Die Spannungen der letzten Wochen waren groß: zwischen Russland und den USA nach Abbruch der Syrien-Gespräche und zwischen Russland und Europa wegen des weiter schwelenden Kriegs im Donbass. Auf dem internationalen Parkett herrschte Eiszeit, die Verlegung von russischen Iskander-Raketen nach Kaliningrad löste zusätzlich Verunsicherung aus, ebenso die von Raketenabwehrsystemen von Russland nach Syrien. An die internationale Gemeinschaft gerichtet, sagte Präsident Putin nun am Donnerstag im Waldai-Klub, Russland wolle niemanden angreifen und stelle keine Bedrohung für Nato-Länder dar.
Was ist von der Lage zu halten, wenn innerhalb Russlands eine groß angelegte Zivilschutzübung für einen möglichen Ernstfall abgehalten wird, während sich die Fronten international zunehmend verhärten, und der Gouverneur von St. Petersburg beginnt, Brotrationen festzulegen? Wäre man in Russland wirklich bereit für das Schlimmste? Der Schriftsteller Dimitri Gluchowski meint ganz klar: „Nein.“ Mit spitzer Feder pfeift er bei snobdie Hysteriker eines neuen großen Krieges zurück.
Das Ministerium für Katastrophenschutz meldet gehorsamst, dass die Moskauer Luftschutzkeller bereit sind, im Fall einer Bombardierung der Hauptstadt die ganze Stadtbevölkerung aufzunehmen. Für die Leningrader hat man eine neue Lebensmittelration berechnet: täglich dreihundert Gramm Brot. Die Staatsduma führt Evakuierungsübungen durch und macht sich mit den Bunkern vertraut, die man zur Rettung der Eliten in Kriegszeiten gebaut hat. Die Zentralbank übt, wie man unter Kriegsbedingungen arbeitet. Auf allen Kanälen diskutiert man über Krieg – man zeigt die Verlegung von Iskander-Raketensystemen nach Kaliningrad, macht in Syrien eine Live-Reportage aus einem Kampfflugzeug im Sturzflug, ist mit der Kamera bei allen Manövern dabei, beschleckt dabei fast schwere Mehrfachraketenwerfer, diskutiert genüsslich über einen nuklearen Schlagabtausch, sehnt sich nach dem Krieg wie eine Jungfrau nach der Enthüllung des Mysteriums der Schlafstatt.
Bürger, spendet für Luftschutzkeller!
Die Bevölkerung verzieht deprimiert das Gesicht und findet sich damit ab, dass ein Dritter Weltkrieg unausweichlich scheint: Wenn im Fernsehen gesagt wird, dass er kommt, dann kommt er auch. Man muss sich also vorbereiten. Einen Erdbunker ausheben und im Garten Opas PPSch hervorkramen, Buchweizenvorräte anlegen. Sollte man auch Pilze einmachen? Selbst die Bevölkerung klopft sich auf die Brust – pah, ziehen wir halt noch einmal bis nach Berlin, und auch bis nach Washington. Naja, wir werden sie nicht auffressen, sondern nur ein wenig an ihnen knabbern, hört doch, wie überzeugend die Rede von der radioaktiven Asche aus Kisseljow heraussprudelt.
Ist morgen also Krieg?
Liebe Mitbürger, machen Sie sich nicht in die Hose! Es wird keinen Krieg geben.
Unsere Regierung hat keineswegs vor, gegen Europa oder Amerika Krieg zu führen, was auch immer sie über die Münder der Hypnose-Kröten vom Fernsehen mitteilen lässt. Natürlich denken auch weder Amerika noch Europa daran, gegen uns Krieg zu führen.
Erstens, weil es unmöglich ist, einen Weltkrieg zu gewinnen. Es gibt keine zuverlässigen Raketenabwehrsysteme, und es wird sie in nächster Zeit auch niemand haben. Ein jeder Atomkonflikt würde also unweigerlich zur planetaren Katastrophe und dem Tod der ganzen Menschheit führen. Das nennt man „Prinzip sicherer wechselseitiger Zerstörung” [aus dem Engl. mutually assured destruction – dek] und genau diesem Prinzip verdanken wir es, dass es nie zu einem Weltkrieg gekommen ist, seit die UdSSR die Atombombe hat.
Jede Zusammenarbeit bringt beiden Seiten viel größeren Nutzen
Zweitens gibt es keinen Grund für einen Weltkrieg. Durch die heutige Welt verlaufen keine ideologischen Gräben. Russland wird trotz seines plakativen imperialen Revanchismus nicht von Ideologen regiert, sondern von zynischen Geschäftsleuten und reinen Pragmatikern, die nicht im Geringsten an das glauben, was der Bevölkerung über die Mattscheibe vermittelt wird. Amerika wirkt zwar oft so, als wäre es von einer Ideologie gesteuert, aber auf dem internationalen Parkett lässt es sich von nationalen Interessen leiten, das heißt vom Nutzen, und nicht von Prinzipien. In der heutigen globalisierten, durch Myriaden ökonomischer Transaktionen verbundenen Welt, in der nur Staaten wie etwa Bhutan unabhängig sind, gibt es nichts, was man mit dem Westen aufteilen müsste, jede Zusammenarbeit bringt beiden Seiten viel größeren Nutzen als irgendeine Eroberung.
Eine Zerstörung, ein Auseinanderfallen Russlands, endlose Bürgerkriege auf unserem Flickenteppich von Staat, die unkontrollierte Verbreitung von Atomwaffen, dass diese in die Hände irgendwelcher Lokalfürsten gelangen könnten – das ist sowohl für Europa als auch die USA und China ein Alptraum. Deswegen kann es keine kriegerischen Lösungen geben, ganz unabhängig davon, was man dort über die Vergangenheit unserer Regierung weiß und wie das Verhältnis zu ihr ist.
Der Westen will Russland gar nicht unterwerfen. Alles, was sie von uns brauchen, ist Konsistenz und Berechenbarkeit – das heutige Russland reizt den Westen gerade durch seine hysterische Unberechenbarkeit. Aber das ist keine Unberechenbarkeit, die zu einem globalen Krieg führen könnte.
Nordkorea provoziert den Westen seit vielen Jahren: Es entwickelt Atomwaffen und ballistische Raketen, unterstützt Terroristen, druckt falsche Dollars, produziert und exportiert Amphetamine in industriellen Mengen, droht Amerika mit präventiven Atomschlägen – na, und? Man reagiert auf diese ständigen Anfälle vorsichtig und mit der Milde und Umsicht eines Arztes. Man weiß, dass Pjöngjang sich damit nicht an Amerika richtet, sondern an die eigenen Bürger. Man weiß, dass das nicht Besessenheit ist, sondern Epilepsie.
Wie das Regime von Kim Jong Un verfolgt auch das unsere im Grunde nur zwei wichtige Ziele: Es will sicherstellen, dass die Bevölkerung gehorsam bleibt, und dass sich niemand in unsere innere Angelegenheiten einmischt. Auch unsere inneren Angelegenheiten weisen Parallelen zu Nordkorea auf: Es gilt, die Leute möglichst geschickt zu unterdrücken und für dumm zu verkaufen, um ewig an der Macht zu bleiben. Nur sind die Methoden bisher noch andere.
Noch. Denn die Methode der ewigen Vorbereitung auf den Krieg gegen Amerika wurde nirgends so gut erprobt wie in Nordkorea. Das Land lebt seit sechzig Jahren im Kriegszustand. Beinahe wöchentlich gibt es dort Probealarme: Die amerikanischen Kampfflugzeuge könnten jeden Moment angeflogen kommen. Damit wird die Spannung in der Bevölkerung hochgehalten. Und wenn Amerika die Diktatur einmal vergessen sollte, bringt man sich eifersüchtig in Erinnerung: He, und wir? Oder wenn die Reisernte schlecht ausfällt und es nichts zu fressen gibt. Wenn Pjöngjang die UNO kokett um humanitäre Hilfe bitten will, dann macht es Atomwaffenversuche und schreit, dass man für sich nicht verantwortlich ist.
Eine Wonne, Amerika wieder den Fehdehandschuh hinzuwerfen
Der Magen beginnt jetzt auch bei uns zu knurren. Auch wir müssen jetzt in die Luftschutzkeller laufen, müssen für den Fall einer Blockade unsere Brotration berechnen und schon in der ersten Klasse lernen, wie man sich eine Gasmaske überstülpt. Der Krieg soll sich ständig am Horizont abzeichnen, und wir werden uns resigniert auf ihn vorbereiten, und zugleich Lieder vom friedlichen Himmel über unseren Köpfen singen und jeden Augenblick unseres heutigen unblutigen Lebens schätzen. Diese Methode hat sich in der UdSSR bestens bewährt und wird auch heute funktionieren. Die Menschen sind ja die gleichen geblieben.
Auch wir werden fortan immer einen Feind brauchen. Die Ukrainer waren eine Zeitlang unsere Feinde, ebenso die Türken, aber das alles ist irgendwie nicht das Richtige. Wir wollen ja nicht Goliath sein, sondern David.
Was für eine Wonne ist es da, dem mächtigen Amerika mit seinen scharfen Zähnen wieder den Fehdehandschuh hinzuwerfen! Mein Gott, wie herrlich ist das! Es ist so einfach, das von Sadornow so treffend beschriebene Amerika zu hassen! Wir haben es so sehr vermisst!
Es liegt ja an den amerikanischen Sanktionen, dass unser Käse scheiße ist, der Buchweizen immer teurer wird und der Sparanteil der Rentenseit mehreren Jahren eingefroren ist! Wegen all ihrer Rockefellers hat uns unsere Ukraine verlassen! Auch bei uns haben diese Dreckskerle alles zunichte gemacht! Gott, segne Amerika dafür, dass es für uns ein so ewiger, bequemer, zuverlässiger Feind ist! Für uns und überhaupt für jede beliebige Diktatur.
Wir selbst sind ja nie an irgendetwas schuld, das ist klar. Wir werden nie an etwas schuld sein, weil in einem imaginierten Krieg genauso wie in einem tatsächlich stattfindenden all diejenigen, die nicht für uns sind, gegen uns sind – und die Zweifler gehören vors Feldgericht.
Schnell werden die Besucher am aufgebahrten Lenin vorbeigeführt. Wer schon mal im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau war, kennt das Gefühl, in der Kürze der Zeit kaum etwas vom einstigen Revolutionsführer gesehen zu haben. Trotzdem liegt beim Anblick des einbalsamierten Wladimir Iljitsch ein Hauch Oktoberrevolution in der Luft – mit der Lenin und die Bolschewiki vor 100 Jahren die Macht übernahmen.
Nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender griffen sie am 25. Oktober 1917 zu den Waffen, nahmen in der Nacht zum 26. Oktober das Winterpalais im damaligen Petrograd ein und stürzten die Regierung.
1924, nur sieben Jahre später, starb Lenin – und wurde danach zur ewigen Mumie. Wie ist das überhaupt möglich, seinen Körper so lange in einen solchen Zustand zu versetzen? Anastasia Mamina hat sich für Bird in Flightnäher angesehen, welche Prozeduren der Körper durchlaufen muss und ob vom echten Lenin überhaupt noch etwas übrig ist.
Wie alle postsowjetischen Moskauer Kinder besuchte ich das Lenin-Mausoleum so ungefähr in der dritten Klasse. Ich erinnere mich noch, welche Aufregung die Aussicht hervorrief, einen Ausflug zu einer Leiche zu machen, anstatt im langweiligen Unterricht zu sitzen. Wobei, sonderlich beeindruckt hat Lenin mich als Drittklässlerin damals nicht. Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.
Als man mir den Auftrag gab, darüber zu schreiben, was man mit dem Körper des Revolutionsführers so anstellt, wandte ich mich als Erstes an das Mausoleum und an das Institut, das die Ausschreibung [für die im Jahr 2016 durchzuführende biomedizinische Arbeit am Lenin-Korpus – dek] gewann.
Dort war mir das Glück nicht hold. Dafür erfuhr ich, dass man für das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen gut und gern vier Jahre hinter Gittern landen kann (zahlreiche Dokumente bezüglich Lenins Leiche sind bis heute unter Verschluss – Anmerkung der Redaktion).
Macht nichts, dachte ich naiv. Dann treibe ich ein, zwei Pathologen auf, einen Biologen aus dem Fachgebiet, mache ein paar Interviews, und der Text steht. Doch ganz so einfach war die Sache nicht.
Der Biologe Witali (Name geändert) sitzt mir gegenüber und bemüht sich, so zu tun, als verbrächte er seinen Abend am liebsten genau so: mit einer ihm kaum bekannten Journalistin in einem Café.
„Verstehst du“, seufzt er und zeichnet sanft eine Figur in die Luft, „ich kann gern versuchen, dir mit den Händen zu erklären, was sie mit ihm genau anstellen, aber das kannst du dir auch im Internet ansehen.“
Ich schüttle den Kopf. „Internet will ich nicht, ich will einen Gesprächspartner. Einen lebendigen mit großen Augen.“
Witali möchte wirklich helfen, aber er weiß nicht, wie. Er erklärt mir, dass man Lenins Körper mehrfach hintereinander badet: zuerst in einer Glyzerinlösung, dann in Formaldehyd, anschließend folgen einige Alkoholwhirpools, dann Wasserstoffperoxid (zur Aufhellung der Haut, sonst würden sich überall Flecken bilden), essigsaures Natron und Kalium sowie eine Essiglösung. Lenin bleibt länger in der Wanne als jedes Mädchen – bis zu anderthalb Monate. Dafür nur alle anderthalb Jahre. In dieser Zeit ist das Mausoleum zu.
Bei klirrender Kälte blieb Lenin wunderbar konserviert
„Das Lustige ist“, sagt Witali und beißt von seinem Croissant ab, „dass man Lenin nach seinem Tod obduziert hat. Sie haben also nicht an eine Einbalsamierung gedacht. Und die wichtigsten Blutgefäße, die Arterien, einfach zerschnitten. Hätte der Pathologe geahnt, dass Lenin noch lange liegen würde, hätte er das natürlich nicht getan. Aber so war das Blutgefäßsystem futsch. Die große Frage war also, wie man die Balsamierflüssigkeit im Körper verteilen konnte. Letztlich machten sie ihm dann Mikroinjektionen, packten ihn in einen Gummianzug, damit nichts herauslief … Warum isst du denn nicht? Deine Suppe ist längst kalt.”
Nachdem ich mich von Witali verabschiedet habe, öffne ich das Notebook und vertiefe mich in das Jahr 1924, als im Land eine schreckliche Nachricht die Runde machte: Lenin ist tot.
Nur ein paar schlaue Köpfe verfielen damals auf die Idee, den Revolutionär zu mumifizieren, während die Mehrheit der Regierung das als Barbarei betrachtete. Die Witwe des Verstorbenen, Nadeshda Konstantinowna, bat darum, den Ehemann „normal“ zu bestatten. Das sowjetische Volk erhielt die Gelegenheit, sich von Wladimir Iljitsch zu verabschieden – einige Monate lang blieb sein Leichnam zur allgemeinen Besichtigung aufgebahrt. Lenin war im Januar gestorben und es herrschte klirrende Kälte, sodass der Revolutionär wunderbar konserviert blieb und kaum verweste. Dann berieten sich die Machthaber und kamen zu dem Schluss: Warum Gutes verlieren? Lieber konservieren. Die Verantwortung dafür delegierten sie an sowjetische Wissenschaftler.
Während ich mich geistig im Jahr 1924 befinde, meldet sich endlich der Pathologe. Ich habe seinen Kontakt von einem Freund bekommen. Hoffnungsfroh öffne ich die Mail.
Der Pathologe schreibt knapp, er könne mir nicht weiterhelfen, er werde nichts verraten, und wenn ich so dringend etwas über Leichen lesen wolle, gebe es ein hervorragendes Buch, „aber schreib mir nicht mehr“ (und viele Ausrufezeichen).
Dabei dachte ich, es wird schon nicht so schwer sein, einen Spezialisten für den Tod zu finden. Als mich der dritte Pathologe bat, ihn nicht mehr zu behelligen, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich mich allein mit der Leiche des Revolutionärs herumschlagen würde.
Es klingt makaber, aber innen ist Lenin hohl
Dürfte ich den Spezialisten wenigstens eine Frage stellen, würde sie so lauten: „Ist eigentlich noch viel von Lenins Körper übrig? Man sagt, nur die Hände und das Gesicht.“
Wie sich herausstellte, besteht die Aufgabe der Mediziner keineswegs darin, möglichst viel vom Körper zu erhalten. Lenin schwindet Jahr für Jahr. Die Wimpern beispielsweise sind seit je aufgeklebt, und 1945 verschwand ein ganzes Stück Haut von seinem Fuß. Damals stellten Biologen einen Flicken aus künstlicher Haut her. Später mussten auch Teile des Gesichts nachgebildet werden: So schob man beispielsweise Glasprothesen unter Lenins Augenlider. Und nähte den Mund des Anführers des Weltproletariats zu (was unter dem Bart und dem Schnurrbart leicht zu verstecken ist). Auf diese Weise bewahrt die Mumie ihre Ähnlichkeit mit dem Original.
Der Hauptzweck der jährlichen Einbalsamierung Wladimir Iljitschs ist es, die physischen Parameter des Leichnams zu erhalten: Aussehen, Gewicht, Farbe, Geschmeidigkeit der Haut und die Beweglichkeit der Gliedmaßen. Der größte Teil von Lenins Hautfett wurde durch eine Mischung aus Karotin, Paraffin und Glyzerin ersetzt – anscheinend ein großartiges Mittel gegen Falten.
Innen ist Lenin freilich hohl. So makaber es klingt, alle inneren Organe wurden entfernt, das Gehirn der Forschung übergeben, und das Herz soll bis heute im Kreml aufbewahrt werden. Allein die Geschichte, was nach Lenins Tod mit seinem Gehirn geschah, böte genug Stoff für einen Kriminalroman: Man lud eigens einen Wissenschaftler aus Deutschland ein, um das Gehirn zu untersuchen, dieser zerschnitt es in 30 Teile und untersuchte sie – weil er die Genialität des Revolutionärs finden wollte. Jetzt wird Lenins Gehirn (oder das, was davon übrig ist) hinter den schweren Türen des Moskauer Instituts für Gehirnforschung aufbewahrt.
Seit mehr als 90 Jahren bleibt Lenin unverändert, und dafür muss man sich bei zwei begabten Wissenschaftlern bedanken: dem Chemiker Boris Sbarski und dem Anatomen Wladimir Worobjow. Als Worobjow Lenins Körper zum ersten Mal zu Gesicht bekam, packte ihn die Angst, er winkte ab und erklärte, dass er nichts unternehmen würde – die Aufgabe schien ihm zu schwierig. Doch die Kollegen konnten ihn überzeugen, es doch zu versuchen.
Sbarskis und Worobjows Aufgabe war wirklich kaum zu erfüllen: Die Wissenschaftler mussten eine eigene Methode finden, um den Leichnam zu konservieren. Die Idee, ihn einzufrieren, verwarfen sie sofort – nicht dass er ihnen plötzlich auftaute. Auch eine Mumifizierung wie im alten Ägypten war keine geeignete Methode: Lenin hätte beinahe 70 Prozent seines Gewichts verloren, seine Gesichtszüge wären entstellt worden, und das durfte nicht geschehen.
Er musste einbalsamiert werden, und zwar sorgfältig. Um Rat fragen konnte man niemanden. Die Wissenschaftler arbeiteten über vier Monate an Lenins Körper, und letztlich gelang es ihnen, sein Volumen und seine Gestalt zu bewahren. Zuerst durchtränkten sie den Leichnam mit einer Formaldehydlösung, dann legten sie ihn in eine Gummi-Wanne mit einer Lösung aus dreiprozentigem Formalin, um den Revolutionär ein paar Tage lang darin „einzuweichen“. Am Körper setzten die Wissenschaftler einige Schnitte, damit auch die größten Muskeln durchdrungen wurden. Dann begab sich der leidgeprüfte Wladimir Iljitsch für ein paar Wochen in ein Alkoholbad, dem man schrittweise Glyzerin zufügte. Die letzte Etappe war ein Bad in sogenannter Balsamierflüssigkeit: Glyzerin, Kaliumacetat, antibakterielles zweiprozentiges Chininchlorid.
Zumindest äußerlich hat sich Wladimir Iljitsch seither nicht verändert. Ein Krieg begann und ging zu Ende, die Sowjetunion brach zusammen, Putin hat eine weitere Amtszeit angetreten, aber an Lenin zieht alles spurlos vorüber. Man hat ihn wirklich gewissenhaft einbalsamiert.
Der Streit darüber, ob man den Anführer des Weltproletariats bestatten soll, wird weitergehen (kurz gesagt: alle sind dafür, Sjuganow ist dagegen). Die Kommunisten werden rufen, die Bestattung des Leichnams sei liberalfaschistisch, Gläubige werden zu überzeugen versuchen, er müsse unbedingt bestattet werden, weil es sonst unchristlich sei.
Nur Lenin selbst wird nichts sagen. Er wird schmächtig und gelb in seinem gemütlichen Grab liegen, von 10 bis 13 Uhr Besucher empfangen und sensible Drittklässlerinnen enttäuschen.
Backpacking, Kurzurlaub, Studi-Bude zum Semesterstart – ein Hostel ist für die meisten jungen Leute beliebter Anlaufpunkt auf Reisen oder wenn es mal kurzzeitig knapp wird mit Wohnraum. In Russland ist das Hostelleben ebenfalls bei jungen Leuten sehr beliebt. Für manche hat es in einer Millionenmetropole wie Moskau so viele Vorzüge, dass ein Schlafplatz im Achtbettzimmer besser erscheint als eine Wohnung. Manchmal über Monate oder sogar Jahre. Eine Kommunalka unter neuen Vorzeichen? Flucht vor einem Pendler-Leben am Stadtrand? Oder finanziell einfach eine Notwendigkeit?
Das Webmagazin The Village stellt drei junge Männer vor, die aus ihrem Alltag berichten.
Sergej, wohnt seit über zwei Monaten im Hostel Apricot
Ich komme aus Magnitogorsk. Ich bin Akrobatik-Meister und studiere im zweiten Jahr Sport auf Lehramt. Hier in Moskau lebe ich seit über zwei Monaten in einem Achtbettzimmer. Die Leute wechseln ständig – sowohl Männer als auch Frauen schlafen hier. Meist sind wir zu viert oder zu fünft und im Hostel insgesamt über 30. Da ich schon lange in diesem Hostel lebe und alles weiß, bieten sie mir manchmal einen Nebenjob an der Rezeption an.
Ich wohne hier, weil es viel teurer wäre, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Hinzu kommt noch die Kaution, die man beim Einzug zahlen muss. Vor allem sind relativ günstige Wohnungen nur am Stadtrand zu finden. Und ich finde, wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum. Wenn ich etwa nach Chimki rausfahre und mich da umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich wieder in meiner Heimatstadt in der Provinz gelandet: genau dasselbe eintönige Leben, dieselben Buden mit Obst und Gemüse. Wozu dann überhaupt wegziehen?
Keine Frage, das Leben im Hostel bedeutet, dass ich in Moskau nichts Eigenes habe – außer mein Bett. Das steht dafür mitten in der Hauptstadt. Am Abend spaziere ich zum Roten Platz und zurück – das ist schön. Daher habe ich vor, so lang wie möglich so zu leben. Also eigentlich bis ich heirate und Kinder bekomme. Sollte ich vorher schon ordentlich Geld verdienen, werde ich mir trotzdem keine Wohnung mieten – das wäre Unsinn. Dann leg ich das Geld lieber an.
In unserem Hostel bekommen wir gratis Tee, Kaffee und Zucker. Und es gibt ein Schachspiel, ein Damespiel und eine Xbox. Am Abend schlage ich den anderen Bewohnern oft vor, einen Film zu gucken – dann sitzen wir alle auf dem Sofa im Aufenthaltsraum.
Manchmal kochen wir gemeinsam und essen zusammen zu Abend.
Wenn du lange in einem Hostel wohnst, ist das untere Bett praktischer – also wenn es, wie bei uns, Stockbetten gibt. Ich stehe morgens auf, ziehe meinen Koffer unterm Bett hervor, ziehe mich an und gehe. Ja, hier gibt es keine Schränke, wie übrigens in den meisten Hostels. Aber ich komme auch ohne Schrank gut aus – meine Sachen liegen immer ordentlich im Koffer, ich muss nichts suchen.
Klar, manchmal würde ich echt gern allein sein. Im Hostel ist das schwierig – überall sind Leute. Deswegen frage ich manchmal an der Rezeption, ob ich für ein Stündchen in ein freies Zimmer kann, einfach nur, um da ein bisschen rumzusitzen.
Ich kriege auch Besuch. Wir kochen gemeinsam, trinken Tee in der Küche, sehen im Aufenthaltsraum fern. Bis 23 Uhr ist das erlaubt.
Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol
Außerdem habe ich angefangen, auf eigene Faust Englisch zu lernen. Daher freue ich mich, dass oft Ausländer bei uns im Hostel sind: So kann ich üben. Würde ich eine Wohnung mieten, hätte ich diese Möglichkeit nicht.
An manche Eigenarten von Mitbewohnern gewöhnt man sich schwer. Bei uns wohnt zum Beispiel eine Vertreterin, die in einem Schneeballsystem arbeitet. Und sie will jeden Gesprächspartner da mit reinziehen. Anfangs schaffte ich es aus Höflichkeit nicht, ihr zu sagen, dass mich das alles nicht interessiert, und ich musste ihr immer wieder stundenlang zuhören.
Dann hatten wir noch einen Gast, der immer gern trank. Er kam besoffen ins Hostel, setzte sich aufs Fensterbrett, rauchte, drehte Musik auf und sang dazu. Vor Kurzem wurde er rausgeschmissen.
Und letztens lebte hier eine Familie aus Jakutien. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend aßen sie Fleisch. Sie waren mit einem riesigen Koffer angereist, in dem hauptsächlich Fleisch war – damit stopften sie den ganzen Kühlschrank voll. Jeder Morgen begann mit dem Kochen von Fleisch, noch dazu war das irgendein Wild, Hirsch oder so. Der Geruch hing in der ganzen Küche.
Sie hatten auch kleine Kinder, die auf den Sofas herumhüpften, rumschrien, Zeichentrickfilme einschalteten, wenn ich Olympia sehen wollte, und einen beim Schlafen störten. Aber auch die sind ja nun wieder weg.
Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol abgestiegen– die rümpfen wegen allem die Nase, mäkeln an allem herum.
Nikolaj, wohnt seit anderthalb Jahren im Hostel Napoleon
Vor eineinhalb Jahren bin ich aus Rostow am Don nach Moskau gekommen. Der Ableger der Universität, an der ich in Rostow studierte, wurde geschlossen, und so musste ich nach Moskau wechseln. Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com, und dieses Hostel war das erste Suchergebnis. Es heißt Napoleon, weil der Legende nach Napoleon in diesem Haus eingekehrt sein soll. Mit der Uni hat das bei mir irgendwie nicht hingehauen, und ich hab dann eine Arbeit am Empfang eines georgischen Restaurants gefunden.
Im Restaurant arbeite ich in Schichten, von 9 Uhr bis Mitternacht. Ich bekomme dann auch den Schlüssel und kann im Lokal übernachten – so läuft das ein paarmal die Woche. An diesen Tagen zahle ich im Hostel nichts, danach komme ich zurück und nehme irgendein freies Bett. Ich habe also keinen dauerhaften Platz, sondern wechsele immer.
Wie alle, die ständig im Hostel wohnen, kann auch ich hier im Waschsalon kostenlos Wäsche waschen und trocknen. Zucker, Salz, Waschpulver und Klopapier sind hier auch gratis. Das klingt jetzt nach Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir, das Leben wird viel einfacher, wenn man nicht an diese Dinge denken muss. Dazu kommt noch, dass im Hostel die Zimmer geputzt werden, und ich muss nur mein Geschirr spülen.
Ich wohne in einem gemischten Achtbettzimmer – also mit Männern undFrauen. Abgesehen von den Sommermonaten wohnen hier meistens drei bis vier Personen, hauptsächlich Männer. Weil ich mit dem Personal befreundet bin, darf ich manchmal ein leerstehendes Zimmer allein bewohnen. Außerdem darf ich als Alteingesessener ein paar Tage später bezahlen, obwohl das normalerweise 50 Rubel Strafe pro Tag kostet.
Dieses Hostel gefällt mir wegen seiner Lage – direkt im Stadtzentrum. Ein Katzensprung bis zum Roten Platz, rundherum Clubs und ein Dixi-Supermarkt.
Ein paarmal habe ich schon erlebt, wie sich unter Dauergästen Pärchen gebildet haben. Im Grunde war ihr Alltag nicht viel anders als bei Paaren, die zusammen leben: Sie kommen von der Arbeit, kochen was, sehen im Aufenthaltsraum fern und gehen schlafen. Nur dass das eben alles im Hostel geschieht und nicht zu Hause. Ich hatte auch schon eine Beziehung mit einem Mädchen aus dem Hostel. Wir kamen zusammen, als ich hier einzog – sie wohnte hier schon mit ihrer Mutter. Wir schliefen zusammen hinter einem Vorhang in einem gemischten Achtbettzimmer. Das ist erlaubt, wenn du für die zweite Person die Hälfte zahlst. Später habe ich dann erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in Bars junge Männer abzockt. Naja, wir waren nicht lange zusammen.
Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com
Unser Hostel ist beliebt, weil hier eine Atmosphäre ist wie zu Hause – man kann sich mit anderen unterhalten, was trinken, gemeinsam rumhängen. Lärm machen wir dabei aber nicht viel – wir setzen uns in die Küche, trinken was und gehen dann aus. Wir lieben Kommunikation und Gemeinschaft: gemeinsam Filme gucken, Pokern oder Videospiele. Voriges Jahr waren viele Franzosen da, wir becherten ordentlich, hatten es lustig, sahen uns Filme an. In anderen Hostels ist alles viel strenger.
Ich hatte schon mal den Gedanken, in eine Wohnung zu ziehen, aber dann dachte ich: „Was werde ich da tun, allein in meinen vier Wänden?“ Wenn ich ins Hostel komme, schaue ich fern, quatsche ein bisschen mit den Leuten in der Küche, spiele mit irgendwem Videospiele. Also wird es nie langweilig. Es gibt Leute, die das Alleinsein unbedingt brauchen, Privatsphäre. Aber ich bin zufrieden so – ich verhänge mein Bett mit Tüchern, und was rundherum passiert, ist mir egal. Es gab eine Zeit, da wollte ich ausziehen – Frauen mit herzubringen ist schwierig. Die Betreiber des Hostels haben zwar nichts dagegen, aber bei den Frauen kommt das nicht gut an, die wollen das nicht.
Vor einem halben Jahr hatte ich was mit einer Moskauerin am Laufen, die hat vielleicht fünf Mal bei mir im Achtbettzimmer übernachtet. Sie war nicht begeistert davon, dass hier alles gemeinschaftlich ist, sie mochte die Leute nicht. Auch wenn uns das nicht daran hinderte, das Bett mit einem Laken zu verhängen und Sex zu haben, mit allen Geräuschen. Und das, obwohl in dieser Nacht junge Sportler mit uns in einem Zimmer schliefen, Jungs und Mädchen von 13, 14 Jahren, die in Moskau ein Trainingslager hatten.
Ein Doppelzimmer habe ich im Hostel nie gemietet. Wozu auch? Ich kann auch im Achtbettzimmer ungestört tun, was ich will.
Manchmal geniere ich mich zu sagen, dass ich im Hostel lebe. Es kommt vor, dass ich Moskauerinnen kennenlerne, die anbeißen, weil ich attraktiv bin, aber wenn sie erfahren, dass ich im Hostel wohne, verduften sie schnell. Irgendwie hab ich es gut hier, aber manchmal belastet es mich, nichts Eigenes zu haben.
Wladimir, wohnt seit über einem Monat in einem Schlafsaal mit 20 Betten in einem namenlosen Hostel
Ich komme aus Asow. Von Beruf bin ich spezialisiert auf Videoüberwachung in Casinos. Ich habe einen Job im Nahen Ausland angeboten bekommen, aber als ich in die Hauptstadt kam, wurde das Angebot erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also beschloss ich, in Moskau zu bleiben, weil man mit dem Flugzeug von hier immer leicht wegkommt, hier ist meine Schnittstelle. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal zu einem Projekt bestellt werde, deswegen habe ich mir keine Wohnung gesucht, sondern bin ins Hostel gegangen. Da wohne ich nun schon seit über einem Monat und arbeite erstmal auf dem Bau.
Für mich ist das Hostel eher kein Wohnheim, sondern eine Pension. Ich habe schon in verschiedenen Hostels gewohnt, und überall gibt es andere Regeln und Zustände. Zum Beispiel werden in manchen prinzipiell keine Staatsbürger aus dem Nahen Ausland genommen. In meinem vorigen Hostel stand ein klitzekleiner Fernseher, unmöglich, damit fernzusehen. Aber ich bin ein Sowjetbürger, ich bin mit Fernseher aufgewachsen, für mich ist es wichtig, am Abend kurz reinzugucken. Ja, das ist diese gute, alte Schizophrenie – durch die Kanäle zappen. Als ich also in dieses Hostel hier kam und auf einmal abends normal fernsehen konnte, das war mir schon sehr viel wert.
Die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu
Hier bei uns wohnen viele, die in Moskau studieren, aber keinen Platz im Studentenheim bekommen haben, sowas in der Art. Oder junge Moskauer, die nicht mehr bei den Eltern wohnen wollen.
Am besten finde ich, dass am Abend immer jemand in der Küche ist, mit dem man reden kann. Man kann sich hinsetzen und über Politik, Religion, Sport oder das Leben austauschen. In der Küche darf über Gott und die Welt gestritten werden. Dort wird entschieden: Bist du ganz vorne dabei oder bist du Außenseiter? Und es wird gecheckt, bei wem es sich lohnt, zuzuhören. Man diskutiert, beharrt auf seiner Meinung, trennt sich fast als Feind – und am nächsten Morgen wacht man auf und und raucht zusammen eine, weil man sich ja gestern in der Küche ausgesprochen hat. Der Streit ist vergessen, das war ja gestern.
Wir hier im Hostel vergessen oft die Namen voneinander – es sind zu viele, die einen reisen ab, neue ziehen ein. Es kommt vor, dass ich dieselben Mitbewohner vier Mal im Monat kennenlerne. Aber die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich durch das Zusammenleben mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu, dass deine Gedanken und Gefühle irgendwen interessieren. Mir ist das wichtig.
Ich kann gar nicht sagen, wie viel Leute mit mir im Zimmer sind. Alle Betten sind mit Tüchern verhängt, und ich treffe die anderen nicht oft. Mädchen nehme ich nie mit hierher. Das Hostel eignet sich nicht dafür, Sex zu haben, und der einzige Ausweg wäre, sich in die Dusche zu verdrücken. Aber da muss man es schon sehr nötig haben, ein normaler Mensch wird kaum auf die Idee kommen, jemanden für Sex ins Hostel mitzubringen.
Im Grunde ist Moskau eine gute Stadt, mit dem Hostel-Leben bin ich total zufrieden. Solang ich nicht woanders eine Arbeit angeboten bekomme, bleibe ich hier.
„Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.
Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.
Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.
Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.
Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.
Die Bewusstwerdung
Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.
Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.
Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge
Die Hilfe
Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“
Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.
Der Glaube
Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.
Der Beruf
Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.
Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.
Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.
Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.
Die Stadt
Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.
Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.
Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann
Die Angst
Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Postauf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.
Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.
Die Zukunft
Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.
In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.
Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.
Das Gesetz
Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.
Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.
Die Zuversicht
Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.
Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.
Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.
Es war ziemlich aufsehenerregend für einen Sender aus der Provinz. Als der für seine ungewohnt kritische Berichterstattung bekannte Fernsehkanal TV2 in Tomsk vor zwei Jahren noch ums Überleben kämpfte, gab es Solidaritätsproteste mit vielen Hundert Teilnehmern. Aber es half nichts: Plötzlich verlor er seine Lizenz, lebt inzwischen nur noch im Internet fort.
Der Fall TV2 warf damals ein seltenes Schlaglicht auf den Zustand der Medien jenseits der russischen Hauptstadt. Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Das Medienprojekt dv.land lässt vier Macher von Zeitung und Radio zu Wort kommen, die kaum weiter von Moskau entfernt sein könnten: aus der Armur-Region im Fernen Osten direkt an der chinesischen Grenze.
Jelena Pawlowa, Chefredakteurin der Zeitung Amurskaya Pravda:
Eines der Hauptprobleme des Regionaljournalismus ist, dass es im Medienbereich an Gründern fehlt, die wirklich an einer Weiterentwicklung der Medien interessiert sind. Alle nutzen Fernsehsender oder Zeitungen vor allem zur Durchsetzung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen, was zwar nachvollziehbar ist, sich aber unweigerlich auf die Qualität des Content auswirkt.
Zweitens gibt es mindestens drei Formen der Zensur: durch die Gründer, aus Gefälligkeit Freunden gegenüber und Selbstzensur.
Aus diesen ersten beiden Punkten folgen ein dritter und vierter: der Mangel an brisanten politischen und wirtschaftlichen Materialien, Themen und Sendungen, ebenso wie fehlende Ambitionen bei den Chefredakteuren und folglich auch in den Redaktionsteams.
Ignoriert werden dürfen auch nicht die niedrigen Einnahmen der Medien sowie die geringe Vergütung journalistischer Arbeit.
Die Arbeit des Chefredakteurs einer Regionalzeitung ist ein ewiger Balanceakt zwischen den Interessen des Gründers, den Meinungen und der Loyalität der Journalisten und dem eigenen Gewissen. Er gelingt nicht immer. Aber in solchen Situationen versuche ich immer, dem Gründer meine Position und die der Redaktion klarzumachen. Und den Journalisten sage ich immer ganz ehrlich, wenn ich etwas nicht durchbringen konnte oder kann.
Fairerweise muss gesagt werden: Es gibt nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern
Unter diesen Bedingungen haben die Regionalmedien nur eine einzige Aufgabe: die schwierige Krisenzeit zu überleben und dabei die Contentqualität sowie das professionelle Team und die Leserschaft zu halten.
Sicher, wer bei regierungsnahen Zeitungen beschäftigt ist, weiß, dass über eine Reihe unerwünschter Themen nicht berichtet werden soll. Mit der Zeit bildet sich sogar eine Selbstzensur heraus. Doch wie die stellvertretende Chefredakteurin der Rossiskaja Gaseta, die legendäre Journalistin Jadwiga Bronislawowna Juferowa, völlig zu Recht sagt: „Bei einer Regierungszeitung zu arbeiten bedeutet nicht, ein Herz und eine Seele mit den Machthabern zu sein.“ Wir arbeiten, diskutieren, kommen dann überein oder auch nicht, aber wir bemühen uns immer, einander zuzuhören.
Die Selbstzensur ist für mich überhaupt einer der größten Feinde des Journalismus, besonders im Regionalen. Aber wenn du professionell arbeitest, erledigen sich Fragen und Ängste. Ich versuche, hohen Beamten immer klarzumachen, dass Problemthemen aufgegriffen werden müssen – aber das muss professionell geschehen und beide Seiten dürfen nicht hysterisch werden.
Fairerweise muss auch gesagt werden, dass es nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern gibt.
Ich beobachte regelmäßig, dass Kollegen aus privaten Zeitungen oder Agenturen einseitig über brisante Themen berichten, dass sie Nachrichten, die für den Gründer unbequem sind, rasch von der Website entfernen und negative Kommentare löschen.
Tatjana Udalowa, Dozentin für Journalismus an der Staatlichen Amur-Universität, Moderatorin der Radiosendung Echo Moskwy w Blagoweschtschenske:
Das größte Problem der regionalen Medien ist die Verflechtung von Journalismus und Regierung. Journalisten und Medienmanager mischen sich oft in die Regierungskreise und arbeiten mit ihnen zusammen; das Gleiche gilt auch für Medien, die Teil der Regierung sind und zu irgendeiner Abteilung einer staatlichen oder kommunalen Behörde gehören. Also gliedern sich Medien oder Medienmanager ins System ein.
An zweiter Stelle steht das Problem, dass den Machthabern und sehr oft auch den Journalisten selbst die Funktion des Journalismus nicht klar ist. Die Machthaber begreifen nicht, dass Journalisten nicht deswegen kritisieren müssen, weil sie am klügsten sind oder am besten wissen, wie man einen Staat, eine Stadt, einen Rajon oder eine Oblast regiert, wie man unterrichtet und heilt, sondern deswegen, weil das ihre Funktion, ihre Aufgabe ist. Weil die Gesellschaft ob dieser Kritik auf eigene Fehler und Versäumnisse der Regierung aufmerksam wird und etwas dagegen unternehmen möge.
Nur verschweigt man bei uns Fehler lieber, als dass man sie behebt. Wo kein Kläger, da kein Problem. Auf höchster Ebene merkt niemand was, also behelligen die von oben einen auch nicht wegen irgendwelcher Probleme vor Ort.
Es fehlt das Verständnis dafür, dass jemand regieren und jemand anderes von der Seite draufschauen muss, mit den Leuten spricht, sich erkundigt, wie es bei ihnen läuft, mit Experten redet, das alles zusammenführt und schließlich etwas Kritisches schreibt. Dann nimmt die Regierung es – zumindest der Theorie nach – zur Kenntnis und behebt den Fehler. Aber die Regierenden verstehen diese Prinzip einfach nicht. Sollte es dereinst mal funktionieren, wird alles wunderbar.
Alle weiteren Probleme kann man auf diese beiden Punkte zurückführen: Die Journalisten hören auf, tief in notwendige Themen einzusteigen und qualitativ anspruchsvolle Analysen zu schreiben, weil die Themen nicht offen behandelt werden dürfen. Deswegen ist das allgemeine Medienniveau niedriger, als es sein könnte. Es gibt Journalisten, die gut analysieren können, aber sie können sich nicht immer erlauben das umzusetzen, entweder weil sie begonnen haben, sich der Regierung anzudienen oder weil sie einfach für die Medien arbeiten, in denen Umfang und Schnelligkeit für das Erscheinen des Materials wichtiger sind als das tiefe Eindringen in ein Thema.
An vierter Stelle steht ein Problem des allgemeinen Niveaus, gar nicht mal so sehr der schreiberischen Fähigkeiten der Journalisten, sondern eher des Horizonts. Es wäre wünschenswert, er wäre breiter – denn mit ihm steht und fällt natürlich auch das Schreiben. Meine Einschätzung der journalistischen Ausbildung hier in der Region ist vermutlich nicht ganz korrekt, aber es ist doch bedauerlich, dass sie so kärglich ist.
Ich habe den Eindruck, dass das Hauptproblem der Amurer Medien ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten ist
Es gibt keine Lehrgänge, keine Wettbewerbe, und wenn es welche gibt, stehen die Regierung oder große Firmen dahinter. Es gibt keine professionellen Analysen, keine gegenseitige Prüfung der journalistischen Arbeiten , etwa von Mitarbeitern landesweiter Medien, wie früher, als es Wettbewerbe gab – beim Fernsehen zum Beispiel mit dem TEFI-Preis –, und die Schule Internews, die Journalisten aus den Regionen einlud.
Bei solchen Wettbewerben finden Workshops statt, man analysiert die Arbeiten mit Hilfe von Profis. Natürlich sind auch sie Journalisten, die manchmal Fehler machen, Dinge übersehen und so weiter, aber immerhin war es ein Blick von außen, von Leuten, die die vielen „Aber“ deiner Region nicht kennen, die nüchtern auf deine Arbeit blicken und sagen: Schau mal, das da ist nicht ganz gelungen, und bei jenem gibt es folgende Fehler, aber insgesamt hat deine Arbeit das und das Niveau. Bei uns gibt es nur den Lehrstuhl für Journalismus der Staatlichen Amur-Universität, andere Möglichkeiten – Weiterbildungen, begleitende Lehrgänge – fehlen.
Marius Schimkus, Chefredakteur von ASN24:
Wenn man an die ruhmreichen alten Zeiten denkt, ist es nicht weit bis zu dem Schluss, das Gras sei früher grüner gewesen. Meiner Einschätzung nach stehen dem Journalismus in der Oblast Amur in den letzten Jahren immer weniger Geld und immer weniger Freiräume zur Verfügung. Der Anzeigenverkauf wird immer schwieriger. Die Situation der Zeitungen ist überhaupt betrüblich. Sich technologisch weiterzuentwickeln, ist bei den lokalen elektronischen Medien einfach ausgeblieben – vielleicht hat man gerade mal angefangen, Push-Nachrichten zu versenden.
Ich habe den Eindruck, das Hauptproblem der Amurer Medien ist ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten. Bei einem so strengen Zensurfilter ist es Journalisten nicht möglich, ein objektives Bild der Welt an die Leser heranzutragen, sie können nicht über Probleme berichten, um die Rechtsschutzorgane oder entsprechende staatliche Stellen auf sie aufmerksam zu machen. Stattdessen gibt es in den lokalen Nachrichten massenhaft Berichte darüber, dass irgendein hohes Tier irgendwohin gereist ist, jemanden getroffen oder irgendwelche Anweisungen gegeben hat. So entsteht ein schönes Bild für Moskau.
Das zweite Problem ist das geringe Prestige des Berufs. Nicht weil das verletzend wäre, sondern weil man den Journalisten durchaus begründet vorwirft, sie würden die Beamten bedienen, und sie verächtlich als Journalistenpack oder sogar Nuttenjournalisten bezeichnet.
Das dritte Problem ist der Braindrain. Sobald sich die hoffnungsvollen Jungtalente die ersten Beulen geholt haben, kratzen sie sich am Kopf, packen ihren Koffer und gehen ins westliche Ausland. Oder wechseln den Beruf. Es bleiben diejenigen, die ein gemütliches Plätzchen zu schätzen wissen oder die in drei Jahren ohnehin in Rente gehen, oder vielleicht Heimatliebende der Gegend hier. Letztlich ändern sich die Medien über die Jahre nicht, sie setzen auf die ewiggleichen Formate mit den ewiggleichen Protagonisten.
Das vierte Problem ist, so scheint mir, dass die meisten Amurer Medien kaum neue Formate für die Informationsvermittlung einsetzen. Das hängt größtenteils mit den knappen Budgets zusammen – an Longreads oder Infografiken ist nicht zu denken, wenn nicht mal Geld für die Gehälter da ist. Aber zum Teil liegt es meiner Meinung nach auch daran, dass weder die Redaktionen noch die Leser wirklich an einer Entwicklung interessiert sind. Unsere Versuche beispielsweise, Partner für Native Advertising zu finden, scheiterten in den meisten Fällen an tiefem Unverständnis. Die Kunden sind nicht bereit, für solche Texte zu zahlen. Aber ein Interview „Iwan Iwanowitsch, was ist das Erfolgsgeheimnis Ihrer Betonblöcke?“, das läuft.
Das fünfte Problem ist, dass ein Praktikum bei einem seriösen landesweiten Medium für junge Journalisten fast unerreichbar ist. Dafür braucht man direkte Kanäle zu Kollegen und Geld für teure Flugtickets. Das Problem mit den Kontakten wird mit dem Weiterbildungsprogramm der Volksfront für Russland zwar etwas entschärft, aber die finanzielle Seite bleibt eine fast unüberwindbare Hürde. In vielen Medien hängen Redaktionspolitik und tägliche Berichterstattung von Vereinbarungen zwischen dem Gründer, Regierungsvertretern und der Geschäftswelt ab. In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass bestimmte Themen gezwungenermaßen übergangen werden und gewisse Personen nicht kritisiert werden dürfen. Das kann man schwerlich als Kompromiss bezeichnen: Die Redaktionen verlieren Themen und das Vertrauen ihrer Leser, doch bekommen nichts dafür – vom Gehalt einmal abgesehen.
Die Oblast Amur liegt im russischen Fernen Osten an der chinesischen Grenze
Es ist kein Geheimnis: Das Massenpublikum reagiert am stärksten auf negative Nachrichten. Unfälle, Mord, Entführungen. Im Fall regionaler Medien kommt meiner Einschätzung nach noch hinzu, dass die Menschen Informationen ablehnen, die aus offiziellen, von Staatspfründen lebenden Medien stammen. Und dann greift eine einfache Regel: Wenn die Medien Informationen nicht liefern, dann suchen die Menschen in Sozialen Netzwerken, Chatdiensten und Foren danach. Die Gruppen Verkehrsstreifen-Kontrolle und Verkehrsstreifen-Aufsicht beispielsweise sind wohl deswegen entstanden, weil die Verkehrspolizei keine hilfreichen Informationen bereitstellte. Dieser, nennen wir sie, Protestwelle schließen sich dann auch oppositionelle Bewegungen an.
Ehrlich gesagt bin ich ziemlich pessimistisch – jedenfalls wenn es um Journalismus in der Oblast Amur geht. Man müsste eine kleine, aber stolze, unabhängige Redaktion von zwei bis drei Leuten zusammenstellen und dann qualitativ ordentlichen Content machen, aber hier in der Region solche Mitarbeiter zu finden, ist fast unmöglich.
Maxim Jermakow, Korrespondent, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung BAM, Vorstandsmitglied der Sektion Amur des russischen Journalistenverbands:
Die Arbeit des Chefredakteurs eines regionalen Massenmediums geht damit einher, dass es bei heiklen Themen immer einen Kommentar braucht, in dem die Regierungsposition zu lesen ist. Außerdem gehört es auch zur Politik eines Staatsmediums, die Regierungstätigkeiten, ihre Entscheidungen, Programme und Projekte zu erläutern.
Provinzialität kommt bei den Medien hier im Fernen Osten immer seltener vor. Die regionalen Medien (sowohl die gedruckten als auch die elektronischen) suchen stets neue Modelle und schicken ihre Mitarbeiter auf Seminare außerhalb der Region. Inzwischen werden auch neue Richtungen weiterentwickelt – Grafiken, Kolumnen, eine enge Verbindung zwischen der Zeitung und ihren Auftritten in den Sozialen Netzwerken.
Natürlich gibt es auch Probleme: Personalmangel, hohe Druckkosten, die schlechte Erreichbarkeit mancher Ortschaften und die große Distanz zwischen ihnen, was die Organisation eines eigenen Abo-Diensts und den Vertrieb erschwert, dann gibt es noch die Verspätungen der russischen Post und schlechte Internetverbindungen.
Das Niveau der Journalistenausbildung ist ziemlich schlecht, weil es in der Abteilung für Journalismus der regionalen Hochschule an Dozenten mit erstklassigem Know-How mangelt. Ich will nicht ausschließen, dass man zum Erhalt der städtischen und regionalen Zeitungen irgendwann eine einzige Medienholding gründet.
Vor gut zwei Jahren hat Russland auf die westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise mit einer Einfuhrsperre für Agrarprodukte reagiert. Von Fleisch bis Milch ist seitdem fast alles verboten und darf nicht importiert werden. Das ist die Theorie. In der Praxis gelingt es findigen Händlern, Lebensmittel aus den Embargo-Ländern hier und da weiter ins Land zu bringen, auch wenn Russland an seinen Grenzen immer wieder Tonnen um Tonnen vernichtet.
So liegt auf einem großstädtischen Fischmarkt mal eben frischer norwegischer Lachs oder im Laden nebenan ein litauischer Käse, der auf Zwischenstation in Weißrussland kurzerhand als „Made in Belarus“ umdeklariert worden ist. Das aber ist über die Zeit seltener geworden. Wer dagegen in St. Petersburg nicht auf die Lebensmittel aus dem westlichen Ausland verzichten will, dem sind auch fliegende Händler behilflich, die schon seit Jahren am Zoll vorbei auf dem Schwarzmarkt aktiv sind. Deren Geschäft ist seit der Einfuhrsperre noch lukrativer geworden.
So oder so sind durchgesickerte Lebensmittel schwer zu finden. Angestellte einer Petersburger Bezirksverwaltung haben da ihre eigenen, zuverlässigen Quellen – und die Novaya Gazeta hat sich das angeschaut.
Jeden Tag betritt Maria Schtscherbakowa ihr Verwaltungsgebäude am Newski-Prospekt Nummer 176. Die Vorsteherin des St. Petersburger Bezirks Zentralny geht die Treppe hoch und betritt ihr Büro, ohne auch nur zu ahnen, was sich gleichzeitig eine Etage tiefer abspielt …
Dort laufen nämlich Geschäfte mit Waren, die es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber MariaSchtscherbakowaweiß nichts davon. Zumindest wenn man ihren Worten Glauben schenken darf.
Vor gut zwei Jahren hat Russland den Import von Lebensmitteln eingeschränkt. Auf der Verbotsliste landeten Fleisch, Wurst, Fisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte. Dann, Ende Juli 2015, unterschrieb Wladimir Putin noch einen Erlass, demzufolge die illegal eingeführten Lebensmittel zu vernichten sind. Allein zwischen dem 5. und dem 22. August 2015 wurden insgesamt 173,4 Tonnen mit Traktoren plattgewalzt.
Den Angestellten der Verwaltung des Bezirks Zentralny machen die Sanktionen jedoch nichts aus. Zweimal in der Woche ist hier im Erdgeschoss Hochbetrieb. Mit geheimnisvollen Mienen kommen Verwaltungsmitarbeiter aus einem Räumchen neben der Kantine gelaufen. In den Händen – weiße Tüten. Und in den Tüten sind sanktionierte Lebensmittel: Käse und Wurst, mitgebracht von fliegenden Händlern aus den Nachbarländern Finnland und Estland.
Je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es
Um in diesen geheimen Laden zu gelangen, geht es an Wachleuten und Drehkreuzen vorbei direkt zu dem Schild mit der Aufschrift „Kantine“, dann die Stufen hinab. Rechts sieht man ein ausgeblichenes Plakat mit der Aufschrift: „Finnland – ein Märchen!“ Auf dem Plakat sind lappländische Rentiere zu sehen, hinter der Tür eröffnet sich der Raum mit den verbotenen Waren. Eine Kasse gibt es nicht, dafür einen Kühlschrank, in dem das Essen lagert. Ein Ladentisch und Schränke voll Käse, Wurst und Milchprodukten füllen den Raum. Etwas abseits stehen noch Haushaltswaren und Päckchen mit finnischem Kaffee.
Aber ich will Käse.
„Was es hier alles gibt!“, bemerkt die Verkäuferin recht familiär und öffnet vorsichtig den Kühlschrank. Und tatsächlich: Da sind Camembert, Parmesan, Brie, Dorblu …
200-Gramm-Blöcke Mangelware für 120 bis 150 Rubel [1,65 Euro bis 2 Euro] gehen schnell weg. „Diese Stinker hier sind etwas teurer“, sagt die Verkäuferin und zeigt stolz ein Stück Dorblu. „Gibt es sonst nirgends!“
Der etwas einfachere Käse – abgepackt als 500-Gramm-Aufschnitt – geht zum Schleuderpreis von 300 Rubel [4,15 Euro] über den Ladentisch.
Eine Kundin betritt den kleinen Laden, eine mittelgroße, zierliche junge Frau in strengem Kostüm. Auch sie möchte Käse. Kühlschranktür auf, Kühlschranktür zu, und eine Packung Camembert landet in der weißen Tüte.
Der Laden ist sehr beliebt. Um die ersehnten Köstlichkeiten zu kaufen, müssen die Beamten manchmal sogar Schlange stehen. Ich sag nur „Mangelware“! Außerdem ist der Laden nur donnerstags bis 12 und freitags bis 14 Uhr geöffnet
Die Beamten kommen in Wellen, je näher die Mittagspause rückt, desto voller wird es. Als eine Welle abflaut, schaffe ich es, ein paar Worte mit der Verkäuferin zu wechseln. Sie erzählt mir, den Laden im Verwaltungsgebäude gebe es schon seit drei Jahren und beteuert, „die da oben“ wüssten von seiner Existenz.
Gibt es da etwa einen Laden?
In der Verwaltung bestreitet man das empört. Elena Serbinowa, sie ist verantwortlich für das Gebäude, sagt: „Kantine und Bezirksverwaltung haben nichts miteinander zu tun. Es gibt hier ein Restaurant der Kette Amrots und denen gehört die Kantine.“
Ich frage noch einmal nach, für alle Fälle: „Diese Räume sind also gar nicht Teil der Verwaltung?“ „Das Gebäude ist in zwei Hälften aufgeteilt: In der einen befindet sich die Verwaltung, sie gehört der Stadt. Die andere gehört der Immobilienverwaltung Jugra.“ „Und dass in der Verwaltungskantine Sanktionswaren verkauft werden, stört Sie nicht?“ „Diese Räumlichkeiten gehören uns nicht, also kann ich nichts dazu sagen.“
Elena Serbinowa beendet das Gespräch.
Nach Angaben von SPARK, einer Datenbank für professionelle Markt- und Unternehmensanalysen, wird das Gebäude am Newski-Prospekt 176 tatsächlich nicht allein von der Bezirksverwaltung genutzt. Zehn Firmen sitzen in dem Haus, darunter die von Serbinowa erwähnte Immobilienverwaltung Jugra und das Restaurant Amrots. Allerdings sind sie in einem anderen Gebäudeteil und haben einen separaten Eingang, anders als das Wohnungsamt des Bezirks und die Territorialen Wahlkommissionen Nr. 16 und 30, deren Schilder am Eingang des Verwaltungsgebäudes hängen.
Derweil hat auch im Amrots niemand die leiseste Ahnung davon, dass hier Verwaltungsbeamte mit Sanktionswaren versorgt werden.
„Damit haben wir nichts zu tun“, erklärt Anait Paradjan entschlossen, sie ist die Geschäftsführerin des Betriebs. „Wir haben hier ein Restaurant für 500 Gäste, aber keinen Laden. Gibt es da etwa einen Laden? Keine Ahnung, wer da was verkauft.“
Die Immobilienverwaltung Jugra OOO, die in der Bezirksverwaltung als zweiter möglicher Betreiber des Sanktionswarenladens gilt, hat mit dem Ganzen ebensowenig zu tun, ist aber zweifelsohne auch für sich gesehen ein interessanter Laden. Die Organisation wurde gegründet von der Behörde für die Verwaltung von Staatseigentum des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen (auch Jugra genannt) und beschäftigt sich mit der Vermietung von Gewerbe-Immobilien.
Nun ja, auf der Liste der Büroräume am Newski-Prospekt 176 gibt es jedenfalls keinen einzigen Raum, der auch nur entfernt an das Kämmerlein erinnern würde, in dem mit sanktioniertem Käse gehandelt wird. Und all die genannten Büros befinden sich in dem anderen Gebäudeteil und haben anscheinend nichts mit der Bezirksverwaltung zu tun.
Keine Ahnung, ich weiß von nichts
Anfangs dachte ich, am einfachsten wäre es, die Nachfrage zum Camembert an Bezirksvorsteherin Maria Schtscherbakowa bei einem Treffen mit ihren Wählern anzubringen. Im St. Petersburger Büro der Partei Einiges Russland, für die Schtscherbakowa kandidiert, konnte man uns aber nichts über Schtscherbakowas Wahlkampagne sagen und empfahl uns, direkt bei der Bezirksverwaltung von Zentralny anzurufen.
Dort hieß es, wir sollten eine gewisse Anna Jurjewna anrufen, die Schtscherbakowas Wahlkampfstab leite. Sie sagte uns wiederum, dass keine Treffen mit Wählern vorgesehen seien. Wenn die Einwohner irgendwelche Fragen an ihre Kandidatin hätten, könnten sie sich für einen Termin in ihrer Sprechstunde als Bezirksvorsteherin anmelden.
Schließlich gelang es uns, Schtscherbakowas Handynummer herauszubekommen.
„Maria Dmitrijewna, warum wird im Erdgeschoss der Bezirksverwaltung mit Sanktionswaren gehandelt?“ „Mit was für Waren?“ „Mit Sanktionswaren.” „Was soll das sein? Nie gehört …“ „Haben Sie nicht davon gehört, dass die Regierung 2014 eine Liste von Lebensmitteln erstellt hat, die nicht aus Europa nach Russland importiert werden dürfen? Käse, Wurst …“ „Weder das Gebäude noch der Raum gehören der Verwaltung, das kann ich Ihnen gleich sagen.“ „Aber dass es Sanktionswaren gibt, das wissen sie schon?“ „Nein, keine Ahnung, ich weiß von nichts und habe nie sowas gekauft. Das ist nicht unser Raum. Unsanktionierte Ware habe ich noch nie gekauft.“ „Wir reden von sanktionierten Waren …“ „Nie davon gehört. Nie etwas gekauft. Der Raum gehört nicht der Verwaltung.“ „Warum befindet er sich dann im Verwaltungsgebäude?“ „Das ist kein Verwaltungsgebäude, damit Ihnen das mal klar ist. Die Verwaltung mietet lediglich ein Zehntel des Gebäudes.“ „Stört es Sie nicht, dass im selben Gebäude, in dem die Bezirksverwaltung sitzt unerlaubter Handel betrieben wird?“ „Ich weiß von keinem Handel. Dazu kann ich nichts sagen.“
Bitte noch den Brie
Im Laden erkundige ich mich nach dem Preis von Parmesan, lasse mir dann aber Camembert und ein Stück Brie einpacken. Jetzt teile ich mit den Beamten der Bezirksverwaltung ein Nomenklatura-Geheimnis. Einen Kassenbon gibt’s nicht.
32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.
Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.
Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?
Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.
Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.
Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.
In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?
Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.
Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler
Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.
Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?
Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.
Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?
Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!
Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?
Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.
Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.
Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.
Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden
Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.
Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.
Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.
Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?
Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.
Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?
Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?
Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.
Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.
Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?
Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.
Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.
Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.
Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.
Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorialbekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die NachtwölfeGeld bekommen. Wie erklären Sie das?
[Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.
Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …
Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?
Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.
Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Man sagt, es hätte Probleme gegeben.
Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.
Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!
Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …
Memorial?
Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.
Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]
Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?
Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.
Aber kritisieren darf man es?
Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.
Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?
Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.
Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen …
Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.
Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?
Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.
Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht
Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?
Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?
Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …
Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.
Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.
Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.
Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?
Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.
Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen
(Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.
Kann ich noch ein paar Fragen stellen?
Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.
Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …
Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Politischen Gefangenen?
Politischen Gefangenen, genau. Golubyjeist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?
Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …
Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.
Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?
Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.
Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.
Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.
Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!
Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …
Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts
Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.
Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.
Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.
Es sollte ein Festtag werden. Stattdessen erschütterte ein schwerer Terroranschlag das südrussische Beslan am ersten Schultag nach den großen Ferien – in Russland traditionell der feierlich begangene 1. September. An diesem Tag im Jahr 2004 überfielen Terroristen die Schule Nr. 1 in der Kleinstadt in Nordossetien und nahmen mehr als Tausend Geiseln. Kinder, Eltern und Lehrer. Das Terrorkommando wollte den Abzug russischer Truppen aus der benachbarten russischen Teilrepublik Tschetschenien erzwingen – und versetzte dem Land mit einem drei Tage andauernden Geiseldrama einen Schock.
Als Drahtzieher übernahm der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew die Verantwortung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion tobte in Tschetschenien bereits der zweite bewaffnete Konflikt um die Unabhängigkeit der Nordkaukasusrepublik von Russland. Moskau versuchte, eine Abspaltung zu verhindern. Das Geiseldrama trug diesen Krieg auf grausame Art und Weise ins alltägliche Leben. Es gab mehr als 300 Tote, ein Großteil waren Kinder.
Bis heute gibt es dabei viele offene Fragen auch zum Einsatz der Sicherheitskräfte, zahlreiche betroffene Angehörige und auch Menschenrechtsorganisationen werfen offiziellen Stellen eine gezielte Politik der Desinformation und des Verschweigens vor. Am 12. Jahrestag 2016 protestierten fünf betroffene Mütter mit schweren Vorwürfen an die Adresse Wladimir Putins – und wurden dafür verhaftet. Noch in der Nacht verurteilte sie ein Gericht teils zu Geldstrafen, teils zur Ableistung von Sozialstunden.
Der renommierte Journalist Andrej Kolesnikow hat Beslan während der Tragödie besucht und seine Eindrücke in einer Reportage beschrieben. Sein eindringlicher Text, der am 6. September 2004 in der TageszeitungKommersant erschien, soll hier als Zeitdokument stehen.
Die Kämpfe in der Schule Nr. 1 setzten sich am Freitag bis in die Nacht hinein fort. Die Schule brannte. Löscharbeiten waren bereits im Gange. Die Feuerwehrautos fuhren in den Hof der benachbarten Schule Nr. 6, füllten ihre Wassertanks auf und kehrten wieder zurück. Bei einem der Autos stand an einen Baum gelehnt ein Ossete um die 30, in schmutziger Kleidung mit Brandlöchern.
„Waren Sie drin?“, fragte ich.
Er nickte: „Wir sind mit der ALPHA da rein, als die Explosionen losgingen.“
Die Schule war im Sommer renoviert worden, und eine Wasserleitung, die in den Turnsaal führte, war noch nicht eingemauert. Rund um sie herum war nach wie vor eine relativ große Bresche in der Mauer. Dort hatten sich die Feuerwehrmänner mit Brecheisen und Vorschlaghämmern zu schaffen gemacht.
„Hat es lang gedauert, bis die Mauer durchbrochen war?“
„Nein, das ging schnell. Das Durchkriechen dauerte. Da war aber noch nicht der Turnsaal, in dem die Kinder festgehalten wurden, sondern so ein gewerblicher Fitnessraum für Krafttraining, glaube ich. In dem Turnsaal, wo sich die Leute befanden, war schon eine Bombe explodiert, und alles brannte. Wir sind rein, und da lagen haufenweise Frauen und Männer und Kinder. Die Kinder alle mit nackten Oberkörpern. Es war kaum möglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber wir mussten da durch. Also gingen wir.“
Er sagte, seine eigene Stimme höre sich seltsam für ihn an. „Sage das gerade alles ich?“, fragte er skeptisch. „Natürlich.“ „Komisch. Anscheinend sind das meine Worte, und mir ist das passiert, aber ich höre mich selbst wie von außen, aus der Ferne. Gibt es so etwas?“ „Natürlich“, beruhigte ich ihn. Er beruhigte sich wirklich.
„Wir haben ein paar Leute aus dem Turnsaal rausgezerrt. Vier habe ich geschleppt. Auf der anderen Seite hat die ALPHA welche rausgetragen. Die Leute lagen wie so Bündel da … Viele hatte die Druckwelle in die Ecken gedrückt. Oder sie sind selbst dorthin geflüchtet. Nur wenige lebten. Wir mussten herausfinden, wer, aber wie? Ich habe mich zweimal geirrt. Als ich gerade ein Mädchen rausgebracht hatte, krachte die zweite Explosion. Davor hatten uns zwei Mädchen aus dem Fenster zugerufen, mit einem Tuch gewunken, die eine etwas älter, die andere vielleicht sieben. Bei ihnen saßen zwei Duchi, die mit Unterlaufgranatwerfern die ALPHA unterstützten. Ich winkte den Mädchen zu und sagte: ‚Ich bin gleich da!‘, und sie haben gelacht, so glücklich waren sie! Dann die Detonation, und die Mädchen hab ich nie wieder gesehen. Ich werde sie in der Schule suchen, sie müssen doch noch drinnen sein.“
Der Kommandant der Feuerwehr gab Anweisungen:
„Los, Wassertanks auffüllen – und zur Schule! Löschen im ersten Stock! Marsch, alle! Die Rebellen sind tot! Dort ist niemand mehr! Was ist, will da jemand nicht? Los jetzt, alle! Was stehen wir hier noch rum?!“
„Da sitzen noch drei im ersten Stock“, brummte der Ossete, der sich mir mittlerweile als Ansor vorgestellt hatte. „Die lassen noch nicht locker. Da war so ein eiserner MG-Schütze, der hat alle verblüfft. Den haben sie mit Raketenwaffen beschossen und sonst mit allem möglichen, und immer noch war er am Leben. Saß in diesem Zwischenraum zwischen Dach und erstem Stock … also, ja, auf dem Dachboden … Er hat, glaube ich, sogar Männer von der ALPHA runtergeschossen. Ein richtiger Profi, hat sich perfekt verteidigt. Und vom Nachbarhaus aus hat uns ein MP-Schütze nicht runtergelassen. Also die haben uns echt Probleme gemacht. Jetzt liegen sie unten. Ich hab sieben gesehen. Darunter einen Neger und einen Araber …“
Da donnerten ein paar heftige Explosionen.
„Ach, du Scheiße!“, rief Ansor und horchte auf. „Die schießen aus Panzern auf sie. Offenbar gibt es größere Probleme. Aber unsere Leute müssen ja rein, den Brand löschen. Einen der Rebellen haben sie halbtot rausgezerrt, er war verletzt, sie schleppten ihn auf die Dienststelle, ein Wunder, dass die Leute draußen ihn nicht zerfleischt haben, aber die haben sie abgewehrt. Ein anderer, heißt es, hat nicht überlebt. Ich finde auch, dass man die Leute abwimmeln muss, der soll ja der Gesellschaft noch wenigstens irgendeinen Nutzen bringen.“
„Alle einsteigen!“, hörte ich das Feuerwehrkommando.
„Dann muss ich wohl“, sagte Ansor. „Mal sehen, wie und was.“
Ich ging zum Kulturhaus, dem Arbeitsort der Journalisten während dieser Tage. Es war halb drei in der Nacht. Explosionen gab es keine mehr. Nach einer Stunde kamen nach und nach die Feuerwehrautos zurück. Die Feuerwehrmänner berichteten, von Erdgeschoss und Turnsaal sei nichts mehr übrig, und den ersten Stock hätten sie ohne Zwischenfälle gelöscht: Die Rebellen seien tatsächlich alle weg.
Ich stoppte ein Auto (damals hielten sie auch auf das Handzeichen von Passanten an). Wir fuhren aus Beslan raus und waren schon Richtung Wladikawkas abgebogen, als uns eine lange Wagenkolonne entgegenkam. Lautlos drehten sich die Blaulichter, alle nur erdenklichen Scheinwerfer strahlten. Die Kolonne fuhr sehr langsam, ja, schwebte an uns vorüber. Sie bestand aus mindestens 15 Fahrzeugen. Bei der Einsatzzentrale hielt die Kolonne an. Rundherum wurde sofort abgesperrt. Wir mussten schon los. Wie ich später erfuhr, saß in einem der Autos der russische Präsident, der mit dem Flugzeug aus Moskau in Beslan gelandet war.
Totengedenken
Früh am Morgen sah ich zu, wie das Gebiet rund um die Schule abgesichert wurde. Die äußerste Absperrung verlief an der Wand des Kulturhauses entlang. Nicht einmal in den ersten Tagen der Geiselnahme und während der Erstürmung hatte der Zaun so weit entfernt von der Schule gestanden. Die Osseten wussten nicht, was los war. Sie wollten zur Schule hingehen. Dort waren ihre Kinder. In ganz Beslan gab es, glaube ich, keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war. Sie wollten ihre Kinder sehen. Mir war klar: Eben darum lassen sie sie nicht rein.
Keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war
„Wissen Sie, was da vor sich geht?“, fragte mich eine Frau mittleren Alters und wies mit der Hand Richtung Schule. „Dort geht der Terror weiter, sonst hätten sie keine Absperrung aufgestellt.“
Sie und ihre Nachbarin konnten ihre Kinder nicht finden, die sechsjährige Madina Buchajewa, den 13-jährigen Soso Bigonaschwili und noch weitere – insgesamt sechs.
„Wir haben überall gesucht, in der Leichenschau, in den Krankenhäusern, haben alles genau geprüft …“, sagte die Frau müde. „Ich habe geweint, dann kam ein Soldat raus und fragte, wen ich verloren habe, wie sie heißen, und ich sagte, vielleicht sind sie gar nicht tot. Und er ging weg.“ „Agunda ist tot, Asa auch“, zählte die Frau tonlos auf, „was haben die uns nur angetan?“
An einer anderen Stelle der Absperrung kam noch eine Frau auf mich zu:
„Wissen Sie, was da im Keller los ist? Dort sitzen wieder Rebellen mit Geiseln“, sagte sie leise, „Gespräche sind im Gange, noch ohne Ergebnis. Sie wollen nicht verhandeln, stellen keine Forderungen. Dort sind unsere Kinder! Wir suchen sie überall, dabei sitzen sie da unten! Gott im Himmel, wann ist das endlich vorbei!“
Ich versuchte sie zu beruhigen und sagte, dort seien keine Rebellen mehr, und Geiseln könne es auch keine mehr geben, die Absperrung sei nur deshalb da, weil alles vermint sei. Sie hörte mir begierig zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich ihr glaubte anstatt mir selbst.
Ich umrundete fast die gesamte Absperrung. An einer Stelle traf ich auf Männer, die völlig aufgebracht waren. Ansor Margijew vermisste seine zwölfjährige Nichte Elvira.
„Sie war mit ihrer Mutter im Turnsaal, als bei einer Explosion der Boden einbrach“, erzählte er. „Ihre Mutter blieb unversehrt, aber die Kleine wurde so eingeklemmt, dass man sie nicht rausziehen konnte. Zumindest gelang es der Mutter nicht. Dann stürzte die Decke ein, sie packte einen anderen dreijährigen Jungen, einen fremden Jungen, also nicht fremd, natürlich, wir kennen uns ja alle, und rannte. Sehen Sie, dort sitzt Elviras Vater auf der Bank, den zweiten Tag infolge spricht er mit niemandem, alt ist er geworden. Und die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, ich finde sie, aber sie lassen uns nicht rein!“
Die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, aber sie lassen uns nicht rein!
Ich hielt einen Burschen auf und fragte ihn, wie ich so nah wie möglich an die Schule herankomme. Er zeigte es mir. Eigentlich war es einfach. Ein Hof, ein Zaun, ein Trampelpfad … Das nächste Hoftor führte direkt zum Haupteingang der Schule Nr. 1.
Ich hatte gute Sicht auf die Vorgänge im Hof. Auf Tragen schafften die Rettungskräfte schwarze Plastiksäcke aus dem Turnsaal hinaus und reihten sie auf dem Asphalt auf, dort, wo vor drei Tagen der Appell zum Schulbeginn hätte stattfinden sollen. Auf denselben Tragen wurden die Trümmer aus dem Turnsaal gebracht. Der Schutt kam nach links, die Säcke nach rechts. Es waren viele Einsatzkräfte, und sie waren schnell. Pro Minute trugen sie ungefähr fünf Leichen raus. Sie waren schon über eine Stunde am Werk. Machten nur ein paar Raucherpausen.
Am Eingang der Schule stand eine Kette aus ossetischen OMON-Milizen. Sie ließen niemanden hinein, außer die Ermittler der Staatsanwaltschaft und die Rettungskräfte.
Die Schmach des Staatsanwalts
Auf dem Platz vor dem Kulturhaus drängten sich Journalisten und Einwohner Beslans. Der Termin mit den Regierungsvertretern hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen.
„Was ist, seid ihr da, um von uns Fotos zu machen?“, riefen die Osseten den Journalisten zu, die tatsächlich waghalsig von oben, von der Freitreppe aus, fotografierten.
„Weg mit euren Kameras, oder wir schlagen sie kaputt, zum Teufel nochmal! Euretwegen sind die Rebellen durchgedreht! Weil ihr gemeldet habt, in der Schule seien 354 Leute!! Das waren doch mehr als tausend! Und dann hat’s geheißen, na gut, dann werden aus euch eben 354! Weg mit Euch!“
„Kommt denn keiner zu uns?“, sagte eine junge Ossetin leise. „Sind die noch bei Trost?“
In der Hand hielt sie ein Schulheft, darin ein großes Foto ihrer zehnjährigen Tochter.
Inzwischen war die Menge in Richtung Absperrung geschwappt. Eine Frau heulte auf, dann noch eine.
„Jetzt haben sie jemanden zertrampelt!“ stöhnte es entsetzt rund um mich auf.
Dicht an die Absperrung herangerückt, kam die Menge nicht vor und nicht zurück. Auf der Erde saß eine alte Ossetin, die Augen geschlossen, ihren Kopf umfasste sie mit den Händen. Sie stöhnte und wiegte sich hin und her. Ihr Gesicht war blass, ganz weiß, mit dicken Schweißtropfen.
„Drei ihrer Enkel sind in der Schule umgekommen“, sagten die Leute in der Menge. „Und einer ist verschwunden. Sie hat gewartet, dass man ihr sagt, wo er ist. Aber offenbar hat sie nicht mehr die Kraft, weiter zu warten.“
Zwei weitere Frauen heulten auf, man trug sie auf Händen aus dem Getümmel und setzte sie auf hölzerne Kisten.
Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder
Immer noch trat keiner von denen, auf die man wartete, aus dem Gebäude. Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder. In den vergangenen drei Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, auf diesem Platz auf Wunder zu hoffen. Und das Wunder geschah. Am Mittag des zweiten Tages erschien vor dem Kulturhaus der Staatsanwalt von Nordossetien Alexander Bigulow.
„Derzeit wird der Ort des Geschehens inspiziert“, sagte er. „Die Ermittlungen werden fortgesetzt.“
„Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“
Er tat, als hätte er nichts gehört.
„Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“
„Das Betreten des Schulgeländes ist untersagt. Die Listen der Toten und Verletzten werden fortlaufend aktualisiert. Das ist alles, was in meinem Kompetenzbereich liegt und was ich euch sagen kann.“
Er stieg von der Freitreppe herunter.
„Dreckskerl!“, schrien sie von unten, wurden aber nicht handgreiflich. „Meine Tochter ist verschwunden!“, rief eine Frau. „Wie soll ich sie finden? Wie sollen wir sie alle finden?!“ „Kommen Sie zu mir, um das zu besprechen“, antwortete er über die Schulter. „Und deine Nummer, du Drecksack?!“, sagte sie stöhnend zu seinem Rücken.
Der Staatsanwalt löste sich aus der Menge, sah sich um und fragte bekümmert einen seiner Gehilfen: „Haben Sie Wasser? Aber kaltes.“ „Kaltes glaube ich nicht“, antwortete der mit gedämpfter Stimme. „Schlecht“, der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, „stand da wie ein Vollidiot.“
Informationen nach oben
Ich kehrte über den bewährten Weg zur Schule zurück. Dort war bereits schwere Technik im Einsatz. Es waren jetzt immer mehr Leute im Hof. Ich sah, wie sich ein paar Menschen in Zivil auf den Eingang zu bewegten, schloss mich ihnen an (sie achteten gar nicht auf mich) und gelangte mühelos durch das Tor.
Ein Bagger schaufelte den Schutt beiseite, den man aus dem Turnsaal getragen hatte. Im Turnsaal selbst war es relativ sauber. Der Saal kam mir sehr klein vor, erstaunlich klein. Ich konnte nicht fassen, wie hier drei Tage lang mehr als tausend Menschen gewesen sein sollten.
Viele der Säcke schienen viel zu groß und federleicht
Der Gestank war schlicht unerträglich. Die Rettungskräfte arbeiteten bedächtig, räumten Aula und Speisesaal aus. Sie meinten, dass auch dort Menschen sein könnten. Wieder fuhr ein Kühlwagen in den Hof, der mit den Leichen beladen wurde, die immer noch auf dem Asphalt lagen. Viele der schwarzen Säcke schienen viel zu groß und federleicht. Darin waren die Leichen der Kinder.
Etwa 40 Meter entfernt lagen hinter einem kleinen Nebengebäude, Richtung Eisenbahnschienen, die Leichen der Rebellen auf dem Asphalt. Dorthin führten Beamte der Staatsanwaltschaft zwei Männer. Einer war dünn und klein, in auffallend sauberen Jeans und T-Shirt; der andere war groß und trug einen schmutzigen und zerrissenen Trainingsanzug. Ihre Köpfe waren mit Unterhemden umwickelt, mit Schlitzen für die Augen. Polizisten hielten diese Männer am Arm.
Die Beamten der Staatsanwaltschaft begannen mit der Identifizierung. Die Beiden brummelten aufgeregt vor sich hin und deuteten dabei auf die Leichen. Sie benahmen sich irgendwie seltsam, flüsterten ihre Aussagen den Beamten ins Ohr, als fürchteten sie, dass noch jemand sie hören könnte.
„Überlasst sie uns!“, ertönte ein durchdringender Schrei aus der Menge, die auf dem Bahndamm hinter der Absperrung stand. Die Leute hatten mitbekommen, was da passierte. Der Ermittler sah auf die Gefangenen und schüttelte den Kopf; mit Bedauern, wie mir schien.
„Gebt sie uns!“, schrie wieder jemand.
Da rief der Ermittler laut: „Kann ich nicht!“
Man brachte die Gefangenen weg.
Etwa zehn Meter weiter saßen ein paar Leute im Gras.
224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen
„Na, zählen wir mal“, sagte einer. „Wir müssen Informationen nach oben liefern. Ganz nach oben.“
„Na, und? Im Moment ist doch alles klar. 224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen.“ „Nein, 321. Aber dazu noch die Leichen, die im Spital liegen. Und 28 von diesen Scheißkerlen.“ „Nein, von den Scheißkerlen 26. Aber die zählen nicht. Rausgeworfen wurden aber 21, nicht 18, glaub ich.“ „Wie viele wurden aus dem Fenster geschmissen, findet das schnell raus! 18? Und bei den Rebellen, zählt ihr da die Weiber mit?“ „Klar, die auch.“ „Ok, das wär’s. Ruft oben an!“ „Aber wir wissen doch nicht, wie viele in den Krankenhäusern in der Leichenschau liegen.“ „Das geht ja uns nichts an. Los, ruf an!“
Totenwasser
Am nächsten Tag fanden in Beslan die ersten Begräbnisse statt. Am Nachmittag ging ich durch die Stadt, die mir wie ein Friedhof vorkam: So gut wie aus jedem Haus hörte man Schluchzen.
In der Schule war es sehr still. Schon seit gestern war der Zugang gestattet. In der Mitte des Turnsaals standen auf Stühlen Kerzen und geöffnete Zwei-Liter-Plastikflaschen mit Mineralwasser, fünf Flaschen. Ein paar Plastikbecher waren ebenfalls mit Wasser gefüllt. Daneben lagen Blumen und ein Stofftier, ein gelber Plüschelefant mit erhobenem Rüssel. Überall waren Blumen: auf den Fensterbrettern, in den Klassenzimmern, auf den Korridoren. Auf den Fensterbrettern lagen außerdem unzählige Damenschuhe und Kindersandalen. Es herrschte einfach Totenstille. Ängstlich vermieden die Leute jegliches Geräusch.
Die Leute hielten ihre Regenschirme über die Kerzen
Der beginnende Regen wurde schnell zum Wolkenbruch, und ich dachte, die Kerzen im Turnsaal, der ja kein Dach mehr hatte, würden jetzt gleich erlöschen. Aber die Leute schützten sie bereits mit Regenschirmen, die sie über die Stühle hielten.
Der Fitnessraum nebenan, der gewerbliche, von dem Ansor erzählt hatte, war erst recht winzig. Auf dem Boden lagen Gewichte, Hanteln und kaputte Geräte herum. In der Wand war, wie Ansor gesagt hatte, ein relativ kleines Loch. Ein Mensch konnte sich gerade durchzwängen. Die Wand war dick, fünf Ziegel.
Daneben waren die Toiletten. Der Wasserhahn lief. Der Boden in der Dusche war schon komplett überschwemmt. Ich hätte den Hahn zudrehen können. Aber ich dachte, dass das jeder an meiner Stelle hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Niemand wollte. Sie hatten den Wasserhahn aufgedreht und die Mineralwasserflaschen auf die Tische gestellt, beides aus dem gleichen Grund.
Sie gilt als eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes: Irina Prochorowa. Die Herausgeberin der angesehenen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift Nowoje literaturnoje Obosrenije (dt. „Neue literarische Rundschau“) ist eine gewichtige Stimme in der russischen Öffentlichkeit. Stärkeren politischen Einfluss gewann Prochorowa, als sie 2014 kurzzeitig die Leitung der Partei ihres Bruders übernahm – der Milliardär Michail Prochorow hatte mit der liberalen Bürgerplattform eine Zeit lang politische Ambitionen signalisiert. Prochorowas Austritt nur wenige Monate nach der Angliederung der Krim erscheint dabei symptomatisch für den Zustand der russischen Gesellschaft.
So spricht Prochorowa in diesem Interview mit dem Webmagazin Meduza darüber, warum die Angliederung der Krim einen Keil zwischen die Menschen getrieben habe, weshalb politisches Engagement derzeit fast unmöglich sei – und wie ein Donald Trump in Populisten à la Shirinowski einen russischen Vorläufer hatte.
Das Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung von Meduza in deutscher Übersetzung veröffentlichen, führte Ilja Scheguljow mit Irina Prochorowa in London.
Ilja Scheguljow: Man hat den Eindruck, dass die Spaltung der Gesellschaft in letzter Zeit, also seit der Krim, vollkommen unüberwindlich geworden ist. Empfinden Sie das auch so? Was genau ist da kaputtgegangen?
Irina Prochorowa: Versuche, die Gesellschaft in zwei feindliche Lager zu spalten, hat es auch vor der Krim schon mehr als einmal gegeben – die Diskreditierung der 1990er, der Angriff auf den demokratischen Wandel, die Verbreitung einer Nostalgie nach dem Sowjet-Imperium, die Militarisierung des allgemeinen Bewusstseins. Die Krim war die letzte Herausforderung. Und diese konnte die Gesellschaft nicht mehr meistern. Obwohl sie der krampfhaften Mobilisierung bemerkenswert lange standgehalten hat.
Was gerade passiert, ist eine Rückkehr zur totalitären Tradition einer staatlichen Lenkung. Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein Element davon – die endlose Suche nach inneren Feinden.
Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor
Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass in der Sowjetunion die ganze Identitätskonstruktion auf der Loyalität oder der Illoyalität zur Regierung beruhte. Es war ein Modell, bei dem der Staat den Platz der Heimat für sich beanspruchte: Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor.
Hinzu kommt, dass die Spaltung die Gesellschaft in zwei ungleiche Teile teilt. Spüren Sie, dass Sie sich in der Minderheit befinden?
Da sehen Sie mal, wie leicht wir uns auf das sowjetische Spiel der Bolschewiki-Menschewiki eingelassen haben. Es gibt keine absolute Mehrheit oder Minderheit, und es hat sie auch nie gegeben: Ein Mensch kann sich in der einen sozialen Frage in der Mehrheit befinden und in einer anderen wiederum in der Minderheit.
Die Tatsache, dass man die Gegner der Krim-Annexion in der offiziellen Presse als Ausgestoßene darstellt, bedeutet noch gar nichts. Zum einen wissen wir aufgrund der fehlenden Pressefreiheit weder wie hoch der tatsächliche Prozentanteil der kritisch eingestellten Menschen ist noch mit welcher Dynamik sich die öffentliche Meinung in Anbetracht der Krise und der Gegensanktionen verändert.
Und zum anderen: Sogar wenn die offiziellen Zahlen stimmen und die Zahl der Gegner der Krim-Kampagne tatsächlich bei 15 Prozent liegt, dann ist das immer noch jeder siebte Bürger. Nicht übel für Ausgestoßene!
‚Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt‘ – solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken
Diese Logik darf nicht aufgehen, andernfalls treiben wir uns selbst ins Ghetto. Ich empöre mich zum Beispiel jedes Mal darüber, wenn jemand von meinen Freunden oder Kollegen bei einem Treffen spottet: „Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt.“ Solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken!
Noch nicht einmal im Scherz?
Verzeihen Sie, aber ein Scherz ist ein Mittel zur Verfestigung eines Wertesystems. Wenn Sie beginnen, auf diese Art zu scherzen, heißt es, dass Sie diese Logik anerkennen.
Wir sind alles andere als ein Randphänomen. Wir sind die Avantgarde der Gesellschaft. Tatsächlich ist es die Regierung, die sich auf marginale, radikale Gruppen stützt – pseudo-orthodoxe Aktivisten, Pseudo-Kosaken und so weiter. Ihnen erlaubt sie, zu wüten und erklärt sie zur „Stimme des Volkes“.
Nichtsdestotrotz ist sogar die Bürgerplattforman der Krim-Frage zerbrochen. Und Sie selbst sind wegen der offiziellen Haltung der Partei aus ihr ausgetreten.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien. Weil in der Bürgerplattform die Meinungen dazu auseinandergingen, haben Michail [Michail Prochorow: Bruder von Irina Prochorowa und Gründer der Partei – Anm. d. Red. Meduza] und ich ein internes Referendum vorgeschlagen. Bei der Auszählung hat sich herausgestellt, dass der Großteil der Parteimitglieder die Angliederung der Krim unterstützt.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien
Ich fand, mir blieb keine andere Möglichkeit, als die Partei zu verlassen, denn meiner Ansicht nach widerspricht das im Kern ihren ursprünglichen Grundlinien.
Was da passiert ist, ist sehr traurig. Aber es zeugt auch davon, dass unser Parteiaufbau noch sehr fragil ist. Leider ist das politische Feld derzeit überhaupt so eingeengt, dass mir jegliche Partei-Experimente beinahe unmöglich erscheinen. Dennoch war es eine sehr wertvolle Erfahrung.
Aber Sie haben doch ernsthaft Politik betrieben. Hatte das überhaupt einen Sinn? Es gibt doch auch die Lesart, dass die Proteste von 2011 und 2012 zu einer Verschlechterung der Situation und zu zunehmenden Repressionen geführt hätten.
Wissen Sie, das ist genau die Situation, wenn jemand versucht, einem anderen den schwarzen Peter zuzuschieben. Ich bin der Meinung, dass all dieses Gerede von wegen „Man hätte das mit den Kundgebungen lieber lassen sollen“ im Kern falsch ist. Schließlich haben wir unsere Bürgerrechte verteidigt – die Möglichkeit, unsere Meinung mit friedlichen Demonstrationen kundzutun. So steht es in der Verfassung. Wir haben also keinerlei Schuld auf uns geladen, geschweige denn ein Verbrechen begangen.
Wir haben lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert
Es wäre naiv zu denken, dass, wenn wir nur stillsitzen und den Schwanz einziehen würden, alles ganz wunderbar wäre … Außerdem haben wir lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert.
Finden Sie, dass es im Augenblick überhaupt sinnvoll ist, sich in Russland politisch zu betätigen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass ein vollwertiges politisches Leben derzeit objektiv betrachtet nicht möglich ist. Aber ich habe aufrichtigen Respekt vor den Menschen, die bereit sind, auf diesem Feld aktiv weiterzuarbeiten.
Das Problem der demokratischen Parteien in Russland besteht meiner Meinung nach nicht nur darin, dass sie einer Hetze durch das politische Establishment ausgesetzt sind, sondern auch in der Krise der politischen Sprache und der politischen Vorstellungskraft an sich. Die Protestbewegung, die 2011/12 an Fahrt aufnahm, scheiterte doch vor allem daran, dass sie keine strategische Agenda parat hatte. Abgesehen von der Losung „Für faire Wahlen“ hatte man der Bevölkerung, die sich nach Veränderungen sehnte, im Grunde nichts anzubieten.
Die Erfahrung der Protestbewegung hat geholfen zu verstehen, dass das sozial-politische Erbe, das uns die sowjetische Nachkriegsgesellschaft hinterlassen hat, in vielerlei Hinsicht verbraucht und entwertet ist, und nur teilweise verinnerlicht wurde.
Abgesehen von der Losung ‚Für faire Wahlen‘ hatte man der Bevölkerung nichts anzubieten
Die poststalinistischen Jahrzehnte waren eine ausgesprochen wichtige Zeit für die innere Demokratisierung der Gesellschaft. Durch intensive intellektuelle Arbeit konnte eine ganze Reihe sehr wichtiger Prinzipien formuliert werden: die Notwendigkeit eines menschenwürdigeren Lebensumfeldes, das Streben nach Bürgerrechten und -freiheiten.
Meistens drückte sich das neue Wertesystem jedoch nicht in politischen Forderungen aus, sondern in der Alltagssprache: Man wollte ein Recht auf freien Zugang zur internationalen Pop-Kultur, träumte vom höheren Lebensstandard („wie im Westen“), forderte die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und Zusatzverdienste zu haben und so weiter.
Das waren aber keine „bourgeoisen Überbleibsel“, und auch kein „Niedergang der Kultur“ oder ein „Kniefall vor dem Westen“, wie die offizielle sowjetische Presse diese Entwicklung der allgemeinen Einstellung darstellte. Es war die Transformation einer Gesellschaft, die größere Mobilität und bessere Lebensqualität wollte.
Im Prinzip hat sich dieser Lebensstil, mit der bekannten Einschränkung, auch durchgesetzt. Natürlich nur, wenn unsere Regierung es nicht fertig bringt, dass wieder ein eiserner Vorhang entsteht.
Welche Lehre aus der Erfahrung der Vergangenheit haben wir am wenigsten in unser Denken integriert?
Am allerwenigsten wurde das Erbe der sowjetischen Bürgerrechtler verstanden und angenommen. Sie hatten die Achtung des Gesetzes als den wichtigsten gesellschaftlichen Wert und als persönliche Tugend proklamiert. Wie die Ereignisse der vergangenen Jahre beweisen, sind sich die wenigsten Menschen dessen bewusst, wie wichtig es ist, persönliche und berufliche Freiheiten zu verteidigen. Und das hat traurige Konsequenzen. Wir sehen keine Proteste gegen die Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen. Aber nicht, weil unsere Gesellschaft Tyrannei so gern mag, sondern weil sie das Prinzip der Herrschaft des Gesetzes nicht als eine nationale Idee begreift.
Die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht klar. Deswegen war es auch so leicht, das alles zu diskreditieren
In Sowjetrussland war ein offenes politisches Leben unmöglich, weil alle sozialen Fragen woanders verhandelt wurden, hauptsächlich in der Kultur. Das kulturelle Kapital, das die Nachkriegsgesellschaft angesammelt hatte, spielte eine immense Rolle bei der rhetorischen Legitimation der Perestroika. Doch es war überwiegend eine künstlerische und keine politische Metaphorik im eigentlichen Sinn.
Zaghafte Versuche einer neuen politischen Sprache tauchten in der Publizistik während der Perestroika auf – erinnern Sie sich noch beispielsweise an „das kommando-administrative System“? Doch dann ist die Sowjetunion auch schon zusammengebrochen, und die westeuropäische Rhetorik musste unverzüglich importiert werden.
Ich fürchte, genau das war die Achillesferse der demokratischen Bewegung. Denn die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht sehr klar. Sie verfügte über keine lange Tradition der Aneignung solcher Begriffe. Mir scheint, dass es deswegen auch so leicht war, das alles zu diskreditieren.
Und doch scheint die Sprache, in der die Regierung jetzt mit den Menschen kommuniziert, zu funktionieren.
Leider ist es immer einfacher, Menschen zu manipulieren, denn für gewöhnlich appelliert man dabei nur an die niedersten Gefühle. Beispielsweise wenn man Menschen durch nationale oder konfessionelle Zugehörigkeit aufwiegelt. Das sind altbewährte Verfahren von unlauteren Politikern aller Völker und Zeiten.
Aber sie sind effektiv.
Der Effekt hält nicht lange an, für gewöhnlich zieht er traurige Konsequenzen nach sich. Es ist immer schwerer, an das Gute im Menschen zu appellieren, aber die Erfahrung lehrt uns, dass auch das möglich ist.
Die Regierung jongliert mit Fetzen der offiziellen Sowjetrhetorik, die dem Großteil der Bevölkerung gut zugänglich und vertraut ist, und zwar nicht nur der älteren Generation. Denn auch nach 25 Jahren postsowjetischen Lebens sind die sowjetischen Propagandafilme nicht von den Fernsehbildschirmen verschwunden. Es werden immerzu visuelle Muster aus der Sowjetzeit reproduziert.
Wir brauchen dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Außerdem hat man in vielen Regionen noch Mitte der 2000er Jahre Studenten nach sowjetischen Lehrbüchern unterrichtet, weil es in den Bibliotheken keine neuen gab.
Da die demokratische Rhetorik der 1990er kompromittiert wurde, brauchen wir dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Man kann die Luft zwar mit Ausrufen über Demokratie erschüttern, aber der Begriff hat keine Bedeutung. Bei uns nennt sich die Partei von Shirinowski „liberal-demokratisch“. Übrigens können wir gerade eine große Zahl von Politikern im Ausland beobachten, die Shirinowskis Beispiel folgen.
Was denken Sie eigentlich darüber? Wie lassen sich die populistischen Tendenzen in Europa und Amerika erklären?
Ich denke, Russland erfüllt im gegebenen Fall seine traditionelle Rolle als Trendsetter bei sozialen Erschütterungen. Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils.
Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils
Die Krise der repräsentativen Demokratie tritt in Russland, als einem Land mit einer radikalen Kultur, deutlich zutage. Sie ereignet sich aber im Grunde genommen in der ganzen Welt. Es ist dieselbe Entwertung der gewohnten Begriffe, dasselbe intellektuelle Vakuum, das sich schamlose Gauner zunutze machen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie man 1990 auf die Auftritte von Shirinowski reagiert hat: Er sagte fürchterliche Dinge, beleidigte und erniedrigte seine Gegner, schlug Frauen, und viele lachten und applaudierten diesem Volksspektakel, dieser Possenreißerei der übelsten Sorte.
Nun beobachten wir Phänomene wie Trump oder Boris Johnson. Ich fürchte, in naher Zukunft wird es immer mehr solche Beispiele geben.
Und was passiert dann?
Es ist eine sehr gefährliche Situation. Sie erinnert stark an die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wir sehen, wie die Faszination an Gewalt und totalitären Ideen wiedererwacht. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man das System der demokratischen Werte fundamental überdenken und wenn nötig ein Upgrade vornehmen.
Man muss eine neue Metaphorik erarbeiten, die für alle Gesellschaftsschichten zugänglich und attraktiv ist. Das ist für die Behauptung einer demokratischen Lebensform unerlässlich. In dieser Hinsicht sitzen sowohl die USA als auch Europa und Russland in einem Boot. Wir alle stehen vor diesem globalen Problem.
In den 1930er Jahren konnte kein intellektuelles Gegengift für den Totalitarismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gefunden werden. Allein die kriegerische Niederlage des Faschismus hat die westeuropäische Gesellschaft zeitweilig von den Ideen der Gewalt als Mittel der Staatsführung weggeführt. Doch eingedenk der historischen Erfahrung müssen wir ein Gegengift finden. Ich denke, uns allen stehen einige Jahre harter Arbeit bevor.
Glauben Sie, dass diese Arbeit in Russland Erfolg haben kann?
Warum nicht? Brauchen unsere Leute etwa keine Empathie, kein Mitleid und keinen Respekt – jene Dinge, an denen es uns tatsächlich so schmerzlich mangelt, auch in den Kreisen, in denen wir beide uns bewegen?
Die russische Gesellschaft ist von oben bis unten brutal und ungeduldig. Die Verachtung gegenüber Menschen, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht verstehen, sitzt bei uns tief. Wir haben weder den Wunsch noch die Geduld noch die Sanftmut, Menschen so anzuerkennen, wie sie sind, in all ihrer Unvollkommenheit. Wir träumen genau wie unsere Regierung von einem utopisch-perfekten, „richtigen“ Volk.
Darin liegt übrigens ein Grund für den unendlichen Kreislauf der Gewalt. Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an!
Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an
Der liberale Philosoph Isaiah Berlin gab seinerzeit eine fabelhafte Bestimmung des Menschen: „Die Menschheit ist ein krummes Holz.“ Der Wunsch, sie im Handumdrehen zu behobeln und gerade zu biegen, führt unweigerlich zu Gewalt und zur Katastrophe.
Wenn wir über die Quintessenz der demokratischen Weltsicht nachdenken, sehen wir, dass sie auf einer unausgesprochenen Anerkennung der menschlichen Unvollkommenheit beruht und auf der Suche nach Wegen, die Folgen dieser Unvollkommenheit zu minimieren. Daraus erwächst die Vorrangstellung der Bildung und Aufklärung sowie das ungewöhnlich ausgeprägte Mäzenentum und Ehrenamt, weil sie jeder Form von Willkür und Gewalt, staatlicher wie privater, einen Riegel vorschieben.
Neulich sind Sie in London im Klub Offenes Russlandaufgetreten. Man sagt, die Eintrittskarten seien innerhalb einer halben Stunde ausverkauft gewesen. Es gibt dort ein riesiges Publikum von Menschen, die aus Russland emigriert sind. Es sieht also so aus, als würden die Intellektuellen derzeit das Land verlassen …
… was sehr traurig ist, und zudem einen furchtbaren Verlust für das Land bedeutet. Es herrschen unvorteilhafte Bedingungen für Künstler und Intellektuelle, die es gewohnt sind, in einem freien Land zu leben. Es ist bedauernswert, dass unsere Staatsmänner die Tragweite dieses Problems nicht begreifen.
Das nicht totzukriegende Erbe der autoritären Führung ist nicht zu übersehen – der naive Glaube, man könne mit einem Parteibeschluss oder einem Anruf aus dem Kreml alles, was man will, heranzüchten. Ganz gleich, ob eine neue Bildungsschicht oder eine gigantische Rübe. Aber leider gibt es das nur im Märchen. In der Realität entstehen nach diesem Prinzip nur Frankensteins und Disteln.
Stalins These von der Austauschbarkeit eines jeden Menschen hat das Land zu einem enormen Rückschritt in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt. Und wir haben daraus nichts gelernt und begehen denselben Fehler wieder.
Doping-Sperre für russische Sportler bei den Paralympics: Der Internationale Sportgerichtshof CAS hat alle russischen Sportler von der Teilnahme an den Paralympics ausgeschlossen. Damit hat der CAS die Entscheidung des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) bestätigt. Dies hatte die Sperre mit den Untersuchungen der Welt-Antidoping-Agentur WADA begründet, die im sogenannten McLaren-Report systematisches Staatsdoping in Russland nachweist.
Anders als bei Olympia, wo das IOC einzelne russische Sportler zuließ, werden somit bei den Paralympics keine russischen Athleten antreten.
In der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta kritisiert Ilja Triswjatski den Bann der russischen Sportler von den Paralympics – und sieht dahinter keine sportliche, sondern eine politische Entscheidung:
[bilingbox]Abgesehen davon, dass das Internationale Paralympische Komitee (IPC) organisatorisch und formal unabhängig ist vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC), ist die Art und Weise, wie der russische Sport geballt attackiert wird, wie eine Blaupause gestrickt: Absolut saubere, integre Athleten, die niemals gegen irgendwelche Dopingregeln verstoßen haben, müssen die Kollektivschuld auf sich nehmen für die, gegen die es mehrfach Beschwerden gab.
Plus: Sportlern mit sowieso eingeschränkten Möglichkeiten wird das Recht abgesprochen, bei den Paralympics anzutreten – einzig auf Grundlage der im McLaren-Report zusammengetragenen Fakten, die nie juristisch bestätigt wurden. […]
Die, die zur Attacke auf das sportliche Russland bliesen, haben so ihr Ziel erreicht. Da sie unser Land nicht von Olympia verbannen konnten, lassen sie das jetzt an denjenigen Leuten aus, die sich durch eigene Anstrengung, über lange Wege und durch das Aufbieten unglaublicher Kräfte einen Lebenstraum erfüllen wollten. Der wird ihnen zerstört aus einer Laune von Funktionären heraus, die Politik über die sportliche und menschliche Ehre stellen.~~~Несмотря на то что IPC является независимой организацией и формально никакого отношения к Международному олимпийскому комитету (МОК) не имеет, схема массированной атаки на российский спорт содрана словно под копирку. Абсолютно чистые, ничем не запятнанные, никогда не нарушавшие антидопинговые правила атлеты вынуждены нести коллективную ответственность за тех, к кому в разное время имелись претензии. Плюс спортсмены, теперь уже с ограниченными возможностями, лишаются прав выступить на главном старте четырехлетия лишь на основании изложенных в докладе Макларена фактов, не находящих никакого юридического подтверждения. […]
Те, кто предпринял атаку на спортивную Россию, все-таки добились своего. Не сумев лишить нашу страну Олимпиады, они отыгрались на людях, которые своим трудом, долгой дорогой боли и невероятных усилий шли к мечте всей жизни и были лишены ее по прихоти чиновников, которым политика оказалась дороже спортивной и человеческой чести.[/bilingbox]
Echo Moskwy: Schaltet euren Verstand ein!
Nikolaj Jaremenko, Chefredakteur des Sport-Hörfunksenders komanda.com, findet auf seinem Blog auf Echo Moskwy, es wurde nun genug gejammert – nicht alles sollte immer nur unter dem Aspekt der Politik betrachtet werden:
[bilingbox]Ein Land, das ständig damit beschäftigt ist, nach Feinden zu suchen, hat aufgehört, nachzudenken. […] Unsere Leichtathleten werden nicht zugelassen: „Fass die bösen Angelsachsen, die eine politische Kampagne führen gegen Russland und seine Sportler!“ Na, welche Kampagne erwartet uns da noch, wenn wir alles nur unter dem Aspekt und durch das Prisma der Politik betrachten? […]
Aber Olympia ist nun schon vorbei. Russen haben daran teilgenommen. Und das war eine gemeinsame Entscheidung Russlands und des IOCs. Und eine derartige Entscheidung verlangt nach einem Kompromiss, nach einem Handel. Und bei diesen Verhandlungen mussten irgendwelche Opfer gebracht werden. Unter den Opfern sehe ich außer den Paralympioniken niemanden. Daraus folgt, die Paralympioniken wurden verraten. Russland hat sie verraten.
Deswegen möchte ich nicht in den Chor derer miteinstimmen, die jetzt einen neuen Kampfgesang anstimmen und erneut ausrufen: „Fass!“. Täuscht euch nicht. Schaltet euren Verstand ein.~~~Страна, озабоченная постоянно поисками врага, уже не думает. […] Не допускают наших легкоатлетов – «ату» злобных англо-саксов, развязавших против России и её спортсменов политическую кампанию. Ну, а какая ещё кампания нам привидится, если мы сами всё рассматриваем только в политической плоскости, только через призму политики? […]
Но Олимпиада уже прошла. Россияне выступили. И это было совместное – МОК и России – решение. А любое подобное решение предполагает компромисс, торговлю. И вот на этих торгах надо было чем-то жертвовать. В списке жертв, кроме паралимпийцев, я никого не вижу. Выходит, паралимпийцев сдали сами. Сдала Россия.
Поэтому я не хочу участвовать в хоре тех, кто будет теперь поднимать новый вой и запускать новое «ату!» Не ведитесь. Будьте думающими людьми.[/bilingbox]
Komsomolskaja Prawda: Ein Schock!
Jewgeni Nesyn, Redakteur des Boulevardblatts Komsomolskaja Prawda, sieht in der Sperre allgemeine Russophobie am Werk:
[bilingbox]Die Entscheidung über Russlands Paralympioniken ist ein Schock. Sie ist die direkte Folge des Berichts, den die Welt-Antidoping-Agentur WADA unter Leitung von Richard McLaren am 18. Juli veröffentlicht hatte. Indes, wenn auch die „Wohlwollenden“ der westlichen Seite beschwören mögen, dass dieses Dokument Grundlage für den Kampf gegen Dopingverwendung bei Sportlern aller Länder sei – es hat einen gänzlich anderen Trend hervorgerufen: das Bestreben, überhaupt alle russischen Athleten von der internationalen Sportarena zu verbannen. Und zwar alle ohne Ausnahme, unabhängig vom Ausmaß ihrer Schuld, ungeachtet ihrer bisherigen Verdienste: Wenn du aus Russland bist, dann bist du nicht würdig, auf einer Stufe mit „sauberen“ Sportlern anzutreten. […] Was ist hier los? Wofür? Dafür, dass es Russen sind! ~~~Решение по Паралимпийцам России – шок. Оно — прямое следствие публикации 18 июля доклада комиссии WADA под началом Ричарда Макларена. Однако как бы ни божились «доброжелатели» с западной стороны, что этот документ является основой для борьбы с употреблением допинга спортсменами всех стран, он породил совершенно другой тренд – стремление изгнать вообще всех российских атлетов с международной спортивной арены. Причем, всех без исключения – вне зависимости от степени их вины, невзирая на их прошлые заслуги: если ты из России, то недостоин выступать наравне с «чистыми» спортсменами. […]
Да что же это такое творится? За что?
Да потому что русские![/bilingbox]
Izvestia: Das ist Faschismus
Der Politikwissenschaftler Alexej Martynow geht in der kremlnahen Tageszeitung Izvestiamit den westlichen Sportfunktionären ins Gericht: Sie handelten aus Neid und Rache. Dabei scheut Martynow keine harten Vergleiche:
[bilingbox]Die westliche Gesellschaft schmeichelt sich selbst, wenn sie der westlichen Demokratie solche Errungenschaften zuschreibt wie Toleranz, Pluralismus, Fürsorge für Alte und Menschen mit Handicap. […]
Ungeachtet dessen, dass ein Drittel unseres Olympiateams vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde, belegte Russland den vierten Platz im Medaillenspiegel und ging faktisch als Sieger aus dieser übelriechenden „Meldonium-Spezialoperation“ hervor. Allem Anschein nach sind die westlichen Sportfunktionäre angesichts dessen in Raserei verfallen. Dieselben Bürokraten zahlen es uns nun heim: nach demselben Schema und auf dem Rücken russischer Paralympioniken.
Die Rechnung auf Kosten Behinderter zu begleichen – das ist Faschismus, der nach 70 Jahren wieder den Kopf erhebt in Europa.~~~Западное общество льстит себе, записывая в число достижений западной демократии такие явления, как толерантность, плюрализм, забота о стариках и людях с ограниченными возможностями. […]
Судя по всему, западные спортивные функционеры пришли в бешенство от результатов Олимпийских игр в Рио, где, несмотря на отстранение трети нашей сборной от соревнований, Россия заняла 4-е место в медальном зачете и фактически вышла победителем из этой дурно пахнущей «мельдониевой спецоперации». Теперь по той же схеме эти же стряпчие от международных спортивных организаций решили отыграться на российских паралимпийцах.
Сводить счеты с инвалидами — это фашизм, который вновь поднимает голову в Европе 70 лет спустя.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Die Funktionäre kommen davon
Wladimir Mosgowoj von der unabhängigen Novaya Gazeta sieht die Schuld an dem Debakel eindeutig bei den zuständigen Funktionären. Nur würden die nun zu Opfern gemacht:
[bilingbox][IPC-Präsident] Philip Craven und seine Mitstreiter, die von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugt sind, hoffen, die russischen Funktionäre zu besseren Sitten zu bekehren. Aber das sind die besten Absichten, die in die falsche Richtung führen. In erster Linie zerstören sie den Traum von Menschen, die in sich die Kraft entdeckten, sich sowohl über die Trägheit des Umfelds als auch über eigene Gebrechen zu erheben.
Nicht unwichtig ist auch, dass die Isolation von behinderten Sportlern nur die Konfrontation mit dem Westen verschärfen wird, die in der russischen Gesellschaft ohnehin mehr als genug anzutreffen ist. So werden die Funktionäre jetzt von den Schuldigen an der Katastrophe beinahe zu Opfern, obwohl nicht sie bestraft werden, sondern die Sportler.~~~[…]Филипп Крэйвен и его соратники, уверенные в правильности решения, очевидно, надеются на исправление нравов российских чиновников. Но это благие намерения, ведущие совсем не в ту сторону. Они в первую очередь убивают мечту людей, ощутивших в себе силы подняться и над косностью среды, и над своим недугом. Немаловажно и то, что изоляция российских спортсменов-инвалидов только усилит конфронтацию с Западом, которой и без того в российском социуме сейчас предостаточно. Теперь чиновники из реальных виновников катастрофы превращаются едва ли не в жертв, хотя наказаны не они, а спортсмены.[/bilingbox]