuerlichen Provinzialismus; nicht von ungefähr ist das Internet voll von Witzen zum Thema „Noch nie ging es den Russen so schlecht wie unter Präsident Obama“. Wenn das nicht Nordkorea ist!

    Es ist traurig, es sich einzugestehen, aber Russland ist heute eine Art internationaler gewaltbereiter, kriminalitätsaffiner Gopnik mit einem „Argument“ in der Hosentasche. So weit wurde der Militarismuskult nicht einmal von der kommunistischen Propaganda getrieben, die wenigstens den Versuch machte, sich als Friedenstaube zu verkaufen, die dem Ansturm der Falken aus dem Pentagon Einhalt gebietet. Für den Verteidigungskomplex gibt Russland das Zehnfache dessen aus, was es in Gesundheit und Bildung investiert (rund 30 Prozent gegenüber 3 Prozent), wobei die Verteidigungsausgaben unablässig steigen, während die Mittel für den medizinischen Bereich bereits seit Jahren gekürzt werden. Krankenhäuser werden geschlossen, Arzneimittel werden nicht gekauft, Geräte gehen kaputt – nahezu täglich wird darüber berichtet. Im Grunde bezahlen wir alle schon heute – ohne jeden Atomkrieg – für die Liebe des Präsidenten zur Bombe, nämlich mit unserer Gesundheit.

    Mit ihrer militaristischen Paranoia versuchen sie alle zu infizieren, selbst die Kinder. Vor ein paar Wochen war ich bei einer von den Nachtwölfen veranstalteten Neujahrsshow. Ich war gespannt, wofür die Biker die 9 Millionen Rubel ausgegeben hatten, die sie als Präsidenten-Fördergelder für den Bereich Nichtkommerzielle Organisationen eingestrichen hatten. Dabei waren wirklich renommierte Organisationen wie der Hospiz-Hilfsfonds Vera und die Stiftung Freiwillige helfen Waisenkindern leer ausgegangen.

    Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen

    Die einstündige Show bei frostigen Temperaturen erschütterte durch eklektizistische Scheußlichkeit. Nach etwa sieben Minuten trat eine anzüglich gekleidete Frau mit amerikanischem Akzent auf, die sofort gegen alles Russische loswetterte und immerzu wiederholte: „Bei euch ist alles Mist und auch diese Neujahrsfeier ist voll daneben!“ Die bunte Truppe der Feinde [Russlands] bestand aus Sultan Erdogan, einem Nazi mit schwulem Gebaren, einem Hipster mit MacBook unterm Arm und einem Rockmusiker, in dem Andrej Makarewitsch zu erkennen war. Ihnen gegenüber standen einfache russische Menschen, aus patriotischen Gründen unterstützt vom Unsterblichen Koschtschej: „Wir sind vielleicht Räuber und Unholde, aber unser Blut ist russisches Blut!“ Anschließend besiegten die Russen unter Führung von Koschtschej, dem Unsterblichen, natürlich die Taugenichtse. Dabei bretterten die einen wie die anderen auf amerikanischen Motorbikes durch die Kulissen, eine Eins-zu-eins-Kopie von Mad Max, übrigens auch zu erkennen an einer riesigen Aufschrift mit dem Titel des Actionstreifens.

    Später fragte ich den siebenjährigen Sohn von Freunden, der die patriotische Halluzinose bis zur Hälfte mitangeschaut hatte, bevor er sich zum Aufwärmen ins Café verzog: „Was würdest du sagen, worum ging es bei der Vorstellung?“ Der Junge kratzte sich am Kopf und sagte unsicher: „Irgendwie um Krieg?“

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  • An der Polarkreis-Route

    An der Polarkreis-Route

    Mehr und mehr gewinnt die sogenannte Polarroute oder Eisroute für Flüchtlinge an Bedeutung, die durch den Norden Russlands nach Europa führt. Neben dem Weg über Norwegen gibt es dabei einen weiteren direkt nach Finnland, das im Unterschied zu seinem Nachbarland EU-Mitglied ist. Natalja Sanejewa hat für SNOB mit Flüchtlingen auf der Polarroute gesprochen. Sie schreibt:

    Kandalakscha ist eine Stadt auf der Fluchtroute im Gebiet Murmansk. Am nächstgelegenen Grenzübergang werden Schengen-Visa, aus welchem Grund auch immer, von russischen Grenzern nicht kontrolliert. Ihre finnischen Kollegen können den Flüchtlingsstrom nicht bewältigen und vermuten hinter der Tatenlosigkeit der Russen politische Motive. Und die Einwohner Kandalakschas sind viel zu beschäftigt, um internationale Nachrichten zu verfolgen: Ihnen geht es ums Business.

    „Und wenn morgen ein Schwarzer mein Nachbar wird?“ fragte ein Passant.

    „Die sind so schwarz wie mein Schal“, sagte der Säufer.

    „Hätte ich ein Gewehr, würde ich alle erschießen“, sagte der Hausmeister.

    Der Inder sagte nichts. Der Inder war gestorben. Nachdem er zwei Wochen im Auto gelebt hatte, bei 30 Grad Kälte. In der Warteschlange an der russisch-finnischen Grenze. Er starb, und Gerüchte über die ruhige kleine Stadt Kandalakscha krochen in beide Richtungen, nach Russland und nach Finnland.

    In Kandalakscha leben an die 33.000 Menschen. Sie schrauben Autos zusammen und arbeiten im Aluminiumwerk. Der Durchschnittslohn beträgt weniger als 25.000 RUB [290 EUR – dekoder], was für eine Provinzstadt nicht schlecht ist.

    Aber diejenigen, die gelernt haben, an Flüchtlingen zu verdienen, machen viel mehr Geld. Jeden Tag überqueren mindestens 15 Flüchtlinge die Grenze zu Finnland. Von jedem verlangen Schleuser anderthalbtausend Dollar.

    Syrer, Afghanen, Pakistaner und Afrikaner warten, bis sie an der Reihe sind und die Grenze überqueren können. Araber, Berber, Kurden, Turkmenen. Lebendiges Geld. Ein Touristenvisum für Russland kostet sie etwa 300 Dollar, auf den ersten Blick ist das der billigste Weg nach Europa.

    Nach den „Sperenzchen“ mit dem Inder gaben die Stadtbehörden zu Protokoll: Alle Flüchtlinge sind in Hotels untergebracht. Mitte Januar veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur RIA ein Interview mit einer afghanischen Familie, die angeblich im Hotel Spolochi ein Zimmer zugeteilt bekam. Allerdings ist das Hotel Spolochi seit November 2015 wegen Renovierung geschlossen. Dafür sind zwei andere Hotels proppenvoll mit Flüchtlingen, das Greenwich und das Pomotur. 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Person und Nacht. Keine Sonderkonditionen.

    In den Hotels sind auch Kinder und Alte. In der Schlange warten ein Afghane mit kleiner Tochter und ein Syrer mit kranker Mutter. Deren Bruder ist Arzt in Helsinki und könnte ihr helfen. Aber die Schlange kommt nur langsam vorwärts, und das Geld geht schnell zu Ende.

    Der Araber Abderrahim hat zwei Tage im Greenwich verbracht. Wir sitzen in Petersburg, in einer kalten Küche mit durchgebrannter Glühbirne. Ich reiße ein gekochtes Hähnchen in Stücke als Brotbelag. Abderrahim lacht. Er ist Koch. Programmierer und Koch. In seiner Heimat konnte er weder in dem einen noch in dem anderen Beruf eine gut bezahlte Arbeit finden.

    Er ist 22, das älteste Kind in einer großen Familie. Vor einigen Jahren hatte sein Vater einen Unfall, er kann nicht mehr arbeiten. Sie haben viele Kredite aufgenommen, fürs Haus, für medizinische Behandlungen. Die jüngste Schwester ist zehn. Ein Jahr lang hat Abderrahim ohne freien Tag gearbeitet und 1000 Dollar gespart. Weitere anderthalb Tausend hat er sich von einem Cousin geliehen.

    „Was hat deine Mutter dazu gesagt, dass du weggegangen bist?“

    „Sie hat mich angefleht zu bleiben. Aber ich musste weg.“

    Da, wo Abderrahim herkommt, ist kein Krieg. Solche Flüchtlinge werden als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, ihnen wird Asyl oft verwehrt. Er nahm das Risiko dennoch auf sich. Der kürzeste Weg aus Afrika nach Europa führt über Marokko nach Spanien. Er wurde schon von einigen Tausend illegalen Migranten genutzt. Dann haben sie an der Grenze einen sechs Meter hohen Zaun hingestellt. Wer keine andere Möglichkeit hat und den nötigen Mut, der überquert das Mittelmeer jetzt mit Schlauchbooten. Aber diejenigen, die nicht ertrinken, werden meist festgenommen, zurückgeschickt und mit einem EU-Einreiseverbot für fünf Jahre belegt. Die Variante für Reiche: eine Scheinehe mit einer Frau aus der EU. Das kostet aber 3000 Dollar. Der Weg über Russland ist billiger und schneller. Trotz der Abzocke.

    Abderrahim hatte eigentlich vor, die finnische Grenze bei Wyborg zu überqueren. Aber in Petersburg traf er seine Landsleute, die ihm erklärten: Der einzige Weg aus Russland nach Europa führt über Kandalakscha.

    „Man hat mir die Telefonnummer eines Russen aus Kandalakscha gegeben, er hieß Kirill. Er erklärte mir, dass ich 1500 Dollar an den Schleuser zahlen müsse, um die Grenze zu überqueren. Sagte dann: Komm her mit dem Geld, alles andere erledigen wir. Anders kommst du nicht nach Finnland. Ich hatte nicht so viel Geld, aber ich bin gefahren, wollte zumindest Details erfahren, wie alles so läuft.“

    Jeder Flüchtling in Kandalakscha hat einen eigenen Schleuser. Man darf ihn nicht wechseln, sonst gibts Probleme. Manchmal gibt es Schlägereien unter Schleusern wegen der Kundschaft. Ein Flüchtling bringt den Halbjahreslohn eines Fabrikarbeiters.

    „Kirill hat mich am Bahnhof in Kandalakscha abgeholt, zusammen mit einem Polizisten. Wir sind zu einer Passstelle in der Nähe des Hotels gegangen, dort wurde ich registriert. Dann haben sie mich ins Greenwich gebracht und auf die Warteliste gesetzt. Wir waren zu zweit im Zimmer, bei mir war ein Syrer, ein Autoschlosser, aber in den anderen Zimmern waren viel mehr Menschen, bis zu sieben Personen. In den ersten Tagen lebst du unter guten Bedingungen, später kommst du in andere Zimmer. Die 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Tag sind eine gigantische Summe für uns. Wenn du nicht zahlst, schmeißen sie dich raus, und das bei 30 Grad Kälte.“

    Das Pomortur ist schlimmer als das Greenwich: Es wird seltener geputzt, sie pferchen mehr Menschen in einen Raum, und der Hof ist voll mit verrosteten sowjetischen Autos. Da drin wohnen die Ankömmlinge aus den ärmsten afrikanischen Staaten wie Kongo, Kamerun, Senegal. Sie haben ihren Schleusern weniger als anderthalbtausend gezahlt, deswegen müssen sie sehr lange warten.

    Die Schleuser kümmern sich um ihre Kunden. Ist das russische Visum abgelaufen, verhandeln sie mit der Polizei. Haben die finnischen Grenzer dich nicht reingelassen, gibt’s den zweiten Versuch kostenlos. Abderrahim sagte Kirill, dass er bald von Verwandten Geld überwiesen bekomme. Daher durfte er den zweiten Tag kostenlos im Hotel übernachten. Am dritten wurde er von der Warteliste gestrichen.

    „Wenn du zahlst, fährst du dann am nächsten Tag?“

    „Nein, etwa eine Woche muss man warten. Es gibt auch Leute, die zahlen mehr, die legen 5000 Dollar hin und kommen dafür ganz oben auf die Liste. Aber während du wartest, musst du die ganze Zeit fürs Hotel zahlen. 100–200 Dollar musst du für die Unterbringung einrechnen. Es gibt dort viele syrische Familien, aber auch genug Afrikaner. Ich verstehe, dass die Grenzen in erster Linie für syrische Flüchtlinge offen sind. Aber meine Familie hungert. Zurzeit wohnen im Greenwich 400 Menschen. Sie gehen selten auf die Straße, hocken meist in ihren Zimmern, da es jeden Moment heißen kann: Morgen gehts los. Die Leute gehen nur raus, um Essen und Zigaretten zu kaufen.

    „Glaubst du, Kirill arbeitet alleine, oder teilt er das Geld mit jemandem?“

    „Viele Menschen sind in das Schleusergeschäft verwickelt. Es gibt viele russische Schleuser, sie alle sind sehr reich. Es gibt Gerüchte, dass Männer aus Moskau kommen, um die Gewinne einzusammeln. Außerdem verkaufen uns die Einheimischen Autos.“

    Die Einheimischen verkaufen alte Shiguli-Modelle für 500 Dollar. Zunächst hatten die Russen ihre Kunden selbst über die Grenze gebracht und sich dafür Minibusse angeschafft. Einer der Schleuser wurde von den Finnen erwischt, das Geld konfisziert, bald beginnt sein Prozess. Jetzt sitzen die Flüchtlinge selbst am Steuer – die Autos lassen sie später in Finnland am Straßenrand liegen.

    „Die Schleuser setzen fünf Flüchtlinge ins Auto, lassen sie vorfahren und fahren hinterher. An der Grenze zu Finnland halten sie Abstand und warten ab, ob sie durchkommen oder nicht.“

    „Sind schon mal welche zurückgekommen?“

    „Ja, viele. Das Wichtigste ist, sich ein gutes Märchen für den Grenzer auszudenken. Sie fragen nach den Reisegründen. Warum darfst du nicht in deine Heimat zurück? Warum ist dort die Situation schlecht? Ein junger Mann aus dem Jemen hat mal erklärt: Ich will in Finnland arbeiten. Stellen Sie sich vor, so hat er das gesagt! Klar, hat man ihn zurückgeschickt.“

    Einmal hat sich eine Schar solcher Flüchtlinge in das entlegene Dorf Kajraly verirrt. Dort wohnen 19 Menschen. Ein paar Kilometer weiter ist die finnische Grenze, aber das interessiert niemanden. Hier wird Holz gefällt, und man sieht sich wochenlang nicht. Und auf einmal tauchen diese merkwürdigen Menschen auf: mit dunkler Haut, halb erfroren, mit farbigen Decken über leichten Jacken. In Kajraly befindet sich das einzige Lokal im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Normalerweise schauen drei Menschen pro Tag hier vorbei. Die Einheimischen haben noch nichts über das Geschäft mit den Flüchtlingen gehört, sie sehen überhaupt zum ersten Mal so viele dunkelhäutige Menschen. Das ganze kleine Dorf ist gekommen, um sie sich anzuschauen, man gibt ihnen Kleidung, lässt sie sich aufwärmen, hilft, Autos zu reparieren. Danach sind die Flüchtlinge wieder Richtung Kandalakscha aufgebrochen, für den zweiten Versuch, die Grenze nach Finnland zu überqueren.

    Aber Abderrahim ist in Petersburg geblieben. Arbeit hat er noch keine gefunden. Sein russisches Visum ist abgelaufen. Er hat sich auf einer Couchsurfing-Site angemeldet und übernachtet kostenlos bei verschiedenen Menschen. Nach Hause zurück kann er nicht, er hat ja seiner Mutter versprochen, die Familie von ihren Schulden zu erlösen. Die Polizei hat ihn noch nicht erwischt.

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  • Presseschau № 15

    Presseschau № 15

    Gleich mehrere Themen erregten die Gemüter in dieser Woche: Die angebliche Vergewaltigung des 13-jährigen Mädchens in Berlin schlägt hohe Wellen. Außenminister Lawrow meldet sich zu Wort und wirft den deutschen Behörden eine Vertuschung des Falls vor. Aus dem Londoner Bericht zur Ermordung Alexander Litwinenkos geht hervor, Putin habe dessen Vergiftung wahrscheinlich genehmigt. Auch Ramsan Kadyrow und seine Drohungen sind noch immer Thema. Derweil bilden sich lange Warteschlangen vor der Tretjakow-Galerie.

    Europa und seine Migranten.  Auch diese Woche ist die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens in Berlin durch Flüchtlinge in den russischen Medien immer noch Thema. Einer der staatlichen Nachrichtensender, Rossija 24, führt nun die „Affäre Lisa in Berlin“ gar als Themenrubrik auf seiner Homepage. Auslöser war eine Reportage des Ersten Kanals, in welcher angebliche russischstämmige Auswanderer in ziemlich rabiatem Tonfall Selbstjustiz gegenüber Flüchtlingen andeuteten. Auch die russische Regierung hat den Fall kommentiert: Außenminister Lawrow forderte in einer Pressekonferenz Deutschland, dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich zu kehren. Und dies, obwohl kein Journalist eine Frage zu dem Thema gestellt hatte.

    In ihren Berichten beriefen sich einige staatliche Medien auf den bisher kaum in Erscheinung getretenen Internationalen Konvent der Russlanddeutschen, zu finden unter der Internetseite www.genosse.su, welcher am Wochenende zu einer Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin gegen Gewalt von Migranten aufrief. Auch Meduza berichtet von den Kundgebungen. Andere wiederum kritisieren abermals die Arbeit der deutschen Medien. Im Massenblatt Komsomolskaja Prawda darf dies der deutsche „politische Experte und Analyst“ Hans Weber, einer der führenden Köpfe der neuen Frankfurter PEGIDA-Gruppe, welcher deutsche Medien allesamt aus Washington gesteuert sieht. Die Korrespondentin und ihr Gesprächspartner sind sich einig: Europa begeht durch den Zuzug der Migranten kollektiven Selbstmord, Rettung könne einzig aus Russland kommen, das versuche, der amerikanischen Dominanz eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen. 

    Andere russische Medien betonen allerdings die Fragwürdigkeit des Berichts. The Insider berichtet über die Anklage wegen möglicher Volksverhetzung gegen einen Korrespondenten im Ersten Kanal durch einen deutschen Anwalt. TV Dozhd besucht Russlanddeutsche in Berlin, welche stolz ihr Stück Heimat in der Fremde präsentieren. Inklusive russischer Lebensmittel, die deutschen seien ja voller Chemie, wie einer der Protagonisten erzählt.

    Radioaktive Spur erreicht Moskau.  Skandal, Lüge und eine Provokation: Mit harten Worten reagierte Moskau  auf den britischen Untersuchungsbericht zum Tode Alexander Litwinenkos. Als größter Aufreger erwies sich die vom Vorsitzenden der Kommission, Richter Robert Owen, erhobene Behauptung, Präsident Wladimir Putin sowie der damalige FSB-Chef Nikolaj Patruschew hätten die 2006 in einer Londoner Hotelbar erfolgte Vergiftung des ehemaligen Geheimagenten „wahrscheinlich genehmigt“ (auf Seite 246 des Reports). Mögliche Hintergründe, warum der nach seiner Flucht aus London 2000 zum Putin-Kritiker gewordene Litwinenko durch radioaktives Polonium vergiftet wurde, liefert The Insider. Wer die damaligen Ereignisse nicht mehr präsent hat, findet hier einen detaillierten Bericht über Litwinenkos letzte Tage in London und sein Zusammentreffen mit den Mordverdächtigen Dimitri Kowtun und Andrej Lugowoi.

    Kremlkritische Medien berichteten ausführlich über den Report. The New Times veröffentlichte ein langes Interview mit der Witwe, Maria Litwinenko. Die Reaktion der staatlichen Medien ließ dagegen auf sich warten. Wie ein Blick in die regierungseigene Rossiskaja Gazeta einen Tag nach Veröffentlichung des Berichts zeigt, waren andere Themen, etwa der Rubelkurs, wichtiger als der Fall Litwinenko. Trotzdem ließ die Rossisjaka Gazeta kein gutes Haar den dem Report; London würde die Brücken zu Moskau abbrechen, heißt es. TV-Sender sehen London und Moskau nun gar am Rande eines neuen Kalten Krieges. Auch Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja (dt. Russland Heute), berichtete in seiner sonntäglichen Nachrichtensendung erst nach Terroranschlägen, Syrien, Wirtschaftskrise und Flüchtlingen über die Ergebnisse von Richter Owen. Fazit des Beitrags (ab Minute 41): Litwinenko habe sich bei einer Geheimoperation durch unsachgemäße Handhabung des Poloniums wahrscheinlich selbst vergiftet. Rascher als die Medien reagierte allerdings die Politik. Bereits kurz nach der Veröffentlichung nannte das Außenministerium die Untersuchung eine politisch motivierte Farce. Für die in dem Bericht erhobenen schweren Anschuldigungen gegenüber der russischen Staatsspitze gäbe es keine Beweise, es grenze an Verleumdung und das „Spektakel“ werde die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien weiter belasten, sagte Außenminister Sergej Lawrow während einer Pressekonferenz. Mit seiner Strategie versuche Moskau das Narrativ an sich zu ziehen, schreibt The New Times. Es gehe allerdings nicht nur um die mediale Deutungshoheit, schreibt das Magazin weiter. Konkrete Folgen seien nötig. Es dürfe nicht vergessen werden, dass sich die russische Regierung in der Litwinenko-Affäre eines politischen Gegners entledigt habe und das auch noch außerhalb der russischen Staatsgrenzen.

    Schakale und Volksfeinde. Innenpolitisch richtet sich der Blick immer noch nach Tschetschenien. Am Freitag riefen die Behörden zu einer straff durchorganisierten Kundgebung gegen die liberale Opposition und für den Patrioten Ramsan Kadyrow auf. Bei dem Aufmarsch wiederholte die Entourage des Republikchefs dessen hetzerische Drohungen: „Wir kennen unsere Feinde und die Verräter dieses Landes. Ihre Namen stehen auf einer Liste“, sagte der russische Parlamentsabgeordnete Adam Delimchanow. Hier noch zusätzliche Informationen über den Cousin und engen Vertrauten des Republikoberhaupts. Der Kreml nimmt dies kritiklos hin und erteilt gar noch Rückendeckung. Putin hob dieser Tage die Effizienz Kadyrows als Republikchef hervor, dessen Drohungen hat er nicht kommentiert. Bereits seit Ende 2014 hat die tschetschenische Regierung ihre Hetzkampagne gegen Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner verstärkt. Laut The New Times will Kadyrow Putin damit Stärke und auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Kreml demonstrieren. 60 Prozent der Russen halten die Aussagen des Republikchefs allerdings für unzulässig, lauten die Ergebnisse einer neuen Lewada-Umfrage. Letztes Jahr stand Kadyrow höher in der Gunst der Russen, was laut Lewada auf seine Position im Ukraine-Konflikt zurückzuführen war. Tschetschenen kämpften auch auf Seite der Separatisten im Donbass. Das sei nun vergessen.

    Eisige Warteschlange. Viel zu reden gab dieser Tage auch eine eingetretene Türe in Moskau. Dahinter stand jedoch kein politischer Vandalismus, vielmehr wurde die Tür von Leuten aufgebrochen, welche sich bei eisigen Temperaturen für den Besuch einer Ausstellung des Malers Walentin Serow anstellten. Das Personal der Tretjakow-Galerie wurde förmlich überrannt, die Schlange reichte mehrere hundert Meter bis zum Eingang des Parks. Das RuNet reagierte spöttisch und verglich die Schlange mit der aktuellen Tagespolitik: „Roskomnadsor hat den Zugang zur Schlange blockiert“, twitterte ein Nutzer in Anspielung auf die staatliche Zensurpolitik im Internet, ein anderer: „Peskow hat die Existenz einer Warteschlange bestritten“. Ein Verweis auf Putins Sprecher Dimitri Peskow und dessen Gabe, auch Offensichtliches erst einmal zu negieren.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

  • Presseschau № 14

    Presseschau № 14

    Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist mit seinen Äußerungen zur russischen Opposition derzeit in aller Munde. Oppositionelle wehren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, während in Tschetschenien „Pro-Kadyrow“-Flashmobs organisiert werden. Außerdem wird in den Medien kontrovers über die Ereignisse in Köln diskutiert und Deutschland eine düstere Zukunft prognostiziert, während Kulturminister Wladimir Medinski sich gegen Zensurvorwürfe wehrt.

    Kadyrow.  Russland im Januar 2016: Der Krieg in Syrien und die Terrorgefahr durch den Islamischen Staat haben in den Medien der Sorge um den Verfall des Rubels  und einem neuen Skandal um Ramsan Kadyrow Platz gemacht. Der tschetschenische Republikchef attestierte der russischen Opposition in der kremlnahen Zeitung Izvestia unlängst eine „massive Psychose“. Er könnte ihnen bei der Bewältigung ihrer medizinischen Probleme helfen. Im tschetschenischen Dorf Braguny existiere eine exzellente psychiatrische Klinik, heißt es weiter in dem Text, welcher unter Kadyrows Namen veröffentlicht wurde (hier die englische Übersetzung). Oppositionelle seien „Schakale“. Man müsse sich ihnen gegenüber verhalten, wie gegenüber Volksfeinden und Verrätern, so Kadyrow zuvor während einer Pressekonferenz in Grozny.

    Die Provokation aus Grozny wäre wohl ungehört verhallt, wenn nicht Konstantin Sentschenko, Abgeordneter im Stadtparlament der sibirischen Stadt Krasnojarsk, am 14. Januar auf seiner Facebook-Seite Kadyrow seinerseits als Schande für Russland bezeichnet hätte, nur um sich knappe 24 Stunden später für seine Aussage zu entschuldigen. Die Geschichte ist verworren, wirft allerdings ein Schlaglicht auf das Regime von Angst und Unterdrückung, welches der seit 2007 amtierende Kadyrow und seine Getreuen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in den vergangenen Jahren errichtet haben. Und so schrieb dann auch der Abgeordnete Sentschenko, dass ihn ein längeres Gespräch mit einer in ganz Russland bekannten Person von Kadyrows Autorität überzeugt habe. Auf der Instagram-Seite des tschetschenischen Machthabers tauchte daraufhin ein Video auf, in welchem sich Sentschenko für sein Unrecht entschuldigte. Kadyrow kommentierte mit: „Ich nehme an)))))“.

    Ihre Fortsetzung fand die Affäre im Internet, wo sich Oppositionelle den Drohungen aus Grozny entgegenstemmten. Während die Journalisten Xenija Sobtschak und Pawel Lobkow in ihrer Sendung auf dem kremlkritischen Sender TV Dozhd ironische Entschuldigungen an Kadyrow richteten, drohte Magomed Daudow, tschetschenischer Parlamentschef und loyaler Wegbegleiter Kadyrows, auf seiner Instagramseite der Opposition mit Tarzan, dem Hund des Republikchefs und dessen „juckenden Zähnen“. Als Antwort darauf veröffentlichten Vertreter der Opposition wiederum Bilder ihrer Haustiere: der Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow etwa ein Bild seines riesigen tibetanischen Mastiffs. In Grozny wurden derweil Demonstrationen zur Unterstützung von Kadyrow organisiert und tschetschenische Medien berichteten von Pro-Kadyrow-Flashmobs. Hier noch eine ausführliche Chronologie der Ereignisse.

    Mit politischen Konsequenzen werden Kadyrow und seine Entourage wohl auch nach dieser Provokation nicht zu rechnen haben. Nach längerem Schweigen aus dem Kreml erteilte Putins Sprecher Dimitri Peskow Kadyrow gar noch Rückendeckung. Dessen Äußerungen würden sich auf die „nicht-systemische Opposition“ beziehen, welche außerhalb der legitimen politischen Arena agiert. Vertreter der außerparlamentarischen Opposition dürften Peskows Worte nicht sonderlich beruhigen. Die Moscow Times weist darauf hin, dass mit dem Begriff „systemische Opposition“  üblicherweise diejenigen Parteien bezeichnet werden, welche im Parlament sitzen und als loyal zum Kreml gelten. Kadyrow selbst will nach Ansicht der russischen Medien rechtzeitig zum Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow, deren Spuren nach Grozny führen, Stärke zeigen, so unter anderem die Novaya Gazeta. Die Moskauer sind in ihrer Meinung über den tschetschenischen Machthaber gespalten, wie Straßeninterviews von TV Dozhd und Radio Svoboda zeigen. Während die einen in ihm jemanden sehen, welcher Demokratie und Verfassung missachtet und eine dunkle Persönlichkeit hat, halten ihn andere für einen prima Politiker, welcher nach den blutigen Kriegen Frieden und Stabilität nach Tschetschenien gebracht habe. Die Russen dürften jedoch nicht den Fehler machen und Kadyrow mit allen Tschetschenen gleichsetzen, schreibt Oleg Kaschin.

    Flüchtlingskrise in der EU. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind auch diese Woche nach wie vor Thema in Russland. Zur besten Sendezeit am Wochenende zeigte der Erste Kanal diese Woche nun eine Reportage über Lisa. Das minderjährige Mädchen sei in Berlin von Migranten aus dem Nahen Osten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Polizei mache nichts und stelle sich schützend vor die Täter, so die angeblichen Verwandten des Mädchens vor den Kameras des Staatsfernsehens. Die Geschichte schlug in sozialen Netzwerken derart hohe Wellen, dass sich sogar die Berliner Polizei dazu äußerte: Das Mädchen sei zwar kurzzeitig als vermisst gemeldet worden, eine Entführung oder eine Vergewaltigung habe aber nicht stattgefunden. Ein Verfahren wurde kurz darauf eingestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt der TV-Beitrag äußerst zweifelhaft, wie auch TV Dozhd berichtete. Für seine Propagandazwecke nimmt es das russische Staatsfernsehen mit der Wahrheit jedoch nicht immer allzu genau. Das zeigt auch das Beispiel, welches der russische Journalist  Alexej Kowaljow auf seinem Blog schildert.

    Diese Kritik hindert den russischen Boulevard jedoch nicht daran, Deutschland eine düstere Zukunft zu prognostizieren. In ihrem Bericht aus Nürnberg schildert die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda die ihrer Meinung nach absurde Willkommenskultur, wenn in Geschäften Flüchtlinge dazu aufgefordert werden, gleich noch ihre Familie mitzubringen. Man wisse ja, wie groß Flüchtlingsfamilien normalerweise seien. Ändere sich nichts, bleibe Deutschland nur die Wahl zwischen Faschismus und Islamismus, lautet das Fazit des Artikels. Rossija 24, einer der staatlichen Nachrichtensender, hat auf seiner Homepage gar eine eigene Themenrubrik eingerichtet. Unter dem Titel Angriffe in Deutschland berichtet der Sender über angeblich durch Flüchtlinge verübte Verbrechen. Laut dem Sender befinde sich Europa am Rande eines Bürgerkrieges.

    Zensur. Zum Abschluss der heutigen Presseschau noch ein Nachtrag zu vergangener Woche. Die Bücherverbrennungen in der Republik Komi, der Bücher zum Opfer fielen, welche mit Unterstützung des Fonds George Soros herausgegeben worden waren, sorgten für heftige Kritik. Grund für die Aktion war, dass der Fonds 2015 auf die Liste der in Russland unerwünschten Оrganisationen gelandet war. Das Kulturministerium nannte die Verbrennung zwar unzulässig, sieht aber keinen Grund zum Kurswechsel. In einem Interview mit der Nesavisimaja Gazeta stellte Kulturminister Wladimir Medinski dieser Tage klar, es gäbe keine Zensur in Russland. Niemand beschäftige sich in seinem Ministerium damit.

    PS. Aktuell widmen sich fast alle Medien den Ergebnissen des britischen Untersuchungsberichts über die Ermordung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko 2006, hier der Bericht der BBC. In dem Bericht wird die These bekräftigt, dass der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi und der Geschäftsmann Dimitri Kowtun den Mord ausgeführt haben, außerdem geht der Bericht von einer Billigung durch den damaligen Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB Nikolaj Patruschew und Präsident Wladimir Putin aus. In einer ersten Reaktion nannte das Außenministerium in Moskau die Untersuchungen politisch motiviert. Doch da die Artikel erst im Erscheinen begriffen sind, davon mehr in der nächsten Presseschau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Die für den Westen sprechen

    Die für den Westen sprechen

    In unregelmäßigen Abständen werden wir auf dekoder nun auch Beiträge aus russischen Blogs übersetzen, den Anfang macht diese Woche der Blog noodleremover (russisch: lapschesnimalotschnaja) von Alexej Kowaljow. 

    Jemandem Nudeln auf die Ohren hängen – das heißt in Russland soviel wie: jemanden für dumm verkaufen, jemandem einen Bären aufbinden. Die Wendung kommt wohl aus dem Gefängnis-Jargon, und mit Nudeln hat sie mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich gar nichts zu tun, aber Kowaljow nimmt sie beim Wort: Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fälle zu entlarven, in denen russische Massenmedien ihren Lesern (und Zuschauern) die Pasta auf die Ohrmuscheln zu kleben versuchen – und kratzt sie mit medienanalytischen Werkzeugen wieder ab. Fündig wird er dabei häufig, und seine Leser danken es ihm inzwischen mit bis zu 100.000 page views für jeden seiner Posts. 

    In dem hier übersetzten Beitrag wirft Kowaljow – der als ehemaliger Chefredakteur von inosmi.ru und Co-Chef von yodnews.ru die Medienszene genauestens kennt – einen Blick auf einige Persönlichkeiten, die im russischen Fernsehen als westliche Experten zu verschiedenen politischen Themen präsentiert werden. Dabei spielt die deutsche rechtsnationale Szene keine unbedeutende Rolle.

    Gestern hatte euer ergebener Diener ein Gespräch mit den Kollegen des Internetfernsehens Nastojaschtscheje Wremja [currenttime.tvdek], und zwar anlässlich eines kürzlich veröffentlichten noodleremover-Beitrags über die „Experten“, die in den russischen Fernsehprogrammen auftreten und sowohl für den einheimischen Markt, sprich für die WGTRK, tätig sind als auch für den ausländischen Markt, also beispielsweise für Sendungen von RT und Sputnik. Diese Experten werden gewissermaßen zur äußeren Legitimation propagandistischer Thesen benutzt – schaut mal her, wir haben uns diese ganzen Geschichten über das niederträchtige Amerika gar nicht selbst ausgedacht, sogar die amerikanischen Experten sagen das. 

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=SSovnoi5_n8 align:left]

    Es gibt also eine Handvoll Leute, die von Beitrag zu Beitrag ziehen, wo sie mal als „Experten“, mal als „Analytiker“ und mal als „Journalisten und Schriftsteller“ vorgestellt werden. Obgleich sie bei sich zu Hause keineswegs als Experten gelten. In Russland kann man ja Parlamentssprecher oder Leiter der größten Staatsbetriebe sein oder einen anderen höchsten Staatsposten bekleiden und dabei in der Öffentlichkeit den tumbesten verschwörungstheoretischen Blödsinn von sich geben, und das wird dann in den staatlichen Medien abgedruckt, ohne dass es irgendjemanden kümmern würde. Im Westen aber, im Gegensatz zu Russland, hat der Begriff Reputation doch ein gewisses Gewicht. Wenn jemand ein hohes Amt anstrebt oder in den seriösen Medien auftreten will, obwohl er irgendwelche komplett marginalen Standpunkte vertritt oder Anhänger einer Verschwörungstheorie ist, so wird er versuchen, diese für sich zu behalten. Denen, die ihre Leidenschaft für Aluhüte nicht im Griff haben, bleiben nur die Websites für den kleinen Kreis ihrer Gesinnungsgenossen – oder der Fernsehsender RT, wo man ihre Phantasien live an ein mittlerweile durchaus breites, wenngleich weltweit gesehen doch marginales Publikum ausstrahlt. So gelangen „Experten“ zuerst zu RT und von dort aus auch in die Westi – bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich dann als stadtbekannte Irre, sonstige schräge Vögel oder als mehr oder weniger offene Nazis. 

    Manuel Ochsenreiter (Redakteur der rechten Zeitschrift Zuerst!) im Ersten Russischen Fernsehen
    Manuel Ochsenreiter (Redakteur der rechten Zeitschrift Zuerst!) im Ersten Russischen Fernsehen

    In meinem Gespräch mit Nastojaschtscheje Wremja kam eine interessante Frage auf, deren Beantwortung bedauerlicherweise nicht gesendet wurde. Woher kommen  diese ganzen Leute eigentlich? Sitzt irgendein unbekannter Redakteur des Staatsfernsehens da und überlegt: „Welchen renommierten ausländischen Experten hole ich am besten in die Sendung, damit er dort über Amerikas heimtückische Intrigen berichtet?“ Wir wollen einfach mal versuchen, anhand jenes Westi-Beitrags über sogenannte Couchexperten Licht ins Dunkel zu bringen.

    Da ist zum Beispiel William Engdahl, der behauptet, die USA hätten „einen umfassenden Plan zur Dämonisierung Russlands aufgestellt“. Engdahl ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Vorträge über die schädlichen Folgen von Genmanipulation sowie darüber, dass die globale Erderwärmung ein Mythos sei und dass hinter sämtlichen globalen Entwicklungen in der Welt, vom Sturz des Schahs im Iran 1979 bis zur ägyptischen Revolution 2011, die CIA stehe. Er ist häufig zu sehen auf RT, unter anderem war er in der Sendung Truthseeker im Juli 2014 zugeschaltet, und zwar in der Ausgabe über das „gekreuzigte Baby“, die nach zahlreichen Zuschauerbeschwerden wieder aus dem Programm genommen wurde. 

    Wurde Engdahl in dem Westi-Beitrag als „Schriftsteller und Politologe“ vorgestellt, so betreibt er hier „investigativen Journalismus“ 
    Wurde Engdahl in dem Westi-Beitrag als „Schriftsteller und Politologe“ vorgestellt, so betreibt er hier „investigativen Journalismus“ 

    Außerdem ist Engdahl ständiger Autor des Zentrums für Globalisierungsforschung und seine Texte werden häufig auf der Website globalresearch.ca publiziert. Ich habe bereits darüber geschrieben, warum diese Seite eine solch wertvolle Quelle für die verschiedensten „Analytiker“ und „Politologen“ im russischen Fernsehen darstellt. Der Gründer des Zentrums für Globalisierungsforschung Michel Chossudovsky gehört dem wissenschaftlichen Beirat der italienischen Zeitschrift Geopolitica an, deren Chefredakteur Tiberio Graciani wiederum im obersten Rat der Internationalen eurasischen Bewegung sitzt, deren Vordenker und Anführer Alexander Dugin ist. Wenn ihr nicht darüber informiert seid, wer das ist, lest es bitte nach, so auf die Schnelle lässt sich das nicht sagen. Eine, kurz gesagt, facettenreiche Persönlichkeit, die in Russland innerhalb von wenigen Jahren vom „verrückten Professor“ zu einem der einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen mit einer enormen Wirkung auf die Innen- und Außenpolitik geworden ist. Über sein Verhältnis zur russischen Führung gibt wohl am deutlichsten ein Zitat von ihm aus dem Jahr 2007 Aufschluss. Seither haben sich seine Ansichten nicht allzu sehr geändert.


    „Gegner des Putinschen Kurses gibt es nicht mehr, und wenn doch, sind sie psychisch krank und man muss sie zur Gesundheitsfürsorge schicken. Putin ist überall, Putin ist alles, Putin ist absolut, Putin ist unersetzlich.“ Der Anführer der Eurasischen Bewegung Alexander Dugin am 17. September, auf einem Empfang der Zeitung Izvestia


    Es gibt noch eine italienische Zeitschrift für ultrarechte Intellektuelle, die Putin nach dem Prinzip „der Feind meines Feindes“ (Hauptsache, es geht gegen Amerika) unterstützen, und dort steht Engdahl beim wissenschaftlichen Beirat direkt in der Zeile unter Dugin. Man kann also davon ausgehen, dass Engdahl mit Dugin persönlich bekannt ist und über ihn Zugang hat zu den Köpfen und Büros der höchsten Führungsetagen, also auch zu den Chefs der staatlichen Fernsehgesellschaft WGTRK, dass er also nicht auf persönliche Initiative eines Jungredakteurs im russischen Äther auftaucht. Dugin nahestehende Kreise der europäischen Ultrarechten, Neonazis, Euroskeptiker und verschiedenste Verschwörungstheoretiker – das sind, wie es aussieht, die Hauptquelle, aus der das russische Fernsehen seine „Experten“ rekrutiert. Und nicht nur fürs Fernsehen. Da ist zum Beispiel Manuel Ochsenreiter, der regelmäßig sowohl auf RT als auch auf den russischen TV-Kanälen als „Journalist“ herumgeistert. Hier ist er beispielsweise in Gesellschaft von Alexander Dugin zu sehen: 

    Der Journalist Ochsenreiter ist natürlich ein ziemlicher Spezialfall: Er ist Redakteur der ultrarechten [deutschen] Zeitschrift Zuerst!, die in Deutschland immer wieder für Schlagzeilen sorgte (beispielsweise lehnte der Bauer-Verlag wegen Sympathien für die Nazis die Zusammenarbeit ab). Und Ochsenreiter ist nicht einfach nur ein häufiger Kommentator im russischen Fernsehen – er war auch „Beobachter“ bei den „Wahlen“ in der „Volksrepublik Lugansk“. Die sich anscheinend der Aggression der faschistischen Junta zur Wehr setzt. Mit Hilfe eines echten deutschen Neonazis, der früher eine Zeitschrift über die ruhmreichen Siege der Wehrmacht herausgegeben hat. 


    Izvestia, 2. November 2014:
    Ausländische Beobachter verzeichnen hohe Wahlbeteiligung bei den Wahlen in der Volksrepublik Lugansk 
    Der Vertreter Deutschlands, Manuel Ochsenreiter, erklärte, er habe bislang „keinen einzigen Verstoß beobachtet“.
    Die ausländischen Beobachter, die an dem Wahlmonitoring teilnehmen – gewählt werden das Oberhaupt der Volksrepublik Lugansk und die Abgeordneten des Volkssowjets – verzeichnen eine hohe Wahlbeteiligung.
    „Wir kommen gerade aus einem Wahllokal – das war voll bis zum Anschlag. Mein erster Eindruck ist, dass die Menschen ein enormes Interesse daran haben, an diesen Wahlen teilzunehmen“, erklärte Manuel Ochsenreiter, der hier Deutschland vertritt, gegenüber der Nachrichtenagentur TASS. Die Gruppe, der er angehört, hatte ein Wahllokal in Brjanka besucht. 

    Und so sieht das Cover der Deutschen Militärzeitschrift aus, deren Chefredakteur Ochsenreiter bis 2011 war:

    Weiter im Text unseres Westi-Beitrags: Nach Engdahl tritt dort Jeffrey Steinberg auf. Steinberg schreibt für die Zeitschrift Executive Intelligence Review, die von der sogenannten LaRouche-Bewegung (LaRouche Movement) herausgegeben wird. Die „Bewegung“ – diplomatisch ausgedrückt, in Wirklichkeit sind die LaRouchisten eine faschistoide Sekte mit ziemlich ekelhaften Ritualen (nachzulesen beispielsweise unter dem Stichwort „Ego-Striptease“ [im Wikipedia-Eintrag über LaRouche – dek]). Ihre Ansichten sind ebenfalls extrem verschwörungstheoretisch und sektenmäßig. Die LaRouchisten haben zum Beispiel einen kompletten Dachschaden, was die britische Königsfamilie angeht, die ihrer Ansicht nach generell an allem Unglück der Menschheit schuld ist, Königin Elisabeth II. kontrolliert persönlich das Kokainkartell und so weiter. Eben jener Jeffrey Steinberg behauptete zum Beispiel in einem Interview, Prinzessin Diana sei nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sondern auf Weisung Prinz Philips vom britischen Geheimdienst ermordet worden (eine populäre Verschwörungstheorie bezüglich Diana: murder, not accident). Bei der Zeitschrift Executive Intelligence Review (EIR) finden sich regelmäßig Cover im Geiste wie diesem hier:

    LaRouche: Jetzt handeln, um Obamas Nazi-Plan zur Gesundheitsreform zu stoppen!
    LaRouche: Jetzt handeln, um Obamas Nazi-Plan zur Gesundheitsreform zu stoppen!

    Wie ihr wahrscheinlich ahnt, ist in Amerika die Herausgabe von Zeitschriften mit einem derartigen Cover und solchen Ansichten zwar nicht verboten (man stelle sich das mal entsprechend in Russland vor), doch sie sind, gelinde gesagt, bei der breiten Masse nicht gerade beliebt.
    Ganz anders in Russland. Zum einen haben die LaRouchisten eine Niederlassung in Russland – das sogenannte Schiller-Institut. Und die Executive Intelligence Review hat auch eine russischsprachige Website. Dort steht genau das Gleiche wie im Original, bloß dass es in russischer Übersetzung noch hirnverbrannter wirkt:



    Britische Agenten – Verfechter des Völkermords [an in der Ukraine lebenden Russen] – […] Organisation eines US-imperialen Umsturzes in der Ukraine. Mannomann.
    Dabei sind diese Leute nicht erst gestern aufgetaucht. Seit 2008 gibt Lyndon LaRouche auf RT regelmäßig Interviews.

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=ISjsnfg0UVk align:left]

    Doch er ist nicht vom Himmel gefallen. Lyndon LaRouche ist kein persönlicher und langjähriger Freund von irgendjemandem, sondern vom Präsidentenberater zu Fragen der Wirtschaftsintegration Sergej Glasjew. Hier sehen wir LaRouche und Glasjew im Jahr 2001 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz:



    Und hier eine persönliche Gratulation von Sergej Glasjew an Lyndon LaRouche auf der russischen EIR-Seite:
     

    Lieber Lyndon LaRouche!
    Von ganzem Herzen gratuliere ich Ihnen zu Ihrem runden Geburtstag, den Sie dieser Tage feiern, Sie, ein weltweit anerkannter Wissenschaftler, der verdientermaßen die Achtung von Spezialisten, Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in verschiedenen Ländern der Welt genießt. Ihre visionäre Gabe und die von Ihnen lange vor der weltweiten Finanzkrise erarbeitete Prognose des Zusammenbruchs des internationalen Finanzsystems haben Ihnen den Ruhm eines Propheten und Gurus für die Schlüsselprobleme der Menschheitsentwicklung eingebracht!
    Aufrichtig wünsche ich Ihnen neue schöpferische Großtaten, eine robuste Gesundheit und das Glück, die Umsetzung Ihrer Vorschläge und Empfehlungen zur Gesundung und Entwicklung der Weltwirtschaft mitzuerleben. 
    Ihr
    Sergej Glasjew 
    29.08.2012


    Wie ihr seht, fallen diese „Experten“ und „Analytiker“ wirklich nicht vom Himmel und werden nicht auf Initiative irgendwelcher Nachrichtenredakteure ins russische Fernsehen geholt, sondern von ihren Freunden an der Spitze der russischen Macht. Dugin, Glasjew und die Partei Rodina unterhalten enge Verbindungen zu europäischen und amerikanischen Ultrarechten, Neonazis und sonstigen Obskuranten, die man als im Westen einflussreiche Politikwissenschaftler und Journalisten ins Fernsehen schleift – die sie aber natürlich nicht sind. Und die sich deshalb freuen wie die Schneekönige, wenn sie, zwar nicht im eigenen Land, aber in Russland, ins echte Fernsehen dürfen und als wichtige Leute vorgestellt werden. Die Partei Rodina, der Sergej Glasjew angehört, ist ebenfalls ein Großlieferant für unterschiedlichste handgemachte TV-„Experten“. Einer davon ist zum Beispiel John Laughland, der immer wieder in der Nachrichtensendung Westi zitiert wird. Mindestens schon seit 2002:



    Heute wird Laughland als „Forschungsprogrammleiter des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit“ zitiert. Dieses hat seinen Sitz in Paris und nennt sich solide The Institute of Democracy and Cooperation oder auch Institut de la Démocratie et de la Coopération. Nur ist Leiter des Instituts nicht Laughland und auch nicht irgendein Monsieur Sowieso, sondern die ehemalige (2003–2007) russische Dumaabgeordnete für die Partei Rodina Natalja Narotschnizkaja, die von Putin persönlich zur Leiterin ernannt wurde. 



    Narotschnizkaja und Laughland sind ebenfalls langjährige und gute Freunde. 

    John Laughland und Natalja Narotschnizkaja
    John Laughland und Natalja Narotschnizkaja



    Das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ist eine NGO, die offiziell von Russland aus gegründet wurde und gesponsert wird. Wenn ihr also solche Experten im Fernsehen seht, lasst euch nicht durch ein Institute of Democracy and Cooperation und einen Mister Laughland täuschen, die die NATO, Amerika und die Demokratie kritisieren – das sind alles einheimische Pflanzen. 
    So weit für heute, lasst euch keine Nudeln auf die Ohren hängen und bleibt online. 

    PS: Für eine Vielzahl an nützlichen Hinweisen dankt der Nudelentferner Anton Schechowzow, der die Verbindungen zwischen dem russischen Polit-Establishment und den europäischen und amerikanischen Ultrarechten gründlich erforscht hat.

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