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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Sie sind völlig frei“

    „Sie sind völlig frei“

    Mitten im Nirgendwo: Viele Siedlungen in Russland liegen fernab der Hauptverkehrsadern, ohne Anbindung an die nächstgelegenen Städte. Artemi Posanenko arbeitet als Soziologe an der Moskauer Higher School of Economics und erzählt im Zapovednik über seinen aktuellen Forschungsgegenstand: Russlands „isolierte Communities“, abgeschiedene Dörfer. Ein Gespräch über grassierende Arbeitslosigkeit, lukrative Beerengeschäfte und das „Dorf der Teenager“.

    Wald, Wald, Wald. Wer sich hier verirrt, wird gar nicht erst gesucht – Fotos © Artemi Posanenko
    Wald, Wald, Wald. Wer sich hier verirrt, wird gar nicht erst gesucht – Fotos © Artemi Posanenko

    Artemi, was ist für Sie eine isolierte Community?

    Es gibt Städte wie Norilsk oder Narjan-Mar, die zwar vom Rest des Landes abgeschnitten, aber dennoch recht groß sind. Ich beschäftige mich jedoch eher mit solchen Orten, die überhaupt von allem abgeschnitten sind, von wo aus sogar die zugehörige Bezirkshauptstadt nur mit Mühe zu erreichen ist.

    Nehmen wir beispielsweise einen Bezirk in der Region Archangelsk. Nach meinen Berechnungen leben 40 Prozent der Einwohner dort in räumlicher Isolation. Auch in der Region Kostroma gibt es eine Vielzahl solcher Communities – die übrigens gar nicht so weit von Moskau entfernt liegen. Betrachtet man die Bezirke Nerechtski und Krasnoselski in der Nähe von Kostroma, findet man dort wahrscheinlich keine isolierten Communities.

    Wenn jemand vermisst wird, wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts

    Aber östlich des Flusses Unsha, im Norden des Gebiets, gibt es dann zehn bis fünfzehn solcher Dörfer in einem Bezirk. Die Leute von dort sagen: Wenn jemand aus dem Nachbardorf, sagen wir aus Medwedewo, in unsere Gegend zum Wandern oder Jagen kommt und vermisst wird, dann wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts.

    Müll? Nein. Eine selbstgebaute Vorrichtung zum Ebnen der Wege
    Müll? Nein. Eine selbstgebaute Vorrichtung zum Ebnen der Wege

    Wie entstehen solche isolierten Communities?

    In den 60er Jahren gab es eine Kampagne, bei der erklärt wurde, viele Dörfer hätten keine Perspektive. Kolchosen wurden zu Sowchosen zusammengeschlossen, die Menschen wurden nahezu gewaltsam umgesiedelt. Was heißt nahezu? Damals durfte man ja kein Schmarotzer sein, man musste unbedingt irgendwo arbeiten. Und die Arbeitsplätze waren alle staatlich.

    Wenn diese in den perspektivlosen Dörfern auf Befehl von oben abgeschafft wurden, hatten die Leute oft keine andere Wahl, als von dort wegzuziehen, um sich nicht strafbar zu machen.

    Immer mehr Dörfer verschwanden. Doch einige blieben. Das waren hauptsächlich ältere Siedlungen. Außerdem gibt es noch die Dörfer der Altgläubigen. Die sind absichtlich möglichst weit weg gezogen, damit sie keiner findet.

    Zu Sowjetzeiten gab es keine wirklich isolierten, nur sehr abgelegene Dörfer
    Zu Sowjetzeiten gab es keine wirklich isolierten, nur sehr abgelegene Dörfer

    Darüber hinaus sind zur Sowjetzeit viele Waldsiedlungen entstanden. Gebaut wurden Behelfsunterkünfte, Baracken für die nächsten 20 bis 30 Jahre. Eine Weile funktionierte das.

    Man gründete beispielsweise in den 50er Jahren eine Siedlung und löste sie in den 70er Jahren wieder auf, weil der Wald ringsum abgeholzt war. Doch irgendwann brach die Sowjetunion zusammen – und die Leute blieben im Wald, in ihren Behelfsunterkünften.

    Heißt das, dass es zu Sowjetzeiten keine isolierten Dörfer gab?

    Wirklich isolierte Dörfer gab es praktisch nicht. Die Dörfer waren vielleicht sehr abgelegen, aber dafür gab es dann eine Flugverbindung. Oder Boote, wenn das Dorf an einem Fluss lag.

    Die Preise waren damals sehr niedrig: Für nur einen Rubel konnte man in die Bezirkshauptstadt fliegen – und das bei einem Monatslohn von vielleicht 300 Rubel. Aber das war einmal. Wenn es solche Hubschrauberverbindungen heute noch gibt, dann kosten sie meist ordentlich: Vielleicht 5000 Rubel, bei einem Monatslohn von 10.000 bis 15.000 Rubel – das kann sich keiner leisten. Heute leben die Leute dort eher für sich.

    Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen – hier im Gebiet Kostroma
    Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen – hier im Gebiet Kostroma

    Kann man bei den isolierten Siedlungen, die Sie erwähnten, von einer richtigen Dorfgemeinschaft sprechen?

    Auf alle Fälle. In den nicht-isolierten ländlichen Gebieten gibt es alte Dörfer, die zwischen 300 und 500 Jahre alt sind, und sowjetische Siedlungen, die es erst seit 50 Jahren gibt. In den alten Dörfern gibt es ein mehr oder weniger einträchtiges und solidarisches Gemeinleben. Aber in den zusammengewürfelten sowjetischen Dörfern leben die Leute sehr separiert und distanziert voneinander.

    Die Isolation schweißt enger zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft

    In der Isolation gibt es das nicht: Der Faktor Isolation schweißt offenbar mehr zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft. Normalerweise herrscht dort eine einträchtige und solidarische Dorfgemeinschaft – man hilft einander dabei, zu überleben. Und was auffällig ist: Je größer die Isolation, desto langsamer der Bevölkerungsschwund.

    Wie lässt sich das erklären?

    Man kann verschiedene Stufen der Isolation unterscheiden. Geringfügig isoliert wäre beispielsweise ein Dorf, das nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt liegt – am anderen Flussufer, ohne Fähren und Brücken. Bei Eisgang oder beginnender Eisbildung sind die Menschen dort komplett abgeschnitten. Aber wenn der Fluss im Winter ganz zugefroren ist, können sie einfach über das Eis gehen.

    Solche geringfügig isolierten Dörfer sind instabil: Der Bevölkerungsschwund ist höher, die Dörfer sterben schneller aus als solche, die gar nicht isoliert sind. Bei stark isolierten Dörfern ist es umgekehrt: Sie sterben langsamer aus. Warum? Weil die Schwierigkeiten von Anfang an klar sind: Die Dörfer sind schwer zu erreichen, die Versorgung ist problematisch, die Preise in den Läden sind hoch, und selbst Geschäfte zu machen lohnt sich kaum – besonders, wenn sie nicht schwarz laufen sollen.

    Die Nachteile sind offensichtlich, und Vorteile gibt es in einer derartigen Isolation keine. Wer entlegen genug lebt, kann jedoch nach Belieben die Gaben der Natur nutzen.

    Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden

    Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden. Feuerwehr, Verbraucherschutz und Gesundheitsamt stellen einheitliche Vorschriften für ganz Russland auf, die man aber hier unmöglich einhalten kann.

    In solchen Gegenden betreiben die Leute meist aktiv Fischfang, daher ist ihr größter Feind die Fischereiaufsicht. Formell gelten sie als Wilderer, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Sie gehen ziemlich verantwortungsbewusst mit der Umwelt um, zumal die sie ernährt: Sie nehmen nicht mehr als sie brauchen.

    Generell sind solche Kontrollaktionen ein großes Problem. Aber je weiter entfernt man lebt, desto weniger Kontrollinstanzen gibt es. An die entlegensten Orte kommt nur noch die Fischereiaufsicht.

    Kennen Sie den Film Des Postboten Weiße Nächte? Darin geht es um ein mehr oder weniger isoliertes Dorf im Gebiet Archangelsk. Die Protagonistin ist eine Inspekteurin der Fischereiaufsicht. Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens ist sie eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch – als Inspekteurin hätte man dort kein leichtes Leben: Entweder müsste sie auf die korrekte Ausübung ihrer Pflichten verzichten oder sie wäre bei den anderen unten durch.

    In der Regel kommen die Inspekteure aus Nachbarbezirken, oft sogar aus ganz anderen Regionen. Im Gebiet Archangelsk, am Fluss Mesen, kommen die Inspekteure beispielsweise aus der Republik Komi. Und die Inspekteure aus dem Gebiet Archangelsk fahren einmal übers Weiße Meer nach Karelien, damit es daheim keine Interessenkonflikte gibt.

    Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch

    Im Gebiet Kostroma kommen die Kontrolleure aus der Bezirkshauptstadt – irgendwie sind die Leute von dort ja auch bereits Fremdlinge.

    Es verirren sich auch kaum Touristen oder Jäger in die abgeschiedenen Gegenden, daher ist die Natur dort noch sehr reich. Wer irgendwie kann, sammelt Beeren und verkauft sie auswärts. Damit lässt sich sogar gutes Geld verdienen.

    Auf dem Weg zum Fischen im Gebiet Kostroma. So gut wie alle fischen, viele jagen
    Auf dem Weg zum Fischen im Gebiet Kostroma. So gut wie alle fischen, viele jagen

    Wie viel kann man da so verdienen?

    Wenn Sie ein konkretes Beispiel wollen: Ich habe ein Rentnerehepaar kennengelernt, beide 70 Jahre alt. In einer Saison haben die mit ihren Beeren 200.000 Rubel [2700 Euro] verdient. Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht.

    In einem Experiment habe ich mal ermittelt, wie viele Beeren man an einem Tag pflücken kann, und dann geschaut, wie viel man an den Annahmestellen dafür bekommt. Eine Million ist vielleicht möglich, wenn ein ganzer Clan, ein Kollektiv von morgens bis abends nur Beeren pflückt. Aber dann muss man die Million am Ende auch mit acht Leuten teilen und nicht nur zu zweit.

    Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison mit Beeren eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht

    In der Soziologie ländlicher Räume gibt es den Begriff von den „Waffen der Schwachen“ – Waleri Winogradski hat darüber viel geschrieben. Es geht um eine Reihe von Verhaltenweisen, mit denen die Menschen auf dem Land in Krisenzeiten überleben.

    Das heißt, wenn es keine offizielle Arbeit gibt, ziehen die Leute einfach aus allen möglichen Sachen einen kleinen Profit: Sie stellen Dinge selber her, halten ihr eigenes Vieh und vergrößern nach Möglichkeit ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau. Nun sagt Winogradski, dass die Waffen der Schwachen schwach sind, weil sie zwar das Überleben garantieren, es einem jedoch nicht ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.

    Hier eine Kopeke, da eine Kopeke – aber zusammen wird daraus immer noch kein Rubel. Im Norden, insbesondere im Gebiet Kostroma, ist das anders. Wenn man hier jagt oder sammelt, anstatt sein eigenes Vieh zu halten oder Obst und Gemüse anzubauen, ist nicht nur der Arbeitsaufwand geringer, sondern auch der Ertrag deutlich größer. Deswegen sind die Leute hier wesentlich wohlhabender.

    Fähre über den Fluss. Es kommt vor, dass ein Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer
    Fähre über den Fluss. Es kommt vor, dass ein Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer

    Inwiefern können die isolierten Communities ihre Probleme selbstständig lösen?

    Ihre allgemeinen Probleme lösen sie quasi alle gemeinschaftlich. Die Bürgermeister der Orte, zu denen die isolierten Communities gehören, sagen: „Was kann ich schon für die machen? Die sind so weit weg, wer soll das bezahlen? Es ist klar, dass ich für sie rein gar nichts tun kann. Sie verstehen das und nehmen es mir auch nicht übel. Sie machen alles selbst.“

    In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht

    In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe: Er hilft nicht, dafür stört er auch nicht mit ständigen Kontrollen. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht. Die Leute leben dort wie in einer großen Familie und wissen diese Bindungen sehr zu schätzen. Darüber hinaus fühlen sie sich völlig frei, denn sie können über die Gaben der Natur nach Belieben verfügen, können leben, wie sie wollen, und pflegen untereinander enge Beziehungen, die sie unter keinen Umständen aufgeben wollen.

    Wir waren in einem Dorf im Bezirk Kologriwski und haben beobachtet, wie die Einheimischen interagieren. Das hat mich beeindruckt. Wie dort die Leute miteinander kommunizierten, sogar die über 70-jährigen mit den jungen – das hat mich an meine eigene Jugend erinnert, wie ich damals mit Altersgenossen umgegangen bin.

    Ich habe früher jeden Sommer auf dem Dorf verbracht, im Gebiet Kaluga. Und genauso, wie wir damals mit 14 miteinander redeten, unterhielten sich die Leute hier: „Na, kommst du mit raus?“ – „Gehen wir in die Banja?“ Oder: „Lass mal Fußball spielen!“ Das war wie ein Dorf voller Teenager. Mich hat das sehr gerührt. Ein gewöhnliches altes Dorf – aber ein isoliertes.

    Jetzt bauen sie dort eine psychiatrische Klinik – vielleicht wurde sie auch schon eröffnet. Entsprechend wird es dann auch Arbeit geben, Leute aus der Bezirkshauptstadt werden kommen. Das Leben wird sich sicherlich verändern, wenn das Dorf plötzlich nicht mehr so isoliert ist.

    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig – bei den Schulen. Die Einwohner von Darawka sorgen selbst für die Erhaltung der leerstehenden Schule
    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig – bei den Schulen. Die Einwohner von Darawka sorgen selbst für die Erhaltung der leerstehenden Schule

    Gibt es neben dem Transportproblem noch andere unlösbare Probleme?

    An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig: bei den Schulen. Sie haben selber keinen Einfluss darauf, ob es eine Schule gibt oder nicht. Solche Entscheidungen werden auf Bezirks- oder Gebietsebene getroffen.

    Wenn eine Schule geschlossen wird – und die Schulpflicht gilt bei uns bis zur 9. Klasse –, dann hat das Dorf keine Perspektive mehr. Heimunterricht machen sie nicht, da in der Regel niemand einen Hochschulabschluss hat. So sind Familien mit Kindern gezwungen, das Dorf zu verlassen.

    Wie denken die Bewohner selber über ihre Isolation?

    Sie sehen ihre Isolation als etwas Positives. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Gebiet Murmansk: Die Gouverneurin flog in eines der abgeschiedenen Dörfer und bot den Bewohnern an, auf Staatskosten eine Straße zu bauen. Auf der Dorfversammlung stimmten die Bewohner dagegen.

    Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten

    Auch im Gebiet Kostroma gibt es solche Fälle. Ihnen hatte man zwar nichts angeboten, aber als ich sie fragte, ob sie eine Brücke mit Asphaltstraße wollten, meinten viele: „Nein, dann geht hier alles zugrunde.“ Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten.

    Artemi, können Sie uns noch genauer schildern, wie sich die Isolation auf das alltägliche Leben der Menschen auswirkt?

    Die Abgeschiedenheit hat einen Einfluss auf die Ernährung der Menschen. So gut wie alle fischen, viele jagen. Daher ist ihr Verbrauch an Fleisch und Fisch höher als in anderen ländlichen Gebieten. Sie fahren andere Autos. Ein gewöhnlicher Kleinwagen bringt dort nicht viel – es muss schon mindestens ein Lada Niva, ein UAZik oder ein anderer Geländewagen sein.

    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen. Hier das Haus, davor der Zaun und unter der Birke steht dann mit Plane bedeckt ein Schützenpanzer. Und alle haben sie Motorschlitten. Wenn das Dorf am Fluss liegt, kommt man um ein Boot nicht herum.

    Übrigens haben die Leute keine Angst, ihre Boote unbeaufsichtigt zu lassen. Sie lassen auch die Bootsmotoren dran, die ja für Diebe oft wertvoller sind als das ganze Boot.

    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge wie dieses. Und alle haben sie Motorschlitten
    In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge wie dieses. Und alle haben sie Motorschlitten

    Gibt es dort keinen Diebstahl?

    Nein, weil dort keine Diebe hinkommen. Und falls die Bewohner merken, dass du klaust, werden sie dir das Leben schwer machen – oder dich einfach im Wald abservieren. Sogar die Haustüren lassen sie offen.

    Gibt es dort irgendeine Art von Polizei?

    Nein. Wobei – formell gibt es schon einen Revierpolizisten. Der sitzt aber in der Regel in der Bezirkshauptstadt und verirrt sich nicht in die Dörfer.

    Es kommt vielleicht vor, dass die Polizisten einmal im Jahr eine Razzia machen und irgendwelche Leute bestrafen, weil sie ihre Hunde nicht anleinen. Klar, wenn jemand ermordet wird, kommt natürlich auch die Polizei. Aber sonst bemerkt man ihre Anwesenheit nicht.

    Und was geschieht bei gesundheitlichen Problemen?

    Es gibt medizinische Hilfskräfte auf dem Land, aber ein Krankenwagen kommt meistens nicht. Aus dem einfachen Grund, dass so eine Fahrt recht teuer ist und die Bezirkskrankenhäuser mit knappem Budget wirtschaften. Einige Dörfer könnte der Krankenwagen selbst beim besten Willen nicht erreichen, insbesondere dann nicht, wenn das Fahrzeug ein GAZel und keine Buchanka mit Allradantrieb ist.

    Wenn man weiter weg wohnt, kommt der Notarzt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt

    Teilweise gibt es inoffizielle Regelungen, etwa dass der Krankenwagen das Bezirkszentrum und 15 Kilometer im Umkreis abdeckt. Wenn man weiter weg wohnt, muss der Patient entweder selbst gebracht werden, oder der Notarzt kommt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt.

    Es kommt auch vor, dass die Ärzte nur bis zum nächsten Flussufer fahren und der Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer. Wegen solcher Schwierigkeiten behandelt man sich meistens selbst.

    Der Soziologe Artemi Posanenko auf Expedition. Foto © Natalja Shizkewitsch
    Der Soziologe Artemi Posanenko auf Expedition. Foto © Natalja Shizkewitsch

    Welche technischen Geräte benutzen die Bewohner?

    Alle haben eine Trikolor-Satellitenschüssel auf dem Dach. Von den Nachrichten sind die Leute hier nicht abgeschnitten. Sie sind stets auf dem Laufenden über das, was gerade los ist. Fernsehen gibt es überall – Handyempfang dagegen nicht immer. Aber meistens gibt es im Dorf wenigstens ein paar Leute mit Festnetzanschluss oder zumindest einen Münzfernsprecher. Wer keinen Festnetzanschluss hat, telefoniert eben beim Nachbarn.

    Artemi, wie verhalten sich die Leute Ihnen gegenüber, wenn Sie als fremder Forscher in solche Gemeinden kommen?

    Die Leute sind sehr offen: Sie lassen einen einfach bei sich übernachten, verpflegen einen und erzählen einem alles. Ich bin nie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.

    Ich hab nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann

    In meiner gesamten Forschungszeit habe ich nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann.

    Dreimal die Woche läuft die Postbotin je zwölf  Kilometer hin und zurück, um auf der anderen Seite des Flusses die Post zu holen. Ihr Mann hilft ihr, die Taschen zu tragen und das Boot überzusetzen. Der Dorfladen hat keine Lizenz für den Verkauf von Alkohol, und es brennt auch keiner etwas selbst. Also ist der Postbotengehilfe dreimal die Woche betrunken.

    Sie sagten, dass sich die Leute dort völlig frei fühlen – worin äußert sich das?

    Angenommen im Dorf leben 50 arbeitsfähige Menschen. Von denen sind vielleicht insgesamt nur sieben auf dem offiziellen Arbeitsmarkt unterwegs. Wovon die anderen 43 leben, ist unklar. Der Staat weiß es nicht, in der Statistik tauchen sie nicht auf.

    Olga Golodez sagte 2013 auf einer Konferenz, dass in Russland 86 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter leben. Allerdings wisse man bei 38 Millionen davon überhaupt nicht, was sie eigentlich machten – darüber habe man keinerlei Daten.

    Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst

    In den Gegenden, über die wir hier sprechen, ist der Anteil noch deutlich höher. Offiziell arbeiten die Leute hier nirgendwo, aber in den Arbeitslosenstatistiken sind sie auch nicht erfasst. Anderswo stehen die Menschen Schlange vor dem Arbeitsamt, um ihre kümmerlichen 800 oder 1000 Rubel Sozialhilfe zu erhalten. Aber hier lohnt sich das nicht: Zweimal im Monat müsste man in die Bezirkshauptstadt fahren, um sein Geld abzuholen – letztlich würde man mehr Geld für die Fahrten ausgeben, als man an Sozialhilfe ausgezahlt bekäme. Darum ist hier offiziell auch niemand arbeitslos.

    In einigen Dörfern gibt es tatsächlich Arbeit, im Gebiet Murmansk zum Beispiel. Es gibt dann freie Stellen, die aber niemand annimmt. Das heißt, den Leuten wird Arbeit angeboten, die sie jedoch ablehnen. Warum? Weil sie vom Wald leben. Im Wald zu sein, ist für sie viel lohnender und angenehmer, als von früh bis spät auf der Arbeit zu sitzen.

    Also zurück zum Beispiel oben: Von den 50 Menschen arbeiten offiziell vielleicht sieben – und alle anderen können frei über ihre Zeit verfügen. Das heißt, sie können machen, was sie wollen und wann sie es wollen. Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst.

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  • Presseschau № 28: Tschernobyl

    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Zum 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Russland Umstände und Folgen des Unfalls heftig diskutiert. Das Thema ist gerade in diesem Jahr zu einem regelrechten Politikum geworden: In der Debatte geht es nicht nur um die humanitären, ökologischen und technischen Aspekte, sondern auch um das Bild, das man sich in Russland heute von der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine macht.

    Einige Medien nehmen den Jahrestag zum Anlass, um der Ukraine alte wie neue Fehler zur Last zu legen, andere sehen bei der weiteren Bewältigung der Folgen auch den russischen Staat in der Pflicht.

    Auch zur Einschätzung der Opferzahlen und zu den Langzeitfolgen des Unglücks gehen die Meinungen weit auseinander.

    Einige der wichtigsten Stimmen haben wir hier mit Originalzitaten zusammengestellt.

    KOMMERSANT: OPFERZAHLEN SIND ÜBERTRIEBEN

    Im weitgehend unabhängigen Kommersant erklärt Leonid Bolschow, Leiter eines Instituts für nukleare Sicherheit der russischen Akademie der Wissenschaften: Alles nicht so schlimm.

    [bilingbox]In der wissenschaftlichen Literatur sind weltweit – und übrigens auch in der Sowjetunion – als direkte medizinische Folgen im ersten Jahr nach dem Unfall nur 134 bestätigte Fälle schwerer Strahlenkrankheit festgehalten. In den ersten 100 Tagen starben 28 Menschen. Alle anderen wurden geheilt und lebten und starben später entsprechend den landesweit durchschnittlichen medizinischen Kennziffern. Die Sterberate der Liquidatoren, zu denen auch ich gehöre, unterscheidet sich in nichts von Personen, die mit Tschernobyl nichts zu tun haben. Die Tausende und Millionen und Milliarden Opfer, über die einige Hitzköpfe sprachen, gibt es nicht.~~~Мировая наука, как, впрочем, и советская наука в первый же год после аварии, посчитала, что среди прямых медицинских последействий только 134 подтвержденных случая острой лучевой болезни. В первые 100 дней умерли 28 человек. Всех остальных вылечили, и дальше они жили и умирали в соответствии со средними по стране медицинскими показателями. А смертность среди ликвидаторов, к которым отношусь и я, ничем не отличается от смертности среди людей, не имевших никакого отношения к Чернобылю. Ни тысяч, ни миллионов, ни миллиардов жертв, о которых некоторые горячие головы говорили, нет.[/bilingbox]

    KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: ALLES MYTHEN

    Ähnlich äußert sich die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda: Opferzahlen würden aufgebläht – und heute blühe das Leben in der verlassenen Stadt Prypjat, vier Kilometer vom Reaktor von Tschernobyl entfernt.

    [bilingbox]Mit den Jahren wurde Folgendes klar: Die sowjetische Staatsführung hat unter dem Druck der Öffentlichkeit eine extrem hohe Opferzahl des Unfalls eingestanden. Den vorteilhaften Status des „Tschernobylers“ wollte dann später niemand wieder abgeben. […] Die fast vollständige Abwesenheit von Menschen hat den Wald um den Ort Prypjat in eine Oase für Tiere verwandelt. Die Zone um Tschernobyl gleicht einem Naturschutzgebiet, wo sich die Natur ganz urwüchsig zeigt: Schließlich stört der Mensch sie nicht. Hier ziehen Elche, Hirsche, Wölfe, Füchse und Bisons frei umher. Biologen untersuchen sie von Zeit zu Zeit – und finden weder Zweiköpfige noch Dreischwänzige. Also, auch alles Mythen.~~~С годами появилось понимание: руководство советской страны под давлением общественного мнения приняло решение об избыточном признании количества пострадавших от аварии людей. А потом уже не было желающих отказываться от выгодного статуса «чернобылец». […] Почти полное отсутствие людей превратило леса вокруг Припяти в животный оазис. Зона вокруг Чернобыля больше напоминает природный заповедник, где природа существует в первозданном виде: ведь ей не мешает человек. Здесь свободно бродят лоси, олени, волки, лисицы, зубры. Биологи их периодически изучают: ни одного двухголового или трехвостого. Выходит, опять выдумки.[/bilingbox]

    TAKIE DELA: BUDDELN IN RADIOAKTIVEN BEETEN

    Das spendenfinanzierte Magazin für Sozialreportagen Takie Dela dagegen behandelt die Folgen des Unfalls sehr kritisch. In der Reportage geht es vor allem um die Gebiete, die heute in Russland liegen.

    [bilingbox][…] Die Beamten, die damals in Moskau über die Radioaktivität im Gebiet Tula berichteten, gingen später im demokratischen Russland in die Politik und sagten: „Wir haben die Errichtung einer Tschernobyl-Zone durchgesetzt.“ Obwohl – oh weh – außer ein paar kleinen Geldzuwendungen für die Bewohner nichts dabei herumkam. Aber nicht einmal das war einfach. Die Einwohner von Uslowa hatten weniger als ein Jahr das Recht, umzusiedeln. Es konnte einfach niemand zulassen, dass eine ganze Stadt umzieht. Deshalb blieben die Alten hier leben, und die Kinder buddelten in radioaktiven Beeten. […]

    Außerdem haben die Politiker vor, die Anzahl der Orte auf der Tschernobyl-Zonen-Liste auf die Hälfte kürzen. Nach ihrer Auffassung wird das Gebiet dadurch attraktiver für Investoren und die Landwirtschaft.~~~[…] чиновники, заявлявшие в Москве о радиоактивным положении в Тульской области, в демократической России пошли в депутаты и говорили: «Мы пробили чернобыльскую зону!». Хотя кроме небольших денежных подачек для жителей, увы, ничего добиться не удалось. Но и это было непросто. У жителей Узловой меньше года был статус с правом на отселение. Просто никто не мог позволить, чтобы целый город переехал. Поэтому здесь так и доживали старики, а дети росли, копаясь в радиоактивных клумбах. […]

    Кроме того, власти России собираются в два раза сократить список населенных пунктов, входящих в чернобыльскую зону. По мнению чиновников, это должно сделать территорию более привлекательной для инвестиций и ведения сельского хозяйства.[/bilingbox]

    ERSTER KANAL: DIE FEHLER DER ANDEREN

    Der Erste Kanal, der mehrheitlich in Staatsbesitz ist, sieht die Versäumnisse dagegen vor allem auf ukrainischer Seite. Im Artikel auf der Webseite des Senders heißt es, nicht nur die Ingenieure sondern auch die politische Führung der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik seien für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Heute setzten sich die Verfehlungen fort: Der Sarkophag zur Abdeckung des Reaktors sei immer noch nicht fertiggestellt, die von internationalen Geldgebern bereitgestellten Mittel versickerten in Korruptionsnetzwerken. Außerdem, so berichtet der hier zitierte Abschnitt, zeige Kiew auch im heutigen technischen Betrieb Verantwortungslosigkeit – indem es mit den USA statt mit Russland kooperiere, ohne die Folgen abzuschätzen.

    [bilingbox]Indem sie alle Kontakte mit Russland abbrach – darunter auch in puncto Kernenergie – hat sich die Ukraine nach Ansicht von Experten selbst in eine gefährliche Falle manövriert. Die Regierung hat beschlossen, die ukrainischen Atomkraftwerke auf amerikanischen Kraftstoff umzurüsten. Die Gesetze der USA verbieten die Einfuhr von Atommüll. Daher bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als bei sich selbst Endlager zu bauen. Auf dem Baugelände wurden bereits feierlich [Informations-]Schilder aufgestellt – ungeachtet dessen, dass der amerikanische Kraftstoff noch nicht einmal die obligatorische Freigabe erhalten hat; er wird bisher nur experimentell eingesetzt. Außerdem sind ähnliche Experimente in Europa bereits gescheitert.~~~Разорвав все связи с Россией, в том числе по линии ядерной энергетики, Украина, по мнению экспертов, сама загнала себя в опасную ловушку. Правительство приняло решение перевести украинские АЭС на американское топливо. Законы США запрещают ввозить отходы в эту страну. Поэтому Украине ничего не остается, кроме как строить хранилище у себя. На месте строительства уже торжественно установили таблички, несмотря на то, что американское топливо еще даже не прошло обязательную сертификацию, его пока используют экспериментально. Причем в Европе подобные эксперименты закончились неудачно.[/bilingbox]

    IZVESTIA: VOM WESTEN INSTRUMENTALISIERT

    In der regierungsnahen Izvestia ist von einer wissenschaftlichen Konferenz am renommierten Kurtschatow-Institut zu lesen. Die Experten dort beklagten, so die Zeitung, dass westliche Medien den Unfall ausgeschlachtet und damit den Zerfall der Sowjetunion befördert hätten.

    [bilingbox]Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Konferenz bemerkten mehrfach, dass der Unfall in Tschernobyl einer der Gründe war, die zum Zerfall der UdSSR führten. Denn die Partner aus anderen Ländern hätten über die Tragödie ausschließlich ihrem Interesse entsprechend berichtet. Man kann die jüngste Tragödie im japanischen Fukushima in eine Reihe mit Tschernobyl stellen, die weltweite Berichterstattung zu ihr war allerdings viel zurückhaltender.~~~Участники научной конференции также неоднократно отмечали, что авария в Чернобыле стала одной из причин, способствовавших распаду СССР, поскольку зарубежные партнеры освещали эту трагедию исходя исключительно из своих интересов. Вместе с тем недавнюю трагедию на японской «Фукусиме» можно поставить в один ряд с Чернобылем, однако активность ее освещения в мировых СМИ была в разы меньше.[/bilingbox]

    VEDOMOSTI: DIE INFORMATIONS-KATASTROPHE

    Auch die regierungsunabhängigen Vedomosti behandeln die Rolle der Medien – allerdings der sowjetischen.

    [bilingbox]Die Ereignisse von Tschernobyl lösten eine Informations-Katastrophe in der sowjetischen Politik aus. Um ihre Folgen zu mindern, wurde daraufhin die Zensur gelockert, was der Presse erlaubte, offen über Probleme zu sprechen, die zuvor hinter einem dichten Vorhang militärischer, staatlicher und behördlicher Geheimnisse verborgen waren.~~~События в Чернобыле вызвали информационную катастрофу в советской политике, ликвидация последствий которой привела к смягчению цензуры и позволила прессе открыто говорить о проблемах, находившихся прежде под плотной завесой военной, государственной и ведомственной тайны.[/bilingbox]

    BIRD IN FLIGHT: GEHEIMNIS GELÜFTET

    Dass die Medien auf Anweisung des KBG zentrale Informationen zu dem Unglück zurückhielten, davon zeugen die kürzlich in der Ukraine freigegebenen Geheimdokumente, die Bird in Flight veröffentlicht hat, das in der Ukraine auf Russisch erscheint. Der KGB befahl demnach ausdrücklich die Geheimhaltung wichtiger Informationen zu Hintergründen und unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe:

    [bilingbox]1. Informationen, die die tatsächlichen Gründe des Unfalls im Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl offenlegen.

    3. Informationen über die Menge und Zusammensetzung des Gemischs, das während des Unfalls austrat.

    11. Informationen über die radioaktive Verschmutzung der Umwelt und von Lebens- und Futtermitteln, die die höchstens zulässigen Konzentrationen überschreiten.

    16. Informationen über Ergebnisse neuer Methoden und Mittel zur Behandlung von Strahlenschäden.~~~1. Сведения, раскрывающие истинные причины аварии на блоке Nr. 4 ЧАЭС.

    3. Сведения о величинах и составе смеси, выброшенной во время аварии.

    11. Сведения о радиоактивном загрязнении природных сред, пищевых продуктов и кормов, превышающим предельно допустимые концентрации.

    16. Сведения о резултатах лечения новыми методами или средствами лучевой болезни.[/bilingbox]

    Jan Matti Dollbaum, Leonid A. Klimov

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  • Der Wendepunkt

    Der Wendepunkt

    Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl marschierten am 1. Mai 1986 – wie jedes Jahr – Tausende von Menschen fähnchenschwenkend durch Kyjiw. Als wäre nichts gewesen. Für Andrej Archangelski ist dieses Bild symptomatisch für den Umgang mit der Katastrophe, von der häufig als Heldengeschichte erzählt wird. Die verheerenden Folgen dagegen werden im offiziellen Diskurs oft ausgeblendet, heruntergespielt oder die Schuld wird anderen zugeschrieben – wie auch unsere Presseschau zum Thema zeigt.

    Archangelski diagnostiziert der russischen Gesellschaft auf slon.ru eine Unfähigkeit zu trauern – und warnt vor einem „mentalen Tschernobyl“, dem moralischen Kollaps.

    Parade zum 1. Mai 1986 in Kiew, fünf Tage nach dem GAU von Tschernobyl. Foto © Ukrinform
    Parade zum 1. Mai 1986 in Kiew, fünf Tage nach dem GAU von Tschernobyl. Foto © Ukrinform

    Vom sowjetischen Staatsbürger im Poststalinismus wurde – sofern er nicht Parteifunktionär war oder auf verantwortungsvollem Posten saß – nur eines verlangt: An bestimmten Tagen in Massen Loyalität zu demonstrieren, nämlich am 1. Mai und am 7. November.

    Der 1. Mai 1986 war einer dieser Tage. Kyjiw war eine unter tausend Städten, in denen der Feiertag von den Massen begangen wurde; hätte es dort keinen Aufmarsch gegeben – niemand hätte etwas bemerkt. Details und Folgen der jüngsten Katastrophe (am 26. April) [in Tschernobyl – dek] waren der lokalen Parteiführung wahrscheinlich noch nicht bekannt. Zweifellos wusste sie aber, dass in 100 km Entfernung etwas Furchtbares passiert war. Die Frage, ob angesichts dessen die Festivitäten überhaupt stattfinden sollten, wurde auf höchster sowjetischer Ebene verhandelt. Und man beschloss trotz allem zu feiern – um „dem Westen keinen Vorwand zu liefern“ und „keine Panik zu verbreiten“.      

    Der Anfang vom Ende

    Die Millionenstadt wurde tödlicher Gefahr ausgesetzt – um den Schein zu wahren und für die Berichterstattung.

    Heute heißt es oft, die UdSSR sei „zugrunde gerichtet“ worden – von innen durch „Liberale“ und natürlich von äußeren Feinden, dem Westen. Tatsächlich aber wurde das Land unter anderem von jenem Maiaufmarsch in Kyjiw „zugrunde gerichtet“.

    In der UdSSR gab es zwischen Volk und Staatsmacht lange Zeit eine stillschweigende Abmachung: „Wir tun so, als würden wir der Staatsmacht vertrauen, und sie tut so, als würde sie uns vertrauen.“

    Nach dem 1. Mai 1986 hörten binnen einer Stunde Millionen Staatsbürger auf, der Staatsmacht zu vertrauen, sie hörten auf, dieses Land mitsamt seiner Regierung als „das ihre“ zu betrachten. Wahrscheinlich war dieser Maiaufmarsch – und nicht Tschernobyl selbst – der Grund dafür, dass der bisherige Gesellschaftsvertrag zerbrach.

    Ein „mentales Tschernobyl“

    In jenen Jahren tauchte der Begriff „mentales Tschernobyl“ auf, der leider rasch zum Klischee wurde. Tschernobyl wurde zum Symbol einer nicht nur technischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe. Die totale Lüge, Scheinheiligkeit und das Fehlen natürlicher menschlicher Instinkte, das alles war schon längst zur Norm geworden. Nun verglich man sie mit der Strahlung, deren Wirkung ebenso unbemerkt, aber lebensgefährlich war. Die zivilisatorische Katastrophe ereignete sich am 26. April, die moralische jedoch schon wesentlich früher; und am 1. Mai 1986 wurde das vielen endgültig klar.       

    „In Moskau hat man feierlich die Teilnehmer des ‘Fünften Internationalen heroisch-patriotischen Kreativ-Festivals für Kinder und Jugendliche Star von Tschernobyl 2016‘ geehrt. Es ist den Heldentaten der Liquidatoren gewidmet“, erfahren wir heute auf der Website des Katastrophenschutzministeriums.

    „Heroisch-patriotisch“, „Heldentaten“, „Star“. Einem 15-Jährigen, der das liest oder sogar daran teilnimmt, fällt nicht im Traum ein, dass der Anlass für dieses Festival ein tragisches Unglück ist. Das wird alles sorgfältig in die unpersönliche, altgewohnte Form der „Heldentat“ verpackt; man könnte fast schon meinen, alle Katastrophen geschähen eigens dafür, dass jemand „Heldentaten“ vollbringen kann.

    Sportturniere zum Gedenken an die Helden

    Und wenn uns Tschernobyl überhaupt eine Lektion erteilt, dann allenfalls die der „Tapferkeit“. Der Verfasser des Beitrags mit dem Titel „Junge Stars von Tschernobyl“ beendet seinen Veranstaltungsbericht mit der Feststellung: „Wichtig ist, dass die Kinder – unsere Zukunft – mehr von der schwierigen, aber interessanten Arbeit der Experten des Katastrophenschutzministeriums erfahren.“ Das ist also das Wichtigste.

    In der Ukraine selbst geht es übrigens nicht weniger absurd zu – da wird etwa ein Turnier mit Schwerathleten veranstaltet zum Gedenken an die Helden von Tschernobyl.  

    Die Umdeutung der Tragödie zur Heldentat, zur „sportlichen Massenveranstaltung“ ist typisch für den derzeitigen russischen Bewusstseinszustand. Dort, wo es angebracht wäre, „einfach niederzuknien“, wie Wertinski sang, wird man dazu aufgefordert, auf Sprungtüchern herumzuhüpfen oder Feuerleitern rauf- und runterzuklettern. Man kann vom Katastrophenschutzministerium kein „tiefschürfendes Begreifen der Tragödie“ erwarten; dafür wird es sicher andere Veranstaltungen geben – doch die Tendenz wird kaum eine andere sein.

    Seit 2012 wird in Russland am 26. April der „Tag der Mitwirkenden an der Liquidation der Folgen nuklearer Unfälle und Katastrophen und des Gedenkens an die Opfer“ gefeiert, und dennoch vermeidet die derzeitige Regierung das Wort „Opfer“, wo sie nur kann.

    Sie verdrängt den Schmerz und die Tragödie aus dem Bewusstsein und setzt den Akzent auf das Heldentum (obwohl man die Liquidatoren in erster Linie zu den Opfern zählen sollte – von Ausmaß und Konsequenzen des Unfalls hatten sie 1986 wohl kaum eine Vorstellung.)

    Trauer ins Event-Format gepresst

    Trauer kann überhaupt nur schwer in ein Eventformat pressen. Am besten ist es, wenn Menschen von sich aus, ohne sich miteinander abzusprechen oder jemanden zu fragen, Kerzen anzünden oder Blumen bringen. Trauer verlangt jedoch das, was man eine „gut trainierte Seele“ und entwickelte ethische Instinkte nennt. Bei uns richtet sich Trauer nach der offiziellen Haltung, die die Regierung einnimmt: Millionen Menschen  in Russland haben gelernt, nur mehr gemeinsam mit der Staatsspitze zu trauern, und verlernt eigenständig zu fühlen.

    Vor fünf oder zehn Jahren lief an diesen Tagen normalerweise im Staatsfernsehen die Reportage „Das Leben in Prypjat heute“. Jetzt dagegen gibt es im russischen Fernsehen keine Reportage aus Kyjiw mehr, ohne dass die „Kyjiwer Machthaber“ abgeurteilt werden. Die heutige Ukraine – welch Ironie des Schicksals – ist in der Vorstellungswelt des offiziellen Moskau eine Art „politisches Tschernobyl“.

    Darauf, dass wir wenigstens an diesem Unglückstag (des Unglücks, in dem Russland und die Ukraine zum letzten Mal wirklich vereint waren) ein Wort des Mitgefühls für das Nachbarland zu hören bekämen, brauchen wir nicht zu hoffen. Ein Untertitel wie „Von der Ukraine geht nach wie vor Gefahr aus“ – das ist alles, was wir über die heutige Haltung der Staatsspitze zur Katastrophe von Tschernobyl wissen müssen.

    Schuld sind immer die anderen

    Am 15. April hat die Staatsduma eine Erklärung abgegeben „Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und zur Gewährleistung nuklearer Sicherheit im heutigen Europa“. Laut Tatjana Moskalkowa, der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees der Staatsduma für Angelegenheiten der GUS, „ist diese Erklärung einem einzigen Ziel verbunden:, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr bewusst zu machen, die vom verantwortungslosen Umgang der ukrainischen Regierung mit Atomenergie ausgeht“.

    „Wegen der verantwortungslosen Haltung Kyjiws hat die nukleare Sicherheit in dem an uns angrenzenden Land in den vergangenen Jahren gravierend abgenommen,“ sagt auch Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Komitees der Staatsduma für GUS-Angelegenheiten.

    Das Wort „verantwortungslos“ klingt milder als „Strafbrigaden“ oder „Junta“ – doch einziges Ziel ist es, einmal mehr die „Verantwortungslosigkeit der Ukraine“ zu betonen.      

    Unfähigkeit zu Trauern

    Angaben des russischen Vereins Tschernobyl zufolge starben nach dem Unglück rund 9.000 russische Liquidatoren, mehr als 55.000 trugen bleibende Schäden davon – das ist unser Leid, unser Unglück, nicht nur das der Ukraine oder von Belarus. Und genau so muss man davon sprechen. Jede Tragödie hat vor allem eine menschliche Dimension. Das ist der Kontext, in dem sie zu betrachten ist.

    Das Leugnen der „tragischen Dimension“ von Tschernobyl in Russland 2016 zeugt vom Verlust elementarer menschlicher Instinkte: Mitgefühl, Mitleid, Trauer.

    Vor 30 Jahren wurde eine technische Katastrophe zum Spiegel des moralischen Kollaps im Land. 30 Jahre später zeugt die Reaktion auf die Tragödie von Tschernobyl von einem ebenso katastrophalen Zustand der Gesellschaft heute – von genau demselben „mentalen Tschernobyl“.

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  • Die Plakat-Partisanen

    Die Plakat-Partisanen

    Mitten in Moskau war er zu sehen: Putin mit Panamahut à la Johnny Depp und der Frage „Welches Panama?“. Das Plakat prangte unmittelbar nach Veröffentlichung der Offshore-Recherchen auf Bushaltestellen im Stadtzentrum.
    Nach den harten Haftstrafen für Teilnehmer der Bolotnaja-Proteste und seit immer mehr Pikety von der Staatsmacht unterbunden werden, haben Russlands Kreative eine neue, stille und anonyme Form des Protests gefunden: Plakate.

    Jan Schenkman sprach für die Novaya Gazeta mit zwei Machern und stellt einige ihrer aufsehenerregendsten Aktionen vor.

    Sie sind plötzlich da. An Haltestellen, auf Werbetafeln. Wo sie das nächste Mal auftauchen, weiß man nicht. In der Uliza Pokrowka war es ein Plakat, das einen Gratis-Käse in einer Mausefalle zeigte. Hätte das womöglich Sozialmarketing sein können? Ohne weiteres, rein äußerlich war der Unterschied kaum zu erkennen. Bloß hatte der Käse auf diesem Bild die deutlich ausgeprägten Umrisse der Halbinsel Krim. Und tauchte just an dem Tag auf, als Russland die Angliederung der Krim feierte.

    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov
    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov

    Am 5. März, dem 63. Todestag Stalins, wurde ein neuer Slogan geboren: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere.“ Das ist ebenfalls ihr Werk. Der Text steht auf einem professionell gemachten Plakat, das plötzlich an den Haltestellen hing. Stalins Totenmaske und dazu dieser Spruch. Die Leute gehen vorbei und denken: „Haben wir etwa eine neue Regierung?!“

    Welches Panama?

    Auf den Offshore-Skandal neulich folgte dann eine vollends lakonische Reaktion: das Portrait des russischen Präsidenten in Gestalt eines der Protagonisten von Fear and Loathing in Las Vegas. Dazu die rhetorische Frage: „Panama? Welches Panama?“ Soll heißen: Wovon reden Sie, noch nie gehört … Und das alles mitten auf dem Moskauer Gartenring.

    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin
    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin

    Professionelle Plakatierer sagen, das sei alles keine große Kunst. Übermannshohe Werbebanner auszutauschen dagegen, das sei wirklich knifflig. Das erfordere Erfahrung im Industrieklettern und entsprechende Fähigkeiten. Die Vitrinenkästen hingegen könne man in der Regel mit einem Universalschlüssel oder einem gewöhnlichen Stemmeisen öffnen. Ist man zu zweit und hat etwas handwerkliches Geschick, dann sei die Sache in einer halben Stunde erledigt. Selbst im Dunkeln.

    Zumal die Aktivisten die meisten Plakate außen auf die Scheibe draufkleben, der Kasten also nicht einmal geöffnet wird. Und der materielle Schaden: verschwindend gering, es geht ja nichts kaputt. Na, und wie viel mag es kosten, den Glaskasten zu putzen? Höchstens 5000 Rubel [70 Euro].

    Putins größte Hits

    Die Aktionen der vergangenen Monate sind keineswegs die erste Attacke auf den städtischen Raum. Als der Präsident im vergangenen Dezember eine Pressekonferenz gab, tauchten am selben Tag in Moskau gleich zwei Plakate auf: Auf dem Plakat beim Theater Sowremennik hing die Ankündigung für die abendliche Vorstellung. [Gegeben wurde TschaikaDie Möwe von Anton Tschechow – dek.] Im Prinzip sah fast alles aus wie immer, nur unten links in der Ecke stand: Warum man die Möwen (ru. Tschaiki) nicht einbuchtet – Monolog, gelesen von Juri Tschaika. Eine eindeutige Anspielung auf [den Korruptionsskandal um] den russischen Generalstaatsanwalt.

    Das zweite Plakat sah aus wie eine Konzertankündigung des russischen Schlagerstars Filipp Kirkorow, bloß dass Wladimir Putin hier abgebildet war. „Auf allen Fernseh-Bildschirmen des Landes! Seine größten Hits!“ Darunter verschiedene Zitate: „2015 wird sich ein Drittel aller Russen eine Eigentumswohnung leisten können“, „Der Rubel fällt – die Einkommen steigen“ und weitere Sprüche dieser Art.

    Völlig neue Proteststrategie

    Diese Proteststrategie ist für Moskau vollkommen neu. Das heißt, ein paar Versuche gab es früher schon, doch jetzt wird sie zum Trend. In Zeiten, in denen sämtliche nichtgenehmigte und mitunter auch genehmigte Pikety und Kundgebungen unterbunden werden, sieht es so aus, als gäbe es im öffentlichen Raum keine andere Form mehr, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

    Und nicht nur in der Hauptstadt: Die Praxis verbreitet sich im ganzen Land. In der Nähe von Rostow war an einer völlig kaputten Straße ein Banner aufgetaucht mit dem Aufruf, die regierende Partei zu wählen: „Gib deine Stimme dem Einigen Russland, und dein Leben sieht so aus wie diese Straße hier.“ Wenn man genau hinschaut, stößt man in allen möglichen Städten auf solche Aktionen. Und das ist erst der Anfang.

    Keiner weiss, wie reagieren

    Auch die Anonymität irritiert die Leute. Bis heute wurde kein Mitwirkender an den Plakataktionen verhaftet. Und man kann ihnen ja auch nicht wirklich etwas vorwerfen: Es gibt keine vulgäre Sprache, auch keine Aufrufe zum Sturz der bestehenden Ordnung. Es geht einfach nur um den Witz, und der ist nicht einmal besonders boshaft. Die Behörden stecken in einer Sackgasse und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Okay – illegales Plakatekleben. Aber das ist auch alles.


    Jewgeni Lewkowitsch: „Ich wollte einfach, dass die Leute lächeln“

    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta
    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta

    Der Einzige, der sich zu dem Plakat mit Putin à la Kirkorow bekannt hat, ist der Moskauer Aktivist und Gründer der Vereinigung Julia & Winston

    „… der sich dazu bekannt hat” – das stimmt so nicht ganz. Wir haben unsere Urheberschaft nie geheim gehalten. Von Anfang an haben wir alles ganz offen gehandhabt, alles auf Facebook gepostet. Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts auf der Straße aufgabeln können. Es kommt sowieso aufs Gleiche raus. Die Leute werden eingebuchtet, weil sie irgendwelche Posts geteilt oder geliked haben, also wovon reden wir hier? Entweder man hat vor gar nichts Angst oder vor allem. Alles, was ich weiß, ist, dass sich die Firma, der die Plakatvitrinen gehören, beim Ermittlungskomitee beschwert hat. Aber ich verfolge das nicht weiter, ehrlich gesagt. Es kommt, wie es kommt.

    Wie viele Exemplare gab es insgesamt?

    Vier, wenn ich mich recht erinnere. Das Ganze ist eine ziemlich kostspielige Angelegenheit: Es sind selbstklebende Hochglanzposter, und dann in dieser Größe. Rund 15.000 Rubel [200 Euro] haben die vier Plakate gekostet. Und das war schon mit Rabatt, über Beziehungen.

    Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts von der Straße wegschnappen können

    Ich würde am liebsten ständig welche aufhängen, Ideen habe ich jede Menge. Aber woher soll ich jeden Monat 15.000 Rubel nehmen? Wir haben für die Aktion Geld im Netz gesammelt. Haben es direkt so formuliert: „So viel Geld, wie wir zusammenbekommen, so viel Plakate werden wir machen.“

    Putins größte Hits – Konzertplakat mit Zitaten des Präsidenten. Foto © Julia & Winston

    Und wie lange hat der Pseudo-Kirkorow gehangen?

    Bis zum nächsten Abend. Die Leute liefen vorbei und haben geguckt. Manche haben geschimpft, anderen hat’s gefallen. Und dann haben wir die Leute befragt, mit der Kamera: Welche Putin-Schlager kennen Sie? Manche dachten tatsächlich, es gebe ein Konzert und der Präsident würde auftreten und singen.

    Worum geht es mehr bei dieser Aktion – um Performance oder um politischen Protest?

    Es ist eher eine Notlösung. Sich mit Plakaten auf die Straße zu stellen ist heutzutage komplett sinnlos. Da steht man und niemand guckt, und wenn jemand guckt, dann das Zweite Operative Regiment der Polizei. Unser Plakat hing wesentlich länger als ich mit ihm auf der Straße hätte stehen können. Es ist größer, es ist farbenprächtiger, fällt doller auf, mehr Leute sehen es. Und ich riskiere in dem Moment nicht, verhaftet zu werden. Es ist in etwa das Gleiche wie ein Einzelprotest, aber um ein Vielfaches effektiver. Wenn das jemand als Performance begreift – bitteschön, aber ich persönlich sehe das nicht so.

    Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen

    Ich komme vom Punk, und aus meiner Sicht ist das mit den Plakaten eine ziemlich punkige Aktion. Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen. Unsere Stadt ist in dieser Hinsicht vollkommen tot, jede kleine Umtriebigkeit macht sie schöner.

    Das einzige, wogegen ich bin – man darf nicht zum Mord aufrufen. Ich fand schon unser Plakat „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere“ vom ethischen Standpunkt aus ziemlich an der Grenze. Jemandem öffentlich den Tod zu wünschen, das ist irgendwie naja. Man muss Mensch bleiben, sonst unterscheiden wir uns durch nichts von all diesen Blutsaugern.

    Aber ich kann auch Menschen nicht verurteilen, die in Extreme verfallen. Ich kann mich auch nicht immer beherrschen. Ich kenne eine Masse anständiger Leute, die Putin unterstützen. Wenn die auch nur ein böses Wort oder derben Ausdruck über ihn sehen, betrachten sie gleich die gesamte Opposition als übles Gesindel.


    Alexej Zwetkow, Schriftsteller, Theoretiker der linken Bewegung: „Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht einen Idiotentest.“

    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta
    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta

    „Das Verfahren ist altbekannt, es nennt sich Aneignung. Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen. Im Westen machen das die radikalen Linken, weil sie nicht an die Demokratie glauben. Sie betrachten sie als Spektakel, das die Eliten für die naiven Massen veranstalten.

    Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen

    Bei uns bezweifeln die Leute, die die Plakate kleben, dass ihnen das System auch nur die geringste Möglichkeit gibt, Politik mitzugestalten. Interessanterweise formuliert die Staatsmacht sämtliche Beanstandungen an den Plakaten in wirtschaftlichen Termini: nichtbezahlte Werbefläche, Eigentumsverletzung. Die politische Botschaft wird dabei in keiner Weise kommentiert. Es sei unbefugte Werbung, heißt es. Aber Werbung wofür? Für Protest?

    Das Plakat mit der Käsekrim hat eine doppelte Bedeutung: Auf der einen Seite die Krim als geopolitischen Köder, durch dessen Einverleibung die Staatsführer sich und alle anderen zur Isolation und dem Status von Ausgestoßenen verdammt haben.
    Auf der anderen Seite aber haben die meisten Kommentatoren sofort auf den Gratis-Käse in der Mausefalle abgehoben – was die Logik einer Welt offenbart, in der alles zur Ware wird und in der es einst überhaupt nichts mehr umsonst geben wird.

    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa
    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa

    Bei der Tschaika-Aktion hat man sich die Marke des Theaters Sowremennik [dt. Zeitgenosse – dek] angeeignet, ein fremdes Image mitbenutzt. In Europa wird in der Regel die Marke eines offenkundigen Gegners benutzt. Nun bringt kaum jemand das Theater Sowremennik mit staatlicher Propaganda in Verbindung, hier ging es offensichtlich um das Wortspiel.

    Interessanter ist das Plakat mit Stalin und dem Satz: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere”. Das hat das System als eindeutig gefährlich wahrgenommen, Polizisten versuchten sich vor das Plakat zu stellen und es zu verdecken, so dass die Leute es nicht fotografieren konnten.

    Doch kaum hatten sie das Plakat abgenommen, tauchten in der Stadt neue Plakate auf: mit demselben Text, aber einer Darstellung des ägyptischen Gottes Thot.

    Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht gewissermaßen einem Idiotentest: Ab welchem Niveau hört das System auf, einen Inhalt als gefährlich wahrzunehmen, was muss das für ein Bild sein, wie absurd muss es sein?

    Das war eine Revolution im Miniaturformat

    Die ersten Aneignungsaktionen gab es in den sechziger Jahren in Westeuropa und den USA, von jungen Rebellen, die sich Situationisten nannten. Die Aneignung war ihrer Meinung nach das Gegenstück zu der für den Kapitalismus grundlegenden Entfremdung. Und der war permanent Gegenstand ihres kreativen Spotts. Jede ihrer Aktionen war das Versprechen, dass die Menschheit die ganze Welt vereinnahmen und alles allen gehören wird.
    Das war eine Revolution im Miniaturformat: den Sinn von Plakaten, Reklameschildern oder den damals modernen Comics zu verändern, indem man ihnen einen subversiven Inhalt unterlegte.

    Diese Tradition hat sich bis heute gehalten. Globalisierungsgegner brachten [2008 bzw. 2009] jeweils täuschend echte eigene Versionen der New York Times und der ZEIT heraus. Perfekte Kopien in Schrift und Layout, in denen es hieß, die wesentlichen Ideen der Globalisierungsgegner seien Wirklichkeit geworden: die Ungleichheit werde abgebaut, die Kriege würden beendet, Börsenspekulationen verboten, Wohnraum sei von nun an kostenlos, die Welt auf dem Weg zu einer ökologischen Produktionsweise usw.
    So wurden, in spielerischer Form, virale Botschaften in die Welt gesetzt und die Losung „Eine andere Welt ist möglich!“ versinnbildlicht.

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    „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    Die Nachricht vom Mord an dem bekannten Journalisten Dimitri Zilikin erschütterte Ende März die russische Medien-Community. Zilikin, der unter anderem für Vedomosti und den Kommersant geschrieben hatte, war in seiner Petersburger Wohnung tot aufgefunden worden. Er war an dutzenden Messerstichen verblutet. Der Täter hatte außerdem Computer und Handy gestohlen und nach der Tat die Wohnungstür von außen verschlossen.

    Es sind Codes wie dieser, die alle kennen: Ein alleinstehender Mann, den man tot in seiner eigenen Wohnung findet. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, oft ist das Opfer zuvor beraubt worden. Die Publizistin Masha Gessen beschreibt in der New York Times in ihrem Artikel The Art of Reading Russian Obituaries (Die Kunst, russische Todesanzeigen zu lesen) diese Verschlüsselung von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle in Russland. Jeder weiß, worum es geht, aber keiner spricht darüber.

    Die geringe Akzeptanz von LGBT spiegelt sich auch in dem im Juli 2013 erlassenen Gesetz, das so genannte homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt – etwa eine positive Äußerung über Homosexualität in Anwesenheit von Kindern oder Minderjährigen.

    Colta.ru holt in vier Interviews mit einem Polizisten, einer Juristin und zwei schwulen Männern, die selbst Opfer homosexuellenfeindlicher Gewalt wurden, das Phänomen aus der Tabuzone.

    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress
    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress

    Alexej Lewaschtschew, Wirtschaftler

    Der Überfall geschah auf der Wassiljewski-Insel in Sankt Petersburg am 22. November 2015 gegen neun Uhr abends, im Tutschkow Pereulok. Nicht weit von der Metrostation Sportiwnaja. Ich trat aus dem Gebäude, in dem das LGBT-Filmfestival Bok o Bok („Seite an Seite“) stattfand, und ging Richtung Metro. Ich war allein.

    Plötzlich sah ich mich von irgendwelchen Typen umringt, von vorn versperrte mir so ein junger Muskelprotz den Weg, einer mit Schnurrbart. Das war nicht irgendein normaler Kerl, das war so ein Kampfsporttyp. Und hinter mir, wie wenn die Welpen auf die Jagd mitgenommen werden, so Jungsche. Wolfswelpen. Die werden mitgenommen, damit sie lernen, wie man jemanden angreift. Vielleicht waren sie noch nicht mal volljährig.

    Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen

    Die Typen sahen alle slawisch aus, keine Spur kaukasisch. Es war ein Gefühl wie im Krieg: die werden dich töten, einfach, weil du Soldat bist. Also es hat keiner mit mir gesprochen. Der Typ, der mir den Weg versperrte, sagte so was wie „Hallo Schwuchtel“ oder „Hier nimm das, du Schwuchtel“. Dann habe ich die Arme vor dem Gesicht verschränkt und nichts mehr gesehen.

    Zwei Rippen haben sie mir gebrochen und die Nieren verletzt. Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen. Als ich mich losreißen konnte, drehte ich mich um – da standen mindestens zehn Leute und skandierten: „Gute Schwuchtel – tote Schwuchtel“.

    Ich nahm die Beine in die Hand, rannte bis zur Uferstraße und rief sofort die Polizei. Wie ich gehörte habe, kam die Polizei später auch, doch sie fanden niemanden mehr vor, was offenkundig auch gar nicht ihr Interesse war.

    Der Rettungswagen las mich auf der Straße auf und brachte mich ins Marijnski-Krankenhaus. Sowohl den Ärzten als auch der Polizei erklärte ich, dass es sich um einen homophob motivierten Übergriff gehandelt hat. Mit der Polizei sprach ich am Tag des Überfalls allerdings lediglich am Telefon. Persönlich konnte ich die Ermittlerin erst eine Woche später treffen. Sie hieß Olga. Bei ihr machte ich im Beisein meiner Anwältin auch eine ausführliche schriftliche Aussage.

    Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, ich weiß nur zu gut, was die von LGBT halten

    Als ich bei der Polizei eintraf, war die Atmosphäre unangenehm. Ich hatte lauter Verletzungen, fühlte mich unbehaglich. Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, 50 Jahre alt bin ich jetzt, und ich weiß nur zu gut, was die bei der Polizei von LGBT halten.

    Die Polizisten sahen mich argwöhnisch und später geradezu feindselig an. Olga unterhielt sich kurz mit mir, gab mir drei Blätter, auf denen ich die Geschehnisse beschrieb. Sie nahmen meine Anzeige auf, doch die Täter wurden praktisch nicht gesucht. Selbst ein Strafverfahren leiteten sie erst auf Antrag meiner Anwältin ein, und zwar wegen „leichter Körperverletzung“ und ohne Hinweis auf den strafverschärfenden Umstand, dass es sich um ein Hassverbrechen handelte.

    Nach einiger Zeit wurde das Verfahren eingestellt, da die Identität der Täter „letztlich nicht festgestellt werden konnte“. Meine Anwältin legte bei der Staatsanwaltschaft Berufung ein, der Fall wurde anhand desselben Paragraphen noch einmal wiederaufgenommen, später aber auch wieder eingestellt.

    Zu Sowjetzeiten war die Miliz Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt, Homosexualität galt als Verbrechen. In den 90ern wurde das etwas besser, aber in den 2000er Jahren war alles wieder beim Alten.

    Maria Koslowskaja, Juristin der Petersburger Menschenrechtsorganisation LGBT-Netz

    In Petersburg setzte etwa 2012 eine Welle der Gewalt gegen Homosexuelle ein, die Situation hat sich deutlich verschärft. Vorher kamen Übergriffe wesentlich seltener vor, und selbst wenn es welche gab, sprang einem daraus nicht unverhohlene Homophobie entgegen. Die Täter sagten nicht: „Ich schlage dich, weil du schwul bist.“  Jetzt verteidigen sie das Anti-Propagandagesetz, und der Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Zunahme an Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand. Das Gesetz wird als Zeichen aufgefasst, dass solche Gewalt zulässig ist.

    Der Zusammenhang zwischen dem Anti-Propagandagesetz und der Zunahme der Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand

    Häufig handelt es sich um organisierte Kriminalität, um Erpressung. Oftmals gehen die Täter so vor wie früher die Bewegung Occupy Pedofiljaj („Occupy Pädophilie“): Auf Online-Kontaktseiten (der letzte Fall, mit dem wir befasst waren, lief über die Mobile Dating–App Grindr), manchmal auch in sozialen Netzwerken wie VKontakte, wird ein Fake-Profil eines – meist zwischen 18 und 20 Jahre alten – jungen Mannes erstellt. Dann wird das Opfer zu einem Date eingeladen, wobei darauf bestanden wird, dass es irgendwohin zu Besuch kommt. Dann lotsen sie es in eine Wohnung.

    Nach einer Weile kommt eine Gruppe junger Männer herein, manchmal mit Kamera, und sie fangen an, den Betroffenen zu beleidigen, Geld von ihm zu erpressen, sie nehmen ihm sein Telefon ab, schüchtern ihn ein, drohen, ihn in der Verwandtschaft und vor Kollegen anzuschwärzen, wenden physische Gewalt an.

    Oft nehmen sie ihm seine Sachen ab: Handtasche, Handy, Pass, elektronische Geräte. Wenn derjenige eine Bankkarte hat, wird er zum Geldautomaten eskortiert.

    Es gab Fälle, in denen die Täter dem Opfer den Pass abgenommen haben und später für die Rückgabe Geld forderten. Die extreme Form dieser Praxis sieht so aus, dass die Treffen von vornherein einzig mit dem Ziel der Gewalt und Misshandlung organisiert werden.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als „ausgedacht“ betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch

    In den meisten Fällen wollen die Opfer nicht zur Polizei gehen. Sie sind eingeschüchtert, haben Angst ihre sexuelle Orientierung zu offenbaren, darum wenden sie sich an uns.

    Ich selbst habe einmal jemanden begleitet, dem sie den Pass abgenommen hatten, wir gingen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Der Ermittler saß da und hielt sich an irgendwelchen nebensächlichen Details auf, dann schlug er vor, den Täter anzurufen, der natürlich nicht abnahm.

    Sein Kollege kam aus dem Dienstzimmer und ich hörte, wie er im Flur laut lachte und zu jemandem sagte: „Jetzt kommen hier die Schwuchteln zu uns – das fehlte noch, dass wir die schützen …“ Der Mann, der der Misshandlung und Erpressung ausgesetzt gewesen war, hörte alles mit.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als ausgedacht betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch. Von allen von uns zur Anzeige gebrachten Fällen wurde nicht in einem einzigen ordnungsgemäß ermittelt.

    2015 hat unsere Organisation LGBT-Netz 284 Fälle von Gewalt und Diskriminierung dokumentiert. Insgesamt haben im vergangenen halben Jahr 107 Menschen uns um Rechtsbeistand ersucht.

    Ein Unterleutnant der Polizei, Abschnittsbevollmächtigter im Nordöstlichen Verwaltungsbezirk von Moskau (auf eigenen Wunsch anonym)

    In meiner Dienstpraxis gab es das nicht, Hilfsgesuche von Homosexuellen. Aber ich habe auch nie gehört, dass man ihre Anzeigen einfach unter den Tisch fallen lässt. Weder von meinen Kollegen noch im Fernsehen habe ich so etwas gehört.

    Wir haben unsere Arbeit, und die erledigen wir, egal, welchem Glauben ein Mensch anhängt, welchen Lebensprinzipien oder welcher sexuellen Orientierung, das macht im Prinzip keinen Unterschied.

    Ich finde Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so

    Wenn hier zwei Schwule ankommen, die man verprügelt hat, dann nehme ich ihre Anzeige auf. Schließlich sind sie genauso Bürger wie alle anderen. Meine Meinung habe ich dabei sicher im Hinterkopf, aber meine Arbeit, die erledige ich. Wir haben ja auch noch Instanzen über uns, die uns auf die Finger schauen.

    Generell habe ich allerdings meine eigene Position, was das angeht. Ich finde  Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so. Ich weiß, dass diese Leute existieren, so in ihren eigenen Kreisen. Bitte,  da sollen sie leben, wie es ihnen passt. Hauptsache, sie tragen das nicht in die breite Gesellschaft.

    Solange sie sich in meiner Gegenwart genauso benehmen wie ganz normale Menschen, sich nicht mehr herausnehmen als jeder normale Mensch – solange ist mir das egal. Aber irgendwelche Zärtlichkeiten, oder wenn sie  sich gegenseitig anfassen und ich bin dabei – das lasse ich nicht zu.

    Wenn sie sich küssen – das ist echt abstoßend und unanständig, das will ich nicht, in meinen Augen ist das pervers, und dafür muss man sich irgendeinen Paragraphen ausdenken. Das Gesetz gegen die Homo-Propaganda unterstütze ich voll und ganz.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen

    Um ehrlich zu sein, hab ich in den 26 Jahren meines Lebens noch nie Schwule getroffen. Hab nie welche gesehen, hab nur irgendwie davon gehört, dass es so was gibt. Gesehen habe ich das nur auf YouTube, wie sie da ihre Paraden veranstalten, aber so hatte ich nie damit zu tun.

    Wenn jetzt zum Beispiel ein Freund von mir so einer wäre und ich das mitkriegen würde, würde sich meine Einstellung zu ihm ändern. Ich würde ein bisschen vorsichtig sein mit ihm. Nicht dass ich ihn verprügeln würde oder so … Aber wir hätten weniger Kontakt, ich würde nicht mit ihm durch den Park spazieren oder Eis essen gehen. Ich würde den Umgang auf das Nötigste beschränken.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen. Meine Kollegen bei der Polizei – das sind auch Menschen und die stehen dem auch ablehnend gegenüber.

    Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden

    Über solche Themen unterhalte ich mich mit meinen Kollegen natürlich nicht, da gibt es nichts zu unterhalten. Kann sein, dass mal ein Wort das andere gab und ein bisschen über diese Leute gekichert wurde. Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden.

    Wenn, sagen wir, zwei Schwule sich zur Wehr setzen und mit jemandem aneinandergeraten würden, dann würde ich das vom Standpunkt des Gesetzes aus betrachten. Aber innerlich wäre ich natürlich auf der Seite des normalen Menschen und nicht auf der des Schwulen. Ich würde ihm zu verstehen geben, wie er es anstellen muss, damit er das Gesetz nicht verletzt. Ich meine, wie er es klug anstellt, um aus der Sache als Sieger hervorzugehen.

    Alexander Smirnow, ehemaliger Assistent des Pressesprechers der Vizebürgermeisterin von Moskau im Bereich Bauwesen und Stadtentwicklung

    Das erste Mal, dass ich mit einem Mord an einem Schwulen unmittelbar zu tun hatte, war noch in Blagoweschtschensk. Das war 2003. Viktor war 39. Er war Leiter einer bedeutenden Immobilienagentur. Damals hatte ich Angst, dass die polizeilichen Ermittler anfangen, alle Leute zu überprüfen, mit denen der Ermordete am Tag zuvor telefoniert hatte. Meine Angst war nicht, dass man mich der Tat verdächtigen könnte, sondern dass meine sexuelle Orientierung öffentlich gemacht werden würde.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt

    Dann kam die Serie von Journalistenmorden in Moskau. Einzelne Hauptstadtmedien schrieben bereits offen über die Homosexualität der Opfer, zu denen Journalisten der Sender Erster Kanal, NTW, TV-Zentr und Expert-TV gehörten. Einige der Ermordeten hatte ich persönlich gekannt, und ich bekam das Gefühl, dass eine gezielte Jagd im Gange war. Im Grunde kam dieses Gefühl lediglich daher, dass der Mord an einem Journalisten für die Medien interessanter ist als der Mord an einem Verkäufer oder einem Buchhalter.

    Die Zahl der getöteten schwulen Journalisten ist auch deshalb so erschreckend, weil man sich automatisch fragt, wie hoch wohl die realen Homophobieopfer-Zahlen sein mögen.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt, Dimitri Okkert. Er arbeitete beim Fernsehen. Als er einmal zwei Tage lang nicht aufgetaucht war, ging sie in seine Wohnung, die Tür stand offen, der Freund war tot, an seinen Stichverletzungen gestorben.

    Ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf.

    Ich weiß noch, wie sie damals zu mir sagte: „Man darf keine Zufallsbekanntschaften mit nach Hause nehmen.“ Aber wie oft muss man sich mit jemandem treffen, bevor man ihn zu sich nach Hause einlädt? In meinem Fall kam es zu einem Übergriff, nachdem der Mensch vorher schon einmal bei mir gewesen war.

    2012 hatten wir uns kennengelernt, auf neutralem Boden, in Moskau, dann fuhren wir zu mir, hatten Sex. Nach einiger Zeit rief der Typ an und sagte, er wolle sich noch einmal mit mir treffen. Ich wohnte damals in Koroljow, wir fuhren mit der Elektritschka zu mir. Sein Komplize saß im selben Zug.

    Wir schlossen die Haustür auf, alles okay, ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf, ich verlor aber nicht das Bewusstsein und erkannte am Geruch, dass sie mir eine Bierflasche über den Kopf gezogen hatten. Ich drehte mich um und sah, dass der Typ einen abgeschlagenen Flaschenhals in der Hand hielt. Neben ihm stand der andere, den er unbemerkt hereingelassen hatte. Ganz normale Jungs, slawisches Aussehen, nichts Auffälliges. Der eine hielt mir die abgebrochene Flasche an den Hals, der andere setzte mir das Messer an die Kehle.

    Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war

    Ich war barfuß, trat auf die Glasscherben, doch ich fühlte keinen Schmerz. Ich blutete am Kopf. Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war. Ich konnte absolut nichts tun. Zwei Typen, bewaffnet, Fliehen war vollkommen sinnlos. Meine Kehle war knochentrocken. Ich konnte gerade noch denken, Scheiße, ich hab keine Angst zu sterben, aber zu so einem Tod bin ich nicht bereit. Das erste, was ich sagte, war: „Nehmt alles, den Computer, das Geld, aber lasst mich am Leben.“ Erniedrigend, aber so war es. Etwa eine Stunde lang quälten sie mich. Und dabei sagte der Typ, mit dem ich mich vorher schon getroffen hatte, allen Ernstes: „Wegen solchen wir dir ist mein Bruder jetzt auch schwul geworden.“ Sich selbst betrachtete er also nicht als schwul.

    Dann verlangten sie Beweise, dass ich niemandem etwas erzählen würde. Ich hatte einen coolen Job damals, wenn die dort erführen, was Sache ist, würden die mich entlassen, erklärte ich, und darum würde ich nicht zur Polizei gehen. Schließlich zwangen sie mich noch, mich auszuziehen, machten pornografische Fotos, nahmen mein Notebook, mein Handy und mein Bargeld.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen

    Erst wollten sie, dass ich mit meiner Karte Geld am Automaten abhebe, während sie danebenstehen, aber dann überlegten sie sich wohl, dass das nicht ungefährlich wäre, durchwühlten noch die ganze Wohnung und zogen ab. Als sie gingen, sagten sie, sie würden unten im Hausflur warten, sie wollten sichergehen, dass ich nicht um Hilfe rufe.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Dann holte ich mein altes Notebook heraus, schrieb einem Freund, er solle meine Chefin, die stellvertretende Bürgermeisterin, anrufen und sie informieren, dass ich nicht zur Arbeit kommen würde, ich sei auf der Straße überfallen worden und liege im Krankenhaus. Meine Kollegen wollten mich besuchen kommen, aber ich lehnte ab. Ich war nicht imstande, jemanden zu sehen.

    Als ich mit der besagten Freundin von mir sprach, meinte die nur: „Ich habe dich ja gewarnt.“ Doch ich brauchte etwas anderes, ich brauchte unterstützende Worte, und ich war enorm verletzt damals. Heute verstehe ich, dass es einfach zu schlimm für sie gewesen wäre, noch einen Freund zu begraben.

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen wieder

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Es hat mich extrem belastet, weiter in der Wohnung zu wohnen, auch in der Metro hatte ich Angst, ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen noch einmal wieder.

    Oft sind die Leute erstaunt, dass ich niemanden über die Sache informiert habe, mich nicht einmal um psychologische Unterstützung bemüht habe. Für mich war das so: Ich habe überlebt, aus und gut. Aber so ist das für russische Homosexuelle, wir müssen mit solchen Übergriffen selbst fertig werden. Denn nach der physischen Gewalt machst du ja noch die psychische Vergewaltigung in der Notfallambulanz durch, und bei der Polizei. Dabei sollte nicht das Opfer sich schämen, sondern der Täter. Unsere falsche Scham führt dazu, dass die Täter ungestraft bleiben.

    Mittlerweile bin ich seit 15 Monaten in den USA, ich habe einen Job als Lagerarbeiter. Ich mache Therapie … Also ich denke, ich bin wahrscheinlich so weit okay … Ich hab einen Dreizehnstundentag. Aber ich habe kein einziges Mal bereut, dass ich Russland verlassen habe.

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  • Das überschätzte Internet

    Das überschätzte Internet

    Das staatliche Fernsehen ist die wichtigste Nachrichtenquelle in Russland. Wie der Soziologe Denis Wolkow in seinem Beitrag auf Vedomosti schreibt, informiert sich gerade bei außenpolitisch wichtigen Ereignissen wie in der Ukraine oder in Syrien etwa die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich über staatliche Kanäle. Das Staatsfernsehen ist über Infrastruktur aus Sowjetzeiten überall gut zu erreichen. Unabhängige Online-Medien dagegen haben eine weitaus geringere Reichweite. Auch deswegen hängen die meisten Russen der offiziellen Darstellung aktueller Ereignisse an. Wäre das anders, wenn sich mehr Menschen über unabhängige Medien informieren würden? Denis Wolkow, der am renommierten Lewada-Zentrum forscht, kommt zu einem überraschenden Schluss.

    Das Wie, die Art und Weise der Berichterstattung, wird in Russland in den letzten Jahren immer wesentlicher von den staatlichen Fernsehsendern gestaltet. Und das trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets als Informationsquelle. Heute informiert sich ungefähr jeder fünfte Bewohner Russlands über verschiedene Websites und die sozialen Netze. Vor sieben Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent. All das geschah auf Kosten von Radio und Presse – deren Reichweite sank erheblich.

    Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts hat sich der Propaganda-Ton in Sendungen heftig verschärft. Dann haben die Fernsehsender fast zwei Jahre lang in einem Ausnahmemodus gearbeitet, ähnlich dem während des Georgienkrieges 2008.

    DAS INTERNET NICHT ZU HOCH BEWERTEN

    Die Bedeutung des Internets als Raum frei zugänglicher Informationen sollte nicht zu hoch bewertet werden. Wenn auch fast 70 Prozent der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet nutzen, beziehen je nach befragter Quelle nur 20 bis 25 Prozent der Russen Nachrichten aus dem Internet. Wobei der Hälfte von ihnen als Haupt-Informationsquelle Medien dienen, die Nachrichten aggregieren und nur selektive, bruchstückhafte Informationen bieten, ohne Kontext und Analyse.

    Unterteilt man das Segment der Nachrichten-Websites mit Hintergrundinformationen grob in regierungstreue und unabhängige, so ist die Leserschaft der unabhängigen Medien online sogar in etwa so groß wie die der regierungstreuen. Das ist nicht nur dem interessanten Content zu verdanken, den letztere produzieren, sondern liegt auch daran, dass die Redaktionspolitik erfolgreicher Online-Medien stark gesteuert wird.

    Lenta.ru beispielsweise, eines der beliebtesten Online-Nachrichtenportale Russlands (seine Leserschaft betrug in Moskau ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung, was mit der Publikumsgröße eines mittleren Fernsehsenders vergleichbar ist) verlor im Frühjahr 2014 seine Chefredakteurin [Galina Timtschenko – dek] samt Redaktion – infolge eines Konflikts mit dem Besitzer über die Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine. Das neue Onlineportal Meduza, das von einem Teil der einstigen Redaktionsmitglieder gegründet wurde, wird bisher von weniger als einem Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt.

    QUALITÄTSJOURNALISMUS IST NUR IN INFORMATIONSGHETTOS MÖGLICH

    Mit anderen Worten: Erfreut sich ein russisches unabhängiges Medium zunehmender Beliebtheit, riskiert es den Verlust seiner Unabhängigkeit. Qualitätsjournalismus ist in Russland nur in kleinen, vom Staat sorgfältig überwachten Informationsghettos möglich. Wobei ein großer Teil der russischen Bevölkerung außerhalb der Reichweite der unabhängigen Medien liegt.

    Insgesamt lässt sich das Publikum aller unabhängigen russischen Medien – also die Zahl jener Menschen, die Beiträge von wenigstens einem unabhängigen Medium lesen, hören oder sehen – mit 30 Prozent der Bevölkerung beziffern, in Moskau mit ungefähr 60 Prozent. Denn in der Hauptstadt, der größten russischen Metropole, ist die Medienlandschaft am vielseitigsten.

    Der Zugang zu Informationsalternativen bedeutet allerdings noch nicht, dass man ihre Meinung übernimmt. Und die Ansichten der oben genannten Bevölkerungsgruppe zur Situation im Land und zur Regierungspolitik unterscheiden sich praktisch nicht von den Meinungen der Gesamtbevölkerung.

    AUCH DIE INFORMATIONSELITE BEFÜRWORTET DIE KRIM-ANNEXION

    Merklich andere Meinungen finden sich nur bei den Mediennutzern, die die Entwicklungen der Ereignisse über verschiedene unabhängige Kanäle gleichzeitig verfolgen und dafür drei oder mehr unabhängige Informationsquellen nutzen. Aber das sind nur rund 10 Prozent der Bevölkerung, unter den Moskauern ungefähr 30 Prozent. Diese besonders gut informierten Bürger kann man als Informationselite Russlands bezeichnen, und gerade bei ihr ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bedeutend größer als in der Gesamtbevölkerung.

    Auch diese elitäre Gruppe unterstützt jedoch in großen Teilen das russische Regime (wenn auch die Werte niedriger liegen als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die Mehrheit von Lesern unabhängiger Medien befürwortet die Krim-Annexion, misst der Geschichte um den Tod der Pskower Fallschirmjäger keine große Bedeutung bei und freut sich, wenn von einem Schiff im Kaspischen Meer aus russische Raketen auf syrische Ziele geschossen werden.

    Diese Mediennutzer sollten besser als alle anderen Bescheid wissen, deshalb lassen sich ihre Ansichten nicht etwa damit erklären, dass sie zu wenig informiert seien, der offiziellen Propaganda blind vertrauten oder Geschichten über „gekreuzigte Jungen“ und „missbrauchte Mädchen“ glauben würden. Hier braucht es eine andere Erklärung.

    Untersuchungen zur Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Vorkommnisse in der Ukraine oder in Syrien zeigen, dass die Zustimmung zur russischen Ukraine-Politik maßgeblich mit einer besonderen Sicht auf das Geschehen zusammenhängt.

    RUSSLAND IST DAS GUTE, SEINE GEGNER SIND DAS BÖSE

    Die russische Propaganda zeichnet ein ziemlich primitives Bild, wonach Russland ausschließlich auf der Seite des Guten, des Friedens und der Ordnung steht, alle seine Gegner dagegen das Böse, Chaos und Gewalt verkörpern. Eine solche Auffassung des Geschehens gibt dem russischen Durchschnittsbürger ein Gefühl des Auserwähltseins. Gleichzeitig erscheint die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen als Beweis der wiedererwachenden Größe des eigenen Landes.

    Wie Teilnehmer aus den Fokusgruppen bei Diskussionen in soziologischen Untersuchungen meinen, „zeigt Russland die Zähne“, „zwingt es andere dazu, die Rechnung nicht ohne Russland zu machen“ und „ihm den nötigen Respekt zu erweisen“ und bringt anderen bei, wie man den internationalen Terrorismus bekämpft. Das erzeugt Befriedigung und vermittelt das Gefühl, bedeutend zu sein. Das Gefühl, am Wirken der Großmacht beteiligt zu sein, ist dem aufgeklärten russischen Publikum also genau so lieb und teuer wie dem russischen Durchschnittsbürger.

    Demgegenüber ist das Russlandbild, das unabhängige Medien zeichnen, weit weniger attraktiv: Hier wird Russland als Aggressor, Erpresser, Bremsklotz dargestellt. Weder Ruhm noch Respekt kann man hier ernten. Da ist es viel angenehmer, gegenüber all diesen unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen und einfach die offizielle Version des Geschehens zu übernehmen.

    Nach wie vor ist für die Russen also das staatliche Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle. Seine Bedeutung hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen, obwohl die Zahl der Internetnutzer im Verhältnis gestiegen ist. Unabhängige Qualitätsmedien sind nicht einmal im Internet die wichtigsten Nachrichtenvermittler. Die Frage, wie groß das Vertrauen der Russen ins Fernsehen ist, ist gar nicht entscheidend – das Bild, das es dem Großteil der Bevölkerung vermittelt, bleibt alternativlos.

    Aber sogar die bestinformierten Bürger, die in erster Linie unabhängige Medien nutzen und Zugang zu höchst detaillierten und objektiven Informationen haben, hängen mehrheitlich der offiziellen Darstellung an.

    Sogar bei den aufgeklärtesten Bürgern wird eine kritische Rezeption der Wirklichkeit durch Großmachtsambitionen blockiert. Es ist einfach zu betrügen – sowohl den, der keine Ahnung hat, als auch den, der sich selbst betrügen will.

     


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  • Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.

    Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.

    Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.

    Man wird ja wohl noch träumen dürfen?

    Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.

    In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?  

    Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.    

    Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.      

    Das sowjetische Russland war die arme Verwandte

    Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen –  das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.

    Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte.
    Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.

    Zwei gegensätzliche Traumata

    Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.   

    Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.

    Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.

    Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.  

    Falsches Selbstbild

    Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.

    Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.

    Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).

    Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.

    Russland braucht eine Entsowjetisierung

    Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.

    Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.

    Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.   

    Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.

    Für die Krim gelten eigene Regeln

    Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.

    Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.

    Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.

    Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden.  Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.  

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  • Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    F – S – B: diese drei Buchstaben haben heute in etwa die gleiche Signalwirkung wie früher KGB. Die Journalistin Olga Beschlej schildert aus eigener Erfahrung, wie der Geheimdienst mit ihr Kontakt aufnahm und welches Kopfkino das in Gang setzte: Ihr persönlicher FSB-Film beginnt mit einer turbulenten Wohnungssäuberung und gipfelt in einem riesigen rosa Vibrator.
    Ein Kabinettstück zu Überwachung und Überwachungsmanie, das diesen Monat im russischen Internet tausendfach geteilt wurde. Wir meinen: vollkommen zu Recht, und teilen den Text nun einmal mehr – auf Deutsch.

    Illustration © Darja Sasanowitsch
    Illustration © Darja Sasanowitsch

     

    „Werfen Sie mindestens eine nutzlose Sache pro Tag weg.“

                    – ADME, 10 Tipps, wie Sie Ihr Zuhause entrümpeln

    I.

    Unlängst war ich auf einer Veranstaltung, auf der erfahrene Journalisten und Autoren von Büchern über Geheimdienste erklärten, was man tun soll, wenn man einen Anruf vom FSB bekommt. „Auf keinen Fall“, sagten sie, „dürft ihr euch mit ihnen auf ein Treffen im Café einlassen. Lasst das Gespräch nicht in deren Dienststelle stattfinden. Geht keine informellen Beziehungen mit ihnen ein. Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt.“ Den erfahrenen Kollegen zufolge soll man sofort, nachdem einen der FSB kontaktiert und einen Gesprächstermin vorgeschlagen hat, in allen sozialen Netzen darüber berichten.

    Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt

    „Wenn ihr das nirgendwo bekanntgebt, dann schreibt der Agent, der euch angerufen hat, eine Dienstmeldung, dass der Kontakt hergestellt ist und man mit euch arbeiten kann. Irgendwann taucht er wieder bei euch auf. Daher stellt lieber gleich klar, dass ihr einen Knall habt und man mit euch lieber nichts am Hut haben soll. Dann schreibt der Mitarbeiter in seine Dienstmeldung: ‚Hat einen Knall.‘ Und ihr habt eure Ruhe.“

    Diese Anleitung fand ich äußerst beunruhigend. Denn ich war im August 2015 vom FSB zu einem informellen Gespräch geladen worden. Ich hatte abgelehnt, aber nirgends darüber geschrieben.

    Es wurde Zeit, diesen Fauxpas auszubügeln.

    II.

    Das war am 10. August 2015 gewesen.

    Tagsüber.

    Ich kann die Uhrzeit auch genauer sagen, denn um 13:35 schrieb ich meiner Chefin im Office-Chat: „Katja, ich krieg grad einen Anruf vom FSB.”

    Namen, Vornamen und Funktion des FSB-Mitarbeiters habe ich ebenfalls gespeichert. Als er sich vorstellte, habe ich sie gleich notiert. In irgendeinem Dokument, das ich gerade auf meinem Bildschirm offen hatte. Aber was das für ein Dokument war, weiß ich nicht mehr, und ich habe es noch nicht wiedergefunden.     

    Ich habe auch eine Aufnahme des Gesprächs. Auf meinem vorigen Telefon hatte ich ein Programm, das eingehende Anrufe automatisch aufzeichnete. Nicht am selben Tag, sondern erst viel später kam mir in den Sinn, dass diese Aufnahme wichtig sein könnte, und ich schickte sie an meine eigene E-Mail-Adresse. Letztens habe ich sie dort gesucht und festgestellt, dass ich mir regelmäßig E-Mails „ohne Betreff“ schicke, und fand da ein tatsächlich nicht unwichtiges Training für knackige Pobacken. Das Telefon von damals habe ich nicht mehr, also kann ich mir auch das Original nicht mehr anhören.

    Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst

    Im Endeffekt will ich darauf hinaus, dass ich gewissermaßen verantwortlich gehandelt habe, trotz des Schauders, der mich an der Kehle packte, als aus dem Hörer eine freundliche junge Männerstimme ertönte: „Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst.“    

    Der Anruf überraschte mich in der winzigen Küche meiner Mietwohnung. Ich saß im Pyjama an einem Text und aß gerade die letzten Bissen Rührei. Die Sonne überflutete den Tisch und wärmte mir die Hände. Es war schwül. Der Herr stellte sich vor und lud mich höflich zu einem Gespräch in eine der Dienstellen des FSB ein.  

    Mit Mühe brachte ich heraus:

    „Worum geht es?“

    „Das erfahren Sie bei dem persönlichen Treffen.“

    „Und warum nicht gleich?“

    „Nicht am Telefon.“  

    Einen Moment lang überdeckte pure Fassungslosigkeit alle sonstigen Gefühle in mir.

    „Wieso nicht am Telefon? Werden Sie etwa abgehört?“

    „Wer hört hier mit?“, kommt es verwundert aus dem Leitung.

    „Keine Ahnung. Ich sag das nur immer, wenn ich glaube, dass Sie mich abhören.“

    Wir schwiegen kurz.

    „Olga Iljinitschna, an welchem Tag, und zu welcher Uhrzeit würden Sie gern herkommen?“

    „Kann ich auch ablehnen?“

    „Würde ich Ihnen nicht raten.“

    „Und was passiert, wenn ich nicht komme?“

    „Das wäre nicht in Ihrem Interesse.“

    „Interessiert Sie meine Arbeit?“

    „Kann ich nicht sagen.“

    „Eine konkrete Geschichte?“

    „Ich habe nicht gesagt, dass wir Sie aus dienstlichen Gründen herbestellen.“

    „Sie interessieren sich also für meine Beziehung mit einem 47-jährigen, nicht arbeitenden Mann?“

    Der Mann in der Leitung stockte.

    „Nein.“

    „Aber die restliche Zeit verbringe ich ausschließlich mit Journalismus.“

    Wir schwiegen wieder ein wenig. Und da sagte ich, als ob in meinem Kopf plötzlich etwas angesprungen wäre:

    „Wissen Sie was, ich rufe wohl meinen Anwalt an.“

    III.

    „Hallo, bin ich beim FSB? Hier Beschlej!“

    „Hier ist nicht der FSB, ich habe Ihnen doch meine private Nummer gegeben!“, kommt eine genervte Stimme aus der Leitung. „Warum schreien Sie so?“

    „Ah. Weiß auch nicht. Damit Sie mich gut verstehen. Also, alle sagen, wenn keine offizielle Ladung vorliegt, dann muss ich nicht kommen.“

    „Wer – alle?“

    „Na, die Juristen und Journalisten, die ich kenne. Die sagen, ich kann ablehnen. Und wenn Sie eine Ladung haben, dann komme ich mit meinem Anwalt.“

    Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks 

    „Hören Sie, ich habe keine Ladung. Ich möchte Sie zu einem informellen Gespräch zu uns einladen, das Sie in keiner Weise gefährdet. Wovor haben Sie Angst? Wir sind ja nicht das Innenministerium. Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks .”

    „War das jetzt ein Scherz?“

    „Nein, wir machen das wirklich nicht.“  

    Wir schwiegen kurz.

    „Na, wie gesagt, ich komme nicht.“

    „Und wenn wir uns in einem Café treffen?“

    „Nein, ich komme trotzdem nicht.“

    Wir schwiegen wieder.

    In der Leitung raschelte es, als ob mein Gesprächspartner Seiten umblätterte.

    „Vielleicht haben wir unsere Bekanntschaft falsch angefangen“, sagte er nun ganz sanft. „Sie sind doch Journalistin. Sind Sie denn gar nicht neugierig, worüber ich mit Ihnen sprechen will?“

    „Nun ja … klar bin ich neugierig.“

    „Ihnen ist doch wohl bewusst, dass der FSB die einzige Quelle für wirklich hochwertige Informationen ist?“

    „Nun ja …“

    „Und Sie, Olga Iljinitschna, verweigern das Gespräch. Wissen Sie, wie viele Ihrer Kollegen eine solche Möglichkeit nie und nimmer ausschlagen würden? Und wissen Sie, wie glücklich viele Journalisten über so eine Gelegenheit wären?“

    „Glücklich?!“

    „Sie haben keine Ahnung, wie froh die Leute manchmal von uns weggehen!“

    „Froh?! Vom FSB?!“

    „Vom FSB! Wir sind Meister im Teamwork, von dem alle Beteiligten profitieren.“

    Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?

    „Aber Moment mal, wenn Sie schon Journalisten haben, zu denen Sie das alles durchsickern lassen, wozu brauchen Sie dann noch mich?“

    „Sie sind ein äußerst interessanter Mensch.“

    „Ich?“

    „Ungewöhnlich. Kreativ. Begabt. Ich würde sogar sagen … herausragend!“

    Etwas regte sich in mir. Der erbärmliche Teil meines Selbst, der immerzu gierig nach Lob und Anerkennung verlangte.  

    „Ach, kommen Sie, herausragend …“

    „Nein, wirklich. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Genuss ich Ihr Facebook lese. Diese Ironie, dieser Humor.“

    „Im Ernst? Sie lesen mein Facebook?“

    „Sie haben eine große Zukunft! Und Sie könnten uns helfen!“

    Wieder raschelte es in der Leitung.

    „Hier, zum Beispiel, am 5. März: ‚Ich will kein Büro-Nerd sein, ich werde jetzt Bond-Girl‘. Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?“

    Ich stellte mir vor, wie statt einem Aston Martin ein schwarzer Rabe bei mir vorfährt.

    „Nein.“

    IV.

    Die ersten Tage nach dem Anruf des FSB-Beamten war ich tatsächlich damit beschäftigt gewesen, allen meinen Bekannten davon zu erzählen. Wie ich später erfuhr, hatte ich intuitiv fast richtig gehandelt. Fast – denn ein schwerer Fehler war mir trotzdem unterlaufen.

    Würde ich jetzt eine Anleitung schreiben, was man tun und was besser lassen soll, wenn einen der FSB anruft, dann wäre der erste Punkt: ERZÄHLE ES NIE DEINER MAMA.

    „Olga! Du hast bestimmt ein Verfahren laufen!“

    „Aber nein, Mama, was denn für ein Verfahren, ich bitte dich …“

    „Ich sag’s dir!“

    „Es gibt doch nicht mal eine offizielle Einladung.“

    „Aber ein Verfahren!“

    „Was denn für eins?“

    „Irgendeins! Einfach so ruft einen der FSB nicht an! Am Ende sperren sie dich ein?!“

    „Ja, wofür denn?“

    „Wofür sitzen denn jetzt alle? Wegen irgendeinem Repost! Wegen vulgärer Sprache auf Facebook!“

    „Wegen vulgärer Sprache sitzt man noch nicht.“

    „Das sag ich dir jetzt als Mutter: Hör auf so schmutzige Wörter zu benutzen, Tante Tanja liest mit, wie soll ich der noch in die Augen schauen? Was sind das überhaupt für Ausdrücke, ein Mädchen wie du, schämst du dich nicht, wenigstens hast du aufgehört zu rauchen, ich kann nicht glauben, dass meine Tochter …“

    „Mama …“

    „Komm mir nicht mit ‚Mama‘! Der FSB ruft dich an! Am Ende machen Sie noch eine Hausdurchsuchung bei dir.“

    „Ja, wieso denn eine Hausdurchsuchung?“

    „Wieso gab es eine bei Sobtschak? Das arme Mädel, nicht mal anziehen durfte sie sich. Du wirst auch noch völlig nackt auf dem Flur stehen, das sag ich dir schon seit langem, du sollst zuhause Wollsocken anziehen, bei euch zieht’s von unten, durch diesen Spalt unten am Fenster …“

    „Mama …“

    „Olga, merk dir das. Wenn sie da sind, ruf mich sofort an. Ich komme.“

    Illustration © Darja Sasanowitsch
    Illustration © Darja Sasanowitsch

    V.

    Nach drei Tagen begannen dann seltsame Dinge mit mir zu geschehen. Beim Fensterputzen in der Küche fiel mir plötzlich auf, dass in die Außenmauer ein dicker Eisennagel eingeschlagen war. „Wenn sie kommen, kann ich da einen Beutel mit meinem Notebook aufhängen“, dachte ich und ärgerte mich gleich: „Na, da hast du ja was gefunden, worüber du dir den Kopf zerbrechen kannst.“

    Doch der Nagel ließ mir auch am nächsten Tag keine Ruhe.

    „Die schicken doch immer einen rund ums Haus. Der sieht dann, wie ich den Beutel aufhänge. Aber vielleicht auch nicht. Da steht ein Baum. Ich muss schauen, ob man unser Fenster von unten sieht. Verdammt, was soll der schon von dir wollen, du dumme Kuh.“

    Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos

    Weitere zwei Tage später stand ich mit Einkaufstaschen unter dem Fenster und versuchte den Nagel zu erspähen.    

    „Man sieht ihn.“

    Die Krise bekam ich in der Nacht auf den sechsten Tag. Ich wachte auf, als hätte ich einen  Stoß in die Rippen bekommen, und dachte: „Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos.“ Vor meinem inneren Auge erschien ein schmächtiger Mann um die 35. Hinter einem massiven Schreibtisch. In dunkelblauem Jackett, Krawatte und verschwitztem Hemd. Sein Gesicht kaum zu sehen, weil die Tischlampe auf mich gerichtet war.

    „Olga Iljinitschna, was soll denn das … nach außen hin so ein anständiges Mädchen. Was wird denn da Ihre Mama sagen?“

    Ich sprang aus dem Bett, riss den Schrank auf, zog die Kartons mit dem alten Technikkram heraus. Dieses Notebook funktionierte kaum mehr, doch ich schaffte es, es hochzufahren. Der Ordner mit den unseligen Fotos war so gut verborgen, dass ich ihn eine ganze Stunde lang suchen musste. Schlussendlich war alles gelöscht.

    Gut, dass ich die Fotos noch irgendwo auf CD habe. Shit

    Mir wurde ein wenig leichter. Ich versteckte den Computer wieder im Karton und ging ins Bett. Um die Fotos tat es mir ein bisschen leid. Ich hatte sie mit einer Freundin im vierten Studienjahr gemacht, und wahrscheinlich war ich nie so schön und fraulich wie auf diesen Fotos. Mein Blick so direkt und ruhig, als ob Stehen mit nackten Brüsten ganz normal für mich wäre. Gut, dass ich noch irgendwo die CD habe.

    Shit.  

    Die darauffolgende Stunde suchte ich sie.

    Ich durchwühlte die Kartons und fand eine verstaubte Plastiktüte. Das waren meine Schulsachen. Mir fiel ein, dass die Ermittler bei der Hausdurchsuchung von irgendeinem Oppositionellen die Schulhefte mitgenommen hatten. Ich griff in die Tüte und zog das Russischheft der fünften Klasse heraus. Ich schlug es irgendwo auf. Am Anfang der Seite stand in salatgrüner Kugelschreibertinte: „Diktat über Fremdwörter aus dem Französischen“. Unter der Überschrift tummelten sich Wörter wie „Builljon“, „Champinjon“ und „Kompanjon“. Mangelhaft.

    Ich musste daran denken, wie Mama über dieses Diktat gelacht hatte. Der Mann hinter dem massiven Schreibtisch wieherte auch, den Kopf zurückgeworfen: „Schau, Wassja, Builljon, Champinjon und Kompanjon, ahahahahahaaaa!“ Hinter seinem Rücken tauchte ein Schatten auf, den es ebenfalls vor Lachen schüttelte.

    Es war widerlich. Und dieses dumme, ach so niedliche Diktat schien mir plötzlich intimer als die gynäkologischen Ultraschallbilder, die ich schon in eine extra Tüte gepackt hatte. Ich nahm einen Koffer und legte die medizinische Unterlagen und Schulhefte dort hinein. Diese Sachen wollte ich am nächsten Tag zu einem Freund bringen. Dann kamen meine Notizblöcke von der Arbeit dran. Sie kamen mir alle plötzlich schrecklich kompromittierend vor: Putin und Nawalny auf jeder Seite, die Telefonnummern der Auskunftspersonen, Skizzen und Grafiken, Daten von soziologischen Umfragen, Sätze wie „lasst mich schlafen“ oder „fuck it all“ in den Ecken.

    Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel

    Bis fünf Uhr morgens schrieb ich alles Wichtige heraus und speicherte es in der Cloud, dann zerriss ich die Notizblöcke in winzige Schnipsel. Irgendwann suchte mich die Vorstellung heim, wie der Mann im blauen Jackett die Papierfetzen mit einer Pinzette zusammenfügen würde, doch mit Willenskraft zwang mich, dieses Bild aus meinem Kopf zu jagen.

    Wieder legte ich mich hin. Der Schlaf ließ lange auf sich warten. Ich wälzte mich hin und her. Sah zum Fenster hinaus. Horchte. Döste endlich ein. Träumte etwas Beklemmendes. Gegen sieben Uhr morgens wachte ich mit dem Gedanken auf, dass der FSB bloß nicht erfahren durfte, dass ich im vierten Studienjahr in einen Professor vernarrt war, zu Beginn des Magisterstudiums in einen Schauspieler am Theater Satirikon und in Jane Austens Mr. Knightley, der mir bis heute nicht egal ist.

    Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel.

    Um neun zog der Mann im Jackett meine Spitzenhöschen aus dem Wäschekorb und sagte: „Da haben wir sie, die Schmutzwäsche der Opposition.“ Ich warf die Waschmaschine an.

    Unterdessen wuchs der Müllberg.

    Ich habe mal in einem Artikel mit Tipps zum Ausmisten gelesen, wenn man alles Unnötige loshaben will, dann soll man jeden Gegenstand in die Hand nehmen, ihn ansehen und sich fragen: „Verspüre ich Freude über den Besitz dieses Gegenstandes?“

    Während meiner Vorbereitung auf die hypothetische Hausdurchsuchung stellte ich mir vor, wie ein fremder Mensch meine Sachen anfasst, und fragte mich dabei: „Verspüre ich Entsetzen?“

    Ich warf das Halloweenkostüm aus Schulzeiten weg, die gefakten Chanel-Stiefel, die Gay-Pornos und eine originalversiegelte CD mit einer bizarren Rede von Schewtschuk zur Geschichte Russlands. Das hätte ich alles schon längst wegwerfen sollen, doch jetzt war dieses Zeug nicht mehr überflüssig, sondern bedrohlich. Jedes Ding bekam eine neue Bedeutung.

    Ich wischte den Boden und die Regale. Räumte den Tisch auf.

    Endlich war alles fertig.

    Alles war sauber.

    Alles war leer.

    Im Zimmer zog es ordentlich, der letzte Staub senkte sich in der Sonne. Über den nassen Boden fegte ein kalter Luftstrom. Auf einmal fröstelte es mich. Ich erinnerte mich, dass in einer Schublade in der Kommode meine Wollsocken lagen. Ich öffnete auf gut Glück die unterste, wühlte in den dort vergessenen Klamotten und spürte plötzlich etwas Großes, Hartes, Geschmeidiges.   

    Ich bekam Gänsehaut, als mir einfiel, was dort lag.

    Der Mann im blauen Jackett steckte grinsend die Hand in die Schublade, pfiff beeindruckt und zog einen riesen, rosa Schwanz mit Schaltern zwischen den Anziehsachen hervor.

    „Der gehört nicht mir“, sagte ich.

    Der Mann drückte auf einen Schalter. Der Schwanz begann aggressiv zu zappeln.

    „Wer wird denn zuhause fremde Schwänze aufbewahren?“ merkte der Besucher zu Recht an.

    Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege

    Dieser Penis war ein Geburtstagsgeschenk meiner besten Freundin gewesen, das ich, verstört und fassungslos, schnell und sündig irgendwo versteckt hatte. Und da war er nun. Riesig, lang, in peinlichem Rosa. Stolz wie ein Jedi-Schwert. Das Excalibur der modernen Jungfer.

    Oh Gott, welche Schmach.

    Ich packte den rosa Penis und stürzte zu dem Koffer mit den Sachen, die ich zu Freunden bringen wollte.

    „Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege“, kommentierte das blaue Jackett.

    Ich hielt inne. Stimmt. Seinen Bekannten einen Koffer mit einem Notebook, Heften und Dokumenten zu geben – das ist das Eine. Einen Koffer mit einem Schwanz aushändigen … das kam mir auf einmal schrecklich unanständig vor. Sogar ein bisschen niederträchtig.

    Fast hätte ich ihn in den Müllsack gesteckt, doch dann sah ich den rosa Schwanz in den schrundigen Händen der Obdachlosen im Hof, der Hausmeister, der Müllmänner. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte mit dem Schwanz in der Hand durch die Wohnung. Es muss doch irgendwo einen Ort geben, wo nichts gefunden werden kann.

    Mein Blick wanderte über die leeren Regale, hinüber zu den Bücherbrettern. Hinter den gesammelten Aufsätzen von Dostojewski verstecken? Der Mann im blauen Jackett kicherte fies. Wohin? Wohin damit? Ich überflog die Buchrücken. In meinem Kopf blitzten Satzfetzen auf.

    Ein Mann ging aus dem Haus. Nach dem Tod ihres Mannes begann Sofja Petrowna einen Schreibmaschinenkurs. Sie spielten Karten beim Pferdetreiber Naumow. Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Ihr meine Lieben, ich küsse Euch. Ossja.

    Plötzlich versiegte die Energie, die mich stundenlang angetrieben hatte.

    Verschwand, als hätte es sie nie gegeben.

    In meinem Kopf wurde es leer und still.

    Und dann packte mich endlich eine maßlose Erschöpfung, ich legte den Schwanz entschlossen mitten auf den leeren Tisch und ging schlafen.  

    P.S.

    Der freie Schwanz, wie ich dieses Erzeugnis seither insgeheim nenne, liegt immer noch auf meinem Tisch. Manchmal findet ihn ein Gast unter Stapeln von Papier und Notizbüchern, betrachtet ihn staunend von allen Seiten und legt ihn zurück.


    Illustrationen: Darja Sasanowitsch

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  • Kleine Auszeit

    Kleine Auszeit

    Heroin-Junkies und Klosterzellen für VIPs, aber auch selbstlose Arbeit, fromme Demut und ein Besuch von Patriarch Kirill: Der Journalist Anton Krawzow hat einen Monat in einem Männerkloster verbracht und seine Eindrücke für Takie Dela aufgeschrieben.

    „Zuerst setzt du einen Schnitt entlang der Rückengräte“, erklärt Sweta und hält den kleinen Fisch in ihrer Hand hoch. „Man muss mit dem Messer hier reinstechen und vom Kopf her runterschneiden. Dann dasselbe auf der Bauchseite, aber ganz vorsichtig, damit man die Eingeweide nicht verletzt.“

    Sweta und ihr Sohn Mark kommen alle paar Monate ins Kloster – ein bisschen arbeiten, leben, beten. Genau wie mehrere hundert andere Menschen. Ungeschickt versuche ich, es Sweta nachzutun. Bald spüre ich meine Finger nicht  mehr. Der Fisch ist noch nicht ganz aufgetaut, aber wir haben keine Zeit: An die fünfzig Pilgermäuler gilt es zu stopfen.

    Die Ikone soll von Drogensucht heilen

    Das Gros der Bewohner des Wyssozki-Männerklosters in Serpuchow bilden ehemalige Alkoholiker, Junkies und Knastis. Die einen kommen in der Hoffnung auf Heilung, andere wollen „den Kopf klar kriegen“, die dritten haben einfach keine Bleibe.

     Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko
    Pilgerarbeiter Serjosha harkt Heu – Fotos © Alina Dessjatnitschenko

    Es heißt, das hiesige Heiligtum – die Ikone der Gottesmutter Unerschöpflicher Kelch – heile von Trunksucht und Drogenabhängigkeit, von Spielsucht und anderen Lastern. Diese wundersamen Eigenschaften hatte man bereits im vorletzten Jahrhundert beschworen. Während der Revolution war dann aber die Originalikone verbrannt und ein Teil der Bruderschaft erschossen worden. Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Ikone neu gemalt.Über eine dreckige Wanne gebeugt, wasche ich mir die nach Fisch stinkenden Hände. Die Gegenwart von Ikonen und Priestern sollte einen friedlich stimmen, denke ich bei mir, aber mir ist hier unbehaglich zumute. Ich warte auf das Ende des Abendgottesdienstes. Ich will ein letztes Mal die Ikone küssen, von hier verschwinden und nie mehr wiederkommen. Doch erst heute Abend wird es so weit sein.

    I. Ein Tag

    Der Wecker schrillt um halb fünf Uhr früh. In der stickigen Zelle hängt der Geruch nach Männersocken, es ist dunkel und heiß. Ich leuchte mit meinem Mobiltelefon in den engen Raum: In den Doppelstockbetten schlafen die Pilger. Ich ringe mit dem Wunsch, auf die ganze Sache zu pfeifen und mich in die dünne Kratzdecke zu mummeln, aber in anderthalb Stunden beginnt das Morgengebet, und ich muss vorher noch unter die Dusche.

    Durch die Gänge schallt das durchdringende Glockengeläut, das die Pilger zum Gottesdienst, zum Mittagessen, zum Abendbrot und zu ihren jeweiligen Diensten ruft. Die Konditionierung setzt schnell ein: Sobald die Glocke erklingt, springt man auf und rennt los.

    Benebelt vom Weihrauch

    Die Trudniki werden gesalbt
    Die Trudniki werden gesalbt

    In der leeren Kirche drücken sich die verschlafenen Pilger unschlüssig an den Wänden entlang. Der süßliche Geruch von Weihrauch umhüllt und benebelt. Macht noch schläfriger. Um das Gähnen zu unterdrücken, schöpfe ich mir aus einem großen Becken ein Glas kaltes Weihwasser. Das viele Verbeugen lässt meinen Rücken unerträglich schmerzen. Sich von der Heiligkeit der Handlungen durchdringen zu lassen – alle pressen ihre Lippen auf die Gebeine des Heiligen Afanassi des Jüngeren, des früheren Klostervorstehers – ist nicht ganz einfach.Eine Stunde später versammeln sich die Pilger zum Tee. Auf dem langen Esstisch des Refektoriums stehen Prjaniki, Kekse und Bonbons, Kannen mit starkem Teesud und heißem Wasser. Der Tee ist aber nur für die sogenannten Trudniki bestimmt – das sind Pilger, die länger als drei Tage im Kloster bleiben. Für ihre Arbeit bekommen sie freie Kost und Logis und werden gesegnet.

    „Wie oft soll ich es dir noch sagen: Wir müssen einen Plan machen und dort eintragen, wer heute die Zelle putzt“, sagt Sascha, mein Zimmernachbar.

    „Das haut sowieso nicht hin, jeder hat doch andere Dienste, ich hab keine Ahnung, ob ich heute putzen kann oder nicht“, erwidert der hagere Serjosha gereizt.

    Die jungen Männer rühren nervös Zucker in ihrem Tee und giften sich weiter an. Wenn die anderen Leute nicht wären, wären sie schon handgreiflich geworden.

    „Halt einfach deine beschissene Klappe, du Penner! Du machst mich echt krank! Putz ich eben alles selber!“, blafft Sascha und bittet seinen Nachbarn, ihm die Kekse zu geben.

    Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone

    Wieder ruft die Glocke. Die Trudniki versammeln sich lustlos vor der Ikone, wo sie der junge Mönch Anton erwartet, der als eine Art Brigadier fungiert und die Aufgaben für den Tag verteilt.

    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst
    Wieder ruft die Glocke: Auf dem Weg zum Gottesdienst

    „Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn Deines Vaters, der von Anfang ist, Du hast gesagt: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun …‘“, rattert Anton ohne Stocken herunter. Auf seinem Arm sind die Reste eines Totenkopf-Tattoos zu erkennen. Ohrlöcher hat er auch. Wir bekreuzigen uns und gehen unsere Dienste verrichten.„Haben Sie heute wieder Dienst im Refektorium?“, hält mich der Brigadier an.

    „Ja. Der Batjuschka hat ihn gesegnet. Er hilft uns“, schaltet sich der Refektoriumsaufseher Serjosha ein. Anton greift sich schweigend ein Paar dreckige Handschuhe und geht hinaus in den Regen an die Arbeit.

    Über dem Mönch Anton steht der Priestermönch Gleb. Er wacht über die Ordnung im Pilgertrakt. Über Gleb steht der Klostervorsteher Igumen Alexej und noch darüber – der Bischof von Serpuchow, Roman, den sie hier Wladyka, den Gebieter, nennen.

    Das erste, was man im Kloster lernt, ist: Demut und Unterordnung. Laufend sagt man: „Ja, Batjuschka. Gut, Batjuschka. Gebt mir Euren Segen, Batjuschka“, dann verneigt man sich und geht an die Arbeit.

    II. Der Patriarch

    Serjosha hantiert im Refektorium rum. Er weist den Neuankömmlingen ihre Unterkunft zu, ordert Lebensmittel für die Küche, gibt Bettwäsche aus, kümmert sich darum, dass genug Toilettenpapier da ist, läutet die Glocke. Wegen seiner runden Brille mit den dicken Gläsern hat er den Spitznamen Fara, der Scheinwerfer.

    „Der Batjuschka hat gesagt, wir haben außer den Pilgern und den Arbeitern auch noch vierzig Fahrer zu beköstigen. Für die machen wir Grütze“, überlegt er, die Ellbogen auf die Theke gestützt. Sweta und ich versuchen mal durchzurechnen, wie wir die Leute unterbringen.  Die zwei großen Speisesäle müssten bei mehreren Durchgängen für etwa zweihundert Leute reichen.

    Patriarch Kirill besucht das Kloster

    In ein paar Stunden soll Patriarch Kirill im Kloster eintreffen, um an den Feierlichkeiten zu Ehren des wundertätigen Bildes teilzunehmen. Alle haben sich lange vorbereitet: Die Trudniki sind praktisch nicht mehr zum Gottesdienst gegangen und haben alles hergerichtet. Der große Platz wurde mehrmals täglich gefegt, die Blumenbeete in den bestmöglichen Zustand gebracht, beim Haus des Wladyka wurde ein Podest für die Gäste errichtet.

    Die Pilger sind bereits am Vorabend angereist. Es gab nicht genug Schlafplätze in den Zellen: Sie haben auf dem Boden geschlafen, in der Kirche, in den Gängen oder in ihren Autos.

    Ein Trudnik füttert die Gänse
    Ein Trudnik füttert die Gänse

    „Unterstützt die Soldaten im Donbass“, greint eine dunkelhäutige Romni. Ich rede mich raus. Sage, dass ich kein Kleingeld dabei habe. Die Bettlerin verliert augenblicklich das Interesse und wendet sich dem Strom von Menschen zu, die den Patriarchen sehen wollen.Nach ein paar Minuten erscheint Patriarch Kirill. Junge Männer in langen Kutten sind ihm dabei behilflich, seinen Platz auf dem roten Samtthron einzunehmen. Aus den Lautsprechern strömen geistliche Gesänge. Kirill bekommt ein kleines Mikrophon ans goldene Ornat geheftet. Die Priester treten der Reihe nach vor, um sich segnen zu lassen, und küssen seine Hände. Staatsbeamte beobachten das Geschehen von der Bühne aus. Rechts neben dem nachdenklich wirkenden Gouverneur der Moskauer Oblast Andrej Worobjow steht Chirurg, der Anführer der Nachtwölfe, in seiner Bikerkluft: abgewetzte Lederjacke, Lederhose und Strickmütze. Chirurg hält den Kopf gesenkt und bekreuzigt sich in regelmäßigen Abständen.

    Ein Gedränge wie in der Metro

    Zwölf Priester tragen Brot und Wein in die Menge, doch die Gläubigen schenken ihnen keine Beachtung. Sie stellen sich in wirrer Reihe auf, um die heilige Kommunion aus den Händen des Patriarchen zu empfangen. Der lächelt freundlich, doch die Kommunion spendet er nur einigen wenigen. Die leer ausgegangenen Gläubigen drängen jetzt zu den einfachen Priestern hin. Die, die die heiligen Gaben empfangen haben, schubsen laut krakeelend bei den alten Mütterchen herum, die geweihtes Wasser und Hostien verteilen.

    Das alles erinnert ans morgendliche Gedränge in der Metro: Die Gläubigen versuchen, sich zum Weihwasser durchzudrängeln, rammen einander im Eifer des Gefechts die Ellbogen in die Seite und prügeln sich um das geweihte Brot. Eine Frau grabscht mit beiden Händen nach den Hostien und stopft sie in eine Tüte, tritt dabei irgendjemandem mit voller Wucht auf den Fuß. Es entbrennt ein Streit.

    III. Fara

    „Ich lebe jetzt schon fast zwei Jahre hier. Hab keine Wohnung. Draußen in der Welt wartet keiner auf mich. Von meinen 38 Jahren hab ich 22 hinter Gittern verbracht“, erzählt Fara, während er unruhig um die Ecke des Schuppens späht, hinter dem wir hocken und heimlich rauchen. Vater Gleb ist gerade mit dem Morgengottesdienst fertig, er könnte uns bemerken, wenn er zum Pilgertrakt hinübergeht.

    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher
    Die steinerne Einfriedung des Klosters, im Gebüsch verstecken sich manchmal die Raucher

    Rauchen ist hier streng verboten. Vor kurzem fand in der Klosteranlage eine Säuberung statt, und die Reihen der Trudniki lichteten sich. Einige wurden beim Qualmen erwischt, manche mussten infolge interner Intrigen gehen, andere weil sie faul gewesen waren.Die Regeln verbieten es, in den Klosterzellen Elektrogeräte, Smartphones, Radios oder sonstige weltliche Attribute zu benutzen, die vom Gebet ablenken. Nach dem Abendgebet ist Zapfenstreich (man soll sofort schlafen), und für die gebets- und arbeitsfreie Zeit wird die Lektüre orthodoxer Literatur empfohlen.

    Die VIP-Zelle ist auch bei Priestern beliebt

    „Das hier ist eins der strengsten Klöster. Nicht mal Steckdosen gibt es in den Zellen. In manchen Klöstern stehen Fernseher, aber hier weiß man nicht mal, wo man sein Telefon aufladen kann“, beschwert sich eine junge Pilgerin, die im Refektorium hilft (Frauen dürfen hier nicht länger als drei Tage bleiben).

    So ganz stimmt das nicht, die strengen Regeln gelten nur in den Gemeinschaftszellen. Im Erdgeschoss des Pilgertrakts ist ein Zimmer mit separatem Eingang, Dusche, Toilette und Bidet. Außerdem gibt es dort einen Kühlschrank, einen elektrischen Wasserkocher, drei bequeme Betten und sonstige Zivilisationsgüter. Die VIP-Zelle ist nicht nur bei begüterteren Pilgern, sondern auch bei durchreisenden Priestern beliebt.

    In einer kleinen Abstellkammer schlüpft Fara in seine Kochkluft. Das weiße Hemd ist ihm zu groß, er krempelt die Ärmel hoch. Vor dem Spiegel steckt er die Kochmütze fest, die ihm sonst über die Augen rutscht. In ein paar Minuten muss der Korb mit dem Mittagessen beim Wladyka im Vorzimmer sein. Fara ist nervös und springt hektisch herum. Bemüht, keine Suppe zu verschütten, weicht er in seinen Gummischlappen geschickt den Pfützen aus.

    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes
    Kadetten aus Serpuchow warten auf den Beginn des Gottesdienstes

    Als wir ein paar freie Minuten haben, setzen wir uns und machen Kaffeepause: Manchmal bekommen die, die im Refektorium arbeiten, welchen vorbeigebracht.„Höchstwahrscheinlich will ich weg hier. Es ist nicht gesagt, dass ich da draußen nicht wieder zu tief in Glas schaue, aber irgendwie haben sie mir Arbeit in Aussicht gestellt und ein eigenes Dach überm Kopf“, sagt Fara und rührt in seinem Lieblingsbecher. „Ich bete zu Gott, dass er mir eine gute Frau gibt. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Muss mich noch mit Vater Gleb beraten.“

    Nach dem Päuschen mache ich mich auf zu meiner Arbeit. Neben der Hauptkirche graben wir die Gebeine der hier bestatteten Teilnehmer an der Schlacht auf dem Kulikowo Pole aus. Als wir mit der Arbeit fertig sind, legen wir die Knochen in einen vom Regen durchnässten Korb. Die sterblichen Überreste sollen am Ende des Sommers beigesetzt werden, so heißt es.

    IV. Sascha und Ljocha

    Sascha habe ich vor einer Woche kennengelernt, als er am Kircheneingang Geld und Zigaretten schnorrte.

    „Ich habe keine Wahl, weißt du. Das Kloster ist mein Zuhause. Am Anfang war alles ganz lustig: Gras, Amphetamine, Heroin. Ich hab‘s alles vermasselt. Hab meinen Pass verloren, als ich mir Tropicamid gespritzt hab, in so einem kleinen Wäldchen war das. Ich wollte nur fünf Minuten dahin, und dann bin ich eingeschlafen.“

    „Und wovon lebst du und bezahlst deinen Stoff?“

    „Je nachdem. Die Batjuschki geben mir was und die Leute, die in die Kirche gehen.“

    „Und die geben dir direkt was für Heroin? Oder sitzt du einfach vor der Kirche und bettelst?“

    „Ja, früher manchmal auch vor der Kirche, in einer Kirche in Petersburg kennen die mich alle. Die Batjuschki geben mir zehn oder auch zwanzigtausend, wenn sie sehen, dass ich abdrifte, damit ich wieder auf die Beine komme. In der Kirche hole ich mir auch was zum Anziehen und Essen.“

    Vater Alexej würde auch als Offizier durchgehen

    Sascha trägt altmodische weite Jeans, einen ausgeleierten orangefarbenen Pullover und weiße Stiefel. Er sieht aus wie eine Mischung aus einem 2000er Jahre-Teenager und einem jungen Bahnhofspenner. Er habe von der Kirche in den letzten anderthalb Jahren insgesamt mehr als zweihunderttausend Rubel bekommen, behauptet er.

    Wir graben um und säen neuen Rasen. Von Zeit zu Zeit kommt Vater Alexej vorbei, ein groß gewachsener, kräftiger Mann. Würde er seinen Priesterrock gegen eine Uniform tauschen, ginge er glatt als Offizier der russischen Armee durch.

    „Du hast mir doch gesagt, du hast bis zwei Uhr die Erde hergeschafft!“, schnauzt Vater Alexej Sascha mit unverhohlenem Ärger an.

    „Ich hatte noch andere Aufgaben, Batjuschka“, versucht sich Sascha schuldbewusst zu rechtfertigen und sagt, er habe heute Dienst am Zentraltor und müsse am Buffet helfen.

    „Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Und das ist das hundertste Mal jetzt. Pack deine Sachen und scher dich fort!“

    Batjuschka, bitte. Es wird nie mehr vorkommen. Ich kann doch nirgends hin. Schauen Sie, hier ist Eure Erde.“

    „Die wird jetzt nicht mehr gebraucht. Pack deine Sachen, und morgen ziehst du ab. Und komm ja nicht wieder!“ Vater Alexej hat keine Lust mehr sich zu unterhalten und greift nach der Harke. Bald soll irgendein hochrangiger Geistlicher anreisen, heißt es.

    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.
    Nach der Heumahd: Ein Trudnik schafft die Geräte fort.

    Ein paar Tage später kommt Sascha zugedröhnt wieder an, und sie lassen ihn nicht rein.Auf dem kleinen Vorplatz vor der Kirche sind nur noch Trudnik Ljocha und ich übrig geblieben. Seine Arme sind mit Gefängnistattoos übersäht. Wir haben beide eine dreijährige Tochter da draußen vor den Klostermauern. Bloß dass er kurz vor der Scheidung steht und ich schon frei bin. Ich frage ihn, was er so gemacht hat in seinem weltlichen Leben.

    „Drogen verkauft hab ich. Dann war ich im Knast.“

    „Kriminelle Sachen“, meint Ljocha, ohne seine Arbeit mit dem Spaten zu unterbrechen. „Drogen verkauft hab ich. Gras, Schnee – was am meisten Geld gebracht hat. Dann war ich im Knast.“

    Er zieht sich die dreckigen Handschuhe aus, zieht das laut klingelnde Telefon aus der Tasche, hört etwa eine Minute schweigend zu, stopft das Handy wieder in die Tasche, wirft den Spaten weg und geht.

    „Meine Frau hat sich volllaufen lassen, fleht mich an, ich soll sie nicht verlassen, sonst tut sie sich was an. Die dumme Schlampe. Ich muss zu ihr fahren.“

    Und dann fährt Ljocha tatsächlich zu seiner Frau.

    V. Vater Nifont

    Am Morgen bitte ich Anton, mir einen Dienst in der Kapelle der Iwerskaja-Ikone der Muttergottes zuzuteilen, auf einem kleinen Gehöft mit Hühnern und einem Gemüsegarten. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, das Klostergelände zu verlassen.

    Über das Gehöft wacht Vater Nifont, ein Mann von massiger, stämmiger Gestalt. Seine langen Haare und der Bart werden von einem Gummi zusammengehalten. In der Tasche seiner Kutte piept ununterbrochen eins seiner Smartphones: täglich an die 400 Nachrichten bekommt er von seinem Kirchenvolk.

    „So, ihr Süßen, einen Moment Geduld noch, gleich hacke ich euch alles klein“, sagt Vater Nifont zu den Hühnern und kippt den Inhalt mehrerer Eimer auf ein Schneidbrett. „Die Hühner können die großen Stücke so schwer fressen, deswegen muss man ihnen die Rinden und die Schalen zerkleinern. Sonst picken sie sie nur von allen Seiten an. Die haben ja schließlich keine Zähne.“

    Im weltlichen Leben war Vater Nifont Unternehmer. Er war in leitenden Positionen tätig, doch dann beschloss er, sich ganz der Kirche zu verschreiben. Was einem einiges mehr abfordert, als das Unternehmertum.

    Als Strafe darf Vater Nifont kein Kreuz tragen

    „Priester schlafen nur ein paar Stunden pro Nacht. Man muss früh raus, sich auf den Gottesdienst vorbereiten und beten. Dann ist man mehrere Stunden in der Kirche, danach geht man wieder in die Zelle und bereitet sich auf den nächsten Gottesdienst vor“, erklärt er, während er die Gemüsereste auf die Futtertröge verteilt. „Es ist schade, wenn über die Priester gesagt wird, sie seien gefräßig und fett geworden. Ich habe heute zum Beispiel noch nichts gegessen. Anständig zu essen schafft man nur einmal am Tag.“

    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.
    Serjosha in der Spülküche: Die Arbeit im Kloster geht nie aus.

    Vater Nifont unterscheidet sich von den übrigen Mönchen dadurch, dass man mit ihm offen sprechen kann. Bei der sonntäglichen Beichte hatte ich mich ganz bewusst für ihn entschieden, doch es wurde nichts daraus. Wegen irgendeiner Verfehlung darf er wohl keine Beichte abnehmen. Ihm wurde eine Strafe auferlegt: Man hat ihm verboten, das Kreuz zu tragen, und ihn aus seiner Gemeinde bei Moskau für ein Jahr ins Kloster abkommandiert.„Ich bin hier sozusagen im Außendienst. Gott sei Dank hat das bald ein Ende“, sagt der Priester und zeigt mir ein Foto seines Lieblingshundes – einer französischen Bulldogge.

    VI. Die Abreise

    Heute habe ich Dienst beim Zentraltor und stehe darum noch früher auf: Das Tor muss geöffnet werden, bevor der Gottesdienst beginnt. Die massiven Türen krachen gegen die Mauer. Ich werde den ganzen Tag hier verbringen, und ich werde Müll aufsammeln, am Buffet helfen, aufpassen, dass keine Bettler aufs Gelände kommen.

    Zu meinem Dienstbeginn trifft Ljocha wieder im Kloster ein. Bevor er die Kirche betritt, bekreuzigt er sich und verneigt sich bis zur Erde. Ich frage, wie es gelaufen ist.

    „Beschissen ist es gelaufen. Meine Frau ist tot. Morgen ist die Beerdigung. Hast du vielleicht ne Zigarette?“

    Wir schlagen uns schweigend in die Büsche.

    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.
    Die Empfängnis-Kathedrale. Serjosha macht sich fertig zum Glockenläuten.

    „Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und was ich meiner Tochter sagen soll. Wo ist Mama, fragt sie. Mama ist weggefahren.“ Ljocha steckt sich die nächste Zigarette an und geht in die Hocke, damit er vom Glockenturm aus nicht gesehen wird.Nach dem Mittagessen nimmt Vater Gleb mich beiseite.

    „Was fällt dir ein, dich nicht an die Vorschriften zu halten? Man beschwert sich über dich. Du hast also sogar mit Armbinde noch geraucht.“

    Mich zu rechtfertigen oder aufzuklären, wer mich verpetzt hat, ist sinnlos. Ich verspreche, es nicht wieder zu tun. Der Batjuschka schimpft, er habe die Nase voll und sei drauf und dran, allesamt auf der Stelle fortzujagen.

    Nach dem Abendbrot und dem Gebet gehe ich das Außentor schließen. Das Klostergelände ist praktisch nicht beleuchtet, als Taschenlampe dient mir mein Smartphone.

    „Komm ja nicht wieder!“

    „Was schleichst du hier herum?“, fährt mich eine Stimme aus dem Dunkeln an.

    „Ich habe das Tor geschlossen, Vater Gleb. Und jetzt bin ich auf dem Weg zum Pilgertrakt.“

    „Du denkst wohl, du kannst mich zum Narren halten? Mir reicht´s jetzt. Morgen kannst du nach Hause fahren. Und komm ja nicht wieder!“

    Er verschwindet in der Finsternis. Ich widerspreche nicht, versuche mich nicht zu rechtfertigen, ich lege mich einfach schlafen. Am nächsten Morgen packe ich ganz in Ruhe meine Sachen.

    Am Ausgang begegne ich Vater Nifont. Als wir uns verabschieden, schaut er sich verstohlen um und zieht das große Kruzifix aus der Tasche, das man ihm untersagt hatte zu tragen.

    „Na dann, geh mit Gott. Auf Wiedersehen“, sagt er und segnet mich.

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    Presseschau № 21

    Während die russischen Medien den Internationalen Frauentag mit Reportagen über die besten Geschenke für Frauen und einem Grußwort des Präsidenten feiern, erschüttert den russischen Sport ein Dopingskandal um Tennisspielerin Scharapowa. Der Urteilsspruch im Prozess um Militärpilotin Sawtschenko wird vertagt, woraufhin diese ihren Hungerstreik ausweitet und auch aufs Trinken verzichtet. Und im Nordkaukasus erfolgen Anschläge auf Menschenrechtler und Journalisten.

    Internationaler Frauentag. In Russland begann diese Woche mit einem viertägigen langen Wochenende: Der am 8. März begangene Internationale Frauentag hat schließlich den Rang eines gesetzlichen Feiertags – und ein von den ohnehin langen offiziellen Neujahrsferien abgeknapster arbeitsfreier Tag war per Regierungserlass auf den Montag geschoben worden. Vom einstigen revolutionär-feministischen Ansatz des Frauentags ist bei den Russen nicht mehr viel übrig – es handelt sich vielmehr um einen Tag der ritualisierten Beschenkung und Beglückwünschung aller Frauen durch die Männerwelt (zwei Wochen vorher, am 23. Februar, dem „Tag der Vaterlandsverteidiger“ läuft es andersrum). Auch der (geschiedene) Präsident macht da keine Ausnahme und gratuliert der Damenwelt artig per Grußwort.

    Russlands Medien widmen sich zu diesem Datum einmal ausführlich „Frauenthemen“ – etwa mit einem Ratgeber, was Mann keineswegs zum 8. März verschenken sollte (Staubsauger, Unterwäsche, Schmuck), einer psychologischen Analyse, warum russische Frauen riesige Blumensträuße mögen oder einem analytischen Bericht, was unter „orthodoxer Mode“ zu verstehen ist – und warum diese in Russland immer beliebter wird.

    Prozess um Sawtschenko.  Doch zurück in die harte russische Nachrichtenrealität, wo unabhängig vom Feiertag gegenwärtig zwei Frauen im Mittelpunkt des Medieninteresses stehen: Nadeschda Sawtschenko und Maria Scharapowa.

    Immer dramatischer entwickelt sich der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Sawtschenko – deren „unverzügliche Freilassung“ inzwischen auch die Bundesregierung fordert. Moskau wies derartige Forderungen seitens der USA bereits als „Einflussnahme auf das Gericht“ zurück. Sawtschenko wird vorgeworfen, während der Kämpfe in der Ostukraine Artilleriefeuer korrigiert zu haben, was zum Tod zweier russischer TV-Journalisten führte. Sie selbst betrachtet sich als unschuldig, die russische Justiz für nicht zuständig und beteuert, nach Russland entführt worden zu sein. Eigentlich steht nur noch die Urteilsverkündung aus – und kaum jemand zweifelt daran, dass das Urteil in etwa der Forderung der Staatsanwaltschaft nach 23 Jahren Haft entsprechen wird.

    Doch als letzte Woche der Prozess vertagt wurde, bevor Sawtschenko ihr schon auf Facebook veröffentlichtes Schlusswort halten konnte, trat die kämpferische Angeklagte aus Protest gegen die Verzögerung in einen trockenen Hungerstreik und trank nichts mehr. Sechs Tage später, am Mittwoch dieser Woche, inzwischen nahm sie wieder Flüssigkeit zu sich, konnte sie ihr Schlusswort halten: Ausgezehrt stieg sie auf die Anklagebank und zeigte dem Gericht den Stinkefinger, berichtet die Novaja Gazeta. Den Text verlas dann ihr Dolmetscher: Man werde sie so oder so zurück in die Ukraine schicken, tot oder lebendig, heißt es darin. Denn Sawtschenko hungert schon seit zwei Monaten, in einer Woche will sie auch wieder auf das Trinken verzichten, doch die Urteilsverkündung ist erst für den 21. und 22. März anberaumt.

    Dopingskandal. Das Doping-Eingeständnis des russischen Tennis-Weltstars Scharapowa schockierte die russische Sportwelt – genauso wie die Tatsache, dass immer mehr Fälle der Anwendung des seit Jahresbeginn von der Welt-Anti-Doping-Agentur verbotenen Präparats Meldonium bekannt werden. Eine ganze Reihe russischer Eisschnellläufer wurde positiv getestet – und muss nun mit langen Sperren rechnen. Während Scharapowa ihren Fehltritt mit Unaufmerksamkeit beim Lesen der entsprechenden Verbote erklärte, sieht der russische Eisschnelllaufverband Saboteure und Intriganten am Werk: Konkurrenten aus dem eigenen Team müssen den Spitzensportlern das Mittel untergeschoben haben, erklärte Verbandschef Alexej Krawzow. Vorrätig hatten es wohl viele, denn laut Sportmediziner Kirill Raimujew nahmen „100 Prozent aller russischer Leistungssportler“ das Präparat ein.

    Meldonium in Form des Herzmedikaments Mildronat – erhältlich in jeder russischen Apotheke, 40 Kapseln für  250 bis 300 Rubel – gehörte in Russland in den letzten drei Jahrzehnten zur Sportler-Standardernährung und galt als absolut harmlos, schreibt auch die Sport-Webzeitung championat.ru und fleht Scharapowa geradezu an, jetzt nicht die reuige Sünderin zu spielen, sondern mit ihrer Finanz- und Medienmacht zum Wohle aller russischen Sportler für die Rehabilitierung des Mittels wie seiner Anwender zu kämpfen. „Das kann nur sie tun. Unsere Flaggenträgerin. Niemand anderes wird man mehr hören. Zu spät. Russe – das heißt Doping. … Mascha, rette uns!“

    Selbst der Wirtschaftspresse ist der Fall Titelstories wert. Schließlich war Scharapowa mit einem Jahreseinkommen von zuletzt 30 Mio. Dollar die bestbezahlte Sportlerin der Welt, berichtet rbc.ru. Zu drei Vierteln kam das Geld aus Werbeverträgen. Doch Nike, Porsche und TAG Heuer beendeten bereits die Zusammenarbeit mit Scharapowa, schreibt der Kommersant.

    Überfall auf Journalisten im Nordkaukasus. Zu den negativen Nachrichten muss der brutale Überfall auf eine Gruppe Journalisten und Menschenrechtler in Inguschetien gezählt werden. Ihr Kleinbus wurde am Mittwoch auf der Fahrt von Inguschetien nach Grosny auf freiem Feld von etwa 20 Maskierten in drei Autos angehalten. Die neun Insassen wurden zusammengeschlagen, teilweise ausgeraubt, als „Verräter“ beschimpft und der Bus der NGO Komitee zur Verhütung von Folter in Brand gesetzt. Vier Betroffene kamen ins Krankenhaus, darunter zwei Journalisten aus Norwegen und Schweden. Die Webseite Mediazona, deren Korrespondent ebenfalls zu den Opfern gehört, berichtete mit einem Newsticker über die Ereignisse – denn am gleichen Tag drangen auch unbekannte Täter in das Büro der NGO in Inguschetien ein. Die inguschetischen Behörden haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die tschetschenische Führung wies Vorwürfe zurück, die anti-oppositionellen Appelle von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten zu derartigen Gewaltauswüchsen führen.

    Ölpreis. Zu den wenigen positiven Nachrichten der Woche gehört jene, dass der Ölpreis wieder steigt. Brent kostet nun wieder über 40 Dollar, analog stieg der notorisch schwachbrüstige Rubelkurs auf den bisher höchsten Wert der Jahres. Doch die Krise ist nicht vorbei. Fundamental hat sich auf dem überfluteten Ölmarkt nichts geändert, der Preisanstieg ist eher spekulativer Natur: „Von einer Trendwende kann man noch nicht sprechen“, warnt Vedomosti in einem Kommentar.

    Tierische Liebe. Und um nochmals auf den Frauentag und zugleich einen Dauerhelden der russischen Medien zurückzukommen: Für Ziegenbock Timur, weltbekannt für seine furchtlose Zoo-Freundschaft mit dem sibirischen Tiger Amur, wurde am 8. März eine Brautschau organisiert. Doch er verschmähte alle sechs aus verschiedenen Regionen aufgebotenen Damen, darunter auch eine aus Moskau eingeflogene Ziege namens Merkel.  Freundlich begrüßte Timur nur seinen Tigerkumpel hinterm Zaun.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

     

     

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