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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Freundschaft auf Russisch

    Freundschaft auf Russisch

    Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Und in manchen Ländern geht die Freundschaft sogar über Recht und Gesetz. Das hat der niederländische Kommunikations- und Kulturwissenschaftler Fons Trompenaars in seinen Studien herausgefunden. Trompenaars unterteilt Kulturen in verschiedene Kategorien. Unter anderem unterscheidet er universalistische von partikularistischen Kulturen: Während in ersteren allgemeine Regeln für alle gelten, ändern sich in letzteren die Regeln je nach Situation.

    Auch in Russland werden Trompenaars Klassifikationen breit diskutiert. Der Journalist Ostap Karmodi nimmt das allgemeine Interesse daran zum Anlass, um auf dem Portal Reed die Besonderheiten der russischen Freundschaft auszuloten.

    „Sie fahren mit einem Freund mit dem Auto durch die Stadt, der Freund sitzt am Steuer. Er fährt erheblich zu schnell und fährt einen Fußgänger an. Es gibt keine Zeugen außer ihnen. Würden Sie unter Eid lügen, um ihren Freund vor dem Gefängnis zu retten?“

    Diese Frage hat der niederländische Wissenschaftler Fons Trompenaars Studienteilnehmer in verschiedenen Ländern gestellt. In jedem Land fiel die Antwort anders aus. Am universalistischen Ende des Spektrums standen die USA, England und die Schweiz. In diesen Ländern würden 90 Prozent der Befragten nicht für den straffälligen Freund lügen. Am anderen, partikularistischen Ende des Spektrums fanden sich Russland, China und Venezuela. In diesen Ländern scheint Freundschaft für die Mehrheit der Bevölkerung wichtiger zu sein als das Gesetz.

    Universalismus versus Partikularismus

    Trompenaars illustriert diesen kulturellen Unterschied mit einer Geschichte, als bei einer dieser Befragungen in einer Gruppe Franzosen auch eine Engländerin anwesend war. Die wollte als erstes wissen, wie es denn um den Zustand des Fußgängers bestellt sei. Die anderen Teilnehmer fragten sie, was das denn ändern würde. Einer der Franzosen erklärte sofort, dass, wenn der Fußgänger ernste gesundheitliche Schäden davongetragen hätte oder ums Leben gekommen sei, man den Freund natürlich unbedingt retten müsse. Die Engländerin lachte nervös auf und sagte, dass es aus ihrer Sicht gerade andersherum sei.

    Einen solchen Partikularismus beobachte ich jeden Tag in den Posts von facebook.

    So schrieb zum Beispiel der Kreml-Politologe Sergej Markow nach dem Terroranschlag in München, dass die Regierungen in Deutschland und Frankreich für den Terror eine Verantwortung tragen würden. Und warum? Weil sie eben einen hybriden Krieg gegen Russland führen und die Neonazis in Kiew unterstützen würden. Drei ganze Beiträge schrieb er dazu. Mitgefühl drückte Sergej Markow nur in einem der Beiträge aus, und das auch nur nebenbei und darüber hinaus nicht den Betroffenen gegenüber, sondern den „europäischen Freunden“. Auch wenn ich es ahne, weiß ich nicht, wer Markows „europäische Freunde“ sind. Ich teile mit ihm nur drei Freunde auf facebook.

    Ich wähle meine Freunde sehr sorgsam aus, bei facebook wie im Leben. Keiner von ihnen ist ein aggressiver Putin-Anhänger oder Krimnaschist. Ich bin vollauf überzeugt, dass die Stellungnahmen Markows meinen facebook-Freunden ebenso sehr zuwider sind wie mir. Sie erdulden sie aber, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

    „Was soll’s?“, fragen viele, „das ist halt facebook.“ So ist aber nicht nur facebook. Im realen Leben geschieht genau das Gleiche. Am 8. Juli 2016 veröffentlichte Meduza die Mitschrift eines Gesprächs in der Redaktion von RBK, wo die neue Führung den Journalisten des gestern noch unabhängigen Portals erklärt, dass sich die Spielregeln geändert hätten und es eine Grenze gebe, die besser nicht überschritten werden solle. Die meisten der anwesenden Liberalen gingen vor Empörung an die Decke, doch die neuen Chefs, Trosnikow (der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von ITAR-TASS) und Golikowa (die ehemalige Chefredakteurin der Website von ITAR-TASS), fanden erstaunlich viele Fürsprecher – allesamt aus eben diesem liberalen Lager. Eine ganze Menge Leute mit durchaus putinfeindlichen Ansichten bekundeten ihre Unterstützung für die neue Redaktionsleitung und waren entrüstet, dass diese an den Pranger gestellt wurde.

    Ein ähnliches Redaktionsgespräch haben wir schon einmal erlebt. Am 12. März 2014 wechselte auf ähnliche Art und Weise die Leitung von Lenta.ru. Am folgenden Tag veröffentlichte Slon.ru die Mitschrift eines Gesprächs des neuen Chefredakteurs Alexej Goreslawski mit der Redaktion. Goreslawski verhielt sich 2014 um Längen anständiger, als Trosnikow und Golikowa das 2016 taten. Im Unterschied zu Letzteren fanden sich für Goreslawski keine liberalen Unterstützer. Mehr noch: Viele von denen, die 2014  Goreslawski noch heftig kritisiert hatten, verteidigten nun, 2016, eifrig Trosnikow und Golikowa.

    Warum?

    Weil Goreslawski eine andere Vergangenheit hat. Trosnikow und Golikowa hatten recht lange hohe Positionen beim Kommersant innegehabt, bis sie 2013 zu TASS wechselten – wobei sie natürlich einen vorzüglichen Zeitpunkt gewählt hatten: gerade erst war das Anti-Magnitski-Gesetz verabschiedet worden, die Bolotnaja-Verfahren liefen auf Hochtouren und Pussy Riot saßen ihre „zwei Jährchen“ ab. Goreslawski hatte jedoch nie für liberale Zeitungen gearbeitet, sondern war zuvor Chefredakteur des einschlägig bekannten, kremlfreundlichen Wsgljad.

    Die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben

    Im Unterschied zum neuen Chef von Lenta.ru hatten die neuen Chefs bei RBK viele Jahre in liberalen Kreisen zugebracht. Für die Opposition gehörten und gehören sie zu „unseren Leuten“. Sie waren Freunde, Kollegen, Trinkgenossen. Und die „eigenen Leute“ werden in Russland immer verteidigt, egal, was sie getan haben. Es ist nämlich in Russland wie in einem beliebigen Land der Dritten Welt: Nichts ist wichtiger als persönliche Beziehungen.

    In die Sprache der Wirtschaft übersetzt hieße das, jede Gesellschaft existiert, um die Transaktionskosten zu senken. Menschlich bedeutet es, den Mitgliedern des Kreises das Leben zu erleichtern.

    Die Gesellschaft erleichtert den Menschen das Leben auf vielerlei Weise. Es lassen sich hier grob drei Kategorien unterscheiden: Bestrafung von Verbrechern, Unterstützung der Bedürftigen und Bereitstellung diverser Dienstleistungen.

    Gesellschaften wiederum lassen sich ebenfalls in drei Arten unterscheiden:

    Die erste ist die offene, demokratische Gesellschaft mit ihren entwickelten formalen und informellen Institutionen. In diesen Gesellschaften sind die Regeln offen und klar niedergeschrieben, und sie sind für alle gleich. Eine solche Gesellschaft schützt sogar Fremde. Beispiele für Gesellschaften dieses Typs sind die USA, Großbritannien, Deutschland, die Niederlande und die meisten anderen westlichen Länder.

    Die zweite ist die traditionelle, geschlossene Gesellschaft, in der jeder zu wissen hat, wo sein Platz ist. Eine solche Gesellschaft hat keinen geschriebenen Regelkodex; dennoch gibt es Regeln, und alle kennen sie. Fremde werden in einer solche Gesellschaft nicht akzeptiert.

    Beispiele für Gesellschaften des zweiten Typs wären Stämme oder Clans. Einst war jede Gesellschaft so eingerichtet, jetzt ist das sehr viel weniger verbreitet. Diese Gesellschaften des zweiten Typs sind heute aber nicht nur in Somalia oder in den Urwäldern des Amazonas zu finden. Es gibt sie praktisch in jedem Land. Gemeint sind die kriminellen Gemeinschaften. Die bieten ihren Mitgliedern Dienstleistungen: Sie besorgen im Knast Zigaretten oder Drogen, bringen Briefchen nach draußen oder ermöglichen Handy-Telefonate. Sie haben ihre ungeschriebenen Gesetze, und wer sie verletzt, wird grausam bestraft. Sie haben sogar ihr eigenes Sozialhilfesystem, nämlich den Obschtschak, die gemeinsame Reserve für Notfälle.

    Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland nichts als Hohn

    Schließlich gibt es den dritten Gesellschaftstyp, bei dem die alten Clanbeziehungen und -regeln entweder bereits vollständig aufgelöst oder nur noch in Randgruppen anzutreffen sind, wo aber neue, westliche, gesellschaftliche Institutionen (Gerichte, Polizei, Sozialhilfe) noch nicht verankert sind. Formal sind diese zwar existent, doch in Wirklichkeit sind sie lediglich Fassade, Dekoration, Attrappe.

    Russland ist eine Gesellschaft eben dieses Typs. Und die berühmte russische Freundschaft – eng, warmherzig, bedingungslos und überhaupt nicht so kühl und distanziert wie Freundschaft im Westen – hat durch ihre Existenz den völligen Zerfall der anderen gesellschaftlichen Institutionen auf dem Gewissen, formaler wie informeller.

    Die Worte „Wenden Sie sich ans Gericht“ sind in Russland unterdessen nichts als Hohn, die Polizei führt sich auf wie Besatzungstruppen, das Gesundheitswesen bringt einen um, das Bildungswesen sät Obskurantismus.

    Es gibt anscheinend keine staatliche Institution, von der ein Normalsterblicher angemessene Hilfe erwarten könnte. Die nichtstaatlichen Institutionen, in erster Linie Stiftungen und Freiwilligenvereinigungen, versuchen diese Leerstelle zu füllen. Einerseits gibt es aber für ein so riesiges Land viel zu wenige davon, andererseits hat der Staat panische Angst vor jedweder informellen Aktivität und wirft Stiftungen und Freiwilligen nach Kräften Knüppel zwischen die Beine, indem er ihnen idiotische Vorschriften aufzwingt, die Finanzierung blockiert und sie bisweilen sogar auflöst.

    Die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert: Beziehungen

    Unter diesen Bedingungen bleiben nur zwei gesellschaftliche Institutionen, an die die Menschen sich wenden können: Korruption und Beziehungen.

    Was im Westen auf übliche, normale Art und Weise erfolgt – mittels Gericht, Polizei, Schule, Krankenhaus, Arbeitsamt –, wird in Russland durch die Hintertür erledigt, mit Hilfe von Freunden, Kollegen, Klassenkameraden. Über Bekannte werden die Kinder in einer guten Schule untergebracht. Über Bekannte wird ein guter Arzt gefunden. Über Bekannte wird Arbeit gesucht. Über Bekannte – falls die passenden vorhanden sind – versucht man die Eröffnung von Gerichtsverfahren zu erreichen und eine Heimsuchung durch Steuer- oder Strafverfolgungsbehörden abzuwenden. Selbst Schmiergelder sollte man lieber nach guten Tipps geben, sonst läuft man Gefahr, im Gefängnis zu landen oder aber zu zahlen, ohne dass die Sache dann erledigt wird.

    Bekanntschaften sind die wichtigste informelle Institution; ohne sie wäre Leben in Russland die Hölle.

    Beziehungen spielen zweifellos auch im Westen eine wichtige Rolle, besonders in Politik und Wirtschaft. Doch ist das eher eine zusätzliche Unterstützung. In Russland jedoch sind Beziehungen die einzige gesellschaftliche Institution, die wenigstens halbwegs funktioniert.

    Freunde sind das wichtigste Kapital

    Deswegen verzettelt sich niemand in seinen Beziehungen. Nicht nur was Freundschaften angeht, sondern auch zu aktuellen und ehemaligen Kollegen, zu Freunden und Bekannten aus der Ausbildungszeit, aus dem Fitness-Club oder der Kneipe. Das funktioniert auf allen Ebenen der Gesellschaftspyramide, bis hinauf nach ganz oben. Sie sind einer der Gründe, dass „Diebe in der Macht“ nie lange einsitzen, dass wegen Untauglichkeit entlassene Bürokraten neue Posten bekommen und dass gegen Spalter in der Regierung (im Unterschied zu externen Unzufriedenen) keine Strafverfahren eröffnet werden.

    So war es in Russland und so wird es in Russland bleiben. Aufrufe zur Prinzipientreue ändern da gar nichts. Freunde sind das wichtigste Kapital. Prinzipien sind Zügel, die sich kaum jemand leisten kann. Muss man sich zwischen dem ersten und zweiten entscheiden, wäre die Antwort stets eindeutig.

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  • Russki Rock

    Russki Rock

    „Zoi ist tot“ prangt seit Ende Juni in riesigen Lettern auf der Moskauer Viktor-Zoi-Gedenkmauer, der inoffiziellen Pilgerstätte für einen der wichtigsten russischen Rockmusiker. Sein Todestag jährt sich am 15. August.

    Viele sahen in dieser Aktion unbekannter „Künstler“ einen symbolischen Sinn: Die Zerstörung des Denkmals für den Mann, der einst die Perestroika-Hymne My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) sang, entspricht ganz und gar dem Zeitgeist.

    Wie Letzterer mit der Musik zusammenhängt und warum die Protestsong-Tracklist in Russland noch heute aus Werken längst vergangener Tage besteht, darüber sprach Rus2Web mit Juri Saprykin, Musikkritiker, Publizist und ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Afischa.

    Extreme Popularität und ein unglaublicher, geradezu religiöser Status – Viktor Zoi und seine Band Kino / Foto © Dmitriy Konradt
    Extreme Popularität und ein unglaublicher, geradezu religiöser Status – Viktor Zoi und seine Band Kino / Foto © Dmitriy Konradt

    Sie sagten eben, dass Sie praktisch keine aktuelle russische Musik mehr hören. Was sind die Gründe dafür? Worin unterscheiden sich heutige Interpreten von den Künstlern der 1980er und 1990er, die Ihnen so am Herzen liegen?

    Also ganz so ist es nun auch nicht. Es gibt immer noch bestimmte Richtungen, die ich verfolge, es sind bloß einfach deutlich weniger geworden. Zum Teil liegt das daran, dass Geschmack sich verändert, zum Teil aber auch an, naja … warum hören Menschen überhaupt Musik? Sie wollen starke Gefühle erleben, sich selbst darin wiederfinden, Schwingungen auffangen, die sich mit dem eigenen Lebensgefühl decken. Die russische Pop- und Rockmusik liefert das alles nicht mehr.

    Haben die Stars der Rockmusik in letzter Zeit irgendetwas [Erwähnenswertes] hervorgebracht oder ist ihre Zeit abgelaufen?

    Splin zum Beispiel geben Konzerte im Moskauer Sportkomplex Olympiski, und die Riesenhalle ist dann rappelvoll. Diese Band ist extrem gefragt. Die Musiker der 1980er und 1990er, das war die letzte Generation, die es geschafft hat, zu Nationalhelden zu werden, und nach Splin oder Korol i Schut gibt es keine Band mehr, die solche großen Hallen füllen könnte.

    In den 1980er Jahren war die sozial relevante und inhaltlich aussagekräftige Musik der Rock, und der formierte sich als Gegengewicht zur konventionellen sowjetischen Unterhaltungsmusik. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hatten diese Inhalte einiges an Anziehungskraft verloren, scheint mir. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Zunächst mal beruhte die Hauptwirkung der Rockmusik Ende der 1980er Jahre nicht auf irgendeiner sozialen Aussage, sondern darauf, dass diese Musiker einfach vollkommen andere Menschen waren – sie sahen anders aus, sprachen eine komplett andere Sprache.

    Als ich beispielsweise zum ersten Mal Aquarium hörte – ich glaube, das war der Song Ja smeja (dt. „Ich bin eine Schlange) oder Slushenje mus ne terpit kolessa (dt. „Der Musendienst duldet kein Rad) – also darin war nicht das kleinste Quentchen Soziales. Aber wenn du diese Musik gehört hast, hast du begriffen, dass bestimmte Mauern eingerissen sind.

    Alle bisherigen Vorstellungen davon, wie Musiker aussehen und was für Musik sie machen können, welche Wörter man im Russischen aneinanderfügen kann – alles hatte sich komplett verändert oder sollte sich im allernächsten Augenblick verändern.

    Die Wirkung dessen, was die Leute Ende der 1980er machten, hing nicht damit zusammen, dass sie irgendwelche verbotenen Themen aufwarfen.

    Dieses Explosionsgefühl kam vor allem daher, dass innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe vollkommen unterschiedlicher Musiker auf der Bildfläche erschienen und jeder von diesen Leuten Sachen machte, die auf einer sowjetischen Bühne bis dahin ganz und gar unvorstellbar gewesen waren.

    Wenn man heute Russkoje Radio oder Nasche Radio einschaltet oder selbst die Flow-Playlist von Apple Music, da ist einem in etwa klar, was die Leute da singen – alles klingt mehr oder weniger wie das, was man kennt. Mitte der 1980er Jahre aber machten ein paar Leute plötzlich etwas wirklich vollkommen anderes, etwas absolut neues. Da ging es eher um den Effekt der Neuartigkeit und darum, dass sich plötzlich sämtliche Grenzen auflösten, als um irgendwelche sozialen Aussagen.

    Ich dachte bei der sozialen Dimension weniger an Aufrufe, auf die Straße zu gehen, als an den allgemeinen Protest gegen Beschränktheit und Einförmigkeit.
    Wie hat sich dieser Protest, wie hat sich diese Musik seit Ende der 1980er Jahre verändert? Wie würden Sie die Veränderungen der 1990er und der 2000er Jahre charakterisieren?

    Mit überraschend neuen Erkenntnissen kann ich da wohl kaum aufwarten. Klar ist, die zweite Hälfte der 1980er – das war eine Explosion, mit einem Mal tauchten da diese ganzen abgefahrenen Leute auf, die unterschiedlichsten Musiker, und die landeten dann sehr schnell auf der professionellen Bühne und in der kommerziellen Musikindustrie, wofür sie eindeutig nicht bereit waren.

    Alle, die damals anfingen, seien es Aquarium, Kino, Kalinow Most oder Grashdanskaja Oborona – alle gingen fest davon aus, dass sie die ganze Sache ausschließlich für sich selbst und für ihre nicht allzu zahlreichen Freunde machten, dass sie lediglich Unannehmlichkeiten zu erwarten hatten und das alles mit Geld und Karriere nichts zu tun hatte. Wer Geld und Karriere machen wollte, musste sich gänzlich anders orientieren. Und dann werden diese Leute nach ein paar Jahren der Mühen und Entbehrungen tatsächlich zu kommerziell erfolgreichen Superstars.

    Das war eine Herausforderung, die alle ziemlich dramatisch durchlebten damals, und nicht alle haben das gemeistert.

    Ich würde sagen, die letzten Jahre der 1980er und die erste Hälfte der 1990er, das war die Zeit, als diese Musikergeneration sich in der neuen sozialen Wirklichkeit selbst zu finden suchte. Als das für unerschütterlich gehaltene sowjetische Haus mit einem Mal anfing zu bröckeln und man lernen musste, mit einem neuen Status zu leben – dem eines erfolgreichen, gut verdienenden Musikers.

    Meiner Meinung nach waren die 1990er für die russische Musik eine ziemlich verhängnisvolle Zeit. Es gab eine ganze Menge guter Sachen, zum Beispiel Grashdanskaja Oborona und die ihnen nachfolgenden sibirischen Punkgruppen, die in dieser Realität nicht heimisch wurden; oder der ganze aus Moskau und Tjumen stammende Underground, also Gruppen wie Solomennye Jenoty (dt. Die Stroh-Waschbären“), Banda Tschetyrjoch (dt. Die Viererbande“) und so weiter – das waren Leute, die sich komplett außerhalb der Medienöffentlichkeit befanden, die die neurussische Weltordnung explizit ablehnten und sich ihr – nicht auf der sozialen, sondern eher auf der existenziellen Ebene – widersetzten.

    Ende der 1990er begann dann bereits eine völlig andere Geschichte, Mumi Troll (dt. Der Mumin-Troll“) tauchte auf und nach ihnen eine regelrechte Welle von Bands, die so einen solide gemachten, westlich orientierten Trend-Pop mit menschlichem Antlitz und lebendigen, mysteriösen Texten machen. Unter anderem entstand auf dieser Welle auch [der Rock-Radiosender] Nasche Radio. Das war in gewisser Weise das Ende des Undergrounds und der Beginn einer neuen Popmusik-Ära.

    Naja und alles, was dann in den 2000er Jahren kam … da ist ja im Prinzip alles bekannt. Allmählich bildete sich der russische Hip-Hop heraus, der heute, Mitte der 2010er Jahre, endgültig zur neuen Volksmusik geworden ist, zum russischen Chanson 2.0.

    Andererseits verabschiedeten sich allmählich auch alljene Musiker, die seit den 1980er, 1990er Jahren dabeigeblieben waren und mit unterschiedlichem Erfolg weiter interessante oder auch uninteressante Sachen gemacht hatten. Abgesehen vom Hip-Hop in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist in den 2000er Jahren in Russland wahrscheinlich nichts Neues entstanden.

    Und warum nicht? Wollen die Leute nichts Neues hören?

    In den 1980ern war das, was einen jungen Musiker vor allem reizte, eine gewisse Weltflucht, der Versuch, einer drückenden und verhassten Realität zu entfliehen und sich eine ästhetische Nische zu suchen, in der man sich cool und stark, in der man sich als Held fühlen konnte.

    In den 2000ern war der Anreiz ein vollkommen anderer – vor der Wirklichkeit fliehen wollte jetzt keiner mehr, im Gegenteil, man wollte sich allmählich in ihr einrichten. Die Rezepte dafür waren ja bereits da. Mach es wie Mumi Troll oder wie Semfira, halte dich an Splin oder auch an Korol i Schut. Bitte sehr, es gibt jede Menge Beispiele dafür, wie man es machen muss, wenn man Erfolg haben will.

    Verlaufen die Entwicklungslinien von Musik und Gesellschaft deckungsgleich?

    Nein, die Musik und die Gesellschaft bewegen sich in unterschiedliche Richtungen. Das heißt, es gibt vermutlich irgendeine Korrelation, aber die ist schwer zu erfassen, besonders wenn man so dicht dran ist. Im Nachhinein, mit einem Abstand von 10 bis 20 Jahren erkennt man die Zusammenhänge, aber so auf Anhieb ist das kaum zu erfassen.

    Sie haben zu den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz eine Tracklist erstellt …

    Richtig, das habe ich damals.

    Auf dieser Liste fanden sich all die üblichen Verdächtigen der 1980er und 1990er, darunter der besagte Zoi-Titel Peremen (dt. „Veränderungen“), die dort so offen gefordert werden …

    Nennen Sie mir mal einen weiteren Titel von Viktor Zoi, der irgendeine Forderung beinhaltet.

    Viele seiner Lieder haben einen offensichtlichen Subtext.

    Nein. Die Leute machen sich immer an Peremen fest, als ob es das wäre, was Zoi ausgemacht hat. Meiner Ansicht nach hat es das überhaupt nicht. Seine extreme Popularität und sein unglaublicher, geradezu religiöser Status hatten überhaupt nichts mit dem Lied My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) zu tun.

    Wenn in Zois Musik der Zeitgeist zum Ausdruck kam, dann darin, dass er auf seinen letzten Alben ein unwahrscheinlich romantisches und zugleich äußerst tiefgründiges Bild vom Krieg als dem natürlichen Zustand der Menschheit entworfen hat. Einem Krieg, an dem teilzunehmen weder Sünde noch Übel oder Fluch ist, sondern ein ganz natürlicher Teil des Lebenskreislaufs, wenn auch nicht der erhebendste.

    Das ist ein uraltes östliches Verständnis, das vor allem den jungen Menschen in jener extrem schweren Zeit damals offenkundig auf der Seele lag. Ich meine Krieg nicht im Sinne mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte, sondern als Zustand des Konflikts mit der Realität auf den verschiedensten Ebenen.

    Wenn es bei Zoi eine historische Mission gibt, dann nicht die, dass er die Leute darauf vorbereitet hat, vors Weiße Haus oder zum Bolotnaja-Platz zu ziehen, eher hat er sie für die zahlreichen Konflikte mit der Realität gewappnet, mit denen seine Hörer in den 1990er Jahren konfrontiert wurden. Zoi hat ihnen geholfen, diese Konflikte zu überstehen … denen, die noch am Leben geblieben waren.

    Gibt es einen Viktor Zoi 2016?

    Nein, den gibt es nicht. Es gibt niemanden, in dessen Liedern die Menschen heute Antworten auf die großen Fragen des Lebens suchen würden, dessen Lieder nahezu religiösen Status hätten.

    Sollte denn ein Musiker seiner politischen Haltung außerhalb seiner Musik Ausdruck verleihen?

    Ein Musiker sollte gar nichts. Du bist ein König: Leb allein auf deinem Thron. Ein Musiker macht das, was seiner Natur entspricht. Es gibt Leute, die kann man sich sofort auf den Barrikaden vorstellen, die begeben sich gerne in die Politik. Und es gibt solche, denen liegt das gänzlich fern. Das sind unterschiedliche Temperamente und unterschiedliche Schaffens- und Lebenswege. In dieser Frage lässt sich unmöglich eine allgemeingültige Regel aufstellen.

    Apropos Politik in der Musik. Dass Juri Schewtschuk [damals] nach Grosny gefahren ist, wird nicht als Politik wahrgenommen – er hat ja eh alles, was er dort zu Gesicht bekommen hat, in Musik umgesetzt. Heutzutage machst du entweder Musik und redest generell nicht über soziale, politische Themen oder du redest drüber, aber dann wirst du automatisch zur politischen Figur …

    Ich sehe Schewtschuks Reise nach Grosny definitiv nicht als musikalisches Ereignis. Er hat da am Lagerfeuer gesessen und zur Gitarre Poslednjaja Ossen (dt. „Der letzte Herbst“) gesungen. Und politisch war an der Aktion offen gestanden auch nichts. Es war eine ganz natürliche menschliche Geste: Da sterben unsere Jungs, sie machen dort eine schwere Zeit durch, und ich möchte bei ihnen sein.

    Das Lied Kapitan Kolesnikow pischet vam pismo (dt. „Kapitän Kolesnikow schreibt euch einen Brief; Kapitänleutnant Dimitri Kolesnikow war als Besatzungsmitglied der im August 2000 gesunkenen Kursk ums Leben gekommen – Anm.d.R.), das er später schrieb –  einfach herzzerreißend – das ist auch so eine menschliche Geste. Es ist nicht gegen Putin, es ist nicht für Putin, es ist über Menschen, die auf dem Grunde des Meeres für ihre Heimat sterben, während diese Heimat sie längst vergessen hat.

    Heutzutage kommt es vor, dass selbst eine einfache menschliche Geste am Ende eine Fernseh-Hetzjagd und abgesagte Konzerte zur Folge hat, wie es zum Beispiel Andrej Makarewitsch erlebt hat.

    In der Situation eines tiefgreifenden inneren Konflikts, eines kalten Bürgerkriegs, wie wir ihn im Frühjahr 2014 erlebt haben – einer Situation, die gerne als völliger Triumph und als große Einigung des Volkes im Rausch der Begeisterung über die Krim-Annexion beschrieben wird, die in Wirklichkeit aber ein innergesellschaftlicher Konflikt von unglaublicher Heftigkeit war –, in einer solchen Situation kommt jedes zu diesem Konflikt geäußerte Wort einem Schuss gleich. Das liegt auf der Hand, und dafür braucht man nicht Makarewitsch zu sein.

    Du postest auf facebook ein Foto von deinem Kätzchen, und sofort melden sich mehrere hundert Kommentatoren zu Wort, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen und den Chochly dieses und den Moskali jenes anlasten. Wenn du dich dann auch noch zu diesem Konflikt äußerst, selbst wenn du einen allgemein menschlichen, humanistischen oder sonst einen Standpunkt vertrittst, wirst du für einen Teil der Gesellschaft auf jeden Fall zum erbitterten Feind.

    Seit Ende der 1980er Jahre hat die russische Gesellschaft so etwas nicht gesehen, eine derart offen an den Tag gelegte Konfrontation.

    Auf Ihrer Bolotnaja-Tracklist fanden sich neben Viktor Zoi Stücke von Aquarium, AuktYon, Grashdanskaja Oborona, ein paar Songs von DDT und Kasta. Welche aktuelleren Titel könnten auf Ihrer Protest-Tracklist von 2016 stehen?

    Auf den Kundgebungen [damals] habe ich immer davon geträumt, Uprising von Muse aufzulegen und den Song bis zum Ende rauf und runter zu spielen. Alles andere ist dann schon ein Kompromiss. Was Besseres ist mir zu dem Thema bislang nicht eingefallen.

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  • Oden an die Hunde von Schuwalow

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Kein Hundeleben, das die Corgis des russischen Vize-Premiers Igor Schuwalow führen: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung des Oppositionsführers Alexej Nawalny ermittelte unlängst, dass sie im Privatjet zu internationalen Hundeausstellungen geflogen wurden. Olga Schuwalowa, die Frau des führenden Politikers, widersprach den Vorwürfen nicht und merkte nur an, die Corgis würden auf den Schauen „die Ehre Russlands verteidigen“.

    Erst im Juli war Schuwalow außerdem vorgeworfen worden, eine ganze Etage mit Wohnungen mitten im Zentrum Moskaus aufgekauft zu haben. Woher der Reichtum des Politikers genau kommt, der vor seiner Politikkarriere ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen sein soll, bleibt offen.

    Warum, so fragt der Historiker und Journalist Sergej Medwedew auf slon.ru, regen sich nur so wenige in Russland darüber auf? Und er geht sogar noch weiter: Nicht nur, dass sich keiner darüber aufrege – im Grunde legitimiere der Protz erst die Macht.

    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru
    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru

     

    „Was blickst du so finster, Bruder“, fragte Kirila Petrowitsch, „gefällt dir etwa mein Hundezwinger nicht?“ – „Doch“, antwortete Dubrowski barsch, „der Zwinger ist herrlich, Ihre Leute werden wohl kaum ein so schönes Leben haben wie Ihre Hunde.“  (Alexander Puschkin, Dubrowski)


    Wenn es Igor Iwanowitsch Schuwalow nicht gäbe, würde es sich lohnen, ihn zu erfinden: mit dem adelig klingenden Namen und dem Schloss in Österreich, dem Londoner Apartment im ehemaligen Gebäude des MI6-Geheimdienstes in Whitehall und dem Familiensitz in Saretschje, wo auch Suslows Parteien-Datscha steht. Mit dem Rolls-Royce für 40 Millionen Rubel und einem eigenen Stockwerk in einem Wolkenkratzer am Kotelnitscheskaja-Ufer. Mit all diesen Dingen aus der Kategorie „Wirkt albern, aber die Leute kaufen es“ und der Bereitschaft, für Putin „auch mal zurückzustecken“. Und nun auch noch mit dem Corgi-Paar, das mit dem Businessjet von Hundeschau zu Hundeschau geflogen wird.

    Er ist eine richtige Pelewin-Figur. Der Cargo-Kult auf zwei Beinen. Ein Destillat vom postsowjetischen Transit.

    Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde

    Da helfen auch keine Anwaltsvergangenheit und kein Teflonlächeln. Keine treuherzigen Erklärungen im Stil von „Alles hart erarbeitet“ und „Alles rechtmäßig versteuert“. Und keine Ehegattin, die ganz einfältig erläutert, die Corgis flögen, um die Ehre Russlands zu verteidigen. Und noch nicht einmal Margarita Simonjan, die auf Echo noch unmissverständlicher verkündet: „Ich denke, nur reiche Leute sollten Beamte werden, nur … ein Mensch, der sehr viel Geld verdient und sich im Business bewiesen hat. Bis 40, und mit 45 dann ein richtiger Kerl ist – also Boote, Flugzeuge, Brillanten und Pelze kauft …“ Wahrlich, wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

    Manchmal scheint es, als sei das Projekt Schuwalow eine PR-Provokation. Eine Bombe gegen das bestehende Regime. Eine moderne russische Marie Antoinette samt ihrem „Sollen sie doch Kuchen essen“. Ein Katalysator für Revolution und Volkszorn.

    „Er macht es, weil er ’ s kann“

    Aber die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Von Revolution ist keine Spur, und statt Zorn gibt es nur Schmunzeln und Internethumor. Alle enthüllenden Posts von Nawalny versinken im Treibsand der russischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die zynisch ist, anämisch und anomisch, und die Gewalt und Macht wesentlich höher schätzt als Recht und Moral.

    Meme und Karikaturen über Schuwalows Hunde posten und teilen stets dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer. Der Rest des Landes betrachtet es mit Gleichgültigkeit und folgt der unumstößlichen Volksweisheit: „Er macht es, weil er´s kann.“

    Wie der Politologe Wladimir Gelman feststellt, steht dies in fundamentalem Widerspruch zur spätsowjetischen Kampagne für den „Kampf gegen Privilegien“. Eine der wichtigsten Losungen der Perestroika. Als die Publizisten dazu aufriefen, zu den leninschen Normen der Partei-Bescheidenheit zurückzukehren, und als man sich im Volk Apokryphen darüber erzählte, wie Jelzin, als er schon Erster Sekretär im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU war, mit dem Trolleybus zur Arbeit fuhr.

    Warum reagiert die Gesellschaft nicht?

    Wo ist das alles hin? Warum reagiert die Gesellschaft weder auf Nachrichten über Korruption noch auf den provokanten Konsum der Staatsdiener?

    Gelman spricht von Ermüdung und Apathie: Mit der Peitsche kommt man gegen das Beil nicht an. „Die Erfahrung vom erfolglosen Kampf gegen Privilegien in der Epoche der Perestroika und die nachfolgenden Ereignisse, in denen der russischen Öffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – die Rolle von Statisten zukam, haben die Russen davon überzeugt, dass eine Auflehnung gegen eine Obrigkeit, die über die Stränge schlägt, sinnlos, wenn nicht sogar gefährlich ist.“

    Auf der anderen Seite gibt es einen gemeinhin anerkannten Gesellschaftsvertrag, der da heißt Alle klauen. Die Nachrichten über Korruption, der verschwenderische Konsum und provokante Luxus der Wirtschaftselite fungieren als Ablassbrief für ebensolches Verhalten quer durch alle Gesellschaftsschichten: Der Blick nach oben verschafft den Menschen das moralische Recht Steuern zu hinterziehen, Schmiergelder zu zahlen oder anzunehmen und über die eigenen Verhältnisse zu leben.

    „Alle klauen“ – so heißt der Gesellschaftsvertrag

    Das Beispiel der Obrigkeit erzeugt eine „Alles-ist-erlaubt“-Atmosphäre in der Gesellschaft: Wenn die Hunde des Vize-Premiers mit Privatjets fliegen, warum darf die gesamte Führungsriege der Wolgograder Region dann nicht in die Toskana fliegen, um den Geburtstag des Gouverneurs Boschenow zu feiern? Wenn ein Wagen mit Blaulicht die durchgezogene Mittellinie durchkreuzen darf, warum kann ein gewöhnliches Auto dann nicht den Stau auf dem Seitenstreifen umfahren?

    Macht fußt auf der Behauptung des eigenen Status, nicht auf Wahlen

    Aber neben der traditionellen Kungelei über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg gibt es auch noch eine tieferliegende, strukturelle Ursache, warum Schuwalows zur Schau gestellter Reichtum das Regime nicht diskreditiert, sondern sogar legitimiert: Macht fußt in Russland nicht auf Wahlen, sondern auf Gewalt und auf der Behauptung des eigenen Status. Sprich darauf, wie effektiv jemand durch Gewalt- und Symbolwirkung den Diskurs beherrscht. Für die Legitimation der Macht braucht es den Überfluss: öffentliche Prügelstrafen, demonstrativen Luxus und die Verachtung von Gesetz und moralischen Normen. Genau so funktioniert auch die Macht eines Kirila Petrowitsch Trojekurow in der patriarchalen Welt von Dubrowski.

    So betrachtet sind diese ganzen Darstellungen von Reichtum – Putins Schlösser, die Uhr des Patriarchen, der Autokorso der Absolventen der FSB-Akademie mit den Mercedes-Geländewagen, die Bentley-Festzüge in Tschetschenien, Schuwalows Hunde oder die Löwen in Kadyrows Privatzoo – allesamt Attribute patriarchaler Macht. Und gewichtige Argumente in der Ständehierarchie, gegen die wiederum nur wieder dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer und ein paar engagierte Städter aufbegehren. Der Großteil der Bevölkerung nimmt sie schweigend hin, als unvermeidliche, herrschaftliche Kapriolen, die man zuweilen sogar sozial gutheißt.

    Ein Geschenk von Soros, das wäre kompromittierend

    Die Corgis im Business-Jet haben also keine kompromittierende Symbolwirkung. Im Gegenteil: Sie bestätigen nur das Recht auf Macht, die Kastenzugehörigkeit. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn die Hunde nicht Toscha und Cäsarewitsch hießen, sondern Maidan und Bandera. Oder wenn Schuwalow sie von Soros geschenkt bekommen hätte. Oder wenn sie weiße Bänder an ihrem Halsband tragen würden. Das wäre kompromittierendes Material! Aber der Besitz von Anwesen und Konten im Ausland und die herrschaftlichen Allüren, kurzum der Euter, den man bei den modernen russischen Koreikos jederzeit fühlen kann, gilt unter den Bedingungen des jetzigen Regimes als Zeichen von Loyalität und Zugehörigkeit zum System.

    Eine katastrophale Kluft in der Gesellschaft

    Die aktuelle Evolutionsstufe der russischen Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Herrschaftsschicht das einfache Volk nun endgültig vom Hals geschafft hat. Sie kümmert sich nicht länger um ein schickliches Image. Im Gegenteil: Sie erhebt ihre Privilegien und Launen sogar zur Norm.

    Herrschaftliche Megaprojekte – angefangen bei den Olympischen Spielen und der Fußball-WM bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen und den Maßnahmen zur Erhöhung des Komforts in Moskau – bei gleichzeitiger Zerstörung der sozialen Infrastruktur, die Verachtung für die Not der Menschen, die immer wieder in den Äußerungen von hohen Beamten und Abgeordneten durchklingt: All das zeugt vom endgültigen Verlust der sozialen Solidarität und von der katastrophalen Kluft, die sich in der russischen Gesellschaft auftut. Eine der wesentlichen Folgen der Putinschen Konterreformen.

    Dienstadel wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen

    Während der letzten hundert Jahre, seit 1917, hat sich Russland bemüht, eine moderne Gesellschaft zu errichten. Sie sollte auf Prinzipien der Solidarität, der politischen Gleichheit und auf einem Gesellschaftsvertrag gründen (auch wenn das in vielerlei Hinsicht nur proklamierte Ziele blieben, denn auch in der UdSSR herrschten Statusprivilegien und eine berufliche Ständeordnung). Aber im 21. Jahrhundert setzte eine vernichtende De-Modernisierung ein – und zwar der Macht, der Gesellschaft, der Ökonomie und des kollektiven Bewusstseins.

    Alles in allem entfernt sich Russland von der modernen Bürokratie und vom Oligarchen-Staat aus Zeiten des Frühkapitalismus. Und es steuert auf eine feudale, aristokratische Regierung zu. Auf die Schaffung eines Dienstadels wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen, dem Urvater der russischen Staatsmacht. Sein neuestes Denkmal wird am 3. August in Orlow enthüllt.

    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0
    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0

    Auch Igor Schuwalow setzt hierbei mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend, wenn auch im britischen Stil – von den königlichen Corgis bis zum Anwesen in der Whitehall Street.

    Es wird neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte

    Verfolgt man diese Abstiegslinie auf den Stufen der Geschichte weiter, müssten wir vom Dienst- bald zum Erbadel kommen. Nicht ohne Grund bezeichnete der Politologe Jewgeni Mintschenko die 2010er Jahre schon 2012 als einen „dynastischen Abschnitt“ im Evolutionssystem. Charakteristisch ist für diesen Abschnitt das Streben der Elite, eine Erbschaftsaristokratie zu errichten. Sie soll ermöglichen, den erworbenen Besitz an die Sprösslinge weiterzugeben. Allein das Erbrecht kann die Elite vor erneuten Umverteilungen bewahren, die bei einem Machtwechsel in Russland unvermeidlich wären. Und in Zeiten von Krieg, Terror und Sanktionen Stabilität und Nachfolgerschaft gewährleisten.

    Dafür wird es neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte, einen rechtlichen Sonderstatus für Adelige, Immunität, Garantien der Unantastbarkeit von Privatleben und Besitz (wie das funktioniert, zeigte bereits die Verurteilung der Ökologen Jewgeni Witischko und Surena Gasarjan wegen einer Aufschrift am Zaun der Datscha des Gouverneurs Alexander Tkatschow). Und es braucht Informationsschutz für Eintragungen von Aristokraten in Grundbüchern, damit Ermittlungen wie „Tschaika“ oder „Anwesen auf der Kotelnitscheskaja“ nicht mehr vorkommen.

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Dass es auch für die Haustiere der Herrschaften einen Sonderstatus braucht, versteht sich von selbst. Konnte doch Mitte des Jahrhunderts ein Bauer, der die Hand gegen den Hund eines Adeligen erhebt, zum Tode verurteilt werden. Und weil Sergej Jessenin einst ein anrührendes Gedicht für den Hund von Katschalow schrieb, werden die zeitgenössischen Dichter wohl Oden an die Hunde von Schuwalow verfassen müssen. Denn sie verteidigen in der Tat die Ehre Russlands. Sie sind Russlands Symbole und Role Models. Sie sind das Beispiel für prestigeträchtigen Konsum und eben jenen Erfolg, über den die fachkundige Margarita Simonjan zu urteilen weiß.

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    Zurück in die UdSSR

    Eine feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden und Fremden, absolute Loyalität zum Staat und die Bereitschaft, sich von diesem bevormunden zu lassen. Das sind Merkmale des postsowjetischen Menschen, wie sie der renommierte Soziologe Juri Lewada herausgearbeitet hat. Hinter dieser Haltung stünden oft Angst und eine Sehnsucht nach alter Größe, meint Boris Grosowski. Und zeigt auf, wie beides bis heute instrumentalisiert wird.

    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy
    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy

    Es bedarf keines sonderlich scharfen Blicks, um in der Realität, die die Bürger Russlands in den letzten Jahren umgibt, Züge der Sowjetunion zu erkennen. Man könnte denken, es handle sich um eine Spezial-Rekonstruktion der spätsowjetischen 1970er und 1980er Jahre, eigens für jene bestimmt, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben. Ein nicht allzu gekonntes Remake von Lebensbedingungen aus einer Zeit, als Ideologie schon keine große Rolle mehr spielte, als eine alternde und überkommene Elite sich an die Macht klammerte und das Land in den Sumpf ihrer Ängste und ihres Dogmatismus, ihres allgegenwärtigen „So geht das nicht!“ zog.

    Alle haben Angst, die Elite genauso wie die breite Masse

    Die heutigen Gebieter des Lebens fürchten ebenfalls die unentrinnbare Zukunft, versuchen sie zu diskreditieren und möglichst weit hinauszuschieben. Je stärker diese Ängste, desto wahrscheinlicher landen die wenigen Nichteinverstandenen, die sich trauen, ihren Protest in den öffentlichen Raum zu tragen, hinter Gittern.

    Für die breite Masse der Unentschlossenen steht ebenfalls Angst bereit, jedoch eine Angst etwas anderer Art: Tausend sitzen ein und Millionen haben Angst, ein Wort zu sagen.

    Und für jene, die das Ganze richtig verstanden haben, gibt’s Zuckerbrot: Staatsaufträge, einen Posten am „Futtertrog“, Möglichkeiten, etwas zu klauen, etwas zuzuteilen, jemand anderen ins Gefängnis wandern zu lassen.

    Iwan der Schreckliche, Stalin, Breshnew

    Warum aber eine Rekonstruktion gerade der sowjetischen Zeit? Warum reproduzieren wir überhaupt Momente unserer Geschichte, die eindeutig nicht zu den besten gehören? Warum geht das sich selbst überlassene System, das freie Hand hat, zügig dazu über, in unrühmlichen Kapiteln der Geschichte zu blättern, bei Iwan dem Schrecklichen, Stalin, Breshnew? Warum nur dieser Eindruck, dass Letztere nicht ins Schattenreich entschwunden, sondern unter uns sind? Und dass sie hervorpreschen werden, wie gewohnt das Steuer in der Hand, sollte die Gesellschaft nicht auf der Hut davor sein?

    Schließlich inszeniert Deutschland auch keine Remakes nach Motiven von Hitler und Bismarck. Und in Good Old England geht auch nicht der Geist des Schurken Heinrich VIII. um. Die französische Führung faselt nicht von den Eroberungen Napoleons und Berlusconi nicht von den Heldentaten Neros. Bei uns aber ist jeder ein kleiner Zar. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, besteht die Gefahr, dass er sich dreimal um die eigene Achse dreht und in einen blutigen Tyrannen verwandelt. Als hätte er sein Leben lang davon geträumt, am Livländischen Krieg oder an der Eroberung der osmanischen Festung Otschakow teilzunehmen. Was bitteschön ist das für eine „Liebe zur Geschichte“? Warum gängeln die europäischen Halunken von einst die heute Lebenden nicht mehr, aber unsere legen es immer wieder darauf an?

    Falls man nicht an die Unveränderlichkeit der Kultur glaubt, an Pfadabhängigkeit und Sentenzen wie „Menschen/Länder ändern sich nicht“ – ich bin überzeugt, dass sie sich ändern! –, dann ist all der Teufelsspuk, dieser Reigen der Despoten und die Hartnäckigkeit schlechter Angewohnheiten einzig und allein verführerisches Blendwerk, Erscheinungen, dem Nebel entstiegen, wie Petersburger Trugbilder aus der Zarenzeit. Nur, dass in der modernen Zeit mit selbstfahrenden Autos und neuentwickelten Genomen kein Platz ist für Hexenverbrennung und Leibeigenschaft.

    Doch entspringen diese Bilder, diese Trugbilder, nicht irgendeinem Baskerville‘schen Nebel, sondern menschlichem Willen. Eine Tradition lässt sich nicht reproduzieren, wird nicht auf natürliche Art „vererbt“, sagte Merab Marmardaschwili 1990 in seinem Vortrag Wien im anbrechenden 20. Jahrhundert: „Wenn Sie meinen, dass man eine Tradition auf natürliche Weise fortführen kann, als ob sie einfach das Leben selbst sei, dann irren Sie sich. Man könnte ja denken, dass Tradition wie Atem ist: Ich atme, also lebe ich; ich beachte etwas, also setzt es sich fort, und die Tradition lebt weiter. Dabei führt einem doch die menschliche Erfahrung drastisch vor Augen, dass dem nicht so ist, dass das Gewebe, das über dem Bodenlosen gewoben wird, ein anderes ist.“

    Niemanden interessiert, wie exakt die Rekonstruktion ist

    Das Wesen traditioneller Kultur, die auf heiligen Texten beruht, besteht in ihrer Weitergabe, ihrer Vermittlung, in der Reproduktion von Gedanken und Gewohnheiten, einer Lebensweise und eines Wertesystems. Untersuchungen darüber, auf welche Weise Traditionen weitergegeben werden, zeigen, dass das nicht automatisch geschieht. Hierzu braucht es ein langes Zusammenleben von Lehrer und Schüler, unermessliche Anstrengung und Übung, damit die geistige Persönlichkeit des Lehrers im Schüler ihren Wiederklang findet, und damit eine Tradition entsteht, die einem Begründer folgt.

    Was lässt sich dann überhaupt über eine Situation sagen, in der die Tradition unterbrochen wurde, in der man zur „reinen Quelle“ nur gelangen kann, indem man die anscheinend kriminellen, wilden 1990er Jahre überspringt. Den Schüler trennt hier vom Lehrer ein derartiger Abgrund, dass kolossale Verzerrungen unausweichlich sind. Die Adepten des sozialistischen Paradieses verlieren dadurch viele Aspekte jener Tradition, die sie nun teilweise reproduzieren, vollkommen aus dem Blick. Sogar eine ihrer zentralen Komponenten wird ignoriert: Das Thema Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Wenn Traditionen auf der „Materialbasis“ einer viele Millionen zählenden Gesellschaft reproduziert werden, interessiert niemanden, wie exakt diese Rekonstruktion ist. Die Aufgabe, vor der die „Erfinder dieser Tradition“ stehen, ist ja auch eine ganz andere.

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden, wie der Historiker Eric Hobsbawm zeigt: Selbst das Zeremoniell, mit dem sich die britische Monarchie in ihren öffentlichen Auftritten umgibt, hat sich erst im 19. und 20. Jahrhundert endgültig herausgebildet. […]

    Erfundene Traditionen sind nach Hobsbawm rituelle und symbolische Praktiken, die durch offene oder unausgesprochene Vorschriften geregelt werden. Sie werden eingeführt, um im Bewusstsein Glauben, Wertesysteme und Verhaltensnormen zu verankern. Die Sozialisation werde universell, wenn jedem Bürger (Angehörigen einer Nation, Untertanen) die gleichen Werte eingeimpft werden. Oft sind diese nicht klar umrissen, nicht besonders verbindlich, oder einfach schwammig: „Patriotismus“, „Treue“, „Pflicht“, „Beachtung der Spielregeln“.

    Zur Legitimierung werden Traditionen oft mit einer passenden Phase der Geschichte begründet, doch sei die oft fiktiv, schreibt Hobsbawm: „Diese Traditionen sind eine Reaktion auf eine neue Situation in Form eines Verweises auf eine alte Situation.“

    Putins UdSSR: eine konstruierte Tradition

    Bei ihrer Kritik an sowjetischen Anwandlungen, die gegenwärtig zu beobachten sind, weisen Analytiker wie Peter Pomerantsev zurecht auf die riesigen Unterschiede hin, die zwischen dem Regime damals und heute bestehen. Allerdings erhebt Putins UdSSR auch gar nicht den Anspruch auf Authentizität. Hier handelt es sich um eine rundweg erfundene, konstruierte Tradition. Wozu die Regierung in den 2000er und 2010er Jahren eine solche Tradition brauchte, haben meines Erachtens die Arbeiten von Juri Lewada, Boris Dubin, Lew Gudkow, Alexej Lewinson und Natalja Sorkaja ausführlich aufgezeigt.

    In den 1990er Jahren hat der (post-)sowjetische Mensch keineswegs abtreten wollen. Die Gesellschaft Russlands spaltete sich gewissermaßen in zwei Teile: Die einen wurden zu selbsternannten Unternehmern. Sie rotierten, versuchten zu überleben und wechselten Berufe und Städte, während die anderen warteten, bis man ihnen half.

    Zu Beginn der 2000er Jahre wurde der Regierung bewusst, dass der erste Teil lästig ist: Das waren die, die „ständig irgendwas wollten“. Der andere Teil hingegen war sehr bequem für das Regime. Er verlangt nicht viel und ist bereit, eine ewiggültige Carte Blanche zu erteilen. Ohne lang zu überlegen, entwickelte die Regierung eine absolut rationale und bislang erfolgreiche Strategie: Der postsowjetische Teil der Bevölkerung – treue Helfer und Stützen des Regimes – sollte mit allen Mitteln umsorgt, verwöhnt, behütet und gefüttert werden, während allzu Selbständige ein wenig zur Raison zu bringen waren.

    Der postsowjetische Mensch

    Der postsowjetische Mensch verfügt über einige für das autoritäre Regime überaus nützliche (man könnte sogar sagen: nährende) Eigenschaften. Da wäre zum einen die einmalige psychische und moralische Anpassungsfähigkeit an totalitäre Regime, die Bereitschaft, mit ihnen zu einer Symbiose zu verschmelzen, wie Gudkow, Dubin und Sorkaja in einer ihrer Arbeiten hervorheben.

    Außerdem sind da die von Lewada identifizierten Merkmale des postsowjetischen Menschen zu nennen: Selbstisolierung (als feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden, als Misstrauen gegenüber dem „Komplizierten“, „Fremden“ und „Anderen“), Bereitschaft zu staatlicher Bevormundung, ein imperiales Syndrom und die Bereitschaft, sich im sozialen System aufzulösen.

    Drittens ist dieser Persönlichkeitstyp grundsätzlich entindividualisiert, ihm widerstrebt alles Elitäre und Eigene; er ist „transparent“ (und somit kontrollierbar), primitiv in seinen Ansprüchen und primitiven Steuerungsinstrumenten Folge leistend.

    Und viertens werden in der Vorstellungswelt eines solchen Menschen die wichtigsten öffentlichen Güter – von Gesundheit und Bildung bis hin zu Wissenschaft und Kunst – vom Staat bereitgestellt. Der Staat wird dabei als autark, von der Gesellschaft unabhängig gedacht. Der postsowjetische Mensch orientiert sich an den gewohnten staatlichen Formen der Gratifikation und der sozialen Kontrolle. Der Staat seinerseits übernimmt mit Freuden eine erzieherische, fürsorgliche und paternalistische Rolle – je größer die Nachfrage nach diesen Funktionen, desto mehr Ressourcen gibt es für die Bürokraten umzuverteilen.

    Selbstbeschränkung und Loyalität

    Schließlich ist der Sowjetmensch Teil einer militarisierten, geschlossenen, repressiven Gesellschaft. Seine Integration im Staat gründet auf Selbstbeschränkung und Loyalität und einem Zusammenstehen gegenüber äußeren und inneren Feinden, konstatieren Dubin, Gudkow und Sorkaja. Alles, was der Staat verlangt, versteht der Sowjetmensch bereitwillig als Schuldigkeit, als seine patriotische Pflicht. Im Gegenzug hat der Staat für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. Somit könnte eine anhaltende soziale und wirtschaftliche Depression zu einer Erosion der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft führen, falls das fehlende Brot nicht durch eine Unzahl an Spielen kompensiert wird.

    Schmerzvolle Sehnsucht nach der ehemaligen Größe

    Zur Jahrhundertwende hatte das Regime auf geniale Weise die schmerzvolle Sehnsucht der letzten sowjetischen und ersten postsowjetischen Generationen erhascht und aufgegriffen: nach der ehemaligen Größe, und auch die Bereitschaft zur Idealisierung der jüngeren Vergangenheit, den moralischen Relativismus und andere leicht auszunutzende Wesensmerkmale.

    In den darauf folgenden 15 Jahren haben wir gesehen, wie viel durch zielgerichtete Wirtschaftspolitik und Propaganda erreicht werden kann. Ziel der Wirtschaftspolitik war es, die großen, mittleren und kleinen Unternehmen vom Staat abhängig zu machen und private Geldquellen aus der Einkommensgrundlage der städtischen Mittelschicht zu verdrängen. Die Propaganda diskreditierte erfolgreich die Versuche der 1990er Jahre, in Russland Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen, sowie analoge Versuche in den 2000er und 2010er Jahren von Russlands Nachbarn. Europa wurde als degenerierte, amöbenhafte Gesellschaft dargestellt und die USA als gefährlicher Feind, der sich allerdings ein wenig vor Russland fürchtet.

    Durch den Fernseher zusammengehalten

    Diese Propaganda war deshalb so erfolgreich, weil die Leute schon vor der massiven Bearbeitung ihres Bewusstseins über das Fernsehen miteinander verbunden waren, wie Boris Dubin in seinem Artikel Massenkommunikation und kollektive Identität zeigt: Verbunden durch die „symbolische Teilhabe an einer symbolisch präsentierten und aus dem Abseits wahrgenommenen gemeinsamen Welt – ohne Feedback von ihr und ohne praktisches Handeln zur Schaffung und Aufrechterhaltung dieser gemeinsamen Welt“.

    In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sahen sich die Bürger Russlands als „ein Fernseh-Sozium, wurden durch den Fernseher als Sozium zusammengehalten“; sie waren eine „Zuschauer-Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft ist leicht zu lenken.

    Das sowjetische Remake gerät öfters zur Parodie

    Natürlich zeugt das entstandene sowjetische Remake von schlechtem Geschmack und gerät des Öfteren zur Parodie. Prüft man per Gedankenspiel seine Authentizität, ist das Ergebnis vernichtend: Stellen wir uns nur einmal vor, was der von Putin schleichend rehabilitierte Stalin mit Putin angestellt hätte. Auch anderen sowjetischen Führern hätte das Remake wohl kaum gefallen. Zu einer erfundenen Tradition braucht es aber auch nicht viel. Es reicht vollkommen, dass das Regime fast wie im Reagenzglas einen selbstlosen Adepten herangezogen hat, einen Menschen, der nichts anderes braucht. Das ist natürlich eine Vereinfachung. Herangezogen hat ihn das Regime nicht. Es hat vielmehr durch Anreize und Restriktionen alle Voraussetzungen geschaffen, damit im öffentlichen Raum der postsowjetische Mensch herrscht und die anderen sich wie Abweichler fühlen. Solange es von diesen Abweichlern nur wenige gibt, wird die Übertragung konstruierter Tradition erfolgreich weitergehen.

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  • Disneyland für Patrioten

    Disneyland für Patrioten

    Gerade ist wieder ein Zeppelin mit neuen Gästen aus Moskau gelandet, der Panorama-Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete schaukelt Besucher durch den Park, während der Reichstags-Nachbau erstürmt wird oder auf der maßstabsgetreuen Kopie des Roten Platzes eine Übung für die Militärparade am 9. Mai stattfindet – so könnte es demnächst aussehen im Freizeitpark Patriot, den das russische Verteidigungsministerium derzeit vor den Toren Moskaus errichten lässt. Was man auf dem über 5000 Hektar großen Gelände (25 Mal der Berliner Tiergarten) als Besucher bereits geboten bekommt, berichtet Dimitri Okrest auf Snob:

    „Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus. Selbst wenn wir noch so lange darüber debattieren würden, was für ein Fundament, welche feste moralische Basis unser Land haben könnte, wir würden auf nichts Anderes kommen“, erklärte im September 2012 auf einem Empfang für die Jugend in Krasnodar Wladimir Putin. 

    Jetzt zieren die Worte des Präsidenten ein Werbeplakat an der Autobahn M1, das für den Park Patriot wirbt. Der Park ist zwar erst zu 10 Prozent fertig, empfängt aber schon Besucher. Das Getöse hier flaut nie ab, und jetzt ist auch noch der Lärm der Bagger dazugekommen. Die Fläche des Parks beträgt 5500 Hektar, 100.000 Quadratmeter davon sind mit Ausstellungspavillons bebaut. Der Park soll 20.000 Patrioten täglich begrüßen können – ihnen zuliebe wurde der angrenzende Wald für 6000 Autoparkplätze niedergewalzt. Vorläufig kommen jedoch in halbleeren Marschrutkas meist zentralasiatische Bauarbeiter.

    „Ich war früher Lehrer, er war Musiker und der da Arzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten wir aber alle mehr mit Schaufel und Beton M-300“, erzählt Abdugan, der seit Anfang des Jahres am Park mitbaut.

    Abdugan muss das Projekt zusammen mit seinen Landsleuten bis 2020 vollenden, Verstärkung ist vorhanden: In den Wäldern der Umgebung sind 650 Einheiten von Militärgerät und zwei Baubrigaden stationiert. Die Baustelle, so die Bewohner der umliegenden Dörfer, ist auch nachts in Betrieb. Im Frühling hat Abdugan das „Partisanendorf“ fertiggestellt. Das ist die bisher einzige fertiggestellte Attraktion – bis zu diesem Zielpunkt rumpelt die Marschrutka durch Morast und Bauschutt.

    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest
    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest

    Ein Security in schwarzer Uniform rückt sein Barett zurecht. Pünktlich um 10:00 Uhr öffnet er das Tor zum Park. Dann steht er wie erstarrt an der Metalldetektorschleuse und wartet auf Besucher. Gegen 10:00 Uhr fegen die einen Usbekinnen alles zum x-ten Mal durch, während die anderen ihre Plätze an der Kasse einnehmen. Es gibt noch gar keine offiziellen Eintrittskarten in den Park, doch einzelne Gäste schauen schon mal vorbei.

    Partisanen-Darsteller in Rotarmisten-Uniform

    Das Vergnügungs-Partisanendorf soll den Alltag der Untergrundkämpfer zeigen und dem Betrachter das Gefühl geben, dabei zu sein. Die Partisanen hier versuchen, die historische Wahrheit treu nachzustellen – in den Erdhütten liegen Wattejacken, die Bücher sind auf die 30er Jahre datiert. Entlang der makellosen Blockhütten aus noch nicht nachgedunkeltem Holz spazieren Widerstandskämpfer in Rotarmisten-Uniform herum. Auf dem Kopf ein Schiffchen und an den Füßen ungeachtet der brütenden Hitze hohe Stiefel. Ist ja schnurzpieps, dass die Partisanen von Brjansk damals eher wie Bauern und nicht wie Kämpfer der Roten Armee aussahen.

    Hier gibt es einen Keller mit Gurkengläsern und gekeimten Kartoffeln, eine Rote Ecke mit einer Lenin-Büste, einen Stall für sechs Kaninchen, eine Banja und ein Gasthaus. Irgendwo im Abseits finden sich Eisenbahnschienen, an denen Schülern einer Diversantenschule gezeigt bekommen, wie man dort Dynamit befestigt, um deutsche faschistische Okkupanten in die Luft zu jagen.

    „Was ist denn das für ein Keller?“, fragt ein kleines Mädchen, auf Papas Schoß in einer Erdhöhle sitzend.

    „Hier lebten die Onkel und Tanten Partisanen. Damals war ein grooooßer Krieg. Es gab keine Freundschaften, alle haben gekämpft.“

    „Und wer ist das auf dem Foto?“ Die Kleine zeigt auf das Portrait Josef Stalins, das in jedem Bunker hängt.

    „Das ist ein Foto von Stalin, der aaaalle anführte.“

    „Und wo ist dann das Foto von Putin?“

    Armee-Merchandise und Grütze mit Dosenfleisch

    Zwischen Dynamit-Attrappen, Landkarten und Aluminiumgeschirr leuchtet ein LCD-Fernseher, die Stimme aus dem Off erzählt: „Während die Partisanen von Putywl bis in die Karpaten vordrangen, änderten sie die Taktik. Sie verübten nicht mehr nur Anschläge und Sabotageakte, sondern hatten nun genügend Schlagkraft, um die faschistischen Truppen in deren Hinterland zu treffen. Sie befreiten Dörfer und sogar Städte, in denen sie die bittere Wahrheit über die Brutalität der Besatzer zu hören bekamen.“

    „Die Magnet-Buttons mit der Topol-M kosten 300 Rubel [4 Euro], die T-Shirts mit dem Partisanen-Opa 1000 Rubel [13,70 Euro]“, sagt die Verkäuferin in ihrer grünen Uniform müde. Zu Mittag ist die Hitze sogar im Wald unerträglich.  

    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt
    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt

    Die Verkäuferin hängt gelangweilt am Ausgang des runden Shops herum, der wie eine Hobbithöhle aussieht, niemand steht nach den Spielzeugsoldaten Schlange. Bei großen Veranstaltungen wurden hier schon massenweise Putin-T-Shirts und Schokokonfekt der Sorte Höfliche Bärchen verkauft, doch heute gibt es die nicht. Seufzend erhebt sich die Verkäuferin bei jedem, der hereinkommt, von ihrer Bank, wartet, bis er wieder geht, und kehrt dann zu ihrem Buch zurück. Über dem Dorf ertönt das Lied des Fahrers an der Front:

    Keine Bombe kann uns schrecken,
    Zum Sterben ist’s zu früh –
    Wir haben zuhaus noch was vor.

    Der hier herumsitzende Partisan lässt sein Smartphone in der Jackentasche verschwinden und drückt die soundsovielte Zigarette aus. Gott sei Dank muss er sich nicht der historischen Authentizität zuliebe Papirossy aus Bauerntabak drehen. Da er als Partisan die ungeschriebenen Gesetze des Parks befolgen und genau wie ein Kellner immer beschäftigt wirken muss, verkrümelt er sich in die Küche – die Glut schüren. Aus der Soldatenkantine, in der eine große Familie mit stämmigen Kindern Platz genommen hat, ist soeben die Bestellung eingegangen:

    „Fünf Mal Würstchen. Schön saftige! Und die Soldaten-Grütze, was ist das? Buchweizengrütze mit Dosenfleisch? Na, dann auch fünf Mal. Wo steht denn der Samogon? Kriegt man hier hundert Gramm, wie an der Front?“

    Der Partisan eilt zum Kohlegrill, das Fleisch braten, und jetzt stellt er plötzlich nicht mehr die Zeit des Zweiten Weltkriegs nach, sondern die 1990er, in denen rechtlose „Geister“ auf die Datschen der Generäle geschickt wurden, um dort private Dienste zu verrichten.

    „Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik“

    Am Rand des Kiefernwaldes donnern Salven: Besucher vergnügen sich beim Schießen mit entschärften Gewehren. Ihnen stehen zur Verfügung: ein Dragunow-Gewehr, Kalaschnikows AK-47 und AK-103, eine Mossinka und eine Witjas Maschinenpistole PP-19-01. Strahlend lächeln Mädchen mit umgehängten Maschinengewehren in die Kameras.

    Der Schießanleiter Nikolai sieht begeistert in die Zukunft und verspricht, dass die langersehnten Parkbesucher bald mit einem Zeppelin aus Chimki hertransportiert werden. Für die Mobilität vor Ort werden Segways und eine Panoramabahn auf Schienen sorgen. Während man im Disneyland von Paris in einer Eisenbahn im Stil des 19. Jahrhunderts durch die Landschaft zieht, lädt man die Gäste des patriotischen Lunaparks zur Fahrt in einem Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete in einem der Waggons ein.  

    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft
    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft

    Im Januar 2015 stand hier noch ein Wald: Die Frösche quakten im Sumpf, im nahen Waldort Sjukowo sammelte man Morcheln. Jetzt ziehen Bauarbeiter eine „Stadt der Militärberufe“ in die Höhe. Im Luftfahrtsektor wird es Flugsimulatoren geben, im Sektor der Kriegsmarine echte Schiffe, bei den Luftlandetruppen ein Übungsfeld für Soldaten und Besucher. Geplant sind auch Sektoren für den Generalstab, die Bodentruppen, Raketentruppen und die Weltraumverteidigung.

    „Dieser Sektor soll der heranwachsenden Generation Patriotismus beibringen, mit einem Thema, das Kinder fasziniert: der Weltraum. Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik. Aufgabe aller Sektoren ist es, künftige Vertragssoldaten und Wehrpflichtige anzuziehen. Im Zentrum des Parks befinden sich die Alexander-Newski-Kirche und die Allee der Helden aller Kriege, die der russischen Armee Ruhm gebracht haben“, heißt es in einem Werbefilm auf Youtube. Ob da auch Teilnehmer an den Kampfeinsätzen in Afghanistan, Tschetschenien, Georgien und Syrien geehrt werden, bleibt unerwähnt. Nebenan wird es ein 3D-Kino geben, wo man die Brester Festung verteidigen oder Sturm auf Berlin nehmen kann.

    Eine Kopie von Kreml und rotem Platz für Militärparaden

    Das Militär wird einen eigenen Kreml mit Mausoleum und Lobnoje Mesto haben – sie wollen im Maßstab 1 : 1 den Roten Platz mitsamt dem Historischen Museum, der Basilius-Kathedrale und dem GUM nachbauen. Die Idee ist, dass dieses gigantische Modell während der Proben für die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai die Hauptstadt entlasten soll. Im Winter soll es hier eine Eisbahn geben, auf der dann Eishockey-Turniere stattfinden, wie sie – seiner aktiven Teilnahme an der Nachthockeyliga nach zu schließen – der Oberste Befehlshaber gern hat.

    Alles passiert unter Zeitdruck: Das Kongresszentrum Patriot-Expo, wo moderne Technik ausgestellt ist und neue Gebäude aus dem Boden wachsen, erinnert an Sotschi vor den Olympischen Spielen. Letzten Sommer fand hier die dreitägige Messe Armee – 2015 statt, auf der 300 Kriegstechnik-Exponate von 1500 einheimischen Herstellern präsentiert wurden. Laut Wjatscheslaw Presnuchin, dem Chef der Abteilung für Wissenschaft und Forschung im Verteidigungsministerium, besteht das wichtigste Ziel darin, Hersteller und Anwender militärischer Produkte an einem Ort zusammenzubringen. Das scheint die ehrlichste Beschreibung der Idee hinter diesem Park zu sein.

    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen
    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen

    Über die gesamte Wand des Kongresszentrums erstreckt sich ein Bildschirm – darauf ein Countdown der Tage bis zu den nächsten Konferenzen. Dann leuchten die Gesichter Putins, Medwedews und Schoigus auf – doch weil der Bildschirm defekte Stellen hat, kann man die oberste Führung nicht sofort erkennen. Die VIP-Gesichter werden von muskelbepackten Kerlen abgelöst, die mit Waffen aller Art schießen, mit Fallschirmen aus Hubschraubern springen und Extremisten liquidieren. Auf dem Dach des Gebäudes funkelt rubinrot ein Stern.  

    Die sich träge fortbewegenden Besucher werden von noch trägeren Wachleuten beobachtet. Die dürfen weder lesen noch rauchen noch Sonnenblumenkerne knabbern. Doch was macht man, wenn man die nächsten acht Stunden absolut nichts zu tun hat? Schatten ist hier auch keiner, also schmoren sie in der Sonne und kaufen sich einer nach dem anderen ein Eis. Und fragen einander per Funk:

    Eskimo am Stiel oder ein Hörnchen?“

    Eis wird von einer Usbekin in einem grünen, torpedoförmigen Anhänger der     Militärhandelsorganisation mit der Aufschrift „Armeequalität“ verkauft. Jeden Tag beginnt sie damit, Snickers, Twix und Mineralwasser der Marke Armee auszulegen. Dann bereitet sie gemächlich Hotdogs (150 Rubel [2 Euro]) und Pommes (50 Rubel [70 Cent]) zu.

    „Möchten Sie nicht vielleicht eine Einmannpackung Militärverpflegung? Nur 700 Rubel [9,60 Euro]! Ganz echt – mit Dosenfleisch, Dosengemüse, Knäckebrot, Fruchtgelee und Schokocreme. Außerdem Streichhölzer, die sogar unter Wasser brennen“, preist die Verkäuferin ihre Ware an. Fotos genau solcher Packungen, die bei Donezk weggeworfen worden waren, haben ukrainische User in sozialen Netzwerken verbreitet. Sie waren für sie ein Beweis, dass die Armee des Nachbarlandes am Konflikt mitmischt.   

    Die Läufe aller Waffen weisen Richtung Westen

    Gleich in der Nähe stehen das Raketensystem Topol [dt. Pappel], eine Panzerfähre auf Ketten und ein Brückenlegefahrzeug. Von der Größe her erinnern sie an kämpfende Ents, die wandelnden Bäume aus Herr der Ringe. Angesichts solcher Riesen wirken die Menschen auf dem Platz wie Zwerge. Neben den Giganten steht das Flugabwehrraketensystem Buk [dt. Buche] – für den Kampf gegen bewegliche aerodynamische Ziele auf geringer und mittlerer Höhe, wie es auf dem Schild heißt. Wahrscheinlich das einzige Modell dieses Flugabwehrraketensystems, das Laien je zu Gesicht bekommen. Das Selbstfahrgeschütz in der Größe eines Lastwagens erlangte im Sommer 2014 Berühmtheit, als eine malaysische Boeing 777 in der Ostukraine vom Himmel fiel.

    Über dem leeren Platz, auf dem Panzer, Schützenpanzer, Kampfjets und anderes Kriegsgerät aufgereiht sind, erschallt eine Melodie, die wir aus Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg kennen:

    Die Hütte von Feinden verbrannt  
    Die ganze Familie vernichtet.
    Wohin soll jetzt der Soldat,
    Wem seine Trauer klagen?

    Bis auf die Gedenk-Tracklist und die Georgsbändchen an den Zäunen fehlt das, was man patriotische Symbolik nennt, fast vollständig. Im Patriotenpark ist vorerst alles einfach, wie beim Militär: Das hier ist ein Panzer, der kann schießen und schwimmen. Vor jedem Modell sind akribisch genau seine technischen Daten angeführt – Maße, Geschwindigkeit, Kraftstoffreserve, Standardmunition. Wie viele Menschen damit auf einen Schlag getötet werden können, ist nicht angegeben.    

    „Hey, das sieht echt super aus, wow. Stell dich dazu und leg die Arme um sie“, sagt ein Typ zu seiner Freundin, das Handy knipsbereit. Parallel dazu streicht ein Hobbyfotograf über einen Schützenpanzer BTR-60 mit Frontpanzerung und Strahlenschutz.

    Das Maschinengewehr des BTR weist, wie alle Läufe im Vergnügungspark Patriot, Richtung Westen.

     
    Werbefilm für den Militärpatriotischen Park „Patriot

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  • Russlands neue Revoluzzer?

    Russlands neue Revoluzzer?

    Protest-Starre in Russland? Nach den heftigen Bolotnaja-Protesten 2011/12 hat der Kreml zahlreiche Aktivisten verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Außerdem wurde zuletzt eine Reihe von Anti-Terror-Gesetzen verabschiedet, die unter anderem auch die Internetzensur weiter ausbauen. Blogger – gemeint sind damit auch Social-Media-User mit mehr als 3000 Lesern am Tag – dürfen beispielsweise andere Personen nicht „in Misskredit” bringen.

    Der Petersburger Politologe Michail Komin kritisiert auf dem russischen Wirtschaftsportal forbes.ru die Anti-Protest-Maßnahmen des Kreml: Nicht nur, dass das Unruhepotential derzeit weder von Social-Media-Nutzern noch von Bolotnaja-Anhängern, sondern von anderen sozialen Gruppen ausgehe. Die größte Gefahr für den Kreml liege sowieso ganz woanders.

    Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage zu sozioökonomischen und politischen Spannungen in Russlands Regionen hat bestätigt, was längst spürbar war: In den vergangenen Monaten ist die Unzufriedenheit der Bürger mit ihrer Situation bedeutend gewachsen.

    Auch wenn die Soziologen eine leichte Abnahme in der Protestbereitschaft feststellen: Es bleibt doch der Eindruck, dass die russische Gesellschaft in einer „aggressiven Reglosigkeit“ verharrt – einem Zustand, in dem der Ärger über das Verhalten des Vorgesetzten, der lokalen und der föderalen Machthaber enorm groß ist, aber der Punkt, an dem sich die aufgestaute Aggression am Umfeld entlädt, noch nicht erreicht ist.

    Aber dieses „noch nicht“ kann nicht ewig anhalten. Die Probleme, die den gesellschaftlichen Ärger verursachen, haben institutionellen Charakter, doch die herrschende Elite ist offenbar nicht in der Lage, dies zu erkennen.

    Kreml kämpft mit alten Waffen

    Die Maßnahmen-Strategie des Kreml, Proteste einzudämmen, hat sich seit dem Bolotnaja-Platz faktisch nicht verändert – ungeachtet dessen, dass sich die sozialpolitische Landschaft nach der Krimeuphorie gewandelt und sich der Lebensstandard seit dem Ende der 1990er dramatisch verschlechtert hat. Man bleibt dabei, politische Anführer zu verfolgen oder ihnen Verfolgung anzudrohen, jeden, dessen Meinung vom offiziellen Diskurs abweicht, als Verräter abzustempeln und vor den Wahlen innere Säuberungen zu imitieren sowie jeglichen Protest zum Zwergenaufstand zu erklären.

    Aber alle diese Maßnahmen des Kreml haben ausgesprochen wenig mit den tatsächlich wachsenden Spannungen im Land zu tun. Der potentielle Protest, der die Legitimität der Elite unterminieren könnte, geht weniger von den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung oder den aktiven Facebook-Nutzern aus. Er kommt vielmehr von ganz anderen sozialen Gruppen, deren Forderungen die Regierung wohl kaum erfüllen kann.

    Die erste und wohl offensichtlichste Quelle des neuen Protestes: Einzelne Berufsgruppen in den großen Städten, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage mobilisiert werden. Wir konnten bereits beobachten, dass der Kreml keinerlei Vorstellung davon hat, wie er auf Streiks der Ärzte und der Devisenkreditnehmer oder auf die Protestaktionen der Fernfahrer reagieren soll.

    Im Grunde genommen kann man diese Streiks natürlich kaum als Protest bezeichnen. Der Großteil von ihnen steht im Zusammenhang mit nicht gezahlten Löhnen und ist vielmehr ein kollektiver Appell an die Vorgesetzten „die Sache zu klären“. Doch die Zahl der Proteste von Berufsgruppen steigt im Verhältnis zum Vorjahr an. In der ersten Hälfte von 2016 gab es russlandweit in unterschiedlichen Städten bereits mehr als 150 solcher Aktionen.

    Katastrophale Kluft zwischen Elite und „Putin-Mehrheit“

    Auch die lauten Skandale wie Medwedews Ausspruch „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, der schon jetzt zum meistzitierten politischen Mem des Jahres avanciert ist, stärken nicht gerade den Glauben der Russen an den paternalistischen Versorgungsstaat. Dasselbe gilt für das zweite Mem des vergangenen Monats – den Hohn des Vizepremiers Schuwalow über die 20-Quadratmeter-Wohnungen der Russen.

    Das alles sind Lakmustests der katastrophalen Kluft zwischen dem, wie die Elite das Leben der einfachen Menschen wahrnimmt und dem, welche Art von Maßnahmen diese einfachen Menschen aus der „Putin-Mehrheit“ derzeit von der Elite erwarten.

    Im Laufe der Geschichte wurden die Bürger in Situationen, in denen ihnen das Ausmaß dieser Kluft bewusst wurde, häufig von einer „aggressiv schweigenden“ zu einer „aggressiv rebellierenden“ Mehrheit, das heißt, sie dienten als Auslöser für revolutionäre Umwälzungen. Die Unaufmerksamkeit des Zaren gegenüber dem Volk am Blutsonntag oder die Versuche der kommunistischen Partei, die Atomkatastrophe in Tschernobyl zu vertuschen, sind nur zwei von vielen Beispielen.

    Zudem sind Arbeitsproteste für jedes autoritäre Regime aus zweierlei Gründen schwer zu verkraften: Erstens ist es kaum möglich, sie einfach vom Tisch zu wischen, sie zu ignorieren und sie den Machenschaften von westlichen Agenten oder der Fünften Kolonne aus dem Inneren zuzuschreiben. Denn die Probleme sind dem Bewusstsein der Massen zu verständlich und zu nah. Das ursprünglich Apolitische des Protestes ist seine Kraft. Sollten einmal Rufe nach einem Machtwechsel folgen, so klingen sie weitaus aufrichtiger, wenn die Regierung es bis dahin nicht vermochte, den grundlegend ökonomischen Forderungen der Protestierenden nachzukommen. Erinnern wir uns daran, dass der Sargnagel für das Sowjetregime Bergarbeiter waren, die mit ihren Helmen gegen die Steine am Roten Platz schlugen. Gorbatschow wusste einfach nicht, wie er auf sie reagieren sollte.

    Zweitens belegen aktuelle Studien, dass spontan entstandene Strukturen in Gesellschaften mit geschlossenem sozialen Kapital (zu ihnen gehört auch das autoritäre Russland) über ein höheres Mobilisierungspotential verfügen. Innerhalb solcher Strukturen entschließen sich Individuen nämlich nicht über die Netzwerke bestehender Organisationen für eine Teilnahme an Protesthandlungen, sondern über lockere soziale Bindungen, wie einem gemeinsamen Arbeitsplatz oder gemeinsamer Nachbarschaft.

    Die Spontaneität solcher Proteste lässt den Teilnehmern offenbar nicht genug Zeit, um an mögliche Risiken und Repressionen zu denken. Zusätzlich erhöht das Gemeinschaftsgefühl die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand kollektiven Handlungen anschließt. In ihrem Erscheinungsbild ähneln diese Proteste den berühmten russischen „Volksversammlungen“.

    Nichtstun und den Bogen überspannen

    Die zweite große soziodemographische Gruppe, die sich als Quelle des Protests erweisen könnte, falls grundlegende Veränderungen in sozialpolitischen Institutionen ausbleiben, ist die neue Generation von selbstgenügsamen Russen in den Nicht-Hauptstädten.

    Laut soziologischen Studien ist die Zahl der Menschen, die sich und ihre Familie selbst versorgen können und nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sind, in Russland auf 44 Prozent gestiegen. Zudem ist der Trend erkennbar, dass ihre Zahl in Städten, die weniger als eine Million Einwohner haben, häufig sogar 50 Prozent übersteigt.  

    Dort, wo das Niveau der staatlichen Leistungen niedriger ist als in der Hauptstadt, die Lohn- und Gehaltsangleichung gering ausfällt und die Qualifikation der Beamten nur für Verwunderung sorgt, bleibt nichts anderes, als sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen. Denjenigen, denen das einigermaßen gelingt, wird schnell klar, dass der Staat nur zwei Dinge wirklich gut kann: Nichtstun und den Bogen überspannen.

    Die wachsende Ungleichheit und die nicht funktionierenden sozialen Fahrstühle, die allzu oft von den Kindern der herrschenden Elite besetzt sind – das alles trägt dazu bei, dass der Ärger zunimmt und auch das Gefühl, die „Herrschaftsriege“ mische sich zu sehr ins Privatleben ein. Es ist durchaus möglich, dass sich diese soziale Schicht in fünf bis zehn Jahren vollends zu dem entwickelt, was in der Revolutionstheorie als „überflüssiger Mensch“ bekannt ist. Sprich zu einer Generation, der es nicht gelingt, im Leben einen Platz zu finden, der ihrer Bildung und Erfahrung angemessenen wäre, und einen signifikanten Fortschritt in ihrer sozialen und materiellen Situation zu erzielen.  

    Der Glaube an die eigene Kraft wird diesen Gemeinschaften helfen, die mit kollektiven Handlungen verbundenen Mühen zu meistern. Auch kann das Ausbleiben von sichtlichen Verbesserungen in der staatlichen Politik sowie die fortschreitende ökonomische und soziale Abwertung der Regionen zu jenem starken Antrieb werden, der sie auf die Barrikaden treibt.
    Wenn sie sich dann beispielsweise mit den neuen Gesichtern der russischen Arbeiterproteste, den neuen „Bergarbeitern“, auf dem Roten Platz vereinten, könnten aus dieser explosiven Mischung durchaus revolutionäre Umwälzungen folgen.

    Die neuen Anhänger des Russischen Frühlings

    Ein weiterer Herd beim Anwachsen politischer Spannungen könnten die neuen Anhänger des Russischen Frühlings werden: Junge Männer, die von den Kämpfen im Südosten der Ukraine zurückgekehrt sind, weil es ihnen nicht gelungen ist, dort nach dem Krieg Fuß zu fassen.

    Gut ausgebildet und geübt im Umgang mit der Waffe werden sie in Russland keinen Platz finden, bedenkt man die allmähliche Zurücknahme der aggressiven Rhetorik und die Kehrtwende in Richtung einer Zusammenarbeit mit dem Westen. Dann bleiben ihnen zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen ihre militärische Laufbahn in einer Privateinheit wie der TschWK Wagner fort, oder – was weitaus wahrscheinlicher ist – sie versuchen ihr angesammeltes symbolisches und soziales Kapital in der Heimat zu verwenden. Zum Einsatz kommen diese Inhalte und sozialen Gruppen bereits beim Helden des Russischen Frühlings Igor Strelkow, indem er mal das Komitee des 25. Januar, mal die neue Allrussische nationale Bewegung gründet.

    Wenn es ihnen nicht gelingt, sich in das System der politischen Macht einzufügen, werden sie, enttäuscht und frustriert über die faktische Aufgabe des Projekts Noworossija, ihre Loyalität gegenüber dem Kreml gewiss nicht beibehalten. Sie werden sich alternativen Machtzentren zuwenden. Sicherlich würde es ihnen schwerfallen, die beiden oben genannten „revolutionär gefährlichen“ sozialen Gruppen zu verstehen und sich mit ihnen zu vereinen. Dafür liegen die Beweggründe für den Protest und die jeweilige Weltsicht zu weit auseinander. Doch gesetzt den Fall, das System würde mit den sozialen Spannungen nicht mehr fertig, ist es durchaus vorstellbar, dass Menschen mit der Erfahrung militärischer Mobilmachung diese Situation ausnutzen, um unter Losungen der Bewahrung von Ordnung und Einheit des Landes eigene lokale Kontrollzonen zu errichten.

    Betrachtet man das Manifest von Strelkow, so propagiert er keine Machtergreifung sondern eine „Übernahme“ der Staatsmacht, wenn die Krisensituation erreicht ist. Das beschriebene Szenario gilt unter den Anhänger der ANB [Allrussische Nationale Bewegung] als eine durchaus realistische Strategie.

    Das Hauptproblem liegt woanders

    Das Hauptproblem für die Stabilität des russischen Regimes allerdings besteht nicht so sehr in den wachsenden sozialen Gruppen, die zu neuen Quellen des Protestes werden können. Und noch nicht einmal darin, dass der Kreml die Gefahr, die von ihnen ausgeht, übersieht. Es besteht vielmehr darin, dass die politischen Institutionen (insbesondere in den Regionen) degradieren, zunehmend primitiver werden und von Jahr zu Jahr weniger fähig sind, dem wachsenden Widerspruch auf friedliche Weise zu begegnen.

    Die sich verschlechternde sozialpolitische Lage einerseits und das zunehmende Unvermögen, sich an diese anzupassen, andererseits: Derart entgegengesetzte Tendenzen können zu einer sozialen Explosion führen.

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  • Russlandphobie-ologie

    Russlandphobie-ologie

    Ab wann ist Russland-Kritik keine Kritik mehr, sondern Russland-Bashing? Wie viel Kritik muss man einstecken können, welche sich auch mal verkneifen? Und wann artet das „Bashing“ in einen regelrechten „Hass“ aus? Das russische Kulturministerium hat einen Forschungswettbewerb ausgeschrieben über „Technologien der Russlandphobie“.

    Leider sind dabei auch die Antworten schon vorgegeben, bedauert Olga Filina in ihrem Beitrag auf Kommersant-Ogonjok – und analysiert Karriere und Wirkung des Begriffs „Russlandphobie“.

    Bild © gemeinfrei
    Bild © gemeinfrei

    Der sowjetische Soziologe Boris Porschnew bemerkte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Entdeckung des „Feindbilds“ habe die Menschheit einen großen Fund gemacht: Es habe ihre Evolution vorangebracht. Der Durchbruch zum Menschsein sei nämlich erst möglich geworden, indem die Neandertaler zu „den Anderen“, zu „Feinden“ gemacht und dadurch die Konkurrenz vom Antlitz der Erde verdrängt wurde.

    Wie weit diese Hypothese stimmt, ist unbekannt, in der politischen Theorie und Praxis Russlands aber wurde auf die Ausformung eines Feindbildes immer großen Wert gelegt. Nach dem vertrauten Schema: Willst du einen Sprung in die Zukunft tun, finde heraus, wer deine „Feinde“ sind, und dann handle ihnen zum Schaden.    

    Das Kulturministerium als das Amt, das sich um die kulturellen Codes der Nation kümmern soll, erspürte feinfühlig diesen Impuls und schrieb – mit der Erklärung, es reife „nachweislich eine historische Etappe der nationalen Wiedergeburt Russlands heran“ – einen staatlichen Forschungsauftrag zur Erkundung russlandfeindlicher Stimmungen im Land und in der Welt aus. Konkret: Im Internet läuft auf der Plattform für öffentliche Staatsaufträge ein mit 1,9 Millionen Rubel [etwa 27.000 Euro] dotierter Wettbewerb für wissenschaftliche Forschungsarbeiten zum Thema: „Technologien der kulturellen Entrussifizierung (Russlandphobie) und staatlich-institutionelle Reaktionsmöglichkeiten auf diese Herausforderung“. Wer gern Licht in diese wichtige Staatsangelegenheit bringen möchte, ist dazu aufgerufen, bis zum 25. Juli seine Bewerbung einzureichen.

    Und zu tun gibt es viel: Gefordert ist, „Genese und Grundlagen von Phobien offenzulegen“, „das Phänomen der Russlandphobie im Kontext weltweiter Phobiensysteme zu beleuchten“, „Strategeme und Praktiken der Russlandphobie in der Staatspolitik der geopolitischen Gegner Russlands zu rekonstruieren“, „empirisches Material zur innerrussischen Auffächerung der Russlandfeindlichkeit zu systematisieren (Smerdjakowschtschina, Fünfte Kolonne)“ und natürlich verschiedene Analysen am gewonnenen Material vorzunehmen – Problemanalysen, Faktorenanalysen – mit dem Ziel, „praktische Empfehlungen“ zu erarbeiten. Die Zeit drängt (offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran), daher erwartet das Ministerium den fertigen Bericht schon im Oktober.

    Offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran

    Liest man die Präambel der Aufgabenstellung des Kulturministeriums, so stellt man fest: Hier hat man eine Sammlung bekannter Statements russischer Politiker und Beamter der letzten Monate vor sich, die mit abgehobenen wissenschaftlichen Formulierungen noch künstlich aufgeblasen ist.
    Die Verfasser der Präambel haben sich offensichtlich an Putins Rede beim Treffen des Waldai-Klubs orientiert. Dort warf er die Frage auf nach „der pauschalen Abstempelung [Russlands] und dem Aufbau eines Feindbildes […] durch die Regierungen von Ländern, in denen man doch eigentlich immer den Wert der Redefreiheit predigte“.

    So wie der Präsident die Frage stellte, wirft sie keine Zweifel auf – es ist, wie’s eben ist. Aber danach begannen die schöpferischen Deutungen von Leuten aus dem Staatsapparat oder seiner Nähe, die alle noch ihr eigenes besonderes Scherflein beitragen wollten.

    Bald zeigte sich, dass fast jedes Ministerium und jede Behörde Russlands eine eigene Meinung zum Phänomen der Russophobie und zu deren „Genese und Grundlagen“ hat.

    Ein praktischer Terminus, den sich jeder zurechtbiegen kann

    Zum Beispiel meint das Verteidigungsministerium in seiner geradlinigen Art, hier offiziell vertreten von Igor Konaschenkow, alles liege an der kranken Psyche der US-Militärführung, die sei nämlich in eine „russophobe Hysterie“ verfallen.

    Das Außenministerium in der Person von Maria Sacharowa sieht hinter den aktuellen Entwicklungen pragmatische Interessen: „Russophobie bringt gute Geschäfte, die NATO erhöht ja ihr Budget“.

    Das Kulturministerium, konkret sein Chef Wladimir Medinski, hat bereits mehrmals geäußert, die Wurzeln der Russophobie lägen in einem Wertekonflikt zwischen Russland und dem Westen.

    Schließlich treibt die Staatsduma (insbesondere Alexej Puschkow, Vorsitzender des außenpolitischen Komitees der scheidenden Parlamentsmitglieder) die Idee voran, Russophobie „wandle sich von einer Stimmung zu einer politischen Haltung“ und sei im Grunde ein Instrument zur geopolitischen Einflussnahme.

    Kurz, Russophobie entpuppt sich als einer dieser praktischen Termini, die sich jeder nach seinem Geschmack zurechtbiegen kann, ohne gegen die allgemeine Linie zu verstoßen.  

    Russlandphobie als „clash of civilisations“

    Die Aufgabenstellung des Kulturministeriums hebt die Messlatte der Diskussion nun auf ein neues Niveau, indem sie eine Unterscheidung der Begriffe „Russophobie“ und „Russlandphobie“ fordert. Russophobie wird dabei als etwas Privates und ethnisch Geprägtes gehandelt, Russlandphobie hingegen wörtlich als „Ergebnis des Aufeinanderprallens historischer Projekte, in Huntingtons Terminologie – eines clash of civilisations“. Damit ist Russlandphobie weniger eine Aversion gegen die Russen als gegen die „russische Zivilisation“, die wir ja irgendwie inzwischen auch „russische Welt“ nennen.

    Zum Thema Russlandphobie hat bisher niemand von hohen Tribünen herab etwas verlauten lassen. Insofern kann man die Ausschreibung des Kulturministeriums auch als Auftrag verstehen, den neuen Terminus in den öffentlichen Diskurs einzuführen, ihm eine „wissenschaftliche Grundlage“ zu geben.

    Für diese These spricht, dass die Behörde so klug war, gleich in der Aufgabenstellung der Untersuchung alle notwendigen Ergebnisse vorzugeben (von der Unterscheidung russen- und russlandfeindlicher Stimmungen bis zur Feststellung, die letzteren seien weit verbreitet). Die Forscher müssen für diese Befunde nurmehr das nötige Fundament finden – wofür dann die vorgesehenen drei Monate auch wirklich reichen.  

    Einerseits ist bedauerlich, dass unsere kultivierteste Behörde an einer profunden Analyse der politischen Antipathien, die in der modernen Welt Konflikte und Spannungen schüren, nicht interessiert ist. Andererseits wirkt der Versuch, die Existenz einer besonderen russischen Zivilisation, eines „russischen Projektes“, anhand von „feindlichen Angriffen“ zu beweisen, insgesamt apart. Nach der Menge an russlandfeindlichen Äußerungen zu urteilen, die allein die Ausschreibung dieses öffentlichen Auftrages hervorrief, kann man sagen: Der Streich ist gelungen.  

    Vielleicht diente all das auch nur einem einzigen Zweck: einen Versuchsballon zu starten. Nach Kenntnis von Kommersant-Ogonjok jedenfalls mussten Forscher, die an der Ausführung des Auftrags interessiert waren, vergangene Woche feststellen: Mit der Annahme ihrer Bewerbungen hatte es niemand eilig. Zudem kann der Wettbewerb auch weiterhin noch abgesagt werden. Durchaus möglich, dass das Kulturministerium ein kleines soziales Experiment durchführen wollte, indem es eben einmal einen neuen Begriff ins Spiel brachte – einfach um zu sehen, ob er sich durchsetzen wird, ob er angenommen wird …

    Systematisierung von Phobien

    Auf den ersten Blick könnte das Wort „Russlandphobie“, so abstrus es klingen mag, durchaus ein nützlicher Begriff sein. Es könnte sich weit größerer Nachfrage erfreuen als zum Beispiel das Konzept des „Russländers“, das schon der erste Präsident des Landes erfolglos propagierte.

    Um jemanden als „Russländer“ zu bezeichnen, muss man sicher sein, dass ein Phänomen wie die Staatlichkeit Russlands eine reale, einende Kraft ist. Für die Bezeichnung einer Person als „russlandfeindlich“ hingegen genügt die Annahme, die Welt werde von irrationalen Phobien regiert und Russland betreibe sein eigenes, von der feindlichen (oder zumindest ahnungslosen) Welt losgelöstes, zivilisatorisches Projekt. Letzteres ist uns schon immer leichter gefallen als Ersteres.  

    Die zivilisatorische Komponente des Begriffs „Russlandphobie“ ist nicht unproblematisch. Auch wenn das Kulturministerium klarstellt, dass „derzeit zwischen dem Antikommunismus der Sowjetzeit und der Russlandphobie ein Unterschied gemacht“ wird, beschwört die Aufgliederung in Russen- und Russlandphobie Ideologeme des Kalten Krieges herauf. Sie erlauben es, mit dem einfachen Volk aus dem feindlichen Lager mitzufühlen und das kapitalistische oder sowjetische System, das dieses Volk unterdrückte, zu hassen. Anders gesagt, im Rahmen des Konzepts der Russlandphobie wird angenommen, die Ausländer kämpften nicht gegen die Russen, sondern gegen das russische System. Analog widersetzen wir Russen uns dann nicht „den Pindossy“, sondern ihrer dümmlichen Zivilisation, der wir als Alternative unsere russische Welt entgegenhalten. In gewissem Sinne verleiht das der Polemik, die sich zielstrebig auf das Niveau eines ethnisch motivierten Dorfplatz-Geschimpfes herabbegeben hatte, sogar Kultur.

    Doch während Russo- und Amerikanophobe genug Futter haben – Stereotype nämlich – müssen sich Kontrahenten der russischen Zivilisation erst überlegen, wogegen sie eigentlich Widerstand leisten. Weil die Russen ihr Projekt bisher nicht mal selbst ordentlich definiert haben.

    Auch der Westen entlehnt seine Rhetorik dem Kalten Krieg

    Übrigens versteht auch die ausländische Öffentlichkeit nur mit Mühe, wogegen sie auftritt. In den Reden westlicher Scharfmacher fließen auf wundersame Weise eine dem Kalten Krieg entlehnte Rhetorik, Bilder der tatarisch-mongolischen Invasion und Vorahnungen einer geopolitischen Katastrophe ineinander, zu der die Aktionen Russlands angeblich führen werden.   

    „Ein wichtiger Schluss, den man aus den aktuellen Aussagen westlicher Politiker ziehen kann, ist für uns beruhigend: Das bunte Spektrum an – wie es so schön heißt – ‚russlandfeindlichen‘ Äußerungen ist eher ‚auf den Verkaufserfolg‘ angelegt als zur Mobilisierung der Bevölkerung“, meint Oleg Matweitschew, Philosophieprofessor an der Higher School of Economics. „Das lässt sich leicht beweisen. Wenn ein Feindbild zur Vorbereitung auf eine offene Konfrontation benutzt wird, bemüht man sich immer, den Feind als erbärmlich, entmenschlicht und perspektivlos, letztlich als unbedeutend darzustellen, um das Volk davon zu überzeugen, dass man mit ihm leicht fertig wird. Von Russland spricht man anders: Nicht von einem erbärmlichen Land, sondern von einem furchterregenden, das seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft hat. Solche einschüchternden Bilder paralysieren die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, gegen den Feind zu kämpfen, dafür erhöhen sie ihre Bereitschaft, den Militäretat aufzustocken. Die kommerzielle Bedeutung der Russlandphobie ist bisher also viel höher als die militärische.“

    Wir bleiben bei der vorgegebenen Richtung, bis auf Weiteres …

    Was eigentlich auch nicht nett ist: Russland wird zur Handelsware, den Gewinn stecken sich aber die anderen ein … Na, immerhin ist das rational erklärbar.

    Und noch etwas ist rational erklärbar: Einfacher, als sich schädlichen Phobien entgegenzustemmen, ist es, sie zu überwinden. Zumal Rezepte dafür auch ohne Ausschreibungen für Forschungsprojekte zugänglich sind, kostenlos.      

    „Die ‚praktischen Empfehlungen zur proaktiven Bekämpfung der Russlandphobie‘, die das Kulturministerium zu bekommen hofft, sind auch so bekannt“, wundert sich Jelena Schestopal, Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Psychologie der Politik an der politikwissenschaftlichen Faktultät der Moskauer Staatlichen Universität. „Das Rezept ist da immer dasselbe: Mehr Kontakt. Damit die Menschen sich nicht gegenseitig dämonisieren, müssen sie miteinander reden: Wir müssen zu ihnen fahren, sie zu uns, das wissenschaftliche und kulturelle Leben muss gemeinsam stattfinden … Und umgekehrt: Je mehr wir uns mit Phobien voneinander abgrenzen, desto fremder werden wir einander.“

    Doch eine so simple Wende in der Auslegung der allgemeinen Linie sieht offenbar keine der amtlichen Interpretationen vor. Wir bleiben also bei der vorgegebenen Richtung. Bis wir neue Vorgaben bekommen …

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  • Die verlorenen Siege

    Die verlorenen Siege

    Olympische Spiele in Rio mit oder ohne Russland – darüber entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) noch in diesen Tagen. Erst am Montag hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eine ausführliche Untersuchung über die russischen Doping-Verstöße vorgelegt. Chefermittler McLaren weist darin unter anderem nach, dass bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 auf staatliche Anordnung hin manipuliert wurde. Russland hatte damals den Medaillenspiegel angeführt.

    Bereits Ende Juni waren die russischen Leichtathleten wegen Dopings für Rio gesperrt worden. Das IOC hatte die Sperre zunächst für nachweislich saubere Sportler gelockert. Schon damals gab es kritische Stimmen, die Vorwürfe gegen die russischen Sportler seien politisch motiviert, Russland würde stärker bestraft als andere Länder, wie etwa China (dekoder bildete die Debatte darüber ab).

    Präsident Wladimir Putin jedoch kündigte noch am Montag die Kooperation Russlands an. Er hat inzwischen zahlreiche Verantwortliche, die im McLaren-Report namentlich genannt sind, entlassen. Sportminister Mutko ist allerdings weiterhin im Amt.

    Viele Stimmen in Russland sehen die Schuld bei Funktionären und ehrliche Sportler als die eigentlich Leidtragenden des Skandals.

    Sport und Medaillen sind oft eng mit dem Selbstverständnis des Staates und dem Selbstbild der Gesellschaft verknüpft: Deswegen betrachtet der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in seinem vielbeachteten Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru zwar ebenfalls die Funktionäre als die Hauptschuldigen – möchte aber auch weder Fans noch Sportler so leicht aus ihrer Verantwortung entlassen:

    Ich erinnere mich an die allgemeine Stimmung kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi: Niemand glaubte an den Sieg unseres Teams. Diskutiert wurden nur die massiven Veruntreuungen bei den olympischen Bauprojekten, die explodierenden Kosten und verpassten Fristen. Es schien, als wäre diese Klauerei überhaupt der einzige Grund, die Spiele in Russland zu veranstalten – wie auch alles andere, wie schon immer.

    Der Sieg des russischen Teams, der erste Platz im Gesamt-Medaillenspiegel – das war ein wirkliches Wunder. Nach einer Reihe von Niederlagen hatten wir uns schon auf eine erneute Schande eingestellt, das ganze Volk. Wir hatten uns darauf eingestellt, beschämt Witze zu erzählen, uns vor aller Öffentlichkeit selbst zu kasteien. Dennoch hofften wir – ganz leise, jeder für sich, damit man nicht ausgelacht wird.

    Wir wollten unglaublich gerne stolz sein auf unsere Heimat

    Und erst als unsere Jungs und Mädels den ersten Platz belegten, brach das durch. Schließlich war das der erste Sieg des neuen Russlands, der erste große Sieg seit Jahrzehnten.

    Und wir – erinnert ihr euch? – verspürten damals einen heftigen, aufrichtigen Stolz auf unser Land. Niemand blieb außen vor, sogar die nörgelnde liberale Intelligenzija. Wir wollten eben alle unglaublich gern stolz sein auf unsere Heimat, aber die Staatsmacht zwang uns jahrzehntelang dazu, nur Verlegenheit und Scham zu empfinden.

    Das war ein Glücksgefühl: Während wir die Abschluss-Zeremonie der Olympischen Spiele schauten, fühlten wir Russländer uns – unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit – als eine geeinte große Nation, die diesen Triumph verdient hatte. Und wir waren glücklich darüber, dass wir uns wieder auf das Welt-Podest erheben, dass wir friedlich hierher zurückkommen, von allen als Sieger anerkannt, ganz ohne Zwang.

    Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient

    Wir mussten damals keine Panzer durch die Ukraine rollen lassen, mussten den Westen nicht mit Jagdbombern ängstigen, erinnert Ihr euch? Uns genügte der Sieg im Sport, uns genügte das Symbol. Wir sehnten uns so sehr nach Anerkennung, und so leidenschaftlich wollten wir uns daran erinnern, wie groß wir einmal waren! Das war ein Rausch.

    Und jetzt stellt sich plötzlich raus: Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient. Unsere Sportler haben gewonnen, weil man sie mit Doping vollgepumpt hatte. Das war Mauschelei, Trickserei, eine weitere Lüge. Unser Staat – ganze Ministerien und Geheimdienste – haben geschummelt und gefälscht, geblendet und gelogen, um die ganze Welt und uns alle zu betrügen. Sie haben diesen Sieg erschlichen, haben wie die Gauner sowohl den anderen Länder als auch uns allen einen Bären aufgebunden – und wofür? Für wen? Uns zuliebe?

    Eine Fälschung, ein Potemkinsches Dorf wie unsere Demokratie

    Der Triumph von Sotschi ist offensichtlich genau so eine erniedrigende Fälschung, genau so eine KGB-Spezialoperation wie die Medwedewsche Modernisierung, wie unser Silicon Valley in Skolkowo, wie unsere Demokratie, wie unsere Wiedergeburt aus der Asche. Er hat sich als ein eindimensionales Potemkinsches Dorf entpuppt, als das Sobjaninsche europäische Moskau. Als eine gemalte Feuerstelle, die weder leuchtet noch wärmt; und mitten in die hat man uns mit unserer langen Lügennase hineingestoßen.

    Wir wollten uns einfach nur daran erinnern, wie sich das anfühlt – stolz zu sein auf das eigene Land. Aber sie haben uns mit diesem ergaunerten Sieg für dumm verkauft und dazu gezwungen, an eine Weltverschwörung gegen uns zu glauben. Sie verdrehten unsere Gefühle und beschmierten sie mit Teer und Scheiße, entstellten sie – und hetzten uns auf unsere Brüder. Wir wollten ja gar nicht gegen die Ukrainer kämpfen, wir wollten sie nicht hassen, wir wollten den Westen nicht ständig verdächtigen und ihn fürchten, erinnert Ihr euch? Wir wollten einfach nur, dass man uns endlich als gleichwertig betrachtet. Wir wollten keine Angst, sondern Anerkennung.

    Wir glauben die Lügen, weil das einfacher ist

    Jetzt verlieren wir alles. Der Betrüger wurde in flagranti ertappt. Die Medaillen reißen sie uns vom Hals runter. Man zeigt mit dem Finger auf uns und lacht. Wir träumten von Anerkennung und bekommen Schande.

    Um die Lüge zu verdecken, werden sie uns noch mehr belügen. Auf allen Kanälen werden sie uns wieder sagen, dass das eine Verschwörung sei, Geopolitik, dass versucht werde die Großmacht, die sich von den Knien erhebt, auszurotten, zu zermürben, sie bluten zu lassen. Und wir glauben diese Lügen, weil das einfacher ist und wir anders nicht können.

    Und eben unser störrischer, kompromissloser Unwille die Wahrheit zu hören erlaubt uns keinen Neuanfang. Wir können nicht aus der Asche wiederauferstehen, wir sind ja auch nicht verbrannt, und ein verrotteter Phönix wird nicht wiedergeboren.

    Bis das geschieht, bleiben unsere Siege erschlichen und ergaunert. Aber wir werden laut herausbrüllen, dass wir an sie glauben, denn ein solches Russland braucht keine Liebe, sondern das laute Herausbrüllen, dass man es liebt.

    Das sind die Spiele, die wir alle verdient haben.

     

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  • Presseschau № 36: #янебоюсьсказать

    Presseschau № 36: #янебоюсьсказать

    „Im postsowjetischen Raum wird nicht der Täter beschuldigt, sondern man sucht gleich nach Vorwänden, um das Opfer zu beschuldigen: Was hat die Frau falsch gemacht?“ Mit diesen deutlichen Worten und unter dem Hashtag #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: Ich habe keine Angst zu sprechen) hat die ukrainische Aktivistin Anastasia Melnitschenko im Juli eine Hashtag-Aktion gegen die Tabuisierung sexueller Gewalt gestartet.

    Sie wollte Opfern eine Stimme geben und einen Raum, ihre Geschichte zu erzählen. Mit der Resonanz hat Melnitschenko wohl selbst nicht gerechnet: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Hashtag in den vergangenen Tagen durch die Soziale Medien, unter anderem auch in Russland und Belarus.

    In Russland reagieren Öffentlichkeit und Presse ganz unterschiedliche darauf: Zwar finden sich zahlreiche Befürworter der Aktion, viele stoßen sich an patriarchalischen Strukturen in Gesellschaft und Politik. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Diskutiert wird dabei häufig die Frage, ob EU-Europa im Umgang mit sexueller Gewalt als Vorbild taugt. Ein Debatten-Querschnitt:

    Izvestia: Und was ist mit der Silvesternacht in Köln?

    In der kremlnahen Izvestia kritisiert die Politologin Natalja Narotschnizkaja die Aktion. Die Präsidentin des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit, das nach eigenen Angaben Menschenrechtsverletzungen in Europa und den USA nachgeht, stört sich daran, dass die Initiative, die in der Ukraine gestartet wurde, Kritik an Russland, aber nicht an EU-Europa übt:

    [bilingbox]Die Autoren dieses, mit Verlaub, Projektes appellieren daran, dass die öffentliche Meinung im postsowjetischen Raum teilweise der Frau selbst den Vorwurf mache, die Gewalt gegen sie provoziert zu haben: Sie habe sich nicht angemessen gekleidet, sich aufreizend verhalten und so weiter. Entsprechend ist ein Ziel dieser Hashtag-Aktion, diesen Trend umzukehren und sich in dieser Hinsicht dem, wie es so schön heißt, europäischen Werteverständnis anzunähern.

    Aber ich erinnere mich da an eine himmelschreiende Geschichte, die große Aufmerksamkeit fand: die Silvesternacht im deutschen Köln. Da trieben die gerade in Deutschland angekommenen Migranten ihr Unwesen, beleidigten und missbrauchten die Einwohnerinnen der Stadt. Das Interessanteste ist, dass die Bürgermeisterin der Stadt Henriette Reker den Mädchen empfahl, auf ihr Verhalten zu achten.

    Natürlich verärgerte diese unpassende Reaktion einer Amtsträgerin einen Teil der deutschen Bevölkerung. Aber ich kann mich irgendwie nicht daran erinnern, dass irgendeine ukrainische Journalistin deswegen eine Hashtag-Aktion gestartet hätte. Bei den weltweit wichtigsten Fragen der Menschen und der Menschheit gibt es in Europa heute keine Redefreiheit!~~~Авторы этого, с позволения сказать, проекта апеллируют к тому, что на постсоветском пространстве общественное мнение зачастую обвиняет саму женщину в провоцировании совершенного против нее насилия — была-де не так одета, вела себя вызывающе и прочее. Соответственно, одна из целей данной флешмоб-акции — переломить этот тренд и приближаться, мол, в этом смысле к европейскому пониманию ценности, неприкосновенности личности. Но мне вспоминается вопиющая и ставшая достоянием широкой общественности история, которая произошла в новогоднюю ночь в немецком Кельне. Прибывшие в Германию мигранты бесчинствовали, оскорбляя и насилуя жительниц города. Самое интересное, что мэр города Генриетта Рекер рекомендовала девушкам пересмотреть свое поведение.

    Естественно, часть граждан Германии возмутилась такой неадекватной реакцией чиновницы. Но я что-то не припомню, чтобы какая-нибудь украинская журналистка объявляла по этому поводу флешмоб. По главным вселенским вопросам человека и человечества свободы слова в Европе сейчас нет![/bilingbox]

    Forbes: Russische Alphamännchen

    Der renommierte Historiker und Journalist Sergej Medwedew nimmt im Wirtschaftsmagazin Forbes die Aktion zum Anlass, um das Verhältnis zwischen Gender und Politik in Russland genauer zu beleuchten:

    [bilingbox]Die russische Staatsmacht ist im höchsten Maß archaisch und physisch: Sie gründet […] nicht auf rationalen Mechanismen, nicht auf gesichtslosen Maschinen der Weberschen Bürokratie, sondern auf direktem physischem Kontakt, auf Ausübung der Macht durch menschliche Körper. Zum Beweis des Anrechts auf Macht braucht es in Russland Akte übermäßiger Gewalt – wie das Schau-Massaker in Kuschtschowskaja, die Folterungen in der Abteilung für Innere Angelegenheiten Dalny, den Mord an Nemzow, das Abfackeln der Häuser von mutmaßlichen Terroristen in Tschetschenien, die demonstrative Vernichtung sanktionierter Lebensmittel

    Nicht zufällig steht an der Spitze des Staates ein Alphamännchen, eine Verkörperung männlicher Macht, der den Macht- und Kraftkult legitimiert hat, angefangen mit körperdominierten Halbnackt-Fotosessions bis hin zur Anwendung von Gewalt im Verhältnis zu Opposition und Nachbarländern. Deren Lexik und Argumentation („Die Schwachen werden geschlagen“, „Man muss als Erster zuschlagen“) entstammt direkt den Machtdemonstrationen aus kriminellen Ritualen.
    In diesem Sinn steckt hinter den patriarchalen Geschlechtermodellen, die die Hashtag-Aktion bloßlegt, die gesamte archaische Matrix der russischen Macht, die in der Hand von „Kerlen“ liegt.~~~Дело в том, что российская власть предельно архаична и физиологична: она основана […] не на механизмах рационального устройства, не на безличных машинах веберовской бюрократии, а на прямом физиологическом контакте, на силовом управлении человеческими телами. Для доказательства права на власть в России важны акты избыточного насилия – такие как показательное убийство в Кущевке, пытки в ОВД «Дальний», убийство Немцова, сожжение домов предполагаемых террористов в Чечне, демонстративное уничтожение санкционных продуктов… Неслучайно во главе государства стоит «альфа-самец», олицетворение мужской власти, который легитимизировал культ силы, начиная с физиологичных полуобнаженных фотосессий и заканчивая применением силы в отношении оппозиции и соседних стран, чья лексика и аргументы («слабых бьют», «бить первым») напрямую происходят из блатных ритуалов демонстрации силы. В этом смысле за патриархальными гендерными моделями, которые так явно обнажил флешмоб, стоит вся архаическая матрица российской власти, осуществляемой «мужиками».[/bilingbox]

    Slon: Die Untertanen

    Patriarchale Vorstellungen in der Gesellschaft kritisiert auch Kirill Martynow, Dozent an der Moskauer Higher School of Economics, in seinem Beitrag auf dem unabhängigen Portal Slon.ru – und findet es bezeichnend, dass die Aktion in der Ukraine und nicht in Russland startete:

    [bilingbox]Die Aktion #янебоюсьсказать hat die Mechanismen freigelegt, auf denen die russische Gewalt-Kultur basiert. Es geht nicht nur um Gender- oder sexuelle Gewalt, man muss die Frage weiter fassen, denn „das Persönliche ist politisch“. Nicht zufällig kam die Aktion aus der postrevolutionären Ukraine, in der das Niveau politischer Freiheit deutlich höher ist. Der moderne Feminismus behauptet, dass das Patriarchat, also die institutionalisierten Praktiken maskuliner Herrschaft, die fundamentale Quelle aller weiteren Formen der Unterdrückung ist – sei es der politische Autoritarismus oder die ökonomische Ungleichheit.

    Die Diskussion darüber, ob diese These theoretisch gerechtfertigt ist, soll hier ausgeklammert bleiben. Aber intuitiv scheint offensichtlich: Während russische Männer patriarchalischen Vorstellungen über das „weibliche Wesen“ anhängen, fügen sie sich gleichzeitig  ziemlich harmonisch in die Rolle als Untertanen eines maskulinen Diktators.~~~Акция #янебоюсьсказать вскрыла механизмы, на которых основана российская культура насилия. Речь не только о гендерном и сексуальном насилии, вопрос следует ставить шире, ведь «личное есть политическое». Акция неслучайно пришла из постреволюционной Украины, в которой уровень политической свободы заметно выше. Современный феминизм утверждает, что патриархат, то есть институционализированные практики мужского господства, являются фундаментальным источником всех иных форм угнетения, будь то политический авторитаризм или экономическое неравенство.

    Обсуждение теоретической справедливости этого тезиса можно вынести за скобки. Но интуитивно кажется очевидным: пока российские мужчины разделяют патриархальные представления о «женской сущности», они вполне гармонично выглядят в качестве подданных маскулинного диктатора.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Gewalt und Krieg

    Jan Schenkman dagegen weist in der unabhängigen Novaya Gazeta vor allem auf Ähnlichkeiten zwischen der russischen und ukrainischen Gesellschaft hin:

    [bilingbox]Es ist bemerkenswert, dass #яНеБоюсьСказать (Ja ne bojus skasat) zum russisch-ukrainischen Flashmob wurde. Auf Ukrainisch ist nur ein Buchstabe in dem Hashtag anders: Ja ne bojus skasaty. Ansonsten keinerlei Unterschied. Das Zeugnis einer Ukrainerin kann man nicht unterscheiden vom Zeugnis einer Russin. In der Gegend um die Twerskaja Straße [im Zentrum Moskaus] passiert ungefähr das gleiche wie um den Chreschtschatyk [im Zentrum Kiews]. Sowohl in der quasi freien Ukraine als auch im quasi totalitären Russland gibt es einen Haufen Leute, die dazu fähig sind, ein 14-jähriges Mädchen in einen Keller zu schleifen, einer Frau mit der Faust ins Gesicht zu schlagen oder einfach so zu brüllen, dass du vor Angst anfängst zu zittern.

    Beide Länder sind von Gewalt durchsetzt. Ich bin mir sicher, das liegt nicht am Krieg. Im Gegenteil: Deswegen kam es zu diesem Krieg.~~~Поразительно, что #яНеБоюсьСказать стало русско-украинским флешмобом. По-украински тэг отличается всего на одну букву: #яНеБоюсьСказати. А в остальном никакой разницы. Исповедь украинки вы никак не отличите от исповеди россиянки. В окрестностях Тверской происходит примерно то же, что в окрестностях Крещатика. И в как бы свободной Украине, и в как бы тоталитарной России полно людей, способных затащить 14-летнюю девочку в подвал, разбить женщине кулаком лицо или просто наорать так, что будешь дрожать от страха.

    Обе страны буквально напичканы насилием. Я уверен, что это не из-за войны. Наоборот: война из-за этого. А политики подтянулись уже по ходу дела.[/bilingbox]

    Nesawissimaja Gaseta: Nicht vor aller Augen!

    In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta stößt sich die Psychologin Swetlana Gamsajewa an Hass-Kommentaren im Netz. Gleichzeitig zweifelt sie, ob eine solch laute und öffentliche Aktion überhaupt nötig ist:

    [bilingbox]Und daraufhin geschah etwas für die russische Öffentlichkeit Typisches: Auf die Welle von Offenbarungen folgte eine Welle von Beschuldigungen und zynischer, teilweise niederträchtiger Kommentare. Es schien, als verwandelte sich eine völlig menschliche Aktion in einen neuen, unmenschlichen Krieg. Einen Genderkrieg – denn offenbart hatten sich vor allem Frauen und Beschuldigungen kamen vor allem von Männern. Das heißt, im Grunde kam es im Netz zu einer weiteren Serie von Vergewaltigungen, nur diesmal in den Kommentaren. Und psychische Gewalt ist bekanntlich nicht weniger effektiv als physische. […]

    Diese Geschichte hat gezeigt, wie schnell und laut wir sehr intime, schmerzhafte Themen aufgreifen. Und eben auch, wie achtlos wir mit uns selbst umgehen. Und wie gefährlich wir bei Konfrontationen aufeinanderprallen. Selbst wenn es um sehr sensible Themen geht. Und wie viel passive Aggression wir in uns tragen. Und folglich, wie viel Gewalt wir durchlebt haben.

    Doch alle gleichzeitig von diesem Schmerz zu befreien, das wird nicht gehen. Das schafft kein Hashtag der Welt, oh je. Das kann nur jeder für sich alleine machen. Das muss auch gar nicht vor aller Augen geschehen.~~~А затем произошла привычная для российского публичного пространства вещь: навстречу волне откровений поднялась волна обвинений и циничных, а порой и грязных комментариев. Казалось бы, вполне человечная акция обернулась новой нечеловечной войной. Войной гендерной, потому что среди авторов откровений были женщины, а обвинений – мужчины. То есть, по сути, в Сети произошла новая серия изнасилований – только теперь в комментариях. А, как известно, психологическое насилие не уступает по эффективности физическому. […]

    эта история показала, как легко и громко мы подхватываем очень интимные, болезненные темы. И, значит, как небрежно к самим себе относимся. И как опасно мы сталкиваемся в противостоянии. Даже когда речь идет о деликатных вещах. И как много скрытой агрессии мы таим. А значит, соответственно сколько насилия пережили.

    Вот только освободиться от этой боли всем скопом не получится. Ни под каким хештегом, увы. Это можно сделать только поодиночке. И совсем необязательно у всех на виду.[/bilingbox]

    Spektr: Auf die Scheiße zeigen

    Dagegen argumentiert Ljudmilla Petranowskaja in ihrem viel beachteten Beitrag auf dem Exilmedium Spektr, dass die Aktion die Gesellschaft endlich zwinge, über ein lange tabuisiertes Thema zu sprechen:

    [bilingbox]Die Aktion heilt keine Traumata, aber sie zwingt alle dazu, über etwas nachzudenken, worüber man nicht nachdenken möchte. Sie zwingt einen, darüber zu sprechen, wenn auch nur andeutungsweise oder mit zusammengebissenen Zähnen, gegen die inneren Widerstände. Man kann den Augiasstall nicht reinigen, wenn man nicht mit dem Finger auf die Scheiße zeigt und diese auch als solche benennt. Gewalt als Alltäglichkeit, Gewalt als „Ordnung der Dinge“, Angst vor der Gewalt, Identifikation mit dem Gewalttäter, Beschuldigung des Opfers – das ist genau die Scheiße, in der unsere Gesellschaft bereits so tief drin steckt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.

    Die Diskussion solcher Themen zwingt jeden zu wählen, was man dieser schmerzhaften und komplizierten Mischung hinzufügen möchte: noch mehr Missachtung und Beschuldigungen des Opfers oder ein wenig Mitgefühl und Respekt. Die Ergebnisse summieren sich zu der Gesellschaft, in der wir leben. Was wir wählen, das bekommen wir auch – so einfach ist das.~~~Флешмоб не вылечит ничьих травм, но он заставит всех подумать том, о чем думать не хочется. Заставит говорить об этом, пусть даже с экивоками или через губу, продираясь через защиты. Нельзя расчистить авгиевы конюшни, не указав пальцем на дерьмо и не назвав его вслух дерьмом. Насилие как обыденность, насилие как «порядок вещей», страх перед насилием, идентификация с насильником,  обвинение жертвы,– это и есть то дерьмо, которое налипло за нашу историю в таких количествах, что не дает обществу двигаться дальше. Обсуждение таких тем заставляет каждого выбрать, что добавлять в болезненный и сложный замес: еще презрения и обвинений жертв или немного сочувствия и уважения. Эти выборы суммируются и мы получаем общество, в котором живем. Что навыбираем, то и получим, только и всего.[/bilingbox]

    Wetschernaja Moskwa: Plötzlich hilflos

    In Wetschernaja Moskwa, einem Boulevardblatt, das die Moskauer Regierung herausgibt, wundert sich Korrespondentin Lera Bokaschewa über europäische Frauen:

    [bilingbox]Und das ist auch wichtig: Man muss in der Lage sein, für sich selbst einzustehen. Ich meine, dass eine erwachsene Frau diese Kunst beherrschen sollte. Sie muss wissen, wie man sich wo kleidet, wie man sich präsentiert. Weil – und auch das zeigt uns die alte Oma Europa – Frauen, die ihre Männer seit Jahrzehnten moralisch kastriert und sie der „Belästigung” bezichtigt haben, wo überhaupt nichts Kriminelles passiert war, waren plötzlich absolut hilflos, als sie realer Belästigung ausgesetzt waren. Wenn Migranten in Deutschland und Frankreich jetzt höchst ungehobeltes Verhalten gegenüber den wunderhübschen Europäerinnen an den Tag legen, können letztere nur heulen oder in Ohnmacht fallen. Da helfen weder Hashtag-Aktionen noch die Polizei.~~~И это тоже важно: уметь постоять за себя. Считаю, что взрослая женщина этим искусством должна владеть. Знать, как и куда одеваться, как себя подавать. Потому что – и это тоже нам демонстрирует старушка-Европа – женщины, которые на протяжении десятилетий кастрировали морально своих мужчин, уличая их в "домогательствах" там, где в помине не было ничего криминального, оказались неожиданно абсолютно беззащитны перед домогательствами реальными. Когда в Германии и Франции сейчас мигранты демонстрируют в высшей степени хамское поведение по отношению к прекрасным европейкам, последние могут только рыдать и падать в обмороки. Не помогают ни флешмобы, ни полиция.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Verkehrsregeln für russische Medien

    Verkehrsregeln für russische Medien
    Pressefreiheit in Russland – wo verläuft die Linie?  Quelle – fishki.net, gesehen bei Ilya Krasilshchik

    RBC galt lange Zeit als das Investigativmedium Russlands. Mit fundierter Wirtschaftsberichterstattung und Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass sorgte RBC immer wieder für Aufsehen.

    2009 hatte der Oligarch Michail Prochorow die RBC-Medienholding, zu der ein Onlinemagazin, eine Printausgabe, aber unter anderem auch ein Fernsehsender gehören, in seine Onexim-Group aufgenommen. Unter Direktor Nikolaj Molibog und der neuen Chefredaktion war RBC seit 2013 zum führenden Investigativmedium in Russland aufgestiegen.

    Offensichtlich hatte sich RBC dabei jedoch zu weit vorgewagt: Nach Steuerrazzien in Prochorows Onexim-Group im April kam Mitte Mai der Schlag – die dreiköpfige Chefredaktion des Investigativmediums löste sich auf. Chefredakteur Maxim Soljus war entlassen worden, die beiden anderen, Jelisaweta Ossetinskaja und Roman Badanin, gingen aus Solidarität mit ihm ebenfalls [dekoder bildete die Debatte darüber ab].

    An ihre Stelle traten Jelisaweta Golikowa und Igor Trosnikow, die zuvor unter anderem für die staatliche Nachrichtenagentur TASS gearbeitet hatten. Als die beiden Ende vergangener Woche auf einer Redaktionssitzung anmahnten, im Journalismus seien „Verkehrsregeln“ zu beachten und es dürfe dabei eine gewisse „Linie“ nicht übertreten werden, gelangte ein Mitschnitt an die Presse, eine Abschrift davon wurde veröffentlicht (auch auf Englisch). Es folgte eine Diskussion über Meinungsfreiheit, aber auch darüber, inwiefern andere Medien korrekt handelten, wenn sie die Ausschnitte veröffentlichen.

    Oleg Kaschin kommentiert die Debatte auf slon.ru – und zeichnet das Verhältnis zwischen Macht und Medien im Russland unter Putin nach.

    Eine der größten unabhängigen Zeitungen Russlands hat einmal eine kleine Meldung aus der französischen Le Monde abgedruckt: Die Franzosen schätzten das Privatvermögen des russischen Premiers auf mehrere Milliarden Dollar und die russischen Journalisten befanden diese Information der Veröffentlichung würdig. Auweia, der Premierminister und die Präsidialverwaltung waren da anderer Meinung. Ein privates Blatt hätte das eigentlich getrost ignorieren können, doch plötzlich hieß es, der Hauptaktionär der Zeitung, ein großer russischer Konzern, sei nicht bereit, wegen irgendwelcher Journalisten einen Konflikt mit den Behörden zu riskieren, und wählte zwischen dem Premierminister und dem Chefredakteur der Zeitung, ohne groß zu zögern. Das Geld in den Portemonnaies der Staatsspitze zu zählen, ist für große Medien demnach tabu: doppelt durchgezogene Linie.

    Der Chefredakteur wurde entlassen, gefolgt von praktisch allen leitenden Redakteuren der Zeitung (die später ein neues unabhängiges Medium gründeten), die Zeitung wurde verkauft, der neue Inhaber musste neue Leute suchen – und übrig blieb im Grunde nur der Name.  

    Ein Denkmal für die zerschlagene Medienwelt

    Von Interesse sind vermutlich auch Ort und Zeit der Handlung. Der in dem französischen Beitrag erwähnte Premierminister hieß Viktor Tschernomyrdin, die Zeitung Izvestia, ihr Chefredakteur war Igor Golembiowski, der Aktionär Lukoil. Der Skandal, der die Izvestia beinahe ihre ganze Belegschaft gekostet hat, ereignete sich im April 1997, vor fast 20 Jahren.

    Wahrscheinlich war es der erste Konflikt dieser Art: Die Regierung übt über einen privaten Eigentümer Druck auf die Medien aus, der private Eigentümer sieht sich gezwungen nachzugeben, der Chefredakteur wird entlassen, ein Teil der Journalisten folgt ihm. Diese Technik, die sich unter Putin eingeschliffen hat und jetzt von allen nur noch mit ihm assoziiert wird, kam schon vor seinem Regierungsantritt erstmals zum Einsatz. Und wenn irgendwann mal jemand ein Denkmal setzen will für die unabhängige Presse Russlands, zerschlagen vom Kreml, dann muss dort als erstes Datum das Jahr 1997 eingraviert sein.

    Damals gab keiner der Redaktion die Schuld

    Es wäre jedoch nicht zutreffend zu behaupten, dass bei jenem Zusammenstoß mit der Izvestia alles genauso gewesen ist wie später bei anderen Medien. Das heißt, den Konflikt gab es genauso wie heute, den Druck auf den Aktionär, die Entlassung des Chefredakteurs, den Abgang der Belegschaft, doch etwas war anders: Niemandem in den anderen Medien fiel es in Berichten über den Skandal und in Kommentaren ein, die Schuld am Geschehenen dem Chefredakteur und seinem Team zuzuschieben.

    Golembiowski und seine Mitarbeiter verhielten sich genau wie alle „einzigartigen Journalistenteams“, die folgten, von Jewgeni Kisseljows NTW bis zu Galina Timtschenkos Lenta, doch niemand buhte, niemand lachte sie aus und vor allem sagte niemand, sie hätten ja nunmal wirklich gegen Abmachungen verstoßen, verbotenes Terrain betreten und würden nur zu Recht bestraft. Das gab es ganz bestimmt nicht.  

    „Einzigartiges Journalistenteam“ wurde zum Mem, zum Witz

    „Einzigartiges Journalistenteam“ – um diesen Terminus hat dann erst die Ära Putin jene Technik bereichert, mit der unabhängige Medien zerschlagen werden: Das war im Jahr 2001, der Fall NTW. Vom „einzigartigen Team“ sprach als erstes das Team selbst, als es sich auf eigenen Wunsch hin mit Wladimir Putin traf. Fast zeitgleich begannen diejenigen Medien, die von der Attacke nicht betroffen waren (und die übrigens nicht mehr so waren wie 1997, sondern eine inzwischen maximal kremlloyale Izvestia), die Wörter „einzigartiges Journalistenteam“ bei jeder Gelegenheit zu wiederholen und verwandelten sie innerhalb kürzester Zeit in ein Mem, in einen Witz. Der Begriff selbst schrumpfte durch den aktiven Gebrauch sehr schnell auf seine Abkürzung UShK zusammen (Unikalnyi shurnalistski kollektiw) – es war unmöglich, diese Abkürzung ernsthaft zu verwenden.

    Was ist ein UShK? Das sind Journalisten, die sich viel zu viel aufbürden, die sich dem Glauben an die eigene historische Mission verschrieben haben, obwohl sie in Wirklichkeit bloß die Interessen ihres Eigentümers bedienen, im Fall des damaligen NTW die von Wladimir Gussinski.

    Berechnendes Verfahren oder psychologische Projektion?

    Vermutlich wird man heute nicht mehr feststellen können, was das genau war: eine aufoktroyierte politische Technik, die es ermöglichte, den öffentlichen Unmut über die Zerschlagung des Senders NTW im Keim zu ersticken oder aber eine psychologische Projektion der Journalisten aus anderen Medien? Denen daran lag, in erster Linie sich selbst zu beweisen, dass die Abhängigkeit der Redaktionspolitik vom Eigentümer, die Einmischung der Staatsmacht in die Redaktionspolitik, die Loyalität, die in totale Unterwürfigkeit übergeht – dass dies allgemeine Gegebenheiten sind, die keine Ausnahmen kennen.

    Indem sie sich über die UShKs lustig machte, erklärte die journalistische Gemeinschaft der 2000er Jahre: „Einzigartige Teams“ gibt es nicht, wir sind alle gleich, und die, die so tun, als wären sie anders als wir, werden wir immer hassen und mehr als jede Zensur.

    Heute scheint es, als sei genau das (und nicht etwa die Absetzung der ziemlich langweiligen Sendung Itogi) das wichtigste Ergebnis der NTW-Zerschlagung: Die Regierung hat nicht nur gelernt, mit den Medien fertig zu werden, die nicht ihrem direkten Einfluss unterliegen, sondern auch, die Solidarität der restlichen journalistischen Gemeinschaft zu beschneiden. Denn die zeigte sich gern bereit, sich von den „einzigartigen Teams“ zu distanzieren.

    Kaum jemand spricht mehr von Meinungsfreiheit

    Zum Zeitpunkt der Zerschlagung von RBC (denn die Entlassung von drei der drei Chefredakteure der Mediengruppe ist natürlich nichts anderes als eine Zerschlagung, besonders, wenn man bedenkt, dass es eben diese Chefredakteure waren, die ein nicht besonders einflussreiches Medium mit schwierigem Ruf zur führenden unabhängigen Mediengruppe in Russland gemacht hatten, und dass auch das jetzige Team von eben jenen Chefredakteuren zusammengestellt wurde, die man in diesem Frühjahr entlassen hat) war diese Technik bereits zur Perfektion gebracht. Kaum jemand spricht noch von Meinungsfreiheit, schon gar nicht erlaubt sich irgendwer, die Worte „einzigartiges Team“ in den Mund zu nehmen, und innerhalb der Branche wird erbittert darüber gestritten, ob die Mitschrift eines Treffens zwischen dem zerschlagenen Kollektiv und den neuen aus einer staatlichen Agentur herangeholten Redaktionsleitern in andere Medien durchsickern darf.

    Ein Problem der Gesellschaft, nicht nur der Medien

    Wahrscheinlich ist es aber so, dass das, was im Moment ein Problem der journalistischen Welt zu sein scheint, in Wirklichkeit ein Problem der Gesellschaftsstruktur insgesamt ist:

    Loyalität gegenüber der Staatsmacht, die zu Unterwürfigkeit wird, das Akzeptieren von Regeln, die die Staatsmacht im Alleingang aufstellt und verändert und die Befolgung dieser Regeln; die Alternativlosigkeit zu dieser Staatsmacht und die faktische Unmöglichkeit einer nicht-marginalen Unabhängigkeit von ihr – es wäre seltsam, wenn in einem solchen Koordinatensystem ein vollwertiger Journalismus, eine journalistische Ethik und Gemeinschaft existierten.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: sich fügen, sich widersetzen oder davonrennen?

    An einzigartigen Journalistenteams gibt es in Russland heute genau eines. Nur ist es riesengroß und auf verschiedene Medien versprengt, aber das hat keine Bedeutung: Medien, die man jederzeit aus dem Kreml anrufen und anbrüllen kann, unterscheiden sich nur in Details voneinander.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: Soll man mit ihr koexistieren, gegen sie ankämpfen oder vor ihr davonrennen? So formuliert ist die Frage, was vom Durchsickern der RBC-Mitschrift zu halten ist, vielleicht weniger schwierig zu beantworten – versucht es mal.

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