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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Pack die Badehose ein

    Pack die Badehose ein

    Zum ersten Mal seit acht Monaten ist am vergangenen Samstag ein russischer Urlaubsflieger wieder im türkischen Antalya gelandet. Zuvor lagen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf Eis, nachdem die Türkei im November einen russischen Kampfjet an der Grenze zu Syrien abgeschossen hatte. Auch sämtliche Charterflüge in das bei Russen beliebte Urlaubsland waren eingestellt.

    Ende Juni schließlich standen die Zeichen plötzlich wieder auf Annäherung: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan hatte in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss geäußert, kurz darauf gab es ein 40-minütiges Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Noch am gleichen Tag ließ der Kreml verlauten, dass Russen wieder in die Türkei reisen könnten, das Charterflugverbot wurde aufgehoben. Für Ende Juli ist nun sogar ein Treffen auf Ministerebene geplant.

    Wie sich mit dem politischen Kurs auch die offizielle Rhetorik auf einen Schlag wieder änderte und warum das schon keinen mehr wundert, analysiert Andrej Archangelski auf slon.ru.

    Der komplette Wandel in den Beziehungen zu einem ganzen Land hängt einzig und allein von einem Anruf Wladimir Putins ab. Das ist keine Neuigkeit, das ist Realität. Wir erinnern uns zum Beispiel daran, wie sich die offizielle Rhetorik nach einem einzigen Satz von Putin änderte: „Nehmen Sie direkten Kontakt zu den Franzosen auf und arbeiten Sie mit ihnen wie mit Verbündeten!“

    Das Beeindruckende ist nicht einmal das Tempo, in dem sich die offizielle Tonart ändert. Vielmehr sind innerhalb der sieben Monate, die seit dem Riss in den Beziehungen zur Türkei vergangen sind, dermaßen viele hässliche Worte über das Nachbarland gefallen, dass man meinen sollte, es gäbe kein Zurück mehr. Zahllose Sprecher, Radio- und Fernsehmoderatoren sowie Experten, die zur weiteren Eskalation der Spannungen zum Einsatz kamen, redeten so, als käme nach ihnen die Sintflut, als würde sich die Situation zu ihren Lebzeiten auf keinen Fall mehr ändern. Das Leben zeigt jedoch, dass sich sogar in so konservativen Bereichen wie den internationalen Beziehungen mehr als einmal pro Jahr etwas tun kann.

    In solchen Momenten treten fundamentale Widersprüche offen zutage: zwischen dem Weltbild dieser Menschen (Russland ist von Feinden umzingelt, und so war das schon immer) und der Wirklichkeit der modernen Welt – in der der Begriff „Feind“ im Grunde genommen gegenüber keinem einzigen Land angemessen ist. Das Wort „Feind“ ist in Bezug auf den internationalen Terrorismus angemessen, darüber herrscht in der Welt Konsens. Was aber die Beziehungen zwischen den Ländern betrifft, so geschieht alles Mögliche, auch Tragisches – doch irgendwann, und sei es erst nach Jahrzehnten, bitten alle auf die eine oder andere Art einander um Entschuldigung, verzeihen ihrerseits und beginnen Gespräche. Weil es anders nicht geht.

    Hate Speech ist reine Formsache

    So blitzartig, wie in Russland die eine Rhetorik von der entgegengesetzten abgelöst wird, drängt sich eine Überlegung auf: nämlich, dass die gesamte gegenwärtige Hate Speech mittlerweile als reine Formsache wahrgenommen wird, als eine Art Konvention. Wie ein Fragment der sowjetischen Doppelmoral: Im Partkom muss man den „faulenden Kapitalismus“ anprangern, und dann kauft man auf dem Schwarzmarkt amerikanische Jeans.

    Als die große Propaganda begann, im Februar/März 2014, konnte man sich gar nicht vorstellen, dass das eine reine Formsache ist. Im Gegenteil, die ganze Wirkung beruhte auf dem Eindruck, dass hier nur echte Gefühle im Spiel seien, eine neue Aufrichtigkeit sozusagen. Entrüstung, Empörung – das alles konnte man doch wohl nicht vortäuschen. Die Vorstellung, dass die Empörung einfach ein Werkzeug ist, das man jeden Moment wieder abschalten kann, hätte vor zwei Jahren noch bedeutet, den Glauben daran zu verlieren, dass auf der Welt überhaupt irgendetwas ernsthaft existiert.    

    Es ist ein schwerer Schlag gegen die Eitelkeit der Benutzer jener Hate Speech, dass die Menschen Propaganda mittlerweile schon als rhetorisches Mittel wahrnehmen: Jedes Mal, wenn das geschieht, wird den Menschen nämlich klar, dass einfach nur ihre Gefühle missbraucht werden (die ihnen eben jene Propaganda untergejubelt hat).

    Wenn der Staat eine 180 Grad-Wende vornimmt, kann man das als „derzeit für uns von Vorteil“ auffassen, doch rein menschlich ist es schwierig, damit zurechtzukommen.

    „Sie waren im Mai in der Türkei? Schämen Sie sich nicht?“, wirft ein regierungstreuer Radiomoderator einem Hörer vor.

    „Ich war nicht bei Erdogan“, antwortet der. „Ich war bei Freunden, die in der Türkei leben.“

    Ein Jubelschrei geht durch die Tourismusbranche

    Es ist bezeichnend, dass die Entspannung ihren Anfang in der Tourismusbranche nahm. In den Medien verbreitete sich schnell, dass diese Branche die Nachricht „mit einem Jubelschrei“ aufgenommen hätte. Auch das ist eine Emotion, nur diesmal eine positive. Und das Wichtigste an dieser Geschichte ist, dass die im Tourismus Beschäftigten ihre Freude nicht verbergen – obwohl ihnen wahrscheinlich klar ist, dass das nicht allen gefallen wird.

    Die Pressesprecherin des Tourismusverbandes sagt im Interview: „Das Charter-Programm (in die Türkei) lässt sich innerhalb eines Monats wieder voll aufnehmen. Und dass die Leute fahren werden, steht sowieso außer Zweifel.“ Ähnliches meint sogar Vizepremierministerin Golodez.

    Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Türkei bietet das ideale Preis-Leistungs-Verhältnis für den Touristen aus Russland, sie ist das ganze Jahr über das beliebteste Urlaubsziel. Ein Schlag gegen dieses Ziel bedeutet den langsamen Tod der Branche. Und umgekehrt: Die Wiederaufnahme bedeutet ihr Leben. Wir respektieren die Entscheidung des Staates, sagt die Branche, doch wir machen kein Hehl aus unserer Freude darüber, dass die Welt besser geworden ist und nicht schlechter, und versucht doch mal, uns vorzuwerfen, dass wir uns freuen, dass die Welt besser und nicht schlechter geworden ist.       

    Das Paradox des Lebens in Russland besteht darin, dass es der hiesigen Geschäftswelt lange Zeit nicht nur an politischen, sondern auch an weltanschaulichen Überzeugungen komplett fehlte. Sie konnte nur immer wieder wiederholen: „Wir sind keine Politiker.“

    In den vergangenen Jahren konnten die Unternehmer sich dann davon überzeugen, dass es zwischen Wirtschaft und Politik eine direkte Verbindung gibt. Und dieses Verständnis, so wagen wir zu hoffen, hat wenigstens in manchen Köpfen für einen Umschwung gesorgt. Von der Politik hängt im Fall der Türkei das Leben Tausender Reiseagenturen im ganzen Land ab und außerdem das Befinden von Millionen Touristen.   

    Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016: die Reiseveranstalter

    Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass Pazifismus und Humanismus in Russland keine Tradition haben. Das heißt, sie haben keinen auch nur irgendwie ernstzunehmenden Platz im Massenbewusstsein, ungeachtet dessen, dass diese Wörter in den 80er Jahren gehäuft verwendet worden waren. Die ersten wirklichen Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016 waren keine Persönlichkeiten aus Kultur oder Sport, keine Intellektuellen mit Brille oder ohne (manche von ihnen haben sich als Eins-a-Militaristen entpuppt), sondern die völlig neutralen Reiseveranstalter.

    Wer arbeitet im Tourismus? Ganz normale Leute, deren Ansichten man wahrscheinlich größtenteils als patriotisch bezeichnen kann. Andererseits sind sie Menschen von Welt, denen man nicht so leicht einreden kann, dass überall Feinde lauern. Und der Militarismus stellt eine Bedrohung für ihre Branche dar.

    Nimmt man all diese Dinge zusammen, kommt einem unweigerlich das bekannte Zitat von Marx in den Sinn, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Der Jubelschrei bezeugt, dass die Gesellschaft Russlands komplexer geworden ist. Derzeit sind die im Tourismus Beschäftigten die überzeugtesten Humanisten unseres Landes, sie wissen jetzt, warum Frieden besser ist als Krieg, denn sie haben es am eigenen Leib gespürt. Und je weniger Feinde Russland hat, desto besser ist es – für sie und für alle.

    Sobald die Konvention nicht mehr zwingend ist, ist sie plötzlich spurlos verschwunden

    Aufschlussreich wird ein Blick auf die Zahlen der Türkei-Touristen schon im nächsten Monat sein – die werden den Kriegstreibern eine Lehre sein, die dazu aufrufen, „trotzdem keinen Urlaub in der Türkei zu machen“. Ausgehend von diesen Zahlen wird man auch Rückschlüsse ziehen können, wie stark oder schwach die Propaganda das Verhalten der Menschen beeinflusst.

    Es wird sich auch zeigen, dass die Leute jetzt schon wissen, dass sämtliche, auch die härtesten, Worte nichts wert sind und nichts von dem Gesagten es verdient, besonders ernst genommen zu werden. Allen ist klar, dass das eine Konvention ist, die sie einhalten, solange die Notwendigkeit besteht. Doch konnte diese Konvention die grundlegenden Gesetze des Marktes nicht aushebeln. Wie in der Sowjetzeit wird sie als ärgerliche Beeinträchtigung des Lebens aufgefasst. Und sobald die Einhaltung der Konvention nicht mehr zwingend ist – ist sie plötzlich spurlos verschwunden.

    So erklärt sich wohl auch das Tempo, in dem man in unserem Land aufhört, von jemandem schlecht zu sprechen, und beginnt, neutral oder sogar mit Sympathie von ihm zu reden – und so erklärt sich die Bereitschaft der Mehrheit, einen anderen Gang einzulegen.

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  • „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.

    Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.

    Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:

    Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.

    KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?

    Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …

    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)
    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)

    Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.

    Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.

    Kaputtgelacht?

    Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.

    Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen

    Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.

    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)
    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)

    Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrusteten Sichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.

    Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.

    Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt

    Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?

    Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …

    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)
    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)

    Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.

    Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet

    Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.

    Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?

    Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.

    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)
    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)

    Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.

    Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen

    Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?

    Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabei sind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.

    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)

    Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.

    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)
    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)

    Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?

    Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.

     

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)
    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)

    Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?

    Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun

    Ist das ein Privileg?

    Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.

    Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.

    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)
    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.

    Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon

    Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?

    Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.

    Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine? Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.

    Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.

    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)
    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?

    Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld

    Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?

     

    Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.

    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)
    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)

    Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.

    Wie alt ist ihr Sohn jetzt?

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.

    Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.

    Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen

    Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?

    Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.

    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)
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    „Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“

    Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.

    Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.

    Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.

    Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.

    Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war –  Foto © Denis Karagodin

    Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.

    Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.    

    Das Gebot „sich ja rauszuhalten“     

    Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung  und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.     

    Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.

    Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.

    Verbrechen als Verbrechen benennen

    Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.

    So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.

    Die Vergangenheit aufarbeiten

    In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.

    Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.

    Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.  

    Konkretes Schicksal statt trockene Statistik

    Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?

    Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?

    In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.  

    „Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis

    In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
    Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.     

    Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.   

    Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch

    Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.  

    Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?

    Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.

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  • Einer wird gewinnen

    Einer wird gewinnen

    Auf den schwarzen Freitag folgte ein schwarzer Montag für russische Sportfans: Erst hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF die Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf unbestimmte Zeit verlängert, und somit auch über den Zeitraum von Olympia. Und dann flog am Montag darauf auch noch die Sbornaja aus der Fußball-EM. Bei vielen Fans wuchs mit der Enttäuschung auch die Empörung.

    Schon das IAAF-Urteil hatte zu heftigen Debatten geführt, unter anderem darüber, inwiefern der Westen den Sport als politische Waffe missbrauche. Die Verquickung zwischen Sport und Politik wurde in russischen Medien auch dann diskutiert, wenn es um Hooligans ging: Sind das „Vollpfosten“ oder „Patrioten“? Und hat der Kreml seine Hand im Spiel? dekoder bildet die Medien-Debatten hier ab.

    Nachdem das Internationale Olympische Komitee die Sperre für Leichtathleten zumindest durchlässiger gemacht hatte (jeder geprüfte, „saubere“ Sportler darf bei Olympia unter russischer Flagge starten), empfanden viele Erleichterung.

    gazeta.ru nimmt die emotionale Achterbahnfahrt der vergangenen Tage zum Anlass, das Verhältnis zwischen Sport und Politik sowie den vermeintlichen Zwang zum Siegen einmal genauer zu beleuchten.

    „Im russischen Sport gilt 'Alles oder nichts, Sieg oder Tod'“ – Foto © Piotr Drabik/Flickr
    „Im russischen Sport gilt ‚Alles oder nichts, Sieg oder Tod’“ – Foto © Piotr Drabik/Flickr

    Die Fans können zufrieden sein: Unsere Mannschaft fährt nach Rio! Nur die Sportfunktionäre haben wieder Grund zur Sorge. Hätte man unsere Mannschaft disqualifiziert, wären sie fein raus – schuld wäre wie üblich die Weltverschwörung. Jetzt werden sie die möglichen Niederlagen irgendwie erklären müssen. Wahrscheinlich ebenfalls mit der Weltverschwörung: Die haben das psychologische Klima bei uns zerstört. Und gesiegt wird ihnen allen zum Trotz, den Feinden und Neidern Russlands und des Sportministeriums.

    Sport – eine „Klammer“ der russischen Identität

    Der Sport ist in Russland schon seit geraumer Zeit eine der „geistigen Klammern“ der modernen nationalen Identität.

    Hinter der fanatischen Liebe unserer Bürger zu Sportevents, die regelmäßig in Diskussionen über das Schicksal der Heimat und der Welt im staatlichen Fernsehen und in den sozialen Netzwerken münden, verbirgt sich offenbar eine wichtige Besonderheit der nationalen Identität: Wir sind eine Nation, die daran gewöhnt ist, zu siegen, für die das ganz normal ist.

    In den 2000er Jahren haben wir diesen Blick auf uns selbst enorm kultiviert,  haben uns schnell daran gewöhnt, Gegner zu besiegen und Feinde zu bezwingen. Allerdings ohne dabei uns selbst oder die Umstände zu bewältigen, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Früher nahmen wir für den Sieg jeden Preis in Kauf, nun sind wir berechnender geworden, und eigentlich ist es auch gar nicht so teuer: Im Sport geschieht es in der Regel mithilfe von eingekauften Stars aus dem Ausland, im Krieg rasant und ohne große Opfer, in der Wirtschaft mit Bodenschätzen – ausbuddeln und dann verkaufen.

    Und tatsächlich schien es, als hätten wir gelernt „viel bester zu gewinnen“. Vor allem zwei Mal: 2008, als wir der Reihe nach die Eishockey-Weltmeisterschaft, den Eurovision Song Contest, den UEFA-Pokal, die Niederländer und einen Monat später beinahe Tbilissi abgeräumt haben. Und 2014, als wir Olympia ausgerichtet und gewonnen, und dann noch die Krim angegliedert haben.  

    Sport und Politik, Brot und Spiele

    Diese Ereignisse stehen nicht zufällig in einer Reihe. Sport und Politik hängen im Dritten Rom heute genauso eng zusammen wie im ersten – aus dessen Geschichte die Wendung „Brot und Spiele“ zu uns kam – und im zweiten, in Konstantinopel, wo die politische Zuordnung hunderte Jahre lang von den Favoriten beim Pferderennen abhing.

    Doch die heftigen Diskussionen um Sportwettkämpfe offenbaren etwas, das womöglich sogar tiefer geht als die Gier nach dem Sieg. Der Glaube an ein Wunder ist zum Massenphänomen geworden: als simple Lösung (oder Erklärung), als etwas, womit sich komplizierte Probleme ein für allemal lösen (oder zumindest erklären) lassen. Er verbindet die Apologeten der amtierenden Regierung – die im Erfolg der russischen Athleten einen Beweis dafür sehen, dass sich Russland von den Knien erhebt – mit ihren unversöhnlichen Kritikern, die die Niederlagen im Sport als einen Beweis dafür auslegen, dass das System an allen Ecken und Enden verfault.

    So suchen und finden beispielsweise russische Sportfunktionäre in den internationalen Ermittlungen des Doping-Skandals Spuren einer Weltverschwörung. Ganz so, als wäre alles wunderbar, wenn es da nicht die versteckten und offensichtlichen Feinde Russlands gäbe. Wie aus Eimern würden dann Goldmedaillen auf uns niederregnen.

    Alles oder nichts, Sieg oder Tod

    Es gibt ein universelles Mittel, um sich im heutigen Russland aus der Verantwortung zu ziehen: die eigenen Fehler und die Unprofessionalität, ja sogar den offensichtlichen Missbrauch mit der Sorge um das eigene Land zu begründen. Mit einem „Wir haben‘s ja nur gut gemeint“, aber dann haben sich die Feinde eingemischt …

    Das Entscheidende, woran wir uns einfach nicht gewöhnen können, ist, dass man nicht immer und überall gewinnen kann. Noch nicht einmal dann, wenn man mit all den feindlich Gesinnten fertig werden würde und ein perfektes Trainingssystem entwickelt hätte. Warum das nicht funktioniert, sagen wir mal im Fußball, darüber gibt es dutzende ernsthafter wissenschaftlicher Arbeiten. Beim Eishockey besteht die Antwort aus einem einzigen Wort: Kanada. Die Konkurrenz ist einfach viel zu stark, und es gibt unweigerlich mehr Besiegte als Sieger.

    Sowohl im Sport als auch in der Politik wird zu stark verabsolutiert: Alles oder nichts, Sieg oder Tod, völlig am Boden oder hoch hinaus. Vielleicht ist es an der Zeit endlich zu lernen, nachsichtiger zu sein mit dem Ergebnis und strenger mit der Art und Weise, auf die es erreicht wird? Die simple Wahrheit „Dabei sein ist alles“ hat nicht an Aktualität verloren. Weder im Sport noch in der Kultur noch im Leben überhaupt.

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  • Presseschau № 33: Doping-Sperre

    Presseschau № 33: Doping-Sperre

    Das Olympia-Aus für russische Leichtathleten ist fix – mit Ausnahmen: Am Dienstag hat sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) zwar hinter die Entscheidung des Weltverbandes IAAF gestellt, die derzeitige Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf die Olympischen Spiele im August auszuweiten. Allerdings dürfen nachweislich saubere Athleten bei Olympia unter ihrer russischen Landesflagge starten. Dies gab IOC-Präsident Thomas Bach in Lausanne bekannt. Alle russischen Sportler müssen für ihre Teilnahme demnach eine Freigabe durch internationale Fachverbände ihrer Sportarten vorweisen.

    Der russische Sportminister Witali Mutko reagierte laut Nachrichtenagentur TASS erleichtert auf die Entscheidung: „Wir werden alles machen, was sie uns sagen.“

    Russlands Leichtathleten wollen dennoch juristisch gegen die Sperre vorgehen und beim Internationalen Sportgerichtshof (CAS) Einspruch einlegen.

    Schon die auf Olympia ausgeweitete Doping-Sperre für Leichtathleten hatte heftige Diskussionen in russischen Medien ausgelöst. Vor allem ging es um die Frage, inwiefern der Sport dabei als politische Waffe instrumentalisiert würde – und man Sportler anstelle des Staates bestrafe.

    Ja, laufen sie denn? Aufregung um Olympia-Teilnahme russischer Athleten. Foto © Tab59 unter CC BY-SA 2.0
    Ja, laufen sie denn? Aufregung um Olympia-Teilnahme russischer Athleten. Foto © Tab59 unter CC BY-SA 2.0

    Echo Moskvy Blog: Kollektivstrafe nur für Behörden

    Der bekannte Journalist Anton Nossik begrüßt auf seinem Blog die Entscheidung des IOC, durch die er eine Bestrafung unschuldiger Sportler abgewendet sieht – und fordert eine Kollektivstrafe an anderer Stelle:

    [bilingbox]Die Entscheidung des IOC  […] verstehe ich sehr gut und unterstütze sie. Die Praxis von Kollektivstrafen ist widerlich. […] Es ist aber was anderes, wenn es um nationale Verbände und staatliche Behörden geht, die den Einsatz verbotener Präparate und darauf folgende Probenfälschungen zur Staatspolitik gemacht haben. Die gehören auf jeden Fall bestraft – auch gerne kollektiv, damit all diejenigen, die ein solches Vorgehen ihrer Kollegen im tiefsten Innern nicht gutgeheißen haben, stärker motiviert werden, solche Praktiken öffentlich zu machen.~~~Решение МОК […] я очень хорошо понимаю и поддерживаю. Практика коллективных наказаний — омерзительна […] Другое дело — всевозможные национальные федерации и государственные ведомства, которые употребление запрещённых препаратов и последующую фальсификацию проб возвели в ранг госполитики. Этих, конечно же, нужно наказывать — и можно коллективно. Чтобы у тех, кто в душе не одобрял подобной практики сослуживцев, появилась сильная мотивация рассказать о таких практиках вслух.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Prinzip der Kollektivschuld

    Nach dem IAAF-Urteil kritisierte unter anderem die unabhängige Novaya Gazeta das Prinzip der „Kollektivschuld“ für alle Leichtathleten:

    [bilingbox]Mit dieser überaus harten, in ihrem Ausmaß beispiellosen und nicht unumstrittenen Strafe soll kein bestimmter Verstoß geahndet werden, auch nicht eine Reihe von Verstößen gegen Antidoping-Gesetze. Geahndet wird die Summe aller Sünden, die das sportliche Russland angehäuft hat.

    Wenn man diese Summe zu Grunde legt, ist das alles wahrscheinlich nur gerecht. Verständlich ist dann auch, dass konsequent das Prinzip der Kollektivschuld angewendet wird: In Russland trägt auf höchster Ebene der Staat die Verantwortung für den Sport  – und nun wurde er bestraft […].

    Es ist viel zu ernst, um es leichtfertig als die Vollendung einer vor anderthalb Jahren begonnenen „antirussischen“ Kampagne zu begrüßen. Es ist viel zu schmerzhaft, um einfach nur abzuwinken und vor sich hinzumurmeln: „Der Zaun ist abgebrannt, soll doch ruhig die ganze Hütte niederbrennen.“~~~Жесточайшее, беспрецедентное по масштабам и небесспорное наказание применено не за какое-то определенное нарушение, или даже за цепочку нарушений  антидопингового законодательства, а по совокупности накопившихся у спортивной России грехов.

    Если брать за основу именно совокупность — наверное, все справедливо. Понятно и жесткое применение принципа коллективной ответственности — у нас за спорт высших достижений де-факто отвечает государство, вот его-то и наказали. […]

    Это слишком серьезно, чтобы с легкостью приветствовать  завершение  начатой еще полтора года назад «антироссийской» кампании. Это слишком больно, чтобы махнуть на все рукой, приговаривая: „Сгорел забор — гори и хата“.[/bilingbox]

    Vedomosti: Nicht einfach den Spieß umdrehen

    Die regierungsunabhängige Tageszeitung Vedomosti dagegen meint, die Empörung über eine vermeintliche Kollektivstrafe lenke von den eigentlichen Herausforderungen ab, die nun anstünden:

    [bilingbox]Offiziell wird die Disqualifikation als Bemühen angesehen, da eine kollektive Verantwortung aufzudrücken, wo eigentlich Institutionen bestraft werden müssten. Dadurch kann man Diskussionen über eine Reform der Institutionen aus dem Weg gehen – die Lösung des Problems wird damit aufgeschoben und erschwert. […] Um eine Disqualifikation zu vermeiden, sollte Russland nicht den Spieß umdrehen, sondern überzeugend demonstrieren, dass man ernsthaft gewillt ist, das Dopingproblem auszumerzen, indem man effiziente Strukturen schafft, um Missbrauch vorzubeugen.~~~Официальная позиция, видящая в дисквалификации стремление навязать коллективную ответственность, а не наказать институт, позволяет избегать разговоров о реформе институтов, тем самым откладывая и усложняя решение проблемы. […] Чтобы избежать дисквалификации, России нужно не переводить стрелки, а убедительно демонстрировать серьезность намерения искоренить допинг и создать качественные структуры по предотвращению злоупотреблений.[/bilingbox]

    TASS: Duma sieht Sperre als politische Waffe

    Die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS gibt eine Erklärung der Staatsduma zum IAAF-Urteil wieder, die in der Sperre der russischen Leichtathleten einen Angriff des Westens sieht:

    [bilingbox]„Irgendjemand versucht da, eine heftig nach Mottenkugeln riechende politische Waffe aus der Müllhalde der Geschichte hervorzuzerren. […] Anders lässt sich das Teilnahmeverbot an den Olympischen Spielen […] von Sportlern, die sich nicht einmal mit dem Verdacht des Einsatzes von Dopingmitteln besudelt haben, nicht erklären. Im Grunde genommen wird hier von einigen wenigen Sportbürokraten im Alleingang das Prinzip‚ im Zweifel gegen den Angeklagten‘ gegenüber Sportlern aus einem konkreten Land  eingeführt“, heißt es in der Erklärung.

    Die Abgeordneten ließen verlauten, dass dieses Prinzip – das „so in etwa zu Zeiten der Inquisition und totalitärer Regime“ Anwendung fand – in unserer Zeit kaum als angemessen gelten kann.~~~„[…] сегодня кое-кто пытается вытащить это пропахшее нафталином политическое оружие со свалки истории“.[…] „Запрет на участие в Олимпийских играх […] спортсменам, не запятнавшим себя даже подозрением в употреблении допинга, иными мотивами объяснить нельзя. По сути дела, некоторыми спортивными бюрократами явочным порядком вводится принцип презумпции виновности по отношению к спортсменам конкретной страны“, – подчеркивается в заявлении.

    Депутаты предупредили, что этот принцип, „использовавшийся разве что во времена инквизиции и тоталитарных режимов“, вряд ли можно считать применимым в наше время.[/bilingbox]

    Blog: Ungerechtes Kontrollsystem

    Blogger Pawel Shipilin vergleicht auf seinem Livejournal-Blog verschiedene Statistiken und findet russische Doping-Sünder im Vergleich zu anderen zu hart bestraft:

    [bilingbox]Es ist auffällig, dass die WADA [Welt-Anti-Doping-Agentur] von unseren und den chinesischen Athleten praktisch ununterbrochen Proben nimmt. Vielleicht gibt es dafür eine Erklärung, doch auch hier fehlt eine rechtliche Regulierung. Warum nimmt man nicht von allen gleich viele Proben – unabhängig davon, welchen Platz ein Athlet belegt hat? Nach jedem Lauf, nach jedem Sprung, nach jedem Spiel stellen sich alle bei den Inspekteuren an und geben ihre Proben ab mit allem, was dazu gehört.

    Und wenn das zu umständlich ist, dann lasst uns eine Rangliste erstellen, aber nicht nach der absoluten Anzahl der entlarvten Verstöße, wie das heute passiert, sondern gemäß dem prozentuellen Anteil in Bezug auf die Gesamtzahl der Tests. Das wäre gerechter, oder nicht?~~~Заметно, что у наших и китайских спортсменов WADA берет пробы практически непрерывно. Возможно, этому есть какое-то объяснение, но, опять же, отсутствует правовое регулирование. Почему бы не брать у всех на равных — вне зависимости от того, какое место занял спортсмен? После каждого забега-запрыга, после каждой игры все выстраиваются в очередь к инспекторам и сдают все, что положено.

    А если это слишком хлопотно, то тогда давайте составлять рейтинг не по количеству выявленных нарушений, как это происходит сегодня, а по их доле в общем количестве тестов. Так будет честнее, разве нет?[/bilingbox]

    Echo Moskvy: Russland läuft hinterher

    Unmittelbar nach dem IOC-Urteil gibt Schod Muladshanow, Chefredakteur der Moskowskaja Prawda, ein Interview auf dem unabhängigen Radiosender Echo Moskvy. Er sieht die Probleme nicht in den Strukturen, sondern an ganz anderer Stelle:

    [bilingbox]Wir verwenden oft verbotene Präparate, deswegen kommt man nicht umhin, Schmiergelder zu zahlen und so weiter. Die Athleten vieler anderer Länder verwenden natürlich neuere Medikamente, die noch nicht auf die Verbotsliste gelangt sind. Die anderen laufen diesen Verboten quasi voraus, und wir hinterher. Und durch dieses Hinterhersein verliert Russland leider sehr viel. Es verliert natürlich auch an das System der Korruption, weil klar ist, dass man in vielen anderen Ländern die Rechtsschutzorgane und Beamten nicht so stark in das Dopingsystem einbinden würde wie bei uns.~~~Мы пользуемся препаратами, запрещенными часто, поэтому приходится давать взятки, чтобы это прикрыть, и так далее. А спортсмены из многих других стран, конечно же, пользуются медикаментами, более продвинутыми, которые еще не успели попасть в список запрещенных. Они идут впереди этих запретов, а мы идем позади этих запретов. И вот на этом опоздании Россия, к сожалению, очень много теряет. Теряет, конечно, на системе коррупции, потому что понятно, что во многих странах не решились бы так втягивать правоохранительные органы и чиновников в эту систему допинговую, как у нас это происходит.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

     

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  • Latyschka

    Latyschka

    Es sind, so sagt die Redaktion, „Geschichten aus ihrem und unserem Leben“, die die Autorin und Journalistin Olga Beschlej (dekoder-Leser kennen sie schon) ab Ende Mai regelmäßig auf dem unabhängigen Online-Portal Colta.ru erzählt.

    Schon der erste Text ihrer Reihe hatte Tausende Leser: Olga Beschlej fängt die Atmosphäre russischer Studentenwohnheime, die Unsicherheiten junger Erwachsener und die Unzulänglichkeit aller Schwarz-Weiß-Raster so gut ein wie kaum jemand sonst. Viel Spaß beim Lesen.

    Alles, was Latyschka tat, war ideal. Foto © colta.ru
    Alles, was Latyschka tat, war ideal. Foto © colta.ru
    „I don’t mind saying hello at stations, but I don’t like saying good-bye.”
    Career Girls, Mike Leigh

    I.

    Meine Mutter hatte mich im Wohnheim abgesetzt mit einer großen Frischhaltebox voll hausgemachter Bouletten, Pfannen und einem Bademantel von derart ätzender Farbe, dass ich damit bei einem Wettbewerb der penetrantesten Damenbademäntel mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet wäre.

    Meine neuen Zimmergenossinnen – zwei dicke, rotwangige Soziologiestudentinnen im dritten Studienjahr – beobachteten schweigend, wie ich meinen Koffer auspackte und unbeholfen das obere Stockbett mit dem Bettzeug von zu Hause bezog.

    „Will jemand eine Boulette?“

    Keine Antwort.

    Insgeheim war ich froh, dass sie keine wollten. Die Bouletten würden nach meinen Berechnungen für drei Tage reichen.

    Alles in allem war es ganz schön mies von meiner Mutter und meinem Vater – erst jahrelang auf Zehenspitzen herumzuschleichen und irgendwas zu murmeln von wegen „lass das Kind ruhig lernen“, und dann dieses Kind einfach in eine fremde Stadt zu karren und es dort mit irgendwelchem Haushaltszeug von unklarer Bestimmung sich selbst zu überlassen.

    Ich konnte nichts.

    Ich hatte noch nie einen Boden gewischt oder Geschirr gespült. Ich hatte noch nie ein Bett bezogen. Noch nie Wäsche gewaschen. Nie gekocht. Ich wusste nicht, wie lange ein Ei braucht, welches Wasser man zum Würstchen-Warmmachen nimmt und wie man Fleisch einkauft. Der Anblick des Wischlappens in der Gemeinschaftsküche ließ mich schaudern, und von glitschigen Makkaroni in fremden Töpfen bekam ich Magenkrämpfe.

    Als ich am zweiten Tag hörte, dass in der Waschküche Ratten lebten, schwor ich mir, diese niemals zu betreten, und ich blieb diesem Schwur die folgenden fünf Jahre treu. Meine Wäsche transportierte ich alle zwei Wochen zum Waschen in meine hundert Kilometer von Moskau entfernte Heimatstadt.

    Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei

    Meine Mutter erklärte später, mein Schulabschluss, dann mein 17. Geburtstag im Juli, und dann der Beginn meines Studiums – das alles sei damals allzu plötzlich gekommen. Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei – auf Anhieb erstand ich für ein Drittel des gesamten mir überlassenen Geldes eine große Flasche kaltgepressten Orangensaft und war damit äußerst zufrieden. Mein neues Leben kam mir sogar mit einem Mal gar nicht mehr so schrecklich vor. Bis meine Zimmergenossinnen von mir verlangten, ich solle den Boden wischen.

    „Wieso, gibt es denn hierfür keine Putzfrau auf der Etage?“, erkundigte ich mich.

    „Nee. Aber du kannst ja deine Mutti rufen“, meinte die eine und lachte höhnisch. Ich sah auf den Eimer mit dem angetrockneten Lappen. Dann auf meine finster dreinblickenden Mitbewohnerinnen. Und dann trat ich auf den Gang hinaus, stapfte zur diensthabenden Etagenfrau und bat sie, mich umzuquartieren, weg von den garstigen Soziologinnen.

    „Was hacken die bloß immer alle auf euch Journalisten rum“, knurrte die Diensthabende. „Im ersten Stock ziehen zwei Erstsemestlerinnen ein, die eine studiert auch Publizistik. Ich werd mal fragen, ob du nicht bei denen mit reinkannst.“

    Am nächsten Tag stand ich in der Tür zu dem anderen Zimmer – mit meinem Koffer, der leeren, dreckigen Frischhaltebox, Pfannen und dem Bademantel, den die eine meiner neuen Zimmergenossinnen – eine dürre, finstere Blondine – prompt kommentierte:

    „Echt krasses Farbdesign.“

    Das war Latyschka, „die Lettin“, so nannte ich sie.

    II.

    Latyschka war am 9. Mai geboren. Eine sich selbst und anderen Menschen gegenüber derart schonungslose Person ist mir noch nie begegnet.

    Eigentlich hieß sie Olga – wie ich. Ich fand es aber immer schon befremdlich, jemand anderen mit meinem eigenen Namen anzusprechen, deshalb hatte sie bei mir praktisch vom ersten Moment an ihren Spitznamen weg.

    Geboren und aufgewachsen war sie in Riga. Sie hatte die russischsprachige Schule mit Bestnoten absolviert, es locker an die Wirtschaftsfakultät der führenden lettischen Universität geschafft, dort ein Jahr durchgezogen und war, unzufrieden mit der Qualität der dortigen Lehre, nach Russland gegangen.

    Latyschka verfügte über beängstigende Leistungsfähigkeit und physische Stärke. Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in der gleichen Sekunde in Schlaf, und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. Ihre Angewohnheit, ins Zimmer zu stürmen, machte mich wahnsinnig, und an den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich noch genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches.

    Alles, was Latyschka tat, war ideal. Sie gab ihre Hausaufgaben rechtzeitig ab, lernte fleißig, hatte vom ersten Studienjahr an einen Job und versäumte keine Lehrveranstaltung. Ich flog wegen Spickens aus den Vorlesungen und bekam Stress wegen Schwänzerei. Morgens schlug ich die Augen auf, sah eine Minute lang zu, wie Latyschkas kornblumenblauer Bademantel durchs Zimmer wirbelte, machte den Wecker aus und zerfleischte mich, bis sie das Zimmer verließ. Mir schien, wenn man nicht in der Lage war, so zu lernen wie Latyschka, lohnte sich die Mühe erst gar nicht.

    Ich war in allem schwächer als sie, träumte aber dennoch davon, ihr es einmal richtig zu zeigen und zwar bei zwei Dingen: Wenigstens ein einziges Mal wollte ich in Literatur besser abschneiden und wenigstens einmal einen politischen Disput gegen sie gewinnen.

    Ich sage es gleich: Weder das eine noch das andere ist mir gelungen.

    Innerhalb der Universitätsmauern war Latyschka unbesiegbar.

    Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in derselben Sekunde in den Schlaf und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. An den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches

    Das erste Mal stritten wir uns gleich zu Beginn des Studiums. Wir kamen aus einer Vorlesung. Vermutlich politische Geschichte. Ich hatte irgendeine Bemerkung über die despotischen Neigungen unseres Präsidenten losgelassen, da sagte Latyschka plötzlich, ich würde Müll reden.

    „Jetzt sag bloß, du stehst auf ihn.“ Ich lachte laut auf.

    „Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel zu verdanken habe“, erwiderte Latyschka gemessen. „Ich kann eben dankbar sein.“

    „Was meinst du damit – viel zu verdanken?“

    „Ich bin aus Lettland hierhergekommen und habe keine russische Staatsbürgerschaft. Man hat mir die Chance gegeben, bei den Prüfungen gleichberechtigt mit den russischen Studenten die Aufnahmeprüfungen zu machen und umsonst an einer der besten Unis zu studieren, ich kann im Studentenwohnheim wohnen und ich bekomme ein Stipendium.“

    „Ja schön, und was willst du mir damit sagen?“

    „Dass du genauso Grund hättest, dankbar zu sein.“

    Diese Argumentation haute mich derart um, dass wir eine Weile schweigend nebeneinander hergingen. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir nie über Politik diskutiert, aber ich war aus irgendeinem Grund fest davon ausgegangen, dass Latyschka meine Ansichten teilte. Oder vielmehr die Ansichten meiner Familie. Die Küchenbetrachtungen meines Vaters waren mir immer derart logisch, zutreffend und zwingend erschienen, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, in Moskau, zumal an der Moskauer Universität, könnte jemand anders argumentieren.

    Dabei hatten Latyschkas Worte mich nicht bloß überrascht. Ich bekam regelrecht Schiss, ich hatte es nämlich nicht gelernt zu streiten. Die paar jämmerlichen Male, die einer meiner Klassenkameraden von seinen Sympathien für den Präsidenten gesprochen hatte, hatte ich die Betreffenden einfach voller Geringschätzung angesehen und gedacht, was kapieren die schon. Aber Latyschka voller Geringschätzung ansehen ging gar nicht. Erstens schien sie mir ungeheuer klug. Zweitens sah sie mich schon voller Geringschätzung an.

    „Ich soll also dem Präsidenten dankbar dafür sein, dass ich umsonst studieren darf?“, fragte ich schließlich. „Aber das ist doch … also ist doch eigentlich gar nicht sein Verdienst. Das ist sowas wie unsere Vereinbarung mit dem Staat, oder? Dass Bildung nichts kostet, war außerdem schon zu Sowjetzeiten der Fall. Das hat sich doch nicht Putin ausgedacht.“

    „Ausgedacht nicht“, stimmte Latyschka zu. „Aber dank Putin kann der Staat dafür aufkommen.“

    „Zu Jelzins Zeiten hat das Studieren auch nichts gekostet.“

    „Zu Jelzins Zeiten waren die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar noch unter würdigen Bedingungen.“

    „Naja, unsere Uni ist einfach ziemlich reich. Das ist ja nun nicht überall so.“

    „Aber immerhin bist du an dieser Uni genommen worden. Und deine Eltern bezahlen dafür keinen Rubel.“

    „Was meinst du, was die für meine Repetitoren abdrücken mussten!“

    „Na gut, aber das ist eine Frage deiner persönlichen Fähigkeiten. Ich habe kein Geld für Repetitoren ausgegeben.“

    Ich kochte vor Wut.

    „Wir studieren doch Publizistik! Und Putin schafft die Meinungsfreiheit ab!“

    „Freiheit ohne Kontrolle geht nicht. Und er hat Maßnahmen ergriffen, die notwendig waren. Ich sehe nicht, dass die Presse hier ernsthaft drangsaliert würde. Es gibt die Novaya Gazeta, Echo Moskvy, den Kommersant, Vedomosti, das ganze Internet.“

    ‚Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel verdanke‘, erwiderte Latyschka gemessen. ‚Ich kann eben dankbar sein. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar unter würdigen Bedingungen. Du hättest genauso Grund, dankbar zu sein‘

    Sämtliche Argumente, die ich in der elterlichen Küche gehört hatte, zerschellten an der unerschütterlichen Überzeugtheit in Latyschkas Stimme in tausend Stücke. Ich bedauerte auf einmal, dass ich meinen Vater nicht einfach aus der Manteltasche ziehen konnte.

    „Und was ist mit dem Mord an Politkowskaja?“, fiel mir endlich noch ein. „Nach der Sache können wir uns in unserem Beruf wohl kaum noch sicher fühlen!“

    Latyschkas Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte [damals vor Anna Politkowskajas Haus – dek] in der Lesnaja Uliza Blumen niedergelegt.

    „Für das Material, das sie geliefert hat, hätte die Politkowskaja auch in jedem anderen Land der Welt ermordet werden können. Journalismus ist einfach gefährlich, Beschlej. Aber du hast bisher nichts zu befürchten. Wenn du eine Politkowskaja werden willst, hör zuallererst mal auf, dich vor dem Küchenlappen zu fürchten.“

    III.

    Heute heißt es auf der Homepage des Studentenwohnheims, in das ich 2006 einzog, die 14,5 Quadratmeter großen Zimmer seien mit jeweils zwei Studierenden belegt, auf jeder Etage gebe es zwei Duschräume mit Einzelduschen und die Küchen seien rund um die Uhr offen. Sei‘s drum, zumindest weiß ich jetzt, was sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besseren verändert hat.

    Ich erinnere mich an keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten

    Zu unseren Zeiten wohnte man jedenfalls zu dritt, und ich erinnere mich noch gut an die stickige Luft morgens in unserem Zimmer und an den Geruch des Waschschwamms aus der Schüssel unter meinem Bett. In den ersten drei Jahren gab es einen einzigen Duschraum – riesig und gnadenlos ohne Vorhänge oder Kabinen, dank dem mir die anatomischen Besonderheiten meiner Kommilitoninnen heute besser in Erinnerung sind als ihre Nachnamen. Die Küchen schlossen die Etagenfrauen nachts immer ab. Warum sie das taten, wusste keiner, aber es wollte sich auch keiner mit ihnen anlegen.

    Mit Latyschka und Katja – unserer dritten Zimmergenossin, einer Psychologiestudentin – habe ich ein Fünftel meiner Lebenszeit verbracht. Wenn ich heute jedoch versuche, diese Jahre im Detail zu rekonstruieren, entsteht in meinem Kopf eine Art Ansammlung von Episoden, die zusammengenommen wahrscheinlich eine Zeitspanne von einigen wenigen Tagen ergeben. Vielleicht eine Woche.

    Also, ich stehe morgens auf oder ich stehe nicht auf, sondern schlafe bis mittags. Ich trödele in der Gemeinschaftsdusche rum. Ich ziehe mich an, komme immer und überall zu spät. Ich gehe zur Uni. Oder gehe nicht zur Uni, sondern zwei Treppen runter in den gelb gekachelten Raucherraum und lasse dort lange Zeit Ringe an die verqualmte Decke steigen. Oder ich gehe raus, Richtung Kirche. Es ist grauer Herbst. Oder Frühling. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an Winter erinnern. Ich rauche. Der Weg den Hügel hinauf. Das goldene Schild der Universität. Erster Stock, zweiter Stock. Die Plastiktüren. Die engen Bänke.

    Ich erinnere mich an nichts. An keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie ich in Westlicher Literatur Würstchen mit Ketchup gegessen habe. Und wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten.

    Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch

    Es war im zweiten Studienjahr. Ich hatte die Vedomosti mit in die Vorlesung gebracht, und Latyschka hatte sie mir natürlich prompt abgeknöpft. Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch. Rasch überflog sie die Spalten, schlug die Zeitung auf der Pultbank auf und fing an, auf dem Foto des damaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers herumzukritzeln.

    Die Dozentin – eine stramme Kommunistin, die uns in Makroökonomie unterrichtete -, schritt gemächlich vor der Tafel auf und ab.

    Ich flüsterte:

    „Auf den stehst du nicht so oder wie?“

    „Stimmt.“

    „Und wieso?“

    Latyschka bedachte mich mit einem abfälligen Blick.

    „Der Typ ist einfach ein Niemand“, entgegnete sie nach einer Pause.

    „Wie meinst du das?“

    „Ich weiß gar nicht, wer er ist. Zwei Wochen vor seiner Ernennung haben sie ihn uns vorgestellt. Ein Arzt, Traumatologe. Nicht mal ein Programm hatte er vorzuweisen.“

    „Naja, also so viel besser ist die Lage ja bei uns nun auch nicht“, hob ich zaghaft an. „In dem Land, das du dir ausgesucht hast, wird der Präsident auch nicht gewählt.“

    „Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie wenig er in Lettland gewählt wird. Er wird von den Parlamentsabgeordneten bestätigt, nicht vom Volk.“

    „Aber das Parlament, das wählt ihr doch.“

    „Und ihr wählt sowohl das Parlament als auch den Präsidenten!“

    „So ein Schwachsinn. Wir wählen hier überhaupt niemanden!“ Langsam war ich echt genervt. „Es geht doch die ganze Zeit nur um den ‚Erben‘. ‚Nachfolger-Wahlen‘. Wenn ich das schon höre! Stößt dir an der Formulierung nichts auf?“

    „Putin habt ihr selber gewählt. Ihr, das russische Volk, seid zur Wahl gegangen und habt für ihn gestimmt. Und für seinen Nachfolger werdet ihr auch stimmen.“

    „Bei uns ist die große Mehrheit einfach nicht ganz dicht, das ist alles.“

    „Da musst du dich jetzt mal entscheiden: Sind die Leute bei euch nicht ganz dicht oder stimmt was mit Putin nicht?“

    „Die haben hier alle einen an der Waffel. Ganz Russland hat einen an der Waffel.“

    „Nicht Russland hat einen an der Waffel, du bist es, die hier einen an der Waffel hat. Du hast doch alles, deine Familie hat alles, was willst du denn noch? Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja auswandern.“

    „Was weißt du denn bitte über meine Familie? Meine Eltern haben einen kleinen Laden. Aber früher, da hatten sie drei kleine Läden. Jetzt haben sie nur noch den einen, die Steuern, die Miete, ständig steht der Brandschutz auf der Matte.“

    Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln

    „Die Situation der Kleinunternehmer ist mir nicht so geläufig, aber ich sehe das große Ganze. Das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Einkommen steigen, meine Oma in Lettland bekommt inzwischen eine russische Rente ausgezahlt. Kann sein, dass es speziell deine Familie nicht so gut getroffen hat, aber das heißt ja nicht, dass allgemein alles schlecht ist. Aber wenn du nicht bereit bist abzuwarten, dass das Land sich entwickelt, wenn du nicht bereit bist, deinen Beitrag zu leisten, dann hau doch ab! Ich bin dazu bereit. Ich will die Staatsbürgerschaft, ich will hier leben und arbeiten. Und du haust eben ab! Niemand hindert dich. Setz dich irgendwo ins gemachte Nest.“

    „Und wie ich abhauen werde, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte ich.

    Latyschka vertiefte sich demonstrativ in ihre Aufzeichnungen, während ich noch etwa fünf Minuten brauchte, um meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln.

    Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir in diesem Augenblick – wie auch später nach jedem unserer Streits wieder – die Zukunft möge jetzt sofort anbrechen und sich als derart furchtbar herausstellen, dass selbst Latyschka mir nicht mehr würde widersprechen können.

    IV.

    Mit der Zeit hörte ich auf, mit ihr zu streiten. Latyschkas Autorität hatte sich in meinen Augen mit jedem Jahr weiter gefestigt. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könnte mir die ungewischten Böden vorhalten.

    „Ich will leben wie in Europa!“

    „Aber du hast seit drei Jahren den Boden nicht gewischt!“

    Doch Latyschka hielt einem nichts vor. In regelmäßigen Abständen nahm sie demonstrativ den Schrubber zur Hand, wischte damit zwei Minuten lang grimmig über den Boden – wobei man sagen muss, dass es im Zimmer davon nicht sauberer wurde – und setzte sich wieder an ihr Notebook. Wirklich gewischt hat den Boden lediglich Katja – jedoch derart leidend und still, dass niemand von uns ihre Mühen würdigte oder überhaupt nur zur Kenntnis nahm.

    Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant

    Was mich betraf, war jedoch durch Latyschkas Bemühungen bereits zu Beginn des zweiten Studienjahres das Bild einer faulen dummen Gans aus reichem Hause fest verankert. Und – ich kann es nicht verhehlen – ich entsprach diesem Bild von Jahr zu Jahr mehr.

    Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant, tat dort absolut nichts, was irgendeinen Nutzen gehabt hätte, ging dem stellvertretenden Chefredakteur der Abteilung auf die Nerven und sah dafür selbstredend kein Geld.

    Im dritten Studienjahr hielt es Latyschka nicht mehr aus und sagte mir ganz direkt:

    „Ich kann keinen Respekt vor dir haben, Beschlej. Du bist neunzehn Jahre alt und hängst deinen Eltern am Hals. Ich würde das ja alles noch verstehen, wenn du wenigstens studieren würdest. Aber du studierst nicht. Du schläfst bis mittags, machst das Zimmer nicht sauber, hängst stundenlang im Raucherraum rum und verfrisst irre viel Geld. Zur Zeitung gehst doch du bloß für den äußeren Schein. Oder wo sind deine Artikel? Na?“

    Ich hatte ihr eigentlich eine von mir entworfene Grafik aus der letzten Ausgabe zeigen wollen, auf die ich sehr stolz war. Aber unter Latyschkas eisigem Blick kam sie mir mit einem Mal farblos und armselig vor.

    Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Job und fand schnell was bei einer neu gegründeten Wirtschaftszeitung. Dort wurde ich die ganze Zeit angeblafft und runtergeputzt, von früh bis spät schlug ich mich mit irgendwelchen Zahlen herum, brachte alles durcheinander und machte mir große Sorgen, dass sie mich feuern würden. Dafür schien Latyschka sehr zufrieden mit mir und ersetzte zeitweise ihren herablassenden Ton durch freundschaftliche Anteilnahme.

    Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte. Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr

    Im vierten Studienjahr wurde mir das Leben vollends zur Qual. Zu dem umfangreichen Arbeitspensum kamen die Vorbereitungen auf die Prüfungen und das Diplom. Wir schliefen so gut wie gar nicht mehr. Latyschka verwandelte sich endgültig in einen Roboter und ich mich in ein zutiefst unglückliches, nölendes Wesen.

    Manchmal schlich ich mich früh morgens hinunter in den Raucherraum, stellte mich an das Fenstergitter, blies Rauch durch die Stäbe und dachte an die Zeit, wenn das alles vorbei sein würde. Wenn es kein Studium mehr gäbe. Ich nicht mehr eine kleine dumme Reporterin wäre. Ich mich bis zur Redakteurin hochgedient hätte und selber alle anblaffen würde. Ich mir eine eigene Wohnung mieten und in meiner eigenen Küche rauchen würde.

    Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte.

    Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr.

    V.

    Inzwischen weiß ich, dass auch Latyschka ein ganz ähnliches Gefühl – das Gefühl einer unerträglichen Schwere des Erwachsenenlebens – hatte. Uns fehlte in allem, was mit uns geschah und was wir erlebten, Freude und irgendetwas Menschliches.

    Um der Tristesse des Wohnheims und einer bestimmten kaum zu ertragenden Stallatmosphäre des Bürolebens zu entfliehen, verliebte ich mich in einen Unidozenten und erklärte von nun an alles mit meinem Liebeskummer. Ich rauche zu viel – denn ich leide. Ich lerne schlecht – denn ich leide. Ich hab den Küchendienst verpennt – ich leide. Ich bin zu spät – habe wieder die ganze Nacht gelitten. Von meinem Leiden wurde mir leichter ums Herz.

    An die Wahrhaftigkeit dieser Liebe glaubte Latyschka keine Sekunde, doch schwang sie sich nicht auf, sie mir abzusprechen. Lügen konnte ich noch nie und so litt ich tatsächlich, mit Heulen, hysterischen Szenen, Verzweiflung und Alkohol. Unbeholfen versuchte sie mich zu trösten, aber Gespräche über meine Gefühle fielen ihr nicht leicht – man konnte merken, nicht, dass sie für solche Situationen keine Worte gehabt hätte, aber ihr fehlte irgendwie eine bestimmte Art von Reaktionen.

    Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin

    Nie werde ich den Tag im vierten Studienjahr vergessen, an dem ich mich fürchterlich blamierte.

    Der Dozent – der besagte – stellte im Seminar die Frage nach der Definition der Verfassunggebenden Versammlung. Die gesamte Seminargruppe schwieg hartnäckig und ich entschloss mich, die Situation zu retten. Ich würde aufstehen und diese ausgesprochen einfache Frage beantworten. Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin.

    Abends nahm mich Latyschka, die zu einer anderen Seminargruppe gehörte und die Szene nicht miterlebt hatte, ins Verhör:

    „Das heißt also: Du warst vor lauter Liebe nicht imstande, die Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist? Wie ist so etwas möglich?“

    Sie sah mich mit einer Mischung aus Besorgnis, Verärgerung und Neugier an. Als würde ich ihr gleich ein lebenswichtiges Geheimnis offenbaren. Ich war verheult, verquollen und konnte ihr keinerlei schlüssige Auskunft geben.

    „Ich weiß nicht. Ich bin aufgestanden, habe ihn angesehen, und meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so ein Druck auf der Brust, weißt du.“

    „Vor lauter Liebe?“

    „Ich weiß nicht … ich denke schon, ja, vor lauter Liebe.“

    Latyschka ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann und hob in bedeutendem Ton an zu sprechen – so hatte sie mit mir noch nie gesprochen. Beinahe auf Augenhöhe.

    „Nur etwas wirklich Großes kann einen Menschen daran hindern, die einfache Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist, Beschlej. Ich wünschte, ich würde so etwas empfinden.“

    VI.

    Ich denke nicht, dass die Veränderungen, die in Latyschka vorgingen, durch mich und meine alberne Verliebtheit ausgelöst wurden, mit der ich unser ganzes Zimmer nervte. Ich denke, irgendetwas in ihr war schon vorher in Gang gekommen.

    Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen

    Mir fällt zum Beispiel ein, dass sie von Jahr zu Jahr mehr über die Arbeit klagte. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, sie könne bei dem Radiosender, bei dem sie arbeitete, eine Art Fortschrittsmotor werden. Sie sprach von Reformen, träumte davon, den schwerfälligen Koloss von Staatsorgan Schritt für Schritt in Richtung einer besonnenen Effizienz zu manövrieren. Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Arbeitete Wohltätigkeitsprojekte aus. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen. „Ich verstehe nicht“, sagte sie dann, „ich verstehe nicht, warum die sich nicht verändern wollen. So würde es doch allen besser gehen.“

    Immer häufiger schickte sie mir Meldungen, über die sie sich aufregte. Sie redete von der Schwäche der russischen Wirtschaft, der Erdölabhängigkeit, der Ineffizienz der Staatsmacht, der schlechten Qualität der Ausbildung. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihre Einbürgerung und ihren ersten russischen Pass gefeiert hätten.

    Nachdem wir den Bachelor abgeschlossen hatten (sie – mit Rotem Diplom, ich – mit Mühe und Not), begannen wir gemeinsam den Master. Ihre Uni-Verdrossenheit nahm rasant zu. Sie begann Vorlesungen zu schwänzen, lieferte schlechte Klausuren ab. Und verkündete kurz vor den Sommerprüfungen, sie werde das Studium schmeißen. In ihrer üblichen schroffen Art erklärte sie, das Masterstudium habe ihre Erwartungen nicht erfüllt und es gebe außer dem Studieren noch so viel anderes Wertvolles im Leben. Eines Tages packte sie ihre Sachen und weg war sie.

    Latyschkas Entschluss erschütterte mich. Mehre Tage war ich vollkommen in Aufruhr. Latyschkas leeres Bett mit der meerwellenfarbenen Synthetikdecke darauf versetze mich in größte Unruhe. Nachts bog sich das Metallfedernetz ihres Bettes nicht mehr durch, es blieb ganz still. Da oben war niemand mehr.

    Mir grauste.

    Ich überlebte mit Mühe und Not die Prüfungen, aber noch im selben Sommer wurde mir klar, dass ich das zweite Masterjahr nicht mehr weitermachen würde. Ohne Latyschka hatte das Studium vollkommen seinen Sinn verloren – mir war mein Bezugspunkt abhandengekommen.

    Die nächsten beiden Jahre trafen wir uns hin und wieder, blieben in Kontakt.

    Sie machte weiter Karriere und bekam immer wieder neue Stellen. Doch bereits damals sagte sie mir bei jedem unserer Treffen, sie sehe keine Perspektive. Fühle sich oft kraftlos und apathisch. Sie war genervt von ihren Chefs und der Zensur. Nach der Verkündung der Präsidenten-Rochade im September 2011 hörte ich Latyschka zum ersten Mal etwas murmeln wie „Zeit die Zelte hier abzubrechen“.

    Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt haben sie Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan gehört. Das war eine ganz schön subversive Aktion.‘ Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an

    Sie legte sich Hobbys zu, die man keinesfalls von ihr erwartet hätte – Fengshui, Psychologie, Horoskope. Sie probierte verschiedene Extremsportarten aus und hatte sich einen merkwürdigen Typen angelacht, der, wie sie behauptete, mit bloßem Blick Schlösser knacken konnte. Dann fing sie an, sich mit östlichen Praktiken zu beschäftigen und liebäugelte mit verschiedenen Religionen. Sie machte Urlaub in Tibet und als sie zurückkam, tötete sie keine Mücken mehr.

    Ihr Interesse an der uns umgebenden Wirklichkeit flackerte auf in der Zeit der Proteste 2011/2012. Sie stürzte sich aufs Neue kopfüber in ihre Arbeit. Nur dass sie dieses Mal diejenige sein wollte, die alles von innen heraus ins Wanken bringt. Sie triumphierte jedes Mal, wenn es ihr gelang, in einer Nachrichtenmeldung inoffizielle Zahlen zur Anzahl der Kundgebungsteilnehmer einzuschleusen, wenn sie Zitate von den Protestanführern oder auch einfachen Teilnehmern unterbringen konnte. Doch mit der Zeit wurden die Protestnachrichten abgelöst durch eine regelrechte Welle von Verhaftungsmeldungen, später waren es Berichte von den Gerichtsverfahren. Latyschkas Enthusiasmus erlosch. Ihre letzte Heldentat war eine Rede Alexej Nawalnys nach einer seiner Verurteilungen, die sie persönlich auf Sendung schaltete.

    „Mann, du bist echt cool“, sagte ich damals zu ihr.

    Latyschka wirkte nicht glücklich.

    „Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt hat man Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan hören können. Das war eine ganz schön subversive Aktion.“

    Ich bin aber bis heute der Meinung, dass sie damals mutig gehandelt hat.

    Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert

    Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an. Ich dachte, dieses Hobby würde ebenso schnell wieder verschwinden wie die übrigen. Doch kaum hatte Latyschka einen Kurs absolviert, fing sie schon den nächsten an. Und dann noch einen. Bald knetete sie mir und meinen Freunden regelmäßig den Rücken durch. Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert.

    „Weißt du, das ist … das ist so ein Glück, wenn deine Arbeit darin besteht, jemandem etwas Gutes zu tun“, erklärte mir Latyschka. „Darüber habe ich früher nie nachgedacht. Ich wusste nicht, wie wichtig das ist – nicht einfach nur nichts Böses, sondern etwas Gutes zu tun, etwas Richtiges und Notwendiges.“

    Sie nahm sich alles sehr zu Herzen. Als klar war, es würde darauf hinauslaufen, dass sie die Arbeit beim Sender aufgab, brach bei ihr eine offensichtliche Krise aus. Ihr Job war gut bezahlt, sie hatte eine gute Wohnung, einen hohen Posten. Und schließlich war da ihre Mutter in Lettland, so stolz, dass ihre Tochter in die „historische Heimat“ zurückgekehrt und dort so erfolgreich war.

    „Wie kann ich das alles aufgeben, Beschlej? Was sage ich meiner Mutter? Und was werden all die anderen Leute sagen? Unsere Kommilitonen? Meine Kollegen?“

    Und ich, die ich ihr mehr als irgendjemand sonst sagen konnte und wollte, gab zur Antwort:

    „Weißt du was, die können dich alle mal. Na gut, alle bis auf deine Mutter.“

    Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können

    Beim Sender kündigte sie kurz nach den Krim-Ereignissen von 2014. Und machte dann eine Pilgertour auf dem Jakobsweg, bis nach Santiago de Compostela.

    Ihre Reiseberichte schickte sie an die Zeitschrift, bei der ich damals arbeitete. Ich redigierte ihre Texte, las grollend von dem WEG, den „jeder für sich finden sollte“, während ich ihre Fotos betrachtete, die so farbenfroh waren und so surreal in meinem staubigen Büro.

    „Okay“, dachte ich, „früher oder später wird sie ja zurückkommen.“

    VII.

    Latyschka ging zurück nach Lettland.

    Der Umzug zog sich quälend lange hin. Immer wieder hatte sie irgendwelche Sachen vergessen, derentwegen sie noch einmal wiederkam. Wir hatten uns bestimmt schon dreimal verabschiedet.

    Im Februar endlich war es so weit.

    Sie hat sich in Riga eine Wohnung gemietet. Ihr eigenes Geschäft angemeldet. Sie massiert jetzt legal, zahlt Steuern. In Moskau war das aus irgendwelchen Gründen äußerst schwierig und vollkommen unrentabel gewesen.

    Der Käse sei in Lettland jetzt viel besser als damals, als sie wegging, schrieb sie.

    Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Universität ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können.

    Ich denke oft daran, wie ich ihr eines Nachts, kurz vor den Abschlussprüfungen, meinen Gedanken vorstellte, dass irgendwo schon jetzt die Zeit und der Raum existieren, wo alles, was jetzt ist, bereits hinter uns liegt:

    „Nehmen wir mal an, es sind zum Beispiel fünf Jahre vergangen. Es ist Nacht wie jetzt. Du liegst im Bett. Wo liegst du da?“

    „Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, es wird nicht allzu weit bis zum Meer sein. Ich vermisse das Meer. Und du, Beschlej?“

    „Ich weiß es auch nicht. Aber ich hoffe, ich habe dann eine gute Matratze.“

    Eine gute Matratze habe ich.

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    Wie viele Aidskranke es in Russland gibt, vermag keiner genau zu sagen. Es fehlt ein landesweites Register. So gehen selbst offizielle Zahlen auseinander: Etwa 742.000 AIDS-Infizierte meldete das Gesundheitsministerium Ende 2015. Das föderale AIDS-Bekämpfungszentrum hatte im Januar 2016 sogar die Daten von einer Million HIV-Infizierten erfasst – und geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl noch höher ist und bei rund 1,5 Millionen liegt. Einig sind sich die Experten allerdings darin, dass  sich die Epidemie tendenziell ausbreitet. So warnte das Gesundheitsministerium vor einem „katastrophalen Anstieg“ der HIV-Infektionen in Russland um etwa 250 Prozent bis zum Jahr 2020.

    Abgeordnete der Moskauer Stadtduma nahmen sich Ende Mai der Problematik an und diskutierten, wie die Verbreitung der Immunschwächekrankheit in der russischen Hauptstadt zu stoppen sei. Dafür luden sie allerdings keine Mediziner, sondern Mitarbeiter des Russischen Instituts für Strategische Studien ein.

    Alexander Tschernych berichtet für Kommersant von einer höchst ungewöhnlichen Anhörung.

    Ludmilla Stebenkowa, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, eröffnete die Anhörung. Sie erinnerte daran, dass die Abgeordneten bereits vor einem Jahr das Thema HIV erörtert hatten, „weil uns in der Presse laufend angedichtet wurde, dass es bei uns Unmengen von HIV-Infizierten gäbe“. Tatsächlich hatte im Mai vergangenen Jahres der Vorsitzende des Föderalen AIDS-Bekämpfungszentrums Wadim Pawlowski von einer HIV-Epidemie im Lande gesprochen und die Situation als „nationale Katastrophe“ bezeichnet (siehe Kommersant vom 15. Mai 2015).

    Damals hatten die Abgeordneten um eine Prüfung der Daten und ein „Grundlagenpapier zur HIV-Infektion“ gebeten. Hierfür wandte sich die Moskauer Regierung allerdings nicht an Mediziner, sondern an das Russische Institut für Strategische Studien (RISS), ein staatliches Analysezentrum, das 1992 durch einen Erlass des russischen Präsidenten gegründet worden war. Wie es auf der Website des RISS heißt, befasst sich das Institut mit „Fragen der nationalen Sicherheit“ sowie mit der „Verhinderung von Geschichtsverfälschung“. Und wie Ludmilla Stebenkowa erklärte, habe das Institut bislang „ein hervorragendes Papier zur Arbeit vom Westen finanzierter NGOs“ vorgelegt.

    An der Erstellung des HIV-Papiers hatte das RISS beinahe ein Jahr gearbeitet – am 30. Mai wurde es von Tamara Gusenkowa, der Vize-Direktorin des Instituts, präsentiert. Wie aus der RISS-Website hervorgeht, hat Frau Gusenkowa keinen Bezug zur Medizin: Sie ist promovierte Geschichtswissenschaftlerin, kritisiert in ihren Publikationen die neue Regierung der Ukraine und äußert sich zum „Niedergang der EU“.

    AIDS als Teil des Informationskriegs gegen Russland

    Sie nähert sich dem Thema HIV aus einer gewohnten Perspektive und erklärt, dass „das HIV- bzw. AIDS-Problem als Element des Informationskriegs gegen Russland eingesetzt wird“. Im Papier des RISS heißt es, es gäbe zwei Konzepte der HIV-Bekämpfung: Im westlichen Konzept finde sich „neoliberaler, ideologischer Content, ein unsensibler Umgang mit nationalen Besonderheiten und eine Priorisierung der Rechte von Risikogruppen – Drogenabhängigen und LGBT“. Das Moskauer Konzept hingegen „berücksichtigt kulturelle, historische und psychologische Besonderheiten der russischen Bevölkerung und stützt sich auf eine konservative Ideologie und traditionelle Werte“.
    Die internationale Gemeinschaft lege Russland beim Kampf gegen die Erkrankung den westlichen Ansatz nahe und verwandle damit – Gusenkowa zufolge – das Thema der Epidemie „in ein politisches Problem der Konfrontation mit Russland, da Russland es sich erlaubt, eine eigenständige Außen- und Innenpolitik zu betreiben“.

    Den Vergleich zwischen den zwei Konzepten präsentierte die Vize-Vorsitzende des RISS Oxana Petrowskaja, ebenfalls promovierte Geschichtswissenschaftlerin mit Schwerpunkt in süd- und westslawischer Geschichte. Auf der Website des Instituts sind ihre Arbeiten veröffentlicht, zum „Schicksal russischer Nekropolen im Ausland“ und zur Identitätskrise in Polen.

    Frau Petrowskaja berichtete, dass man HIV in Moskau besser im Griff habe als in St. Petersburg, und bot dann auch eine Erklärung: „Die Gründe liegen nicht nur in geographischen und regionalen Besonderheiten, sondern auch in der Traditions- und Werteorientierung“, sagte sie. „Moskau kann man als Symbol für ursprünglich russische Werte ansehen, St. Petersburg dagegen steht für westeuropäische kulturelle Werte.“

    Der RISS-Bericht fasst dies noch konkreter: „Die erdverbundene Ursprünglichkeit des naturgewaltig erwachsenen heiligen Moskauer Bodens steht dem künstlich und rational organisierten St. Petersburg gegenüber, dessen konstituierender Mythos die Apokalypse einer dem Untergang geweihten Stadt ist.“

    Eine Quelle der HIV-Übertragung: die Verhütungsmittel-Industrie

    Der dritte Co-Autor des Papiers, Igor Beloborodow, ist promovierter Soziologe und leitet am RISS den Bereich Demographie, Migration und ethnisch-religiöse Probleme. Er liefert eine Auflistung von Quellen der HIV-Übertragung: „Da ist die Verhütungsmittel-Industrie. Sie ist am Absatz ihrer Produkte interessiert und daher auch daran, dass möglichst viele Minderjährige früh sexuelle Kontakte eingehen. Und was die Pornoindustrie angeht: Trotz all unserer Gesetze kommt man mit zwei Klicks an sämtliches Material.“

    Herr Beloborodow kritisierte auch die Sexartikel-Industrie und sprach von „Lobbyisten, die direkt am Moralverfall der Gesellschaft interessiert sind. Er äußerte sogar die Annahme, dass Sexualkundeunterricht für Schüler vom Westen aufgedrängt werde, um „Länder, die als geopolitische Konkurrenten angesehen werden, demographisch einzudämmen“.

    Bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor AIDS als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält

    Hauptfeind sind für den RISS-Mitarbeiter jedoch Kondome. Beloborodow berichtete über sein Gespräch mit dem spanischen Epidemologen Jokin de Irala: „Er geht davon aus, dass Verhütungsmittel den Selbsterhaltungstrieb im eigenen Verhalten außer Kraft setzen. Und fünf Kontakte mit Kondom sind bei Jugendlichen gleichzusetzen mit einem ungeschützten Kontakt […] Wie dem auch sei, bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor Geschlechtskrankheiten, und insbesondere vor AIDS, als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält. Etwas wirksameres wurde bislang nicht erfunden“, führte der Experte aus dem präsidialen Analysezentrum aus, „und ich hoffe, dass auch nichts erfunden wird.“

    Man muss hinzufügen, dass der RISS-Mitarbeiter die Position des spanischen Professors de Irala recht freizügig interpretiert: Der betont in Interviews, dass Enthaltsamkeit allein nicht helfe und vertritt das Konzept „Enthaltsamkeit und Kondome“.

    Die Abgeordnete Stebenkowa unterstrich, sie habe nichts gegen Kondome als Verhütungsmittel, glaube aber nicht an deren Wirksamkeit gegen HIV. Sie sagte, man habe ihr vor Kurzem die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die Sex mit Kondom gehabt hatte – trotzdem habe man bei ihr den HI-Virus festgestellt. „Aber das Risiko sinkt“, bemerkte plötzlich der bei der Anhörung anwesende Leiter des Moskauer AIDS-Zentrums Alexej Masus. „Absoluten Schutz kann ein Kondom aber nicht bieten“, schnitt ihm die Abgeordnete das Wort ab.

    Der Widerspruch des Mediziners blieb aus. Zu guter Letzt teilte Ludmilla Stebenkowa den Anwesenden mit: „Dieses Papier wird unsere weiteren Schritte maßgeblich beeinflussen. […] Im Grunde muss man nicht AIDS bekämpfen, sondern Drogen und Sittenverfall“, sagte sie.

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  • „Mir ist klar, warum es diese ganze Prostitution gibt“

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    Wer durch St. Petersburg spaziert, dem begegnen sie immer wieder, auf Zebrastreifen, Autotüren, Plakatfenstern: Anzeigen von Prostituierten und Bordellen. Meist stehen da nur ein Frauenname und eine Nummer dahinter.

    Prostitution ist in Russland ein relativ neues Phänomen, das zu Sowjetzeiten in einer absoluten Tabuzone und im Alltag kaum sichtbar war. Mit der Migration und den wirtschaftlich prekären Verhältnissen verbreitete sie sich erst nach der Perestroika. Da die Prostitution als Gewerbe verboten ist, bewegen sich die Frauen in der Illegalität, sind kaum geschützt, während das ganze Milieu hochgradig kriminalisiert ist. Vereinzelt machen Aktivisten auf die schwierige Lage der Prostituierten aufmerksam, insgesamt jedoch wird das Problem nur wenig thematisiert.

    Das Stadtmagazin Bolschoi Gorod lässt den ehemaligen Security-Mann eines Bordells zu Wort kommen. Der gibt einen subjektiven Einblick in den rauen Alltag.

    Hartes Pflaster – Prostitution in Russland ist illegal, die Frauen sind kaum geschützt. Foto © Ilya Varlamov
    Hartes Pflaster – Prostitution in Russland ist illegal, die Frauen sind kaum geschützt. Foto © Ilya Varlamov

    Ein Freund, der auch Fußballfan ist, bot mir vor ein paar Jahren an,  für ihn als Security im Bordell einzuspringen. Der Job sagte mir zu, und ich blieb Vollzeit dort. Die Wachleute wurden anständig bezahlt – für eine 24-Stunden-Schicht ungefähr 100 Dollar bar auf die Hand. Für Piter war das gutes Geld.

    Der Puff befand sich in einem Souterrain am Stadtrand. Drei Kellerräume waren mit Vorhängen abgeteilt, so dass sich jeweils zwei oder drei Nischen ergaben. So einen Laden kann man aufmachen, wenn man nicht viel Geld hat und Bullen kennt – ein Bordell aufmachen, schnell Kapital anhäufen und in ein anderes Business wechseln.  

    Unser Bordell kam ins Laufen, weil wir im ganzen Stadtviertel Werbezettel aufhängten. Sowas wie Relax 24. Da gab es extra einen Typen, der rumlief und Zettel klebte. Wenn auf diese Inserate hin viele Männer anriefen, bekam er 1500 bis 3500 Rubel [circa 20 bis 40 Euro] Manchmal meldeten sich auch Mädels, die Arbeit suchten.

    Ein Bordell aufmachen, schnell Kapital anhäufen und in ein anderes Business wechseln

    Keine Ahnung, was die Bordellbesitzerin vorher gemacht hatte, aber wahrscheinlich irgendwo am Empfang gearbeitet. Sie kannte die Bullen des Bezirks recht gut, ich denke, da nutzte sie Verbindungen von früher.

    Es war Aufgabe der Administration, Anrufe entgegenzunehmen und Präsentationen für die Kunden zu arrangieren. Die Administration machte die Kasse und die Abrechnungen, zahlte Löhne aus, organisierte den Alltag der Prostituierten und verkaufte alkoholische Getränke. Die Kohle ging an die Puffmutter oder, seltener, an einen Bullen.

    Ich kannte den Bullen, der den Kies holte. Das ganze Polizeirevier, ja der ganze Bezirk wusste, dass hier ein Bordell war. Manchmal kamen die Bullen selber als Freier. Die wurden gratis bedient. Ich hab gehört, dass sie rund 50.000 Rubel [circa 600 Euro] im Monat bekamen, aber ob das stimmt, weiß ich auch nicht.

    Auf Arbeit musste ich absolut nichts tun, nur Gäste begrüßen und verabschieden. Lesen ging nicht wirklich – Geschrei, Gestöhn, laute Musik. Das beste war, auf dem Handy zu spielen oder in sozialen Netzen rumzuhängen.

    Damit wir uns nicht langweilten, schleppten mein Freund und ich Fitnessgeräte an. Wir fanden einen abschließbaren Raum und kauften dafür Sporteinrichtung. Wir hatten da eine Scheibenhantel, ein Reck, einen Barren, Fausthanteln und Gewichte. Ich aß, schlief, trainierte, hing am Handydisplay. Konflikte mit Freiern wurden mit Worten oder Waffen gelöst. Pistole raus und höflich zum Abmarsch auffordern ging immer. Manchmal reichte auch Reizgas.

    Manchmal kamen die Bullen selber als Freier, die wurden gratis bedient

    Der Großteil der Kunden sind Arbeiter. Tadshiken, Usbeken. Manchmal auch ganz normale junge Russen. Wo mir dann oft nicht klar war, warum der keine Freundin hat. Aber nein – er geht in den Puff. Und bezahlt eine Frau, die … na eben eine unter seinem Niveau.

    Der Freier wird reingelassen und setzt sich dann auf die Gästebank. Dann kommen die verfügbaren Mädchen raus und lassen sich anschauen – das ist die Präsentation. Er sucht sich eine aus, die ihm gefällt. Die nimmt er mit aufs Zimmer.

    Die Mädchen kosteten 1200 [knapp 15 Euro]. Dafür kriegt der Kunde einen Blowjob, zweimal Verkehr und eine Entspannungsmassage. Analsex kostet extra. Ein Mädchen, das gut ankam, konnte locker bis zu zehn Freier pro Schicht bedienen. Die, die nicht so oft drankamen, zwei bis drei.

    Nutten gibt es verschiedene – Russinnen, Asiatinnen, Schwarze. Die Schwarzen haben eine eigene Chefin, die sie in Afrika für Russland anwirbt. Sie zahlt ihnen die Reise und eine Unterkunft. Die Mädchen schulden ihr dann rund eine Million Rubel [circa 12.000 Euro]. Diese Summe arbeiten sie im Bordell ab, zahlen ihr also nach jeder Schicht eine Rate. Außerdem bringt ihnen diese Frau Mittel gegen den speziellen Körpergeruch von Schwarzen und traditionelles Essen – so Fleischgerichte mit Reis. Manchmal gab’s auch Kuhschwänze.  

    Wenn sie nicht umgebracht werden oder sonst was passiert, gehen die nach Afrika zurück und starten dort gemütlich ihr eigenes Business. Zum Beispiel einen Supermarkt. Einen anderen Weg gibt es nicht. Dafür können sie herkommen, was ausprobieren und leben dann in Saus und Braus.   

    Die Afrikanerinnen wohnten im Bordell. Ich brachte ihnen russische Schimpfwörter bei. Zum Beispiel „******“ auf die Frage „Wie gehts“. Ich wollte einfach hören, wie sie das Wort „******“ [supergeil] mit ihrem Afroakzent aussprechen.

    Die Mädchen hatten keinen bestimmten Zeitplan. Kein Krankengeld und keine Sozialleistungen. Das ist keine Arbeit

    Die anderen kamen einfach zum Geld verdienen. Zum Spaß einfach nur rumhängen tat dort niemand – die Mädels mussten für die Wachleute zahlen. Auch Gleitgel und was sie sonst noch brauchten bezahlten sie aus eigener Tasche. Gummis kauften sie auch auf eigene Rechnung, und sie bumsten nie ohne. Das war absolute Bedingung. Die Freier versuchten manchmal, das Kondom abzustreifen, aber dann mischten wir uns ein, entweder ich oder die Administration.

    Ganz interessant, dass in diesem Geschäft keine Tadshikinnen genommen werden. Viele Tadshiken haben nämlich was dagegen, dass Tadshikinnen auf den Strich gehen. Dann kommen sie womöglich ins Bordell, stiften Unruhe, verletzen jemanden, nehmen die Frau mit und fahren mit ihr in den Wald und bringen sie um.

    Unsere Luder hatten keinen bestimmten Zeitplan. Kein Krankengeld und keine Sozialleistungen. Das ist keine Arbeit. Manchmal, wenn zu wenige da waren, riefen wir sie an, ansonsten scherte sich niemand drum, ob sie sich frei nahmen oder nicht. War ja ihre Kohle. Soll sie doch selber entscheiden: Kann sie krank herkommen oder nicht? Klar kann sie krank kommen. Manche kommen auch mit Fieber und ****** [arbeiten].    

    Die Mädchen landen freiwillig im Puff. Heutzutage bringt es nichts, jemand zu entführen und zu zwingen. Das gilt als besonders schweres Verbrechen, und wozu bitte jemanden klarmachen, wenn es Leute gibt, die freiwillig auf den Strich gehen?

    Wenn sie nicht umgebracht werden oder sonst was passiert, gehen die nach Afrika zurück und starten dort ihr eigenes Business

    Einmal gab’s bei uns einen Überfall. Stammkunden. Zwei klingelten an der Tür, drei versteckten sich um die Ecke. Ich war nicht dabei, mein Kollege hatte Schicht. Er sah durch den Spion bekannte Gesichter, dachte, alles ok, und machte auf. Sie schlugen ihn sofort nieder, er rollte die Treppe runter. Die, die sich versteckt hatten, stürmten rein. Sie hatten Schlagstöcke. Einer hatte eine Luftpistole. Sie schlugen meinen Kollegen zusammen, schleiften ihn ins Bordell rein, prügelten dort alle nieder. Meinem Kollegen haben sie sein Tablet und sein Geld abgenommen. Die Afrikanerinnen haben sie ausgeraubt, das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Die Kasse mitgehen lassen.     

    Die Frau am Empfang hatte sich auf dem Klo versteckt, aber sie schlugen die Tür ein, zogen sie aus dem Klo und vergewaltigten sie auch noch. Den Wachmann wollten sie auch vergewaltigen.

    Dann kam ein Polizist ins Bordell. Er kam nicht wegen dem Überfall, sondern um seine Knete zu holen. Sie sahen ihn, jagten ihm nach, und als sie ihn erwischten, schlugen sie ihn mit den Schlagstöcken und schossen ihn mit der Luftpistole an. Nahmen ihm zwei iPhones und eine Goldkette ab. Die Gangster, alles Migranten, versprachen, wiederzukommen. Sie wollten Schutzgeld erpressen.    

    Ich und die anderen Securitys beschlossen, sie zu bestrafen.

    Das nächste Mal nahm ich eine Gummigeschosspistole, einen Jagdkarabiner, mehrere Messer und Tränengas mit ins Bordell. Wir warteten, dass sie wiederkommen. Im Endeffekt kamen zwei der Gangster, einen davon erkannten wir. Sie brachten eine Torte mit. Wir stürzten uns auf sie. Sie ließen die Torte fallen und suchten Deckung. Einen verprügelte ich mit dem Pistolenschaft, es begann ein Gerangel, und mein Kumpel schoss den beiden in die Beine.

    Das nächste Mal nahm ich eine Gummigeschosspistole, einen Jagdkarabiner, mehrere Messer und Tränengas mit ins Bordell. Wir warteten, dass sie wiederkommen

    Ich nahm das Messer, packte einen von ihnen am Kragen und tat, als wäre ich ******** [irre]. Ich lachte hysterisch, heulte, brüllte ihn an und biss ihn in die Wange. Als er sein Gesicht hinter seiner Hand verbarg, stach ich mit dem Messer auf seinen Arm ein. Dann drohte ich, ihm das Ohr abzuschneiden.

    Da sah ich, dass in der Blutlache auf dem Boden Tortenstückchen schwammen. Ich fischte mit dem Messer einen Brocken Torte, schwenkte ihn im Blut und fütterte den Burschen mit dieser appetitlichen, prächtig roten Torte. Er aß. Er hatte keine Wahl, ich hatte ihm ja versprochen, ihm sonst den Mund mit dem Messer aufzuschneiden. Sie erzählten uns alles, was sie wussten.

    Dem Typen, der nichts damit zu tun hatte, rieten wir, bis zum Abend ruhig abzuwarten, und ließen ihn frei. Der andere blieb bei uns. Wir hielten ihn als Geisel, bis unsere Leute die anderen Gangster gefunden hatten. Insgesamt hielten wir sie ungefähr 20 Stunden fest. In der Zeit versuchten wir, ihnen die Kugeln aus den Beinen zu ziehen, aber vergeblich. Die Nutten riefen einen Bekannten an, der Arzt war. Der bekam die Kugeln aber auch nicht raus. Wir überredeten sie, ins Krankenhaus am anderen Ende der Stadt zu gehen.

    In der nächsten Nacht nahm uns die Polizei fest – der, den wir laufen gelassen hatten, war zu den Leuten seines Kumpels gegangen. Als die erfuhren, dass wir ihn im Bordell festhielten, verpfiffen sie uns bei den Bullen. Ich hab’s abgesessen. Die, die den Überfall gemacht haben, sitzen immer noch.

    Ich fischte mit dem Messer einen Brocken Torte, schwenkte ihn im Blut und fütterte den Burschen mit dieser appetitlichen Prächtig roten Torte

    Die Mädels im Puff hab ich verachtet. Ich hab mich sogar bemüht, sie nicht zu berühren und nichts zu nehmen, was sie in der Hand hatten. Einmal hab ich Wasser genommen, und usbekische Pistazien.

    Jemand, der so etwas macht wie die, verkommt mit der Zeit. Sie trinken, nehmen Drogen. Wir haben im Bordell Spritzen gefunden. Eine hing sicher an der Nadel – immer völlig fertig, und die Beine voller blauer Flecken. Geschwollene Füße, das Gesicht aufgedunsen, hässlich. Den Job wechseln wollten die Nutten anscheinend nicht. Sie sagten, sie haben im Bordell angefangen, weil sie sich anders nicht finanziell durchschlagen konnten.

    Ich finde es nicht in Ordnung, seinen Körper zu verkaufen, aber ich finde, jeder Mensch hat das Recht, das selbst zu entscheiden. Mir ist klar, warum es diese ganze Prostitution gibt. Daran sind nicht die Mädchen schuld. Schuld sind die Umstände rundherum.

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  • „Russland fällt immer weiter zurück“

    „Russland fällt immer weiter zurück“

    Berühmt wurde er mit seinen Fandorin-Krimis, die sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen: Boris Akunin ist weltweit ein Kult-Autor. Dass sich Akunin, der unter Pseudonym schreibt und im wirklichen Leben Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili heißt, auch mit Geschichte gut auskennt, das wissen hierzulande die Wenigsten. In Russland jedoch sind in den vergangenen Jahren bereits drei Bände seiner Sachbuchreihe Geschichte des russischen Staates erschienen.

    Zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 2016 sprach ZNAK mit ihm über Sinn und Unsinn der Geschichte, die Pferde der Goldenen Horde und Elektroautos am Horizont.

    Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov
    Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov

    Alexander Zadoroshni: So gründlich wie Sie, Grigori Schalwowitsch, die Geschichte Russlands erforschen, haben Sie sicher gewisse Gesetzmäßigkeiten festgestellt und formuliert. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn der Geschichte – und was sind ihre Gesetze? 

    Boris Akunin: Ganz kurz gesagt … Geschichtswissen hilft einer Nation, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Unkenntnis und Unverständnis der Geschichte dagegen lässt sie immer wieder in dieselben Fallen tappen. Jeder andere Umgang mit der Geschichte – als Mittel zur Erziehung der heranwachsenden Generation, als Anregung zu Patriotismus, als Rechtfertigung territorialer Ansprüche et cetera – ist ein gefährlicher Irrtum.  

    Das Russland von heute braucht dringend westliche Technologien. Europa wiederum ist interessiert an Russlands Rohstoffen und dem hiesigen Markt. Was denken Sie, sind wir zur Kooperation verdammt, zum „Zusammenleben“, oder werden wir es ohne einander „schaffen“?

    Was soll das heißen, „verdammt“? Es ist doch wunderbar, wenn wir einander brauchen. Natürlich müssen wir Handel treiben und kooperieren. Sonst müssen wir die Chuch’e-Ideologie übernehmen und uns mit Reisrationen allein an großen staatlichen Feiertagen zufrieden geben.

    „Europa geht zugrunde“: Unkontrollierbare Flüchtlingsströme, Terrorismus, der Verlust der Identifikation mit dem Christentum, sexueller Sittenverfall, Finanzkrisen – das ist bekanntlich die Standart-Sichtweise von russischer Seite. Inwiefern entspricht sie der Realität?

    Gar nicht. So wie das derzeitige Europa würden wohl alle gern zugrunde gehen. Natürlich gibt es Probleme, doch die sind nicht so katastrophal wie von Journalisten dargestellt. Westeuropa ist heute die beste und am besten versorgte Region der Welt. Freundliche, aufgeschlossene, friedliche Menschen gibt es dort viel mehr als anderswo, und das ist der wichtigste Gradmesser.   

    Nach dem, was 2014 in der Ukraine passiert ist, werden die Wunden sehr langsam verheilen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt

    Eine Frage konkret zur Ukraine. Über mehrere Jahrhunderte des vergangenen Jahrtausends gehörten die Gebiete der heutigen Ukraine dem katholischen Großfürstentum Litauen an, danach der Königlichen Republik Polen-Litauen.

    Tritt also gegenwärtig diese kulturelle Bruchstelle zutage, sind wir gar keine richtigen „Brudervölker“? Die einen Experten sprechen von einem Bruch für immer, die anderen von einem friedlichen Zusammenleben in einem gemeinsamen europäischen Haus.

    Nach dem, was 2014 passiert ist, werden die Wunden nur sehr langsam verheilen. Ihre Behandlung hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt. Doch eine neue Regierung wird ein sehr schweres Erbe antreten.     

    In der russischen Geschichte gab es Institutionen wie die Volksversammlung Wetsche oder die Ständeversammlung Semski Sobor. Was meinen Sie, sind die Russen heute fähig zu einer Demokratie europäischer Qualität?    

    Natürlich sind sie das. Alles hängt von den Regeln ab, die es in der Gesellschaft gibt. Von den Signalen, die die politischen Machthaber von oben herabsenden. Vom Stand der Entwicklung demokratischer Institutionen. Vom Glauben an ihre Wirksamkeit.

    Eine solche Evolution geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du den nicht machst, kommst du generell nirgendwohin.

    Von Iwan III. bis heute ist bei uns die Devise aktuell: „Moskau ist das Dritte Rom, ein viertes wird es nicht geben.” Was ist eigentlich das Römische an der russischen Geschichte?

    „Römisch“ oder besser gesagt byzantinisch ist bei uns die Orthodoxie, die fast die gesamte russische Geschichte hindurch Staatsreligion war und es jetzt wieder geworden ist.
    Im strukturell-typologischen Sinn ist Russland allerdings Nachfolger und Erbe des Reichs von Dschingis Khan und der Goldenen Horde und hat immer versucht, sich auf eben jenem Gebiet auszubreiten.

    Als Erklärung dafür, warum Volksherrschaft, Selbstverwaltung und Föderalismus in Russland nur schlecht gelingen, wird oft der jahrhundertelange Einfluss dieses mongolisch-tatarischen Jochs genannt.     

    Die mongolisch-tatarische Phase (der Terminus „Joch“ ist nicht korrekt) hat unseren Staatstyp bestimmt. Übrigens hat dieses Modell auch seine Stärken: eine hohe Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Mobilisierung in Zeiten schwerer Bewährungsproben, große Ressourcen an Opferbereitschaft. Erreicht wurde das jedoch auf Kosten von Persönlichkeitsrechten und Gefühlen persönlicher Würde, die wiederum Eckpfeiler des westeuropäischen Modells sind.

    Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine ,straffe Machtvertikale‘ zur Entwicklungsbremse

    In Ihrer Geschichte des russischen Staates führen Sie an, dass die Zentralisierung der Macht mehr Möglichkeiten zu „kumulativer“ Entwicklung und einem mobilisierenden Ruck biete als Demokratie und Föderalismus. Denn bei letzteren gehe viel Zeit für Abstimmungsverfahren verloren.
    Ist also jetzt, wo unsere Gesellschaft einen solchen „Durchbruch“ braucht, die Zentralisierung der Macht gerechtfertigt?

    Nein. Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine „straffe Machtvertikale“ zur Entwicklungsbremse. Das Staatsmodell der Goldenen Horde hat seine historische Schuldigkeit getan.

    Jetzt rückt die sogenannte Soft Power auf den Plan: Lebensstil, wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bildungsniveau. Gewinner sind jene Länder, in denen die Entwicklung nicht auf Befehl von oben erfolgt, sondern freiwillig, an Ort und Stelle.
    Provinz und Peripherie werden wichtiger als das Zentrum. Bei uns dagegen gibt es die umgekehrte Tendenz. Deswegen fallen wir immer weiter zurück.  

    Kormlenije, Bestechlichkeit, Korruption – das sind unsere „Muttermale“. Dahinter verbirgt sich folgende Logik: Russland hat riesige Flächen, deswegen besteht eine ständige Notwendigkeit, die auseinanderfallenden Gebiete „zusammenzukleben“, daraus ergibt sich eine gewaltige Bürokratie und daraus wiederum Korruption.

    Ist Korruption also eine natürliche Folge unserer weiten räumlichen Ausdehnung – und damit eine Gegebenheit, die man am besten einfach so hinnimmt?   

    Korruption ist der natürliche Begleiter einer nackten „Vertikale“. Wenn es keine echten Abgeordneten gibt, keine unabhängigen Richter, nur Kontrolle von oben, dann lernt der Beamte schnell eine goldene Regel: Sieh zu, dass du der Obrigkeit gefällst – und mach ansonsten, was du willst.

    Manchmal scheint es, als würde bei uns alles von irgendwelchen Idioten bestimmt. Doch dem ist nicht so. Minister, Bürgermeister, Gouverneure und sonstige Funktionäre sind keineswegs Idioten, sie haben nur eine andere Priorität: Oberstes Ziel jeder Handlung ist es, der Gunst der Vorgesetzten zu dienen, und nicht dem Interesse an der Sache und schon gar nicht der Gunst der Bevölkerung.

    Alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst zischt der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüber und verschwindet am Horizont

    Unsere Geschichte kennt sowohl Beispiele der „offenen“ (Nowgorod) als auch der „geschlossenen“, autarken Entwicklung. Was denken Sie, welcher Weg ist für uns der organischste, welcher verspricht den meisten Erfolg?

    Im 21. Jahrhundert muss man auf die „Horizontale“ setzen, also auf die Entwicklung der Regionen, auf deren kreatives Potenzial. Das Zentrum muss in diesem Orchester die Rolle des Dirigenten spielen und Arbeiten übernehmen, die für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung sind. Punkt.

    Und alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst werden wir immer wieder auf das „Pferd der Horde“ steigen und runterfallen – während der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüberzischt und am Horizont verschwindet.

    In Russland ist man gern stolz darauf, dass wir weder Westen noch Osten sind, dass wir einen „besonderen Weg“ haben: einen Staat, den Normannen gegründet und Mongolen gestaltet und geprägt haben.    

    Pah, was wir nicht alles finden, um uns aufzuplustern. „Besonderer Weg“, „wir sind die Besten“, „nein, wir sind die Schlechtesten“. Bei uns klopft man eben gern reißerische Sprüche.
    Man muss dafür sorgen, dass es zu Hause sauber und ordentlich ist. Damit sich die Menschen im eigenen Land wohlfühlen. Damit der Staat dem Volk dient, und nicht umgekehrt. Damit die Menschen nicht erniedrigt werden. Damit den Schwachen geholfen wird, ein normales Leben zu führen, und den Starken, sich weiterzu­entwickeln. Dann wird sich Schritt für Schritt alles bei uns regeln, und die ganze Welt wird uns Respekt zollen.   

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  • Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

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