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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schläge als Privatsache?

    Schläge als Privatsache?

    „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ So könnte man ein viel zitiertes russisches Sprichwort übersetzen. Jetzt soll eine Gesetzesnovelle dafür sorgen, dass häusliche Gewalt weniger hart bestraft wird. Demnach sollen gemeldete Erstfälle als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn das Opfer keine ernsthaften gesundheitlichen Schäden erlitten hat. Nur, wer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal gewalttätig wird, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. Geplant ist dann etwa eine Höchststrafe von bis zu drei Monaten Haft. Derzeit liegt sie bei zwei Jahren.

    In erster Lesung hat die Duma das Gesetz bereits durchgewunken, am 25. Januar folgt die zweite. Kritiker bemerkten ironisch, jetzt sei es nach Logik der Abgeordneten in Ordnung, seine Frau ein Mal im Jahr zu schlagen, nur zwei Mal ginge nicht.

    Ljubow Borussjak, Soziologin an der Moskauer Higher School of Economics, beschreibt auf Republic die Hintergründe der Gesetzesänderung und fragt danach, was die Befürworter bewegt. Mit der Verteidigung „traditioneller Werte“ allein ist der Zuspruch ihrer Meinung nach nicht zu erklären. Man müsse stattdessen auch danach fragen, wie Gewalt allgemein assoziiert werde – und inwiefern die Angst vor einem willkürlichen Staat den Gesetzesbefürwortern in die Hände spiele. 


    Update: Anfang Februar unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, nachdem die Duma die Novelle am 27. Januar 2017 in dritter und letzter Lesung angenommen hatte. 380 Abgeordnete stimmten dafür, drei dagegen.

    Nur hin und wieder rückt das Problem der familiären, häuslichen, ehelichen Gewalt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dann flacht das Interesse wieder ab bis zum nächsten Anlass für eine Berichterstattung. Diese Anlässe sind für gewöhnlich irgendwelche krassen Fälle. Im vergangenen Sommer haben sich zehntausende Frauen in Russland und anderswo am Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать [dt. #IchhabkeineAngsteszusagen] beteiligt und markerschütternde Geschichten von Gewalt erzählt, die ihnen widerfahren ist.

    Im November sorgte der Fall einer jungen Frau aus dem Gebiet Orjol für Entrüstung. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Partner sie bedrohte. Die Antwort, die sie am Telefon bekam, war schockierend: „Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!“ Die junge Frau wurde tatsächlich getötet.

    Geschichten wie diese passieren dutzend-, wenn nicht hundertfach. Jetzt redet man über das Thema, weil ein Gesetzentwurf – vorerst in erster Lesung – angenommen wurde, der Gewalt in der Familie entkriminalisieren soll.

    Eine offizielle Statistik gibt es nicht

    Dass häusliche Gewalt in Russland enorm weit verbreitet ist, da sind sich viele sicher. Jedoch existiert keine offizielle Statistik. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gibt, die explizit häusliche Gewalt unter Strafe stellen. Und selbst wenn es sie gäbe, würden sie nichts über das Ausmaß sagen: Kinder erzählen so gut wie nie, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden, Frauen zeigen ihre Männer äußerst selten bei der Polizei an, und wenn sie es tun, ziehen sie die Anzeige häufig wieder zurück.

    Aufgrund fehlender offizieller Daten berufen wir uns auf die stichprobenartige Untersuchung Gewalt gegen Frauen in Russland: Demnach hat jede fünfte Frau körperliche Gewalt durch den Ehemann oder Liebhaber erlebt, jede zwanzigste wurde gewaltsam zu sexuellem Kontakt gezwungen. Drei Viertel der betroffenen Frauen haben jemandem von der Gewalt, die sie durchgemacht haben, erzählt (fast alle nur Verwandten und Freunden), zur Polizei gingen nur zehn Prozent. Ein Viertel der Frauen hat es für sich behalten.

    Stark ist der, vor dem man Angst hat

    Es ist nicht auszuschließen, dass selbst diese Zahlen untertrieben sind, denn Frauen, denen Gewalt widerfährt, empfinden Scham. Sehr oft, manchmal sogar im Todesfall, wird das Opfer nach der Tat öffentlich diffamiert: „Hat ihn bestimmt gereizt, bis ihm der Kragen geplatzt ist.“

    So seltsam es klingt, aber ganz abgesehen davon existiert bis heute die Vorstellung, Gewalt sei – solange sie nicht lebensbedrohlich ist – zwar unschön, aber normal. Für einen erheblichen Teil der Gesellschaft stellen Stärke und das Recht, sie anzuwenden, einen grundlegenden Wert dar. Das zeigen deutlich die Ergebnisse einer unlängst (im Dezember 2016) von der Stiftung Öffentliche Meinung durchgeführten Umfrage. Demnach beurteilen 86 Prozent der Russen ihr Land als frei und wohlhabend, sie schreiben ihm eine Vormachtstellung zu, vor der sich die Welt fürchtet. Dass man vor Russland Angst hat, wird als entschieden positiv empfunden. Ganz offenbar ist das eine Projektion auch der Verhältnisse innerhalb der Familie. Angst bedeutet Respekt; stark ist der, vor dem man Angst hat. Viele derjenigen, die gegen Gewalt in der Familie kämpfen und für die Schwachen einstehen, fallen heutzutage unter das Agentengesetz, verlieren ihre Finanzierung oder müssen gar ihre Arbeit einstellen, was als völlig gesetzmäßig erscheint. Das betrifft so etablierte NGOs wie das Frauen- und Kinderhilfszentrum Anna, das Hilfszentrum für Opfer sexueller Gewalt Sjostry [dt. Schwestern], das sich mit Crowdfunding über Wasser zu halten versucht, aber auch viele andere.

    Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen

    Obwohl die „Erziehung“ von Frauen mit Hilfe von Schlägen eine weit verbreitete Praxis ist, wird sie von der Gesellschaft doch verurteilt. Allerdings erfreut sich das Recht auf körperliche Bestrafung innerhalb der Kindererziehung vieler Befürworter. Leichte Schläge (ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, versteht sich) gelten als traditionell, üblich und bewährtes Mittel der Disziplinierung. Einerseits sind wir ein europäisches Land und befinden uns mehr und mehr auf dem Weg zur Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der familiären. Andererseits ist die außenpolitische Rhetorik Russlands seit einigen Jahren auf eine Konfrontation mit dem Westen gerichtet, und damit gegen viele der Werte, die diesem zugeschrieben werden. Dem in seinen Sünden versinkenden Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen. Mit diesen Werten wird die „normale“ Familie proklamiert, „normale“ Beziehungen zwischen Eltern und Kind, in die sich niemand einzumischen hat.

    Im Konzeptentwurf zur staatlichen Familienpolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 wird „Eltern in Bezug auf die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten Gewissenhaftigkeit unterstellt“. Was im Klartext heißen soll, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes handeln. Das ist einerseits gut, denn gesunde soziale Institutionen bedürfen keiner Einmischung von Außen. Andererseits sind damit die schwachen Familienmitglieder den stärkeren schutzlos ausgeliefert.

    Auf dem Recht des Stärkeren beharren auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und verschiedener anderer Organisationen, die sich als orthodox ansehen. So äußerte die Patriarchenkommission zu Fragen der Familie und des Schutzes von Mutterschaft und Kindheit im vergangenen Sommer ihre „tiefe Besorgnis“ über die Verabschiedung einer Neufassung des Artikels 116 („Schläge“). Nach Ansicht des Patriarchats könnte die Änderung dazu führen, dass nun gewissenhafte Eltern strafrechtlich verfolgt würden, die ihre Kinder „in Maßen und sinnvoll“ bestrafen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche vertritt die Auffassung, dass körperliche Bestrafung von Kindern ein „traditioneller Wert“ der russischen Gesellschaft sei, der erwähnte Artikel wiederum „entbehrt moralischer und juristischer Grundlagen, richtet sich in seinem Inhalt gegen die Familie und das innerhalb der russischen Gesellschaft etablierte Verständnis von Elternrechten, ist diskriminierend, widerspricht den Grundprinzipien einer gesunden staatlichen Familienpolitik und lässt die traditionellen familiären und moralischen Werte der russischen Gesellschaft außer Acht“.

    Klapse und leichte Schläge auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für „normal“

    Wie „maß- und sinnvoll“ eine körperliche Strafe ist, wird dem Ermessen der Eltern selbst überlassen. Darüber, dass Eltern das Recht  zugesprochen werden soll, ihre Kinder physisch zu maßregeln, liest man viel auf der Homepage des Allrussischen Elternwiderstandes, deren Mitwirkende sich aktiv für traditionelle, orthodox begründete Werte einsetzen. Das Recht der Eltern auf Gewaltanwendung wird hier damit erklärt, dass dies die Norm für die heutige russische Gesellschaft sei: „Das Zentrum AKSIO hat eine umfassende Meinungsumfrage durchgeführt, befragt wurden 43.687 Menschen aus allen Regionen der Russischen Föderation. Das Hauptziel der Umfrage war die Messung der öffentlichen Meinung zu den (…) Änderungen im russischen Familiengesetz. Die Bestrafung von Kindern mit Klapsen und leichten Schlägen auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für normal.“

    Weil es normal ist, darf man sich also nicht in die Erziehung innerhalb der Familie einmischen. Schon erstaunlich, aber sogar einige Organisationen, die sich dem Schutz der Familie verschrieben haben, setzen sich gegen eine gesetzliche Einschränkung elterlicher Schläge ein und gegen das Recht von Kindern und Jugendlichen, sich zu verteidigen. So bezeichnet beispielsweise Tatjana Borowikowa, Leiterin der Organisation Viele Kinderchen – das ist gut!, Aushänge mit Seelsorgerufnummern für Jugendliche in den Schulen als „Einmischung in familiäre Angelegenheiten“. Solche Beispiele gibt es zur Genüge. Der Allrussische Elternwiderstand teilt mit, für die Entkriminalisierung von Schlägen seien 213.000 Unterschriften gesammelt worden, und notfalls werde die Hälfte aller russischen Eltern vor Gericht ziehen.

    Angst vor Willkür

    Was diese Leute antreibt, ist nicht die Angst vor Massenverhaftungen, sondern die Angst vor Willkür der Rechtsschutz- und Vormundschaftsorgane, die häufig nur formal die Rechte von Kindern schützen. Sie fürchten nicht den aus dem Westen kommenden Kinder- und Jugendschutz, von dem sie reden, sondern unseren eigenen Staat. Erst vor Kurzem entsetzte ein Vorfall die Öffentlichkeit, bei dem Vormundschaftsorgane und Polizei ohne jegliche Untersuchung zehn Kinder aus einer wohlsituierten Pflegefamilie genommen hatten, nachdem den Eltern Gewaltanwendung vorgeworfen worden war.

    Dieser Vorfall bestätigte nur die allgemein herrschende Vorstellung, jedes Gesetz könnte so ausgelegt werden, dass die Unschuldigen mehr leiden als die, die schuldig sind. Wer aber schuldig ist und wer nicht, in welchem Rahmen sich häusliche Gewalt bewegen darf, das versteht so gut wie niemand. Aber allen ist klar, dass noch die schlechteste Familie, in der das Kind nicht nur hin und wieder einen Klaps bekommt, sondern ständig Prügel, in den allermeisten Fällen immer noch besser ist, als ein Kinderheim, das heißt die Vormundschaft durch den Staat.

    Kinder werden nicht gehört – mit oder ohne Gesetz

    Die Gesellschaft hat Angst vor weiterer Einmischung ins Privatleben. Weil sie nicht daran glaubt, dass das dem allgemeinen Wohl dienen wird, sondern weil sie berechtigter Weise annimmt, dass man nach dieser Einmischung Hilfe braucht, die man nirgendwo bekommt.

    Organisationen, die trotz allem versuchen, Familien in der Not beizustehen, solche wie Anna und Sjostry, sind mittlerweile selbst auf Hilfe und Schutz angewiesen.

    Das Gesetz über die Entkriminalisierung von Gewalt in der Familie wird vermutlich kaum etwas zum Besseren oder Schlechteren verändern. Weil Kinder in ihrer Mehrheit stumm bleiben, hilft ihnen dieses Gesetz jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Frauen wendet sich ohnehin nicht an die Polizei. Aber wenn Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit behandelt wird, rückt die Polizei bald nicht einmal mehr bei seltenen Anrufen aus – warum auch solch kleinen Vergehen Beachtung schenken?

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  • Funkstille

    Funkstille

    Doshd heißt auf Deutsch Regen. Es sind mehrere Tropfen, die nach offiziellen ukrainischen Angaben nun das Fass zum Überlaufen brachten: Die Ausstrahlung des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doshd über Kabel wurde in der Ukraine verboten. Über Internet und Satellit dagegen kann der Sender weiter kostenpflichtig empfangen werden.

    Entschieden wurde dabei nach formalen Kriterien: Unter anderem waren Journalisten des Senders ohne offizielle ukrainische Erlaubnis auf die Krim gereist, außerdem hatte der in Moskau registrierte und ansässige Kanal Landkarten gezeigt, die, entsprechend der russischen Verfassung, auch die Krim als Teil Russlands abbildeten. Zudem habe der Sender an Neujahr zwei Komödien ausgestrahlt, in denen russische Silowiki zu positiv dargestellt würden.

    Auch Letzteres ist in der Ukraine per Gesetz untersagt, schon zuvor war deswegen die Ausstrahlung einiger sowjetischer oder russischer Filme nicht gestattet worden, ebenso existiert eine Verbotsliste „antiukrainischer“ Bücher. Seit der Krim-Angliederung durch Russland und dem Krieg im Donbass gibt es immer wieder Vorstöße in diese Richtung.

    Wurden sie bislang schon viel diskutiert, brach im Fall von Doshd nun eine besonders heftige Debatte aus – hauptsächlich unter unabhängigen Medienschaffenden der beiden Länder. Denn Doshd ist nicht irgendein Sender. In einer weitgehend staatlich kontrollierten Medien- und TV-Landschaft ist Doshd der unabhängige russische Fernsehsender, der es auch in Russland nicht leicht hat: Im Frühjahr 2014 hatten mehrere Satelliten-Anbieter den Kanal aus ihrer Angebotspalette genommen, seitdem ist er nur noch über Internet und einige lokale Betreiber erreichbar.

    Trifft es mit Doshd nun genau die Falschen? Ja, meint Kirill Martynow. Und erklärt in der Novaya Gazeta, warum das Verbot dennoch unausweichlich gewesen sei.
    Die Zeitung befragte außerdem verschiedene ukrainische Journalisten zu dem Fall – einzelne davon bildet dekoder ebenfalls ab.

    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube
    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube

    Die Ukraine hat die Übertragung des Senders Doshd aufgrund einer formalen Rechtsverletzung verboten. Es ging um die positive Darstellung von Vertretern russischer Behörden wie Polizei, Geheimdienst oder Armee. Sofort wurde dieser Skandal zu instrumentalisieren versucht, und zwar von denen, die in den vergangenen drei Jahren den Konflikt zwischen unseren beiden Ländern angeheizt haben. Am meisten sind gerade jene über die Pressefreiheit im Nachbarland beunruhigt, die von der Vernichtung der Ukraine träumen und von der Vernichtung des Senders Doshd und überhaupt aller Lebensformen, die sich äußerlich von Prochanow und Dugin unterscheiden.

    Man hätte Doshd nicht verbieten sollen, denn seine Existenz auf dem Territorium der Ukraine hat den nationalen ukrainischen Interessen nicht im geringsten widersprochen. Natürlich muss der aus Moskau sendende Doshd russische Gesetze befolgen, weshalb er etwa entsprechende Karten zeigt (mit der Krim als Teil Russlands), und zuweilen vom Leben russischer Silowiki erzählt. Aber kein einziger Zuschauer in Kiew dürfte wohl Zweifel daran gehabt haben, dass er es zum einen mit einem russischen Sender und zum anderen mit einem Sender zu tun hat, der eine konsequente Anti-Kriegs-Position vertritt.

    Die Existenz des Senders Doshd ist für die Ukraine nur von Nutzen, wie überhaupt alle von Nutzen sind, die in Russland für friedliche Koexistenz und Einhaltung internationaler Vereinbarungen zwischen den Ländern stehen. Russisch-ukrainische Kultur- und Bildungsprojekte sind heute nötiger denn je, denn in jedem Fall werden wir ja auch weiterhin Nachbarn bleiben müssen. Schließlich beginnt östlich von Charkiw kein großer Ozean. Allerdings weiß fast niemand in den beiden Ländern, wie man solche Projekte realisieren kann – zu viel gegenseitiger Hass hat sich aufgestaut.

    Die Tragödie unserer derzeitigen Situation besteht darin, dass Russland insgesamt von den Ukrainern als feindliches und aggressives Land angesehen wird. Die Fragen, ob du ein guter Mensch bist oder welche politischen Ansichten du hast, treten in den Hintergrund. Auch dafür gibt es objektive Gründe: Die Russen haben die Krim und ein wenig nationale Größe bekommen, die Ukraine aber haben sie verloren. Das sollte man ruhig zugeben – es ist ja genug Zeit vergangen seit dem Beginn unserer „geopolitischen Erfolge“, um daraus nun auch mal ein paar Schlüsse zu ziehen.

    Aus der Frage nach dem Status der Krim folgt: Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. Das ist nicht das Werk der Ukrainer

    Es gibt drei schlichte Tatsachen. Erstens: Die Ukraine ist ein eigenständiges und anderes Land. Zweitens: Dieses Land wird sich in absehbarer Zukunft bei seinen politischen Entscheidungen niemals an Moskau orientieren. Und drittens: Ein Teil des ukrainischen Territoriums wird nicht von Kiew kontrolliert, die Ukraine sieht sich deshalb als kriegführenden Staat und führt entsprechende Regeln ein. Hört auf, euch darüber zu wundern: Die nette Kolonial-Ukraine, wo ihr so gerne im Sommer Urlaub gemacht habt, gibt’s nicht mehr. Aus diesen drei Fakten und insbesondere aus der Frage nach dem Status der Krim folgt, dass es unmöglich ist, russische und ukrainische Gesetze gleichzeitig zu befolgen und in beiden Ländern zu arbeiten. Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. All das ist nicht das Werk der Ukrainer.

    Die Geschichte mit dem Doshd-Verbot in Kiew kann noch – so wollen wir hoffen – einen glücklichen Ausgang nehmen. Weitaus schwieriger ist es, sich die Perspektiven der russisch-ukrainischen Beziehungen im Ganzen vorzustellen. Wie werden wir in fünf oder zehn Jahren gemeinsam in einem Osteuropa leben, mit der Krim und den Kriegserfahrungen im Gepäck? Alles deutet darauf hin, dass der Weg zurück zu einer freundschaftlichen Koexistenz, wenn er denn überhaupt möglich ist, lang und schwierig sein wird. Es wäre gut, dies schon jetzt zu verstehen und sich keinen unnötigen Illusionen hinzugeben.

    Und gut wäre auch, wenn all die Kämpfer für die ukrainische Pressefreiheit, die auf ihren Moskauer Sofas sitzen, ebenso aktiv für dieses in der Verfassung verankerte Recht innerhalb ihres eigenen Landes kämpfen würden. Medien sollten weder in der Ukraine noch in Russland geschlossen oder verboten werden. Aber sollen doch die Ukrainer ihre Probleme lösen, und wir kümmern uns um unsere eigenen. Das ist das Beste, was wir im jetzigen Moment tun können, in einer Zeit, in der das Gefühl der geopolitischen Größe uns nach und nach wieder verlässt.


    Es gab zahlreiche Reaktionen in Medien und sozialen Netzwerken, darunter auch viel Unverständnis für diese Entscheidung in Kiew. Die Novaya Gazeta hat nachgefragt, lässt zum Warum gewichtige Stimmen für ein solches Verbot aus der ukrainischen Öffentlichkeit zu Wort kommen – wir haben drei davon ausgewählt:

    Mustafa Najem, Parlamentarier und Journalist

    [bilingbox]Ich mag diesen Fernsehsender, mir gefällt er gut. Seinerzeit setzte er einen gewissen Trend, und was sie gemacht haben, war immer qualitativ hochwertig. Andererseits haben wir es real mit Kriegszeiten und mit Beziehungen zwischen zwei Ländern zu tun. Und ob es uns gefällt oder nicht, der Fernsehsender Doshd hat seinen Sitz in Russland.

    Als ehemaliger Journalist verstehe ich wohl, dass Doshd gezwungen ist, die Gesetze der Russischen Föderation zu achten, sonst drohen ihnen noch größere Repressionen als die, denen sie schon früher ausgesetzt waren. Es ist offensichtlich, dass sie ihre Inhalte den Gesetzen anpassen müssen, was Territorialfragen betrifft, insbesondere die Geschichte mit der Krim. Und gleichzeitig müssen sie sich an die Verfassung der Russischen Föderation halten. Aber andererseits gibt es auch die Verfassung der Ukraine, derzufolge die Verbreitung solcher Informationen über die Krim schlichtweg einen Verstoß darstellt.

    Darin besteht der Konflikt zwischen den beiden Ländern, und Doshd ist in diesem Fall ein Opfer dieses Konflikts.

    Als Politiker verstehe ich, wie die Entscheidung aus der Perspektive des ukrainischen Staates begründet ist.

    Natürlich wären für den ukrainischen Zuschauer alternative Informationen über das, was in Russland passiert, notwendig und nützlich. Solche, die er nicht aus ukrainischen oder russischen Staatsmedien erhält. Das würde sogar gewisse Chancen auf Wiederannäherung bieten. Aber hier muss man einen wichtigen Punkt verstehen. Sehen sie, ich mag Piter, ich habe dort Freunde und würde gern öfters dort sein. Das ist mein persönliches Bedürfnis. Aber in Anbetracht der heutigen Situation verstehe ich, dass ich dort nicht sein kann. Das ist die Politik. Wir alle sind Opfer dieser Geschichte.~~~Я люблю этот телеканал, мне он нравится. В свое время они задали некий тренд, и то, что они делали, имело высокое качество. С другой стороны, есть реальность военного времени и реальность отношений между двумя странами. И хоти мы этого признавать или нет, телеканал «Дождь» является резидентом Российской Федерации.

    Будучи журналистом в прошлом, я понимаю, что они вынуждены выполнять законы Российской Федерации, иначе им грозят еще большие репрессии, чем применялись в отношении них раньше. Очевидно, что они должны согласовывать то, что касается территорий, в частности истории с Крымом. А также должны соблюдать Конституцию Российской Федерации. Но, с другой стороны, есть конституция Украины, по которой распространение информации подобного характера о Крыме является просто нарушением уже ее конституции.

    Как политик, с точки зрения страны я понимаю обоснованность этого решения.

    Конечно, украинскому зрителю нужна и была бы полезна альтернативная информация о том, что происходит в России. Полученная не от государственных СМИ Украины и не от государственных СМИ России. Она бы даже дала какой-то шанс на воссоединение. Но здесь нужно понимать важный момент. Смотрите, я люблю Питер, у меня там друзья, и я хотел бы бывать там часто. Конечно, лично мне это нужно. Но видя сегодняшнюю ситуацию, я понимаю, что там я быть не могу. Это политика. Мы все являемся жертвой этой истории.[/bilingbox]

    Witali Portnikow, Kommentator bei Radio Svoboda Ukraine

    [bilingbox]Für mich ist die Sache mit dem Sendeverbot für Doshd in der Ukraine eindeutig.

    Aber sagen Sie mir bitte, warum hatte Doshd überhaupt eine Sendeerlaubnis?

    Warum haben russische Fernsehsender, seit die Krim okkupiert wurde und der Krieg im Donbass begonnen hat, hier überhaupt irgendwelche Möglichkeiten, Sendungen auszustrahlen? Die politische Einstellung des Senders spielt überhaupt keine Rolle! Eine Entscheidung über die Rückgabe einer Sendelizenz kann erst dann getroffen werden, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt und die Kriegsverbrecher verurteilt sind.~~~У меня нет никаких вопросов о запрете вещания телеканала «Дождь» на территории Украины.

    Почему российские телеканалы с момента оккупации Крыма и начала войны в Донбассе имеют хоть какие-то возможности для вещания здесь? Не имеет никакого значения политическая позиция телеканала! Решение о возвращении лицензии возможно только после восстановления территориальной целостности Украины и совместного осуждения военных преступников.[/bilingbox]

    Pawel Kasarin, Journalist

    [bilingbox]Ich würde nicht sagen, dass die Entscheidung sehr verwunderlich ist. Sie entspricht dem Gesetz und war unausweichlich. Aber ich würde gerne etwas betonen – immer wenn jemand eine Parallele zieht zwischen der Ukraine und der russischen Medienaufsicht, vergisst er dabei Folgendes: Auch drei Jahre nach dem Beginn von Krieg und Aggression ist der ukrainische Staat nicht dazu übergegangen, das Internet zu regulieren. Und die Zuschauer, die bislang Doshd gesehen haben, können den Sender auch jetzt über einen kostenpflichtigen Zugang im Netz gucken.~~~Я не готов говорить, что здесь есть что-то удивительное. Это было закономерно и неизбежно. Только я бы хотел уточнить, что всякий раз, когда проводят параллели между Украиной и Роскомнадзором, все забывают такую вещь: украинское государство спустя три года после начала войны и агрессии не дало себе права регулировать интернет. Те зрители, которые смотрели «Дождь», они и сейчас могут купить платную подписку и смотреть его в интернете.[/bilingbox]

    Übersetzung dieser Kommentare durch dekoder-Redaktion

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  • Verhütete Verhüterli

    Verhütete Verhüterli

    Man kann ohne Umschweife verraten, wie die Geschichte in dem kleinen Ort Bogoljubowo ausgegangen ist: Die Bewohner haben einen Sieg errungen. Ein großer Investor, den sie vertrieben haben, wollte dort im Hinterland von Moskau eigentlich knapp 200 Arbeitsplätze schaffen. Als bekannt wurde, was produziert werden soll, rief das orthodoxe Gläubige auf den Plan. Zu pikant schien das für ein Dorf, dessen Kloster Pilger aus dem ganzen Land anzieht und mit der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche ein weltbekanntes Gotteshaus vor seinen Toren hat.

    Für Kommersant-Dengi ist Alexej Bojarski nach Bogoljubowo gefahren, um den Tumult zu begleiten, den es darum gab – und der sogar in internationalen Medien Beachtung fand. Seiner Reportage stellte Bojarski voran: „Allerdings sind nicht so sehr die Proteste der Gläubigen interessant, sondern der Umstand an sich, dass der Unternehmer ebenso wie die lokale Politikerelite überhaupt in Dialog mit ihnen getreten sind.“

    Etwa 200 Kilometer östlich von Moskau, Oblast Wladimir, im Dorf Bogoljubowo. Laut Volkszählung von 2010 hat das Dorf rund 5000 Einwohner. Entlang der Lenin-Straße (wie es sich gehört, ist das die Hauptstraße) sind wohl sämtliche hiesige Sehenswürdigkeiten versammelt: das Bogoljubower Muttergottes-Geburtskloster und eine alte Ziegelfabrik; irgendwo dazwischen liegt das triste zweistöckige Gebäude der Dorfverwaltung. Ein einsamer Passant rutscht direkt vor meinen Augen aus und stürzt – wüst Mat fluchend – auf dem vereisten Gehweg hin. Kaum aufgestanden, blickt er zu den Kuppeln hoch und bekreuzigt sich.

    Es heißt, das berühmte Kloster sei ein Anziehungsort für Pilger aus dem ganzen Land. Heute sind die Pilger allerdings vor dem Verwaltungsgebäude zu beobachten. Der Presseandrang ist wie bei einer Demo der Opposition: Minivans landesweiter und regionaler TV-Sender, Kameramänner, Korrespondenten mit Diktiergeräten, dazu ein hiesiger Videoblogger mit professionell zusammengekniffenem Auge und Selfiestick. Zum Gebäude strömt höchst unterschiedliches Publikum: graubärtige Männer, alte Frauen mit Wolltüchern, Nonnen in schwarzen Kutten, Frauen unbestimmten Alters mit einem Gesichtsausdruck von Erleuchtung.

    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0
    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0

    „Treten Sie bitte durch, und Sie, Mütterchen, hier entlang, bitte.“ Eine Frau im Pullover, sie hat sich als Lokalabgeordnete Olessja Paschtschenko vorgestellt, lenkt den Menschenstrom, der in einen Sitzungssaal mit großem Tagungstisch drängt. „Meine Damen und Herren Journalisten, Bürger von Bogoljubowo, kommen Sie, kommen Sie!“

    Am Tisch nehmen Vertreter der lokalen Regierungsbehörde Platz: der Leiter der Dorfverwaltung, die stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung, der Vorsitzende des kommunalen Abgeordnetenbeirats. Außerdem zwei Damen in Kleidern wie Anfang des vorigen Jahrhunderts: die eine, mit stilisiertem schwarzem Barrett und Bluse, erinnert an eine Lehrerin aus Filmen über die Revolution, die andere mit Hütchen und Tüllschleier an eine feine Großstadtdame aus der gleichen Epoche.

    Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko führt einen jungen, erkahlenden Mann in gutem Anzug zum Platz des Vorsitzenden – es ist der Eigentümer des Unternehmens Bergus Pawel Spitschakow. Sitzen will der Geschäftsmann nicht und quetscht sich stattdessen zwischen die zwei Flaggen unter dem Doppeladler. Ein Lachen scheint er sich dabei nur schwer verkneifen zu können. Dorfbewohner und Presseleute verteilen sich vor dem Tisch. Eins zu eins wie bei einer Disziplinarverhandlung vor der Gewerkschaftsversammlung. Nur dass nicht Lenin milde von der Wand herabblickt, sondern Wladimir Putin aus den Tagen seiner ersten Amtszeit.

    „Die Einwohner des Dorfes Bogoljubowo werden gebeten darzulegen, worauf sich die negative Einstellung zu dem Unternehmen gründet“, beginnt die Dienstälteste zu sprechen, Tatjana Sribnaja, stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung. „Das Unternehmen ist absolut harmlos und vom Gesundheitsministerium der Russischen Föderation genehmigt.“ Aus der Menge ertönt es laut: „Dann erzählen Sie mal, erzählen Sie den Leuten, was die an unserem heiligen Ort produzieren wollen!“

    Und was will man hier wohl produzieren? Worum wird hier trotz Genehmigung durch das Gesundheitsministerium so ein Bohei gemacht? Um irgendetwas Radioaktives? „Kinderwindeln und Heftpflaster“, setzt der nun ernstere Geschäftsmann zum Bericht an und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ab 2018 ist außerdem die Produktion von Latexartikeln geplant, darunter Verhütungsmittel.“ „Lümmeltüten aus Bogoljubowo!“, johlt jemand hinter mir.

    Eine Milliarde Kondome für die Heimat

    Etwa 800 Meter vom Kloster entfernt steht eine alte Ziegelfabrik. Eine ehemalige, muss man mittlerweile sagen, denn vor ein paar Monaten haben die Eigentümer entschieden, das Unternehmen zu schließen und das Gelände samt Werkshallen zu verkaufen. 200 Menschen standen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes – für eine Ortschaft mit nur 5000 Einwohnern eine ernste Sache. Aber wie sich bald herausstellte, will der neue Eigentümer nun etwa genauso viele Arbeitsplätze schaffen.

    Roman Komow, Assistent von Investor Pawel Spitschakow, führt die Journalisten durch die Werkshallen, wo gerade die ehemaligen Anlagen abgebaut werden. Es stellt sich heraus, dass der Bergus-Besitzer quasi von hier ist: Ihm gehört das Unternehmen KIT (Kompanija innowazionnych technologiGesellschaft für innovative Technologien) in Wladimir, das Kopfhauben, Mundschutz, Überziehschuhe und Präservative herstellt. Laut Komow ist KIT der Marktführer bei Einwegmundschutz, sein Marktanteil liege bei 40 Prozent der gesamtrussischen Produktion. Der neue Standort sei notwendig für die Expansion des Unternehmens: In Bogoljubowo werde man Windeln der Marke Lelja herstellen, eine breite Palette an Heftpflastern, und außerdem werde die Produktion der Präservative Torex und Gladiator hierhin verlegt.

    Ich für meinen Teil habe von einheimischen Kondomen lange nichts mehr gehört. In der Sowjetunion stellte man das „Gummi-Erzeugnis Nr. 2“ her (vor allem in der bekannten Fabrik in Bakowka), erst in den 1980er Jahren trat das Latex-Kondom an seine Stelle. Im Laufe der letzten 20 Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, heimische Marken auf den Binnenmarkt zu bringen: Wanka-Wstanka [dt. etwa Stehaufmännchen], Gussarskije und so weiter. Hergestellt wurde die Ware allerdings in China und Thailand. Auf die Ladentische gelangten dann die Produkte der Serpuchower Fabrik Elastomer (Marke Reflex) und verschwanden auch wieder. Der einzig nennenswerte einheimische Hersteller ist heute das Gummiwerk in Armawir, das die Präservative der Marke Eros produziert.

    Nun soll Bogoljubowo zum Zentrum der heimischen Kondomindustrie werden. Roman Komow sagt, Torex und Gladiator seien in Wladimir bisher quasi nur als Testreihe hergestellt worden; für den neuen Standort schaffe man Maschinen mit einer Produktionskraft von über 120 Millionen Stück pro Jahr an.

    „Das genaue Volumen des Kondommarktes in Russland ist unbekannt, aber, nehmen wir einmal an, es sind etwa eine Milliarde Stück pro Jahr“, schätzt Komow. „So gut wie alles davon ist Importware aus Südostasien und Deutschland.“ Er sagt, Bergus könne, die Konkurrenz mal außen vor gelassen, leicht den kompletten Import auf dem russischen Markt ersetzen. Von hier aus, aus Bogoljubowo.

    Anfang November sickerten diese Pläne zu den hiesigen religiösen Aktivisten durch. Ein kollektives Protestschreiben ging an Präsident Putin und Patriarch Kirill. Die Gemeindeglieder der Klosterkirche empörten sich über den „extremen Zynismus, an einem heiligen Ort mit dem Namen Bogoljubowo eine Fabrik zur Herstellung von Artikeln zu bauen, die sich gegen die Geburt von Kindern richten“.

    Das Schreiben wurde in der Lokalpresse zitiert, Nachrichtenagenturen griffen es auf. Und nun also haben die regionalen Behörden zur Klärung der Situation ein Treffen der Einwohner mit dem Eigentümer des Unternehmens organisiert.


    Mit Bibel und Unterschriftenlisten

    „Sind Sie gläubig? Getauft? Können Sie uns Ihr Kreuz zeigen? Zu welcher Gemeinde gehören Sie?“, der Fragenhagel, der auf den Unternehmer Spitschakow niedergeht, erinnert an die Aufnahmeprozedur in die Reihen der KPdSU. Spitschakow antwortet, er sei tief gläubiger orthodoxer Christ. Aber nicht aktiv. „Empfangen Sie Abendmahl und Sakramente von unserer orthodoxen Kirche?“ Das Volk lässt nicht locker. Der Geschäftsmann gerät ins Stocken.

    „Er hat es doch erklärt, Freunde: Er ist passiver Orthodoxer!“, ruft hinter mir laut der Videoblogger. „Ich bin nicht passiv“, verteidigt sich der Unternehmer, „der Glaube lebt für mich im Herzen … “ Es nützt nichts, man gab Spitschakow gleich zu verstehen, dass ihn bereits die Herstellung von Kondomen an sich als Unorthodoxen charakterisiert.

    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant
    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant

    Eine Frau mit einer Bibel in der Hand tritt vor. „Dieses Buch sagt uns ganz eindeutig, was das für eine Ware ist, die Sie da herstellen wollen …“, sie schlägt eine markierte Stelle auf, „Kapitel 38, 1. Buch Mose … ‚Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er seinen Samen auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem Herrn missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben.‘“

    So zeigt die versammelte Menge, dass die gegen die Kondomfabrik Protestierenden tiefschürfende Gründe für die Ablehnung jeglicher Verhütungsmittel haben. Gleich hier, auf dem Tisch, wird dann auch eine Unterschriftenliste für ein Abtreibungsverbot ausgelegt.

    Man fragt sich: Wenn die Bürger sich dermaßen gekränkt fühlen, weil neben dem heiligen Ort eine Präservativ-Fabrik entstehen soll, warum dulden sie dann zum Beispiel die Apotheke gleich gegenüber vom Kloster, die diese frevelhaften fremdländischen Artikel in großer Auswahl anbietet?

    Die Position der Verhütungsgegner wird deutlich von der Dame im antiquierten Barrett vertreten: Tatjana Fadejewa, eine ehemalige Bauingenieurin, vierfache Großmutter und Inhaberin einer Boutique für handgefertigte Mode nach Schnittmustern aus dem 19. Jahrhundert. Weil Bogoljubowo ein Hort der Heiligkeit für Gläubige sei, dürfe man ihrer Meinung nach nicht zulassen, dass der Name auf Artikeln wie Klopapier oder Kondomen geführt werde – laut Gesetz muss „Dorf Bogoljubowo“ als Herstellungsort auf der Verpackung genannt werden. Soweit ich verstehe, ist Fadejewa die Initiatorin jenes Protestschreibens, mit dem alles begann.

    Wie viele Menschen haben diesen Brief nun unterzeichnet? Einmal heißt es, gerade mal fünf Leute, dann ist von zweihundert die Rede, einige andere sprechen gar von tausend. Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko sagt, ein Teil der Unterschriften stamme von Leuten, die hier als Moskauer Datschniki bezeichnet werden – das sind religiöse Aktivisten, die sich ein Haus im Bogoljubower Umland gebaut haben. Die Dame mit dem Tüllschleierhütchen ist so eine, vor ein paar Jahren ist sie aus Moskau hergezogen.

    „Ich bin zu allen Wählern persönlich hingegangen“, berichtet Olessja Paschtschenko auf der Versammlung. „Die Menschen sind belogen worden, ihnen wurde gesagt, das Unternehmen wäre gefährlich. Andere hatten noch überhaupt nichts von der Fabrik gehört, und sagten, sie würden liebend gern dort arbeiten, als sie davon erfuhren. Auch ich wurde einmal mit diesen Unterschriftenlisten angesprochen: Eine war gegen die Fabrik und die andere für die Errichtung eines Stalin-Denkmals.“

    Irgendwann nimmt der Dialog zwischen Volk und Wirtschaft eine konstruktive Wendung: Man schlägt Pawel Spitschakow vor, er solle seine Kondom-Produktion an einen anderen Standort verlegen, außerhalb von Bogoljubowo, und die Gemeindeglieder erklären sich bereit, bei der Suche nach einem neuen Ort zu helfen. Aber da zeigt sich, dass es keinen Weg zurück gibt: In das Projekt sind bereits rund 300 Millionen Rubel [umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro – dek.] geflossen – in den Erwerb des Geländes, die Instandsetzung und den Umbau der Räume, den Kauf der Anlagen.

    „Also“, sagt Tatjana Sribnaja und fasst vor der Versammlung zusammen: „Wir haben den Projektleiter angehört, wir haben ihre Gegenmeinung angehört. Und jetzt macht jeder mit seiner Arbeit weiter. Das Unternehmen auf dem Gebiet von Bogoljubowo wird realisiert.“

    Das Kloster – mächtiger Akteur im Hintergrund?

    Auf den ersten Blick ist diese ganze Geschichte um den Protest reine PR. Sogar Tatjana Fadejewas Boutique hat ihren Happen abbekommen. Und was die Firma Bergus angeht, war das eine gewaltige Werbeaktion für ihre Präservative – das ganze Land kennt sie nun. In Anbetracht dessen, dass Roman Komow früher Journalist war, bin ich mir fast sicher, dass wir es hier mit einer gut geplanten Operation zu tun haben. Aber als Pawel Spitschakow plötzlich aufhört zu lächeln, während er den gläubigen Aktivisten Rede und Antwort steht, wird mir klar, dass die Situation tatsächlich gar nicht so witzig ist. Zu wirr sind unsere Zeiten, um über die zu lachen, die sie noch wirrer machen.

    Das Gesetz ist auf der Seite des Unternehmers: Die Eröffnung eines ökologisch unbedenklichen Betriebs auf selbsterworbenem Industriegelände kann ihm niemand verbieten. Öffentliche Anhörungen zu solchen Fragen sind nicht einmal vorgesehen. Warum also haben die Behörden dieses Treffen mit den Verhütungsgegnern organisiert?

    Hinter den gläubigen Aktivisten steht schweigend das Kloster, das nicht so einfach gestrickt ist. Mein Eindruck ist, dass die lokalen Behörden sogar etwas Angst vor ihm haben. Wieso auch nicht, schließlich konzentriert sich hier besonders viel Macht und Geld. Das kommunale Budget hat nach Aussage von Beamten allerdings wenig davon, denn das Kloster führt keine Steuern ab, und die pilgernden Touristen geben alles auf dem Klostergelände aus, sogar ein Hotel gibt es dort.

    Im 19. Jahrhundert war in Bogoljubowo in einem der Klostergebäude ein Krankenhaus eröffnet worden, das unter der Sowjetherrschaft natürlich an den Staat überging. Das Kloster kämpfte viele Jahre lang um die Rückgabe des Objekts. Schließlich, im Jahr 2013, wurde das Krankenhaus geschlossen und das Gebäude dem Kloster zurückgegeben; dort befindet sich jetzt besagtes Hotel für die Pilger. Und die Dorfbewohner sind praktisch ohne medizinische Versorgung geblieben. „Vielleicht fiel das mit der Politik der Krankenhauskürzungen zusammen, aber Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche stehen weiter im Raum“, sagt mir einer der Einwohner von Bogoljubowo.           

    In historischen Dokumenten geistert die Information herum, die Ziegelfabrik habe einst auch einen gewissen Bezug zum Kloster gehabt. Die hier lebenden Menschen schließen nicht aus, dass das Kloster einen bequemen Zeitpunkt wittert, sich die Fabrik einzuverleiben.

    „Und wenn unsere Gouverneurin Orlowa Sie persönlich darum bitten würde, sich einen anderen Standort zu suchen?“, fragt der Videoblogger den Geschäftsmann bissig. Eine Antwort bekommt er nicht, aber eines wird deutlich: Diese Möglichkeit ist gar nicht so wahnwitzig, wenn man bedenkt, dass sich Unternehmer auf offizielle Wortgefechte mit Kondomgegnern einlassen.    

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  • Der letzte Nexikaner

    Der letzte Nexikaner

    Wenn es um Rohstoffe in Russland geht, kommt die Rede meist auf Öl und Gas. Dabei hat sich auch Gold zu einem Milliardengeschäft entwickelt. Weite Regionen wie Sibirien und der Hohe Norden liefern Tonnen über Tonnen des Edelmetalls. Das Land gehört weltweit zu den Spitzenproduzenten und ganze Siedlungen mit Arbeitern sind mancherorts um Goldminen herum entstanden. Im kleinen Nexikan in der Kolyma-Region war das anders herum: Das Dorf fiel dem Goldabbau zum Opfer. Ein einziger Einwohner ist geblieben. Das Medienprojekt dv.land hat sich gefragt, was den Mann dort noch hält und bietet Einblick in einen eigenwilligen Alltag in der Abgeschiedenheit der russischen Provinz.

    Nach Gold durchpflügte Landschaft rund um Nexikan / Fotos © Filippo Valoti-Alebardi
    Nach Gold durchpflügte Landschaft rund um Nexikan / Fotos © Filippo Valoti-Alebardi

    Wladimir Kuklin ist 65 Jahre alt. Jedes Jahr besteigt er am Tag des Geologen einen vierhundert Meter hohen Berg, um auf der Kuppe eine rote Fahne zu hissen. Früher brauchte er eine Stunde für den Aufstieg, aber nun ist er in die Jahre gekommen. Der Weg zum Gipfel dauert zwei Stunden, wenn nicht gar länger. Einst pflegten viele Einwohner der Siedlung Nexikan diese Tradition und alle drei Gipfel der umliegenden Gebirgskette waren mit roten Fahnen geschmückt. In den letzten Jahren flattert hier nur noch Wladimir Kuklins Fahne.   

    Nexikan liegt knapp 25 Kilometer von Sussuman entfernt, dem Kreisverwaltungszentrum. Nimmt man von dort die Kolyma-Trasse Richtung Jakutien, so kommt man an einigen verlassenen Dörfern und laufenden Förderanlagen vorbei zu einer Landmarke: eine schwarze Granitplatte, die an einem grob behauenen Stein angebracht ist. Auf der Platte steht die Inschrift: An diesem Ort befand sich 1938 bis 1998 die Siedlung städtischen Typs Nexikan.   

    Auf Höhe dieses Gedenksteins führt eine schmale Straße von der Trasse weg. Folgt man ihr, gelangt man wenige Minuten später zu einem alten eingeschossigen Haus, zu dem Stromleitungen führen. Bereits seit 17 Jahren arbeitet Wladimir Kuklin als Hüter des kleinen Umspannwerks, das die umliegenden Goldgräbergenossenschaften mit Strom versorgt. An seiner Haustür steht mit Kreide geschrieben: „Demolieren verboten“.

    Kuklin ist ein heiterer, gutherziger, stämmiger Mann mit grau meliertem Haar. Sofort bittet er mich zu sich herein, um nicht zu lange an der Türschwelle stehen zu bleiben, wo doch draußen minus 35 Grad sind. Seine Wohnstatt im Umspannwerk entpuppt sich als durchaus gemütlicher kleiner Raum. Ein Zimmer ist als Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Funkgerät eingerichtet, der Rest ist Wohnraum, zugerümpelt mit einer Unmenge Kleinkram.

    Am Gedenkstein führt eine schmale Straße nach Nexikan
    Am Gedenkstein führt eine schmale Straße nach Nexikan

    „Etwa 80 Meter von diesem Umspannwerk entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen. Unter uns liegt ja gutes Gold. Um es zu gewinnen, muss die freigelegte Erde von oben abgetragen und abgeschlämmt werden. Dann wird diese unnütze Erde in eine andere Grube geworfen. So hat man hier alles Stück für Stück beackert, und es ist diese Mondlandschaft entstanden“, sagt Wladimir und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Schade drum, aber unser Land braucht ja das Gold“.

    Glaubt man den Worten Kuklins, so hatte die Siedlung Nexikan in ihrer besten Zeit an die zwei- bis dreitausend Einwohner und eine gute Infrastruktur: Läden, einen Kindergarten, eine Schule für Kinder aus nah und fern. „Die meisten Häuser waren aus Holz und zweigeschossig. Ein einziges Steinhaus mit vier Stockwerken gab es, aber von denen sind kaum drei übrig, die Steine wurden für Garagen und Anbauten verwendet. Auch die Banja war in einem Steinhaus, und ein neues Schulgebäude sollte errichtet werden, ist aber nicht mehr fertig geworden. Da kamen all diese Störungen dazwischen“, erzählt Wladimir.

    Etwa 80 Meter entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen

    Als Störungen bezeichnet der Elektriker die Zeit der Perestroika, als er aus der Mine Bolschewik entlassen wurde, und auch die 1990er, als sein Erspartes völlig an Wert verlor und entschieden wurde, die Siedlung aufgrund fehlender Perspektiven aufzulösen, in der er gelebt hatte, seit er fünf Jahre alt gewesen war.

    „Im Frühling 1998 wurde das Heizwerk geschlossen, und im Laufe des Sommers wurden dann die meisten Einwohner in nahegelegene Ortschaften umgesiedelt. Als die Hälfte der Bevölkerung weg war, trommelte man die Übriggebliebenen zusammen. Wir mussten in andere Häuser ziehen, damit in einem Gebäude mit 20 Wohnungen nicht bloß fünf Leute wohnten. Nach und nach wurden den Verbliebenen Wohnungen angeboten, sie zogen aus, ihre Häuser wurden niedergebrannt oder abgerissen, damit an deren Stelle Аbbauflächen entstehen konnten. Sofort wenn ein Straßenzug leerstand, fing das große Graben und Buddeln an“, erinnert sich der Einsiedler.

    Ein Teil der Einwohner blieb zunächst in Nexikan, obwohl es keine Infrastruktur mehr gab und das Städtchen sich allmählich in eine einzige Abbaufläche verwandelte. Allerdings kamen sie nur den Sommer über, um zu „wildern“, wie Kuklin es nennt, sprich, um dort Gold auszuschwämmen, wo die Genossenschaften gerade nicht am Werk waren. Darauf angesprochen, ob Kuklin sich nicht auch selbst als freier Goldwäscher versucht hätte, erwidert er, für Gold nie besonders viel übrig gehabt zu haben. Als Kind sei er aber schon zusammen mit den anderen seine drei bis fünf Gramm waschen gegangen, um sich dafür Bonbons und Schokolade zu kaufen. In dem Goldgräberstädtchen konnte jeder Schüler mit Kratzer und Waschrinne umgehen und wusste, wo das Edelmetall zu finden ist.

    Der letzte Einwohner von Nexikan – Wladimir Kuklin
    Der letzte Einwohner von Nexikan – Wladimir Kuklin

    Vielleicht ist das auch die Erklärung für die friedliche Koexistenz zwischen Kuklin und den Genossenschaften – jenen Goldgräbern, die für die planmäßige Auslöschung seines Heimatortes verantwortlich sind. Kuklin hat sich nie mit ihnen angelegt, im Gegenteil: Sie kamen gut miteinander aus und unterstützen einander zuweilen. So teilen die Goldgräber mit dem Einsiedler ihr Wasser und nehmen ihn mit in die Stadt, damit er seine Einkäufe erledigen kann. Denn das hat sich im Alltag als die größte Schwierigkeit erwiesen: Strom gibt es, die Heizung im Dienstraum ist kostenlos, für den Betrieb verwendet er Regenwasser oder geschmolzenen Schnee; Lebensmittel aber kann er nicht so einfach besorgen, dafür braucht man ein Transportmittel – und das hat er nicht. Normalerweise helfen die Straßenarbeiter und Goldgräber mit ihren Mannschaftswagen aus. Die ersten Jahre war es schwer, früher gab es wenige Autos auf der Fernstraße von Kolyma, sie hielten nur ungern. Aber nach einer Weile „hat sich die Straße daran gewöhnt“, und fast alle Fahrer aus der Umgebung kennen Wladimir Kuklin mittlerweile. Sie nehmen ihn gerne bis zur nächsten Ortschaft mit und erkundigen sich, wann er sich denn wieder aufmachen würde, um seine rote Fahne auf dem Berg zu hissen.     

    Kuklins Leben der letzten 17 Jahre hat etwas von dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier: Seine dienstlichen Pflichten bestehen darin, die Strom- und Spannungsmesser abzulesen und die Werte über Funk durchzugeben – und das fünf Mal am Tag. Im Winter gestaltet sich sein Arbeitstag abwechslungsreicher: Da kommt das Schneeräumen dazu. „Das ist keine richtige körperliche Arbeit, sondern eine Art Bereitschaftsdienst am Schreibtisch, deswegen habe ich eine Menge Freizeit. Natürlich ist es etwas langweilig, aber ich habe mich daran gewöhnt.“

    Vor der Einsamkeit rettet er sich vor allem durch Filme. Fernsehsender kann er nicht empfangen, sie „kommen nicht durch“, wie er es nennt, aber in Sussuman und Magadan gibt es Menschen, die dem letzten Nexikaner Filme herunterladen und sie auf Festplatten und USB-Sticks kopieren.

    Manchmal ruft auch jemand an. Unweit ist die Ortschaft Cholodny, das Netz vom Mobilfunkturm reicht bis zum Umspannwerk. Ab und an telefoniert Wladimir mit Verwandten, Schwestern oder Neffen, Freunden oder Bekannten von früher. Eine eigene Familie hat Wladimir nicht. Er selbst meint dazu: „Ich habe es mit dieser ausprobiert, und mit jener. Aber wer will schon hier leben?“

    Es stellt sich heraus, dass der letzte Bewohner Nexikans einst Frau und Sohn hatte. Doch als Wladimir aus der Armee zurückkam, reichte seine Frau die Scheidung ein und zog mit dem Sohn in die Gegend von Rjasan. Zu dem Sohn hat er keinen Kontakt. Dieser hat eine eigene Familie und Kinder, die ihren Opa nie gesehen haben.

    „Ich habe sie einige Male besucht, als mein Sohn noch zur Schule ging. Wir haben einander Briefe geschrieben und irgendwann bekam ich ein Telegramm, in dem stand: ‚Papa, komm, ich heirate‘. Aber das ging nicht, damals war Inflation und ich wäre mit dem Geld nicht weiter als bis Magadan gekommen. Dann kam die Geburt seiner Tochter, auch da wollte er, dass ich komme. Aber es ging wieder nicht. Sechs Monate lang stand ich damals schon ohne Lohn da, hatte nie genug Geld. Danach haben wir irgendwann auch aufgehört, uns zu schreiben“, erklärt der Einsiedler.

    Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?

    Sein Tonfall ändert sich nicht, nur das Gutmütige weicht ein wenig aus seinem Gesicht. Mit denselben Regungen hatte er mir zuvor schon erzählt, wie schwer es war, mit ansehen zu müssen, wie die Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, etwa die Schule, die er besucht hatte, oder der Laden, in dem er als Kind das Geld ausgab, das er fürs Goldwaschen bekommen hatte.

    Ich will wissen, ob er etwas bereut, was für Gedanken sich ihm sicherlich aufdrängen, ob er sich nach einem anderen Leben sehnt, entweder hier im Hohen Norden oder weiter landeinwärts. „Der Mensch ist so: Die ganze Zeit macht er sich irgendwelche Gedanken. Selbst wenn man ein Buch liest, gehen einem ständig irgendwelche Gedanken durch den Kopf: Ob es richtig war zu bleiben oder falsch, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich diesen Job aufgegeben und einen anderen gefunden hätte. Man versucht, es zu drehen und zu wenden, überlegt hin und her. Aber ich bereue nichts. Ich habe nicht das Gefühl, ich hätte alles hinschmeißen sollen. Ich bin hier aufgewachsen, war hier an der Schule, habe hier geheiratet, mein Sohn ist hier geboren, und meine Eltern liegen hier begraben. Ich habe hier Wurzeln geschlagen“, antwortet er, fügt jedoch nach einiger Zeit hinzu: „Manchmal werde ich gefragt, warum ich nicht weggehe. Aber wozu bitteschön? Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?“

    Nexikan liegt etwa 650 Kilometer nördlich von Magadan
    Nexikan liegt etwa 650 Kilometer nördlich von Magadan

    In den 17 Jahren im Umspannwerk inmitten dieser Mondlandschaft, wo einst das Leben pulsierte, hat sich der nexikanische Einsiedler in seiner kleinen Welt eingerichtet. Nicht weit von hier, in den nach wie vor belebten Ortschaften sind ihm Bekannte und Verwandte geblieben. Zum Totengedenktag kommen die zehn, zwanzig ehemaligen Nexikaner hier zusammen, die es nicht allzu weit in ihre alte Heimat haben. Die meisten schauen bei dem Einsiedler vorbei, um gemeinsam zum Friedhof zu fahren, die verstorbenen Angehörigen zu besuchen und zum Gedenken an die Toten dort ihre 100 Gramm zu trinken, wie es der Brauch ist.

    Zusammen mit Kuklin laufen sie auf der für die Goldgräber wertlosen Erde herum. Da wo einmal ihr Wohnort war, versuchen sie die Stellen zu finden, wo ihre Häuser standen, der Laden oder die Schule. Wladimir träumt davon, irgendwann genau zu wissen, wo sich was befand: „Ich hatte sogar den Gedanken, den Ort abzulaufen und überall Pflöcke mit Schildern aufzustellen. Wenn man herauskriegt, wo genau der Kindergarten war, kommt da ein Pflock mit Aufschrift hin. Wenn man die Stelle findet, wo die Schule stand, kommt da auch ein Pflock hin. Und wenn man weiß, dass hier eine Straße war, sagen wir mal die Offizerskaja, dann kommt da ebenfalls so ein Pflock hin, mit Schild.“ 

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  • Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Konturen der früheren Sowjetunion werden in der Forschung vielfach entlang der Bruchlinie von Repression und Widerstand aufgezeigt. Der Kulturanthropologe Alexei Yurchak hat in seinen Untersuchungen den Fokus verschoben. Er hat die offiziellen Strukturen und Rituale des früheren Sowjetstaates in den Blick genommen – und das, was die Menschen in ihren Alltagspraktiken daraus gemacht haben.

    Sein Buch Everything Was Forever, Until It Was No More (dt. Alles war für immer, bevor es verschwand) über die sowjetische Generation unter Breshnew ist inzwischen auf Russisch erschienen und Yurchak für seine Studie im vergangenen Jahr mit dem renommierten Buchpreis Proswetitel (dt. Aufklärer) in Russland geehrt worden. Das junge Medienprojekt Gorky traf ihn nun für ein Interview, sprach über Vererbtes ins Heute, Vergleiche mit den USA und verschobene Wahrnehmungen der Gesellschaft.

    Kulturanthropologe Alexei Yurchak über die Freiheit des Außerhalbseins, Repression und Widerstand und seinen Verzicht auf die Arbeit mit solchen Binärschemata – Foto © Alexei Yurchak
    Kulturanthropologe Alexei Yurchak über die Freiheit des Außerhalbseins, Repression und Widerstand und seinen Verzicht auf die Arbeit mit solchen Binärschemata – Foto © Alexei Yurchak

    Felix Sandalow: Beginnen wir mit einem zentralen Begriff Ihres Buchs – Freiheit des Außerhalbseins. Glauben Sie, dass es in der jetzigen russischen Gesellschaft Räume des Außerhalbseins gibt? Oder ist diese Erscheinung nur ein Charakteristikum des Lebens in der späten Sowjetunion?

    Alexei Yurchak: Das Bestreben, über die Beschränkungen des Gegensatzpaares Systemzugehörigkeit / Systemgegnerschaft hinauszugehen, ist in der postsowjetischen Zeit nicht verschwunden. Durch die Erfahrung aus der UdSSR im freien Umgang mit Gesetzen wurde ja die Entwicklung von Unternehmernetzwerken im frühen postsowjetischen Russland sehr  befördert. Eigentlich ist unsere gesamte Geschäftswelt aus diesen Räumen des Außerhalbseins hervorgegangen. Nehmen wir zum Beispiel die Entstehung des neuen Unternehmertums in den 1990er Jahren: Man kaufte im Westen Computer, brachte sie her und verkaufte sie. Und über den Preisunterschied wurde Kapital gebildet. Bei näherem Hinsehen stellt man fest: Das lief alles vorschriftsmäßig; es gab für alles Unterlagen und Zolldeklarationen – aber zugleich wurden normale Diskettenlaufwerke als viel teurere deklariert und vertrieben. Oder nehmen Sie das Verhalten der Zollbeamten: Ich habe damals in den USA studiert und bin oft nach Russland geflogen. Es gab ein Gesetz, nach dem Leute, die mehr als acht Monate im Ausland lebten, steuerfrei ein Auto einführen durften. Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar. Das heißt, man konnte in dieser Situation als Instrument fungieren, damit jemand anders Geld sparen kann. So kommt es zu einer performativen Verschiebung: Man kann die Form des Gesetzes reproduzieren und dabei dessen Sinn immer wieder ändern. Solche Verschiebungen gab es millionenfach.

    Und wie sieht es damit in den USA aus?

    Auch dort gibt es solche Zonen des Außerhalb. Zum Beispiel das Lager Guantanamo auf Kuba. Dorthin sind mutmaßliche Terroristen verbracht worden, die während des Irak-Feldzugs gefangengenommen wurden. Und da sich Guantanamo außerhalb des Hoheitsgebietes der Vereinigten Staaten befindet, gelten die US-Gesetze dort nicht. Man kann dort Menschen beliebig lange ohne Gerichtsverfahren und Ermittlung einsperren. Oder jemanden töten, ohne dass es als Mord gilt wie im demokratischen Amerika. Das ist das, was Giorgio Agamben als den Raum des Ausschlusses bezeichnet – und der US-amerikanische Staat nutzt ihn aktiv. Aber die Prinzipien, nach denen der Raum des Ausschlusses und der Raum des Außerhalbseins konstruiert sind, unterscheiden sich etwas voneinander, auch wenn die Erscheinungen selbst verwandt sind. Dieser Unterschied gleicht dem zwischen der liberalen und der sozialistischen Gesellschaft. In der liberalen Gesellschaft funktionieren die grundlegenden Bereiche über ein festgelegtes System aus Gesetzen und transparenten Institutionen. Aber es gibt Zeiten – etwa im Krieg – oder Orte, in denen sie außer Kraft treten. Diese Räume des Ausschlusses sind für liberale Gesellschaften sehr wichtig, weil sie sich dadurch ihre souveränen Grenzen vergegenwärtigen. Räume des Außerhalbseins waren hingegen ein wichtiger Bestandteil einer anderen Gesellschaft, nämlich der spätsozialistischen. Überhaupt war das Prinzip des Außerhalbseins die Funktionsgrundlage für das gesamte System des Spätsozialismus. Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn. Es gab vielmehr das Außerhalbsein als Prinzip, nach dem das gesamte sowjetische System funktionierte. Das heißt, es existierten keine autonomen Räume der Freiheit, die aus dem sowjetischen System herausgefallen wären. Dafür gab es aber jede Menge Räume des Außerhalb, in denen sich das System formal vollständig reproduzierte, aber der Sinn sich laufend verschob, manchmal bis hin zum völligen Gegenteil dessen, was ideologisch verkündet wurde.

    Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar

    Im Titel Ihres Buches ist von der „letzten sowjetischen Generation“ die Rede. Was denken Sie über die Generationentheorie? Sie ist plötzlich wieder populär geworden. Alle Welt spricht von den „Millenials“, und auch der Begriff „Putin-Generation“ ist im Umlauf. Inwieweit ist es überhaupt zulässig, mit solchen Konstrukten zu arbeiten?

    Die Rede von den Generationen beschreibt nicht notwendig ein Objekt, das von vornherein existiert. Sie erlaubt es auch, Generationen im Nachhinein zu schaffen. Dabei werden die Objekte zunächst im Diskurs hergestellt und treten dann in der Realität in Erscheinung. Dass Menschen im gleichen Jahr geboren wurden, bedeutet nicht, dass sie eine bestimmte Gruppe bilden. Manchmal ist es so und manchmal nicht. Generationen entstehen nicht einfach durch das gemeinsame Alter, sondern durch gemeinsame Erfahrungen oder Erlebnisse. Beispiele dafür sind die Kriegsgeneration oder die Generation der Kinder der Leningrader Blockade.

    Aber es gibt nicht immer zwangsläufig eine wichtige und gemeinsame Erfahrung, die alle Gleichaltrigen verbindet. Menschen sind bekanntlich verschieden. Sie beschäftigen sich mit unterschiedlichen Dingen und haben unterschiedliche Ansichten, auch wenn sie zur gleichen Altersgruppe gehören. Zudem werden ständig neue Menschen geboren, und die Generationsschichten sind nicht immer durch markante Stufen voneinander getrennt. Die klassische Theorie des Soziologen Karl Mannheim, der die Idee der Generationen als erster formuliert hat, ist schon vor langer Zeit kritisiert worden. Sie hat als erster Versuch auf diesem Gebiet einen bleibenden Wert, aber ihr Problem ist ein gewisser Positivismus. Sie betrachtet Generationen als soziale Objekte und setzt voraus, dass sie immer real existieren. Aber das stimmt nicht.

    In letzter Zeit sind Sie in Kalifornien tätig, an der Universität von Berkeley. Aber Sie halten auch Vorlesungen in Russland. Wie unterscheidet sich Ihrer Ansicht nach die akademische Welt in Russland von der in den USA?

    In Russland gibt es, grob gesagt, zwei akademische Welten. Eine ist mehr oder weniger traditionsverhaftet und findet sich vor allem in den Institutionen, die aus dem akademischen System der Sowjetunion hervorgegangen sind. Die Mitglieder dieser Welt publizieren vor allem in Russland und auf Russisch. Viele von ihnen sprechen keine andere Sprache. Das führt zu einer gewissen Isolation von der internationalen akademischen Gemeinschaft. Zwar werden ausländische Texte im Bereich der Sozialwissenschaften und der Philosophie nach und nach ins Russische übersetzt. Aber mit der Übersetzungsarbeit in die umgekehrte Richtung, aus dem Russischen in die internationalen Sprachen, steht es weitaus schlechter.

    Es gibt jedoch noch eine zweite akademische Welt, die sich aktiv am internationalen Wissenschaftsdiskurs beteiligt und regelmäßig zumindest auf Russisch und Englisch (oder Französisch und so weiter) arbeitet. Dazu gehören etwa die Europäische Universität St. Petersburg, die Higher School of Economics in Moskau und St. Petersburg und einige weitere Hochschulen in diesen Städten. Sie sind Auslandserfahrung gegenüber offener: Man reist in die wissenschaftlichen Zentren im Ausland. Man hat kein Problem damit, Professoren zu beschäftigen, die einen Teil ihrer Ausbildung im Westen erhalten haben, also etwa einen Doktorgrad in England oder den USA. Und manchmal werden sogar Ausländer eingestellt.

    Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn

    Das ist nicht deshalb nötig, weil die ausländische Ausbildung zwangsläufig besser wäre – sie ist es nicht immer, und darum geht es auch nicht. Diese Herangehensweise ist aus anderen Gründen wichtig. Sie ermöglicht es, sich aus dem geschlossenen Feld einheimischer Traditionen, Ansätze, sozialer Netze, Beziehungen und so weiter zu lösen und nicht nur den Forschungsgegenstand kritisch zu betrachten, sondern auch das akademische Feld, in dem er untersucht wird. Das führt zu einer offeneren und kritischeren Diskussion über Arbeiten, Forschungen, Konzepte und Methoden.

    Denn wenn Ideen nicht der Kritik unterzogen werden, weil die Grenzen des geschlossenen Bereichs von Traditionen und Überzeugungen dies nicht zulassen, dann kommen alle möglichen unwissenschaftlichen Theorien auf, wie etwa Lew Gumiljows Theorien zur Ethnogenese.

    Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem akademischen Milieu im Westen und dem in Russland. Die meisten Hochschullehrer in Russland haben – anders als etwa die Dozenten der führenden Universitäten in den USA – eine sehr hohe Lehrbelastung. Sie müssen ein extrem hohes Pensum an Unterrichtsstunden absolvieren. Es bleibt ihnen kaum Zeit, um wissenschaftlich zu arbeiten, Aufsätze zu schreiben und in den führenden Zeitschriften zu publizieren. Zugleich sind sie angehalten, den Zitationsindex für ihre Arbeiten kontinuierlich zu verbessern. Ihr Gehalt, ihre Karriere und so weiter hängen davon ab. Das führt bisweilen dazu, dass das Publizieren zum Selbstzweck wird, statt der wissenschaftlichen Arbeit zu dienen. Es erscheinen Publikationen in verschiedenen unseriösen Zeitschriften, die nur dazu da sind, dass man schnell und häufig gegen Bezahlung darin veröffentlichen kann.

    Jede Reform des Systems, die die russischen Universitäten auf internationalen Stand bringen soll, muss bei gleichbleibender oder höherer Bezahlung der Universitätsprofessoren ihr Unterrichtsdeputat stark reduzieren, damit das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit steigen kann. Hier liegt einer der offenkundigsten Unterschiede zwischen den westlichen und den russischen Universitäten. Das wäre letztlich auch für die Studenten viel vorteilhafter. Sie kommen auch mit weniger Unterrichtsstunden pro Woche aus, wenn sie dafür mit den Professoren unter vier Augen oder in kleinen Gruppen zusammenarbeiten können und in ihre Forschung einbezogen werden.

    Wie hat sich die Neuauflage des Kalten Krieges, die mit dem Konflikt in der Ukraine begann, auf die Sowjetologie ausgewirkt? Hat sie Einfluss auf das Interesse an Russland in den USA, auf Anzahl und Art der Publikationen?

    Die Sowjetologie als einheitliche Wissenschaft gibt es nicht. Das ist eher Wissenschaftsjargon für unterschiedliche Forschungsaktivitäten zur Sowjetunion. Die waren früher in der Regel stark von der Ideologie des Kalten Krieges beeinflusst. Häufig stehen sie in der Tradition von Hannah Arendts Konzept des Totalitarismus.

    Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate. Zum Beispiel wurde die sowjetische Gesellschaft als atomisierte Masse betrachtet, die keine politischen Inhalte hatte und vom Staat unterdrückt wurde. Auf den ersten Blick scheint es angemessen, in solchen Begriffen über die Sowjetunion zu sprechen. Aber sobald man näher hinschaut, zeigt sich, dass dieser Ansatz die Realität nicht nur vereinfacht, sondern völlig verfälscht.

    Die traditionelle amerikanische Sowjetologie hat derartige Modelle und Annahmen immer wieder in großer Zahl hervorgebracht und die Beschreibung der sowjetischen Gesellschaft auf die binären Kategorien der politischen Repression und des Widerstands reduziert. Es gab in der Sowjetologie auch eine andere Schule – die sogenannten Revisionisten, die sich mit der Erkundung der komplexen Gesellschaft innerhalb der Sowjetunion befassten. Durch ihren Verzicht auf den Totalitarismusbegriff förderten sie viele wichtige und interessante Erkenntnisse zutage. Aber auch sie konzentrierten sich auf den Widerstand als das grundlegende Paradigma der politischen Existenz in der Sowjetunion.

    Mein Buch rief eine Wirkung hervor, die einige als Schockeffekt bezeichnet haben, wohl gerade deshalb, weil die Brille Repression/Widerstand, durch die die Geschichte der UdSSR sehr lange betrachtet worden ist, darin offensiv hinterfragt wird. Die englische Ausgabe des Buches hat auf dem Gebiet der Sowjetstudien einen Wandel herbeigeführt. Die Wissenschaftler verwenden eine andere Sprache und verzichten auf binäre Modelle.

    Nun ist zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA die erweiterte russischsprachige Ausgabe in Russland erschienen. Und auch diesmal ernte ich viel Dankbarkeit für den Versuch, Methoden zur Analyse des sowjetischen Systems zu finden, die vom üblichen Binärschema abweichen. Das freut mich.

    Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Heute taucht die Binarität in den meisten westlichen und russischen Beschreibungen des Geschehens in Russland erneut auf. Oft hat man es mit Beschreibungen zu tun, nach denen die russische Gesellschaft in zwei Gruppen zerfällt. In der Sprache der Staatsmedien werden diese Gruppen als Patrioten (die Mehrheit) und als Fünfte Kolonne (die liberale Minderheit) bezeichnet. Und in der Sprache der liberalen Intellektuellen und Journalisten heißen sie „Watniki“  (oder „die 86 Prozent“) und „aufgeklärte, liberale Gemeinschaft“. Ich denke, dass diese binäre Beschreibung absolut nicht die Wirklichkeit widerspiegelt und entlarvt werden muss. In gewissem Sinne ist sie wirklich eine Rekonstruktion der Sprache des Kalten Krieges.

    Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate

    Noch einmal nachgefragt: Hat die Zuspitzung der politischen Lage irgendwelche Auswirkungen auf Ihr Forschungsgebiet?

    Das ist eine interessante Frage. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gab es sehr viele Studenten, die sich mit Slawistik, russischer Geschichte und dem modernen Russland befassen wollten. Zur Jahrtausendwende waren es bereits deutlich weniger. An einigen Universitäten ging die Zahl der Studenten so stark zurück, dass die Lehrstühle für russische Literatur und Sprache einfach abgeschafft wurden. Bei den Lehrstühlen für Geschichte sah es schon immer besser aus. Dort bewerben sich traditionell mehr Doktoranden, die sich mit Russland beschäftigen wollen, als etwa bei den Anthropologen.

    In letzter Zeit stelle ich aber auch dort fest, dass das Interesse an Russland unter den Doktoranden wieder wächst. Teilweise liegt das offensichtlich an der aktuellen politischen Situation. Trotzdem ist das Interesse an Russland in der anglo-amerikanischen Anthropologie weit geringer als das an vielen anderen Themen. Ein Beispiel: An der Fakultät für Sozialanthropologie in Berkeley bewerben sich jährlich vierhundert Leute für ein Promotionsstudium. Davon wollen sich vier oder fünf mit Russland beschäftigen. Weitere fünf bis sieben möchten zu anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas forschen. Das ist um eine Größenordnung weniger als die Anzahl der Doktoranden, die sich mit der Erforschung des Islam, des Finanzkapitalismus oder der Veränderung der menschlichen Gesellschaft durch neue Biotechnologien befassen wollen.

    Und noch etwas ist hier hervorzuheben: Der abrupte Abbau der Russlandforschung in den USA in der postsowjetischen Zeit war nicht nur durch einen objektiven Rückgang des Interesses an Russland bedingt, sondern auch dadurch, wie die US-Regierung die Bedeutung dieser Forschung interpretiert hat. So hat etwa der US-Kongress in den letzten Jahren die Mittel für Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion erheblich reduziert. Auch das hat zu nachlassendem Interesse an solchen Forschungsvorhaben beigetragen.

    Und dann stieg das Interesse an Russland plötzlich wieder heftig an, weil man nicht verstand, was dort tatsächlich geschieht und warum sich das so stark auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Es war vorgesehen, dass Russland den Weg der postkommunistischen Demokratisierung geht. Und auf einmal zeigte sich, dass das alles nicht so einfach ist. Diese Erkenntnis reifte ab 2011. Das begann mit den damaligen Wahlen in Russland und der Massenprotestbewegung gegen die Wahlmanipulationen. Darauf folgte die politische Abkühlung, dann die Entwicklungen in der Ukraine, auf der Krim und in Syrien. Plötzlich wurde deutlich, dass es in den USA einen haarsträubenden Mangel an Experten für Politik, Soziologie und Kultur des heutigen Russland gab. Diese Einsicht hat im akademischen Milieu zu zahlreichen Diskussionen geführt. So wird der Kongress jetzt wieder einige große und wichtige Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion finanzieren.

    Die russischsprachige Community auf facebook versucht zurzeit ständig, sich danach einzuteilen, ob man sich für oder gegen bestimmte historische Figuren positioniert. Die Binarität, von der Sie gesprochen haben, lässt sich am Beispiel der Internetgemeinschaft sehr deutlich verfolgen.

    Diese Art, die Vergangenheit zu analysieren, ist sehr verbreitet. Man wird aufgefordert, sich mit einer von zwei Rollen zu identifizieren: Konformist oder Nonkomformist. Aber eine solche Aufteilung vereinfacht die historische Wirklichkeit und ist in vieler Hinsicht durch moralische Einstellungen gegenüber der Sowjetzeit diktiert, die sich erst in der postsowjetischen Zeit herausgebildet haben.

    Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man nie an irgendetwas geglaubt hat, immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter. Das ist eine heroische Position. Man kann verstehen, dass sie heute wichtig ist, dass sie ein moralisches Kapital darstellt.

    Aber in der Sowjetzeit war das alles anders, und die Einstellung der meisten Bürger zum System war weder konformistisch noch nonkonformistisch. Sie war komplexer. In meinem Buch analysiere ich sie eingehend. Generell existierte damals für die Mehrheit weder der Begriff „Nonkonformismus“ noch das Ziel, sich in dieser Hinsicht zu definieren. Die sowjetische Geschichte wird heute nicht nur in den Sozialen Netzwerken vereinfacht, sondern auch auf der Ebene der staatlichen Rhetorik – und, wie schon gesagt, auf der Ebene der westlichen Rhetorik über die sowjetische Vergangenheit.

    Sehen Sie sich beispielsweise an, wie die sowjetische Vergangenheit in den sogenannten Besatzungsmuseen in den baltischen und osteuropäischen Staaten dargestellt wird. Das ist eine unglaubliche Vereinfachung, eine Wiederholung des binären Schemas. Das sozialistische Projekt und seine komplexe Geschichte kommen dort gar nicht erst vor. Es gibt nur sie und uns ihre Besatzungstruppen und unsere freie Nation, die immer eine Nation von Nonkonformisten war.

    Diese Methode ermöglicht es, die Geschichte unabhängig von unserer eigenen Rolle darzustellen. Wir werden weißgewaschen, die anderen werden angeschwärzt. Und so wird alles einfach. Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, dass es in Wirklichkeit gar keine Unterdrückung durch die Sowjetunion gegeben habe. Es geht darum, dass man die Geschichte des sowjetischen und osteuropäischen Kommunismus nicht auf das Schema von Repression und Widerstand reduzieren kann. Das ist ein großes politisches und ethisches Problem. Es ist wichtig, dem etwas entgegenzusetzen.

    Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter

    Wenn über die Gegenwart gesprochen wird, kommt man gleich auf die 1990er Jahre: War es damals soundso oder nicht? Kehren sie wieder oder haben sie nie aufgehört? Und so weiter. Sie sind regelmäßig in Russland. Haben Sie den Eindruck, dass sich die gesellschaftlichen Gegensätze in den letzten Jahren verschärft haben?

    Um das zu verstehen, muss man sich ansehen, wie die aktuellen politischen Ereignisse beschrieben werden – und zwar nicht nur in den Staatsmedien, sondern auch in der Sprache der sogenannten liberalen Opposition. Ihr dominierender rechter Teil, der, der zwischen Watniki und freien Menschen unterscheidet, propagiert ein Schema, demzufolge 86 Prozent der Einwohner Russlands keinen Verstand haben und gebändigt gehören.

    86 Prozent – das ist eine haarsträubende Zahl. Sie ist eine Erfindung sogenannter Meinungsumfragen, die in Wirklichkeit nichts beschreiben. Die Methoden zur Erhebung solcher Informationen haben sehr wenig mit dem zu tun, was in der Welt vor sich geht. Bei der Befragung werden den Menschen relativ einfache Fragen über ihre Haltung zu dieser oder jener Politik oder Tatsache gestellt. Wenn man sich jedoch mit den Leuten unterhält, oder noch besser, wenn man sich einfach anschaut, wie sie sich verhalten und wie sie sich in ganz verschiedenen Kontexten äußern, dann zeigt sich, dass sie eine Menge verschiedener, komplexer und manchmal widersprüchlicher Einstellungen zur Wirklichkeit haben, in der sie leben. Aber diese Ambivalenz passt nicht in das binäre Schema. Nur etwas Markantes, Grelles, Großes kann die Menschen durch die Medien erreichen. Und schon spricht man auf facebook von der Fünften Kolonne oder den Watniki. Ich betrachte das als ein politisches Projekt, das die Reproduktion von Macht fördert.

    In Wirklichkeit lässt sich die russische Gesellschaft nicht in die große Watte und die kleine Freiheit einteilen. Sie ist viel komplexer. Ich bin sicher, dass wir die Gesellschaft im Falle eines politischen Führungswechsels von einer ganz anderen, unerwarteten Seite kennenlernen würden. Es wird sich herausstellen, dass wir sie mit unserem Binärschema überhaupt nicht verstanden haben. Genau so war es auch am Ende der Perestroika, als die ewige Sowjetunion unerwartet zusammenbrach.

    Es entsteht der Eindruck, dass Zeitgenossen, die sich Gedanken darüber machen, was im Land vor sich geht, drei Möglichkeiten zur Auswahl haben: a) sich mit einem Plakat auf die Straße zu stellen, b) zu emigrieren, c) eine Alternative zu diesen beiden Optionen zu entwickeln. Was meinen Sie dazu?

    Der Begriff der politischen Aktivität ist ein schwieriger Begriff. Nehmen Sie die typischen Leute aus meinem Buch, die an Versammlungen teilnehmen und für das stimmen, wofür in diesem Augenblick gerade gestimmt werden soll. Sie als apolitische Konformisten zu bezeichnen, wäre völlig falsch. Zunächst muss man verstehen, was da geschieht. Das habe ich in meinem Buch unternommen, und es hat dazu geführt, dass ich neue Begriffe vorgeschlagen habe – etwa die Politik und die Freiheit des Außerhalbseins, die meiner Meinung nach die Sowjetunion von innen heraus zerstört haben.

    Die Politik des Außerhalbseins lässt sich nicht auf Konformismus oder Nonkonformismus reduzieren. Auch über die gegenwärtige Situation kann man Ähnliches sagen. Es gibt einen interessanten Sammelband, der von einem Team politischer Soziologen und Anthropologen aus Moskau und St. Petersburg herausgegeben wurde: Die Politik der Apolitischen: Die Bürgerbewegung in Russland in den Jahren 2011–2013. Dort geht es um die Frage, was eine „apolitische Haltung“ denn eigentlich ist. Denn der Begriff ist ein Etikett, der eine moralische Bewertung der Person impliziert.

    Es gibt Kontexte, in denen Menschen mit scheinbar unpolitischen Methoden um sich herum soziale Räume schaffen, die nicht von den staatlichen Machtinstitutionen kontrolliert werden. Das ist eine politische Aktion, die nicht unbedingt mit den Methoden einer direkten Politik des Widerstands durchgeführt wird und deshalb apolitisch erscheinen kann. Doch tatsächlich hat sie weitreichende politische Konsequenzen.

    Eine originär apolitische Haltung ist es, wenn jemand darauf pfeift, was mit ihm selbst und den Menschen in seiner nächsten Umgebung geschieht, wenn er nicht verfolgt, was sich um ihn herum ereignet, wenn er sich vor allem auf den Konsum konzentriert und so weiter. Also das, was manchmal als Eskapismus bezeichnet wird. Viele Menschen auf der ganzen Welt leben so, auch in liberalen Gesellschaften.

    Aber es ist etwas ganz anderes, wenn Sie bestimmte Überzeugungen haben, sich jedoch nicht politisch engagieren möchten, indem Sie an Kundgebungen teilnehmen oder an organisierten politischen Aktionen und Bewegungen. Vielleicht sind Sie nicht damit einverstanden, welche Probleme auf den politischen Demonstrationen der Opposition dargestellt werden – wenn dort beispielsweise das liberale Establishment das Wort führt, dem sich viele nicht anschließen wollen. Mir persönlich ist der neoliberale Diskurs fern, der in der Opposition den Ton angibt. Gemäßigt linke Grundsätze und die direkte Demokratie liegen mir wohl näher. Deshalb würde ich nicht mit großer Überzeugung zu Veranstaltungen gehen, wo die Redner ein neoliberales Programm vertreten.


    Die russische Originalveröffentlichung dieses Interviews wurde unterstützt durch die Initiative Buchprojekte von Dimitri Simin und den Buchpreis Proswetitel (dt. Aufklärer). Beide Initiativen führen die Arbeit der gemeinnützigen Stiftung Dinastija fort, einer der wichtigsten privaten Stiftungen Russlands, die sich vor allem im Bereich Wissenschaft engagierte. Dinastija, gegründet 2002 vom Philanthropen und Unternehmer Dimitri Simin, löste sich im Juni 2015 auf, nachdem die Stiftung in das Register der sogenannten ausländischen Agenten eingetragen wurde.

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  • Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Wer hat Irkutsk vergiftet?

    Die russische Regierung will dem Alkoholmissbrauch im Land seit Jahren Einhalt gebieten. Trinkverbote auf offener Straße und nächtliche Verkaufsverbote wurden erlassen, auch an der Preisschraube wurde gedreht. Teils konnte die Staatsführung dadurch Erfolge erringen. Nun spielt sich im ostsibirischen Irkutsk eine Tragödie ab. Mehr als 110 Menschen sind von einer Methanolvergiftung betroffen. Darunter sind mehr als 70 Tote zu beklagen, in der Region wurde der Notstand in Kraft gesetzt. Selbst Premier Dimitri Medwedew spricht jetzt davon, es sei “wie in den Neunziger Jahren”. Die Wirtschaftskrise trieb damals viele Menschen dazu, statt Wodka billigen Fusel zu kaufen oder selbst zu brennen. Auch auf Mittelchen aus dem medizinischen oder Haushaltsbereich greifen die Menschen immer wieder zurück. Aktuell befindet sich Russland erneut in einer tiefen Rezession.

    Für 2016 spricht die Verbraucherschutzbehörde bisher von mehr als 36.000 Fällen schwerer Alkoholvergiftung, darunter mehr als 9.000 mit tödlichem Ausgang. Bekannt sind zudem mehr als 550 schwere Vergiftungen mit Methanol, das aus Kostengründen häufig illegal unter anderem Reinigungsmitteln zugesetzt wird. Die meisten dieser Fälle endeten tödlich.

    In Irkutsk nun wurde ein gepanschter Badezusatz von den Ermittlern als Ursache für die Vergiftungswelle ausgemacht. Alexej Tarassow fragt in seinem Meinungsstück für Novaya Gazeta: Wie kann so etwas passieren?

    Foto © Wladimir Smirnow/TASS
    Foto © Wladimir Smirnow/TASS

    Der Badezusatz Bojaryschnik, mit dem sich am Wochenende im Irkutsker Stadtteil Nowo-Lenino etliche Leute vergiftet hatten, war ein Imitat. In der Mixtur war kein Ethylalkohol, sondern Methylalkohol. Methanol. Gift. In dem Gemisch wurde außerdem Frostschutzmittel gefunden. Ethylenglycol. Ebenfalls Gift. Bis Dienstag 15 Uhr Ortszeit waren 54 Personen daran gestorben [inzwischen ist die Zahl auf über 70 gestiegen – dek]. Die Wirkung von Methanol tritt erst mit Verzögerung ein, manchmal erst nach drei Tagen (sie hängt nicht nur von der konsumierten Menge ab, sondern auch von dem, was man dazu gegessen hat, und ob daneben Ethylalkohol konsumiert wurde – der in diesem Falle als Gegengift wirkt). Unter die Liste der Opfer kann also noch kein Schlussstrich gezogen werden. Von den 28 Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, befinden sich 13 in kritischem Zustand und werden künstlich beatmet.

    Die Rettungsteams haben (in fast gleicher Zahl) Männer und Frauen zwischen 35 und 50 Jahren aus unterschiedlichen Straßen und Häusern, aber aus demselben Stadtteil und mit den gleichen Symptomen eingeliefert: akute Vergiftung, toxischer Schock. Es ist nicht so, dass es nur Menschen betraf, die ganz unten sind; viele hatten Arbeit. Unter den Opfern ist beispielsweise auch eine Erzieherin aus einem Kindergarten.

    Die Polizei und das Ermittlungskomitee haben in Nowo-Lenino die Märkte sowie hunderte Verkaufsstellen für Hochprozentiges durchkämmt und tonnenweise gepanschte Produktfälschungen beschlagnahmt. Darunter nach Angaben des Ermittlungskomitees mehr als 2000 Fläschchen Bojaryschnik mit insgesamt über 500 Litern Flüssigkeit.

    Auf dem heiter daherkommenden Etikett des Badezusatzes Bojaryschnik (250 Milliliter für 60 Rubel [knapp 1 Euro – dek]), das als Inhaltsstoffe Ethylalkohol, Weißdornextrakt und Zitronenöl verspricht, ist eine prächtige Stadtansicht Petersburgs zu sehen. Als Hersteller ist die Petersburger OOO Legat vermerkt. Offen zugänglichen Angaben der Steuerbehörden zufolge wurde dieses Unternehmen vor vielen Jahren abgewickelt. Allerdings gelangen regelmäßig Produkte einer OOO Legat in den Handel. Erst im November ist einer der Gründungsgesellschafter, die OOO Rosstroilising, in Konkurs gegangen. Aber von Anfang an war klar: Das Land ist groß und es gibt viele findige Leute, sodass das Methanol wer weiß wo in die Flaschen gelangt sein kann. Zu Vergiftungen ist es bislang nur in einem Wohngebiet von Irkutsk gekommen. Klar ist allerdings, dass es eine ganze Warenpartie war, nicht weniger. Die Spuren der letzten Massenvergiftung durch Produktfälschung in Krasnojarsk hatten übrigens ins Moskauer Umland geführt.

    Kein Verkaufstrick mehr, sondern Massenmord

    Jetzt wurde innerhalb von 24 Stunden die erste Untergrund-Abfüllanlage für Bojaryschnik ausfindig gemacht: im Gartenbaubetrieb namens 6. Fünfjahresplan unweit von Nowo-Lenino. Zwei der Besitzer und fünf Verkäufer wurden festgenommen, 47 Kanister mit dem Getränk beschlagnahmt. Dabei wurden dort auch Wodkafälschungen der Marken Zarskaja Ochota [Zarische Jagd], Finskoje Serebro [Finnisches Silber] und Belaja Berjosa [Weiße Birke] entdeckt. Eine zweite Anlage wurde am Dienstag in einer ehemaligen Molkerei in Schelechowo gefunden. Außer Bojaryschnik wurden dort auch Vitasept und Tschisty S aus demselben Produktsegment abgefüllt. Die Proben werden derzeit auf Methanol untersucht.

    Im Gebiet Irkutsk wurde der Notstand in Kraft gesetzt, offizielle Trauer verkündet und der Handel mit nicht zum Verzehr bestimmten stark alkoholischen Flüssigkeiten vorübergehend verboten. Man wird wohl eine Zeit lang ohne Corvalol und Frostschutzmittel fürs Auto auskommen müssen. Der Kreml hat die Vorkommnisse in Irkutsk als schreckliche Tragödie bezeichnet. Gleichzeitig weiß Dimitri Peskow nichts von irgendwelchen Schlüssen, die das Staatsoberhaupt daraus gezogen hätte: „Das ist kein Thema für die Präsidialverwaltung, dafür ist das Kabinett zuständig.“

    Die Methode dieses Massenmords besteht aus zwei ganz einfachen Schachzügen. Sie ist ein Klassiker. Schlichte russische Geschäftspraxis. Der erste Schritt ist es, sich ein Markenzeichen auszusuchen, das in unteren Schichten populär ist. Bojaryschnik ist so eins. Jeder, der ganz unten ist, kennt die kleinen gläsernen Flacons (nicht mehr als 100 Milliliter) mit der Tinktur, die früher ausschließlich in Apotheken verkauft wurden. Jenes Bojaryschnik, mit dem die Leute in Irkutsk vergiftet wurden, ist kein solches Elixier, sondern eine Haushalts-Chemikalie, die in Plastikflaschen zu 250 Milliliter abgefüllt wurde.

    Ist Schritt eins noch ein findiger Verkaufstrick, dann ist Schritt zwei bereits vorsätzlicher Massenmord. Wenn mit einem Mal nämlich kein Ethyl- sondern Methylalkohol verwendet wird. Warum? Wer hat etwas davon?

    Die Staatsanwaltschaft veranlasste Wohnungsbegehungen bei den Opfern, ihren Bekannten und Angehörigen. Und bei potenziellen Opfern. Polizisten gehen durch die Bauman-, die Jaroslawski-, die Sewastopoler und die Pionierstraße, schauen in die Keller und bei den Fernwärmeleitungen. Die Beamten haben zwei Aufgaben: Tote und Komatöse zu suchen sowie Bürger zu informieren, die noch ahnungslos sind.

    Wer wird denn schon vermisst?

    So ist das immer, es ist nicht das erste Mal. Der Unterschied ist nur, dass jetzt die für die Region zuständige Hauptverwaltung des Katastrophenschutzministeriums massenhaft SMS mit der Bitte verschickt, keine „stark alkoholhaltigen Flüssigkeiten zu sich zu nehmen, die bei nicht genehmigten Handelsstellen erworben wurden“. Früher waren in solchen Situationen Lautsprecherwagen durch die Straßen gefahren.

    Wie zum Beispiel im Sommer 1997 in einem Teil von Krasnojarsk. Seinerzeit waren nach offiziellen Angaben 22 Menschen zu Tode gekommen, zwölf hatten schwere bleibende Gesundheitsschäden davongetragen, nachdem Methanol in Wodkaflaschen abgefüllt worden war. Die Rechnung im Volk ging anders: Rund hundert Leute seien erblindet und rund siebzig innerhalb eines Jahres gestorben. Tatsächlich sind alle Angaben nur ungefähr: Die Sache passierte in den Elendsvierteln. Wer zählt da alle durch, in den Kellern und auf den Dachböden? Wer wird denn schon vermisst? Viele hatten ja zur Stunde ihres Todes bereits alle sozialen Bindungen verloren.

    Vor einem Jahr, ebenfalls am Wochenende, ebenfalls durch Methanol, diesmal jedoch in Flaschen mit Jack Daniels auf dem Etikett, die übers Internet vertrieben wurden. Elf Krasnojarsker starben auf einen Schlag. 27 blieben als Krüppel zurück. Jener Jack Daniels forderte auch später noch seinen Tribut, im April dieses Jahres etwa, als eine Vierzehnjährige und ein Vierundvierzigjähriger dadurch umkamen.

    Nun also Bojaryschnik. Davor waren es Troja und Trojar, Badreiniger (90-prozentiger Ethylalkohol). SSHMT („denaturierte flüssige Multikomponentenmischung, für technische Zwecke“). Der Haushaltsreiniger Tschisty S (technischer Ethylalkohol, auf 75 Prozent verdünnt). Rosinka. Der Duft Kanskaja. Ljux (ebenfalls 75-prozentig), „zum Waschen und Reinigen von Autoscheiben und -spiegeln“.

    In der Region Krasnojarsk und im Gebiet Irkutsk gab es besonders viele Mixturen und Mittel, da hier eine unglaubliche Menge biochemischer Fabriken und Hydrolyse-Produktionsanlagen konzentriert war. Aber alle schon lange geschlossen (und verrammelt). Es gab Nitchinol. Und dann alle möglichen braunen Fläschchen: Tinkturen zu 100 Milliliter aus der Apotheke für 20 bis 25 Rubel. Viele gab es davon, und gibt es, und wird es wohl weiterhin geben … Amen!

    Der für den Alkohol-Sektor verantwortliche Vize-Premierminister Alexander Chloponin forderte dieser Tage, eine Besteuerung für alkoholhaltige Kosmetika und Medikamente einzuführen (lebensnotwendige Präparate ausgenommen), und beauftragte das Finanzministerium, entsprechende Gesetzesänderungen vorzubereiten. Solche Maßnahmen kennen wir schon, ihre Wirkung ist hinlänglich bekannt. Die Frage – trinken oder nicht trinken? – stellt sich für ausgesprochen viele Mitbürger gar nicht; trinken werden sie ohnehin, aber bei den begrenzten Mitteln nach günstigen Alternativen suchen. Die Nachfrage schafft das Angebot.

    Wer mischt Gift in etwas, was andere trinken?

    Um das nochmal klarzustellen und Missverständnisse zu vermeiden: Chloponin sprach über echte Bojaryschniki, Chili-Tinkturen und andere hochprozentige Destillate in Mengen von bis zu 100 Milliliter – genau solche fallen aktuell noch nicht unter die Alkoholbesteuerung. Aber Irkutsk hat sich an etwas ganz anderem vergiftet.

    Gleichwohl forderte Dimitri Medwedew in der Kabinettssitzung die Aufmerksamkeit auf ein „Geschäft zu richten, das im Wesentlichen darauf abzielt, normalen Alkohol vom Markt zu verdrängen. Surrogaterzeugnisse werden oft unter dem Deckmantel von Medikamenten verkauft, auch über Automaten“. „Das ist ein Skandal und es ist klar, dass dem ein Ende gesetzt werden muss – der Handel mit derartigen Präparaten gehört einfach verboten“, erklärte der Premier.

    Chloponin antwortete, die Gesetzesänderungen seien vorbereitet und berücksichtigten „alle Fragen zu verzehrbaren und unverzehrbaren Zusätzen und Trink-Lotionen. All diese Erzeugnisse werden künftig strikt erfasst und kontrolliert durch das EGAIS-System [System zur automatischen Erfassung von Produktions- und Absatzmengen unter anderem von Alkohol – dek], sodass sie nicht illegal in Umlauf gelangen können. Wenn es sich um medizinische Produkte handelt, so werden diese nur auf Rezept ausgegeben. Ansonsten sind sie voll steuerpflichtig, sie werden sich vom Preisniveau her nicht unterscheiden.“

    Da gibt es noch ein Missverständnis, nicht neu und äußerst hartnäckig. Es ist Usus geworden, zwei Probleme, zwei Phänomene zu vermischen: Ja, Leute vergiften sich auch mit all diesen Glasreinigern und Badezusätzen, aber doch nicht sofort und gleich und gleichzeitig und in Massen.

    Die andere ganz konkrete Frage lautet: Wer mischt Gift in etwas, was andere Mitbürger trinken, sei es auch offensichtlicher Fusel? Ja, auf der Flasche Bojaryschnik steht ein Warnhinweis: „Nur zur äußeren Anwendung!“ Aber auch ein Bad in Methanol ist gefährlich. Methanol ist überhaupt nicht für den Alltagsgebrauch bestimmt.

    Verschwörungstheorien schießen ins Kraut

    Für viele steht eine Frage im Mittelpunkt: Wer vergiftet uns? Darauf wird Ihnen niemand antworten – weder die Staatsanwaltschaft, noch das Fernsehen, noch Medwedew oder Chloponin und auch nicht das Ermittlungskomitee oder der Katastrophenschutz.

    Auf den Etiketten der Bojaryschniki, an denen sich die Irkutsker vergiftet haben, ist keine GOST-Zertifizierung zu finden. Da sind nur die Inhaltsangaben des Herstellers, in denen es heißt: Ethylalkohol. Warum lässt sich diese Ratte nicht finden, die sich einen Dreck um diese Angaben schert? Wo soll man sie suchen? Im Gartenbaubetrieb 6. Fünfjahresplan? Und wozu war das nötig? Dem Geschäft ist das doch überhaupt nicht zuträglich, wie man es auch dreht und wendet. War es ein Fehler? Oder wird hier um den Markt gekämpft, sind es Machenschaften unter Konkurrenten?

    Und wenn es ein Kampf um den Markt ist, wer kämpft da gegen wen? Schlagen sich die Illegalen mit den Fälschern oder ist es eine Attacke des legalen Segments auf die, deren Produktion fünf Mal billiger ist? Oder auf die, bei denen die Nachfrage (auf ihre Surrogate) jährlich um 20 Prozent steigt (Angaben der staatlichen Alkohol-Regulierungsbehörde)? Handelt es sich um Marketing kurz vor den Feiertagen dafür, dass man lieber bei den großen Ketten einkaufen solle?

    Die Medien in Irkutsk zitieren schon Andrej Tschernyschew von Einiges Russland rauf und runter, den Wahlkreis-Abgeordneten der Duma: Er hat sich für ein vollständiges Verkaufsverbot von ähnlichen Flüssigkeiten ausgesprochen. Dem Abgeordneten untersteht der Großhandel Jurmiko, in Ostsibirien einer der bedeutendsten Anbieter für Alkohol.

    Von dem, was derzeit über die Hintergründe durch sibirische Städte geistert, sei hier beispielhaft ein kurzer Abriss wiedergegeben: Die vorherige Vergiftung in Krasnojarsk geschah genau zu der Zeit, als Chloponin eine Erweiterung des EGAIS-Systems angestrengt hat. Sprich: Als der Staat versucht hat, mehr Kontrolle über den verkauften Alkohol zu gewinnen. So habe der Notfall damals Chloponins Ausgangsposition gestärkt.

    Nun gibt es wieder eine Vergiftung – als stünde das mit seinen Versuchen in Zusammenhang, den Markt zu ordnen. Als Chloponin noch Gouverneur im Krasnojarsker Kraj war, hatte er sehr ernstzunehmende Leute in der amtlichen Aufsicht über die Alkoholproduktion installiert. Mit dem Geheimdienst im Rücken, dem Militärgeheimdienst. Als Chloponin auf der Karriereleiter aufstieg und wegging, waren sie es, die blieben. Es kostet die doch nichts, heißt es da von Seiten hiesiger Verschwörungstheoretiker, so eine Sabotage zu organisieren.

    Keine Frage, die aktuellen Fälle sehen nach einem Angriff oder nach Sabotage aus. Aber niemand von denen, die da an eine Verschwörung glauben, stört sich daran, dass es solche Methanol-Vergiftungen vor nicht allzu langer Zeit genauso gut in der Pensenskaja Oblast und ebenso in Orenburg gab. Ja, solche Fälle gab es gar im Ausland. Auch wenn dort keine Badreiniger gefälscht werden.

    Ein Land, in dem die einen frommen Gläubigen nicht davor zurückschrecken, gefälschten Bojaryschnik zu produzieren, während die anderen ihn trinken – weil sie sich keinen Wodka leisten können, obwohl sie in Arbeit sind. Dieses Land ist offensichtlich irgendein anderes Russland, nicht das, das im Fernsehen gezeigt wird, wo es sich groß nennt und vorgibt, eine gewichtige Kraft innerhalb einer multipolaren Welt zu sein.

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  • Die Täter-Debatte

    Die Täter-Debatte

    Vier Jahre lang hatte Denis Karagodin gesucht, Schlagzeilen gemacht, viel Unmut erregt. Nun gab er öffentlich bekannt, die Menschen identifiziert zu haben, die seinen Urgroßvater 1938 im Auftrag des Staates ermordet haben sollen. Was er sich wünscht? Dem Töten Namen und Gesichter zu geben, verbunden mit juristischen Konsequenzen, einem Strafverfahren. Etwas, das in Russland im Umgang mit Stalins Großem Terror der 1930er Jahre bisher nicht geschehen ist. Nun ging ein Einzelner los, um das öffentlichkeitswirksam zu ändern, zu versuchen, einem der mehr als eine Million Opfer von damals Täter gegenüberzustellen. Mit der Nennung von Namen – woran sich eine breite öffentliche Debatte entzündet hat.

    Historiker und Journalist Sergej Medwedew fragt sich für das liberale Webmagazin Republic: Wieso erfährt der Enkel mit seinen Recherche-Ergebnissen dabei so viel Gegenwind?

    „In der Gorochowaja-Straße herrscht Panik …“ Die regierungsfreundlichen Medien in Russland sind in Wallung. Ein Kommando ging durch ihre Reihen: Anzuprangern sei die Studie von Denis Karagodin über die Erschießung seines Urgroßvaters 1938 durch die Tschekisten.

    „Die liberal-nationalistische Clique hat seit einigen Tagen einen neuen Helden“, giftet die Föderale Nachrichtenagentur. „Dieser Herr hat eine wahrlich antisowjetische Heldentat vollbracht: Er hat die Namen aller ermittelt, die an der Repression seines Urgroßvaters beteiligt waren.“ Zu den Anklägern gehörten außerdem die Izvestia und die Komsomolskaja Prawda, am weitesten ging jedoch Konstantin Sjomin, Moderator der Sendung Agitprop auf Rossija 24, der geradeheraus sagte, jede Rede von einem Geschichtstrauma sei ein Versuch, den Staat zu zerrütten, und dass der Zerfall der UdSSR mit dem Abriss des Dserschinski-Denkmals begonnen habe.

    Was erscheint so besonders an Karagodins Veröffentlichung der Namen jener, die an der Ermordung seines Urgroßvaters beteiligt waren, wo doch allesamt längst tot und die Fälle verjährt sind? Und welche Gefahr soll für das Regime von der jüngst von Memorial publizierten Andrej-Shukow-Liste ausgehen? Hier wurden detaillierte Informationen zu über 40.000 Mitarbeitern des NKWD aus den Jahren 1935 bis 1939 zusammengetragen. Es ist eine Art Wikipedia des NKWD von vor 75 Jahren.

    Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens

    Im Grunde können diese Informationen nur von akademischem und archivarischem Interesse sein und dürften wohl kaum juristische Folgen haben. Die Eile jedoch, mit der sich die Propagandisten des Regimes daran gemacht haben, die Arbeit von Karagodin und die Shukow-Liste in Misskredit zu bringen, zeugt davon, dass diese Akte des Gedenkens einen wunden Punkt getroffen haben, jene Nadel, mit der im Tod des unsterblichen Koschtschei auch der staatliche Terror seinen Abschluss finden kann.

    Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens, so wie das unentrinnbare kalte Klima. Anonym waren die Urteile der Troikas und die Kämpfer der Erschießungskommandos; die Namen der Ermittler und Denunzianten liegen verborgen in den Archiven des KGB.

    Nach 1956 galt in der UdSSR ein unausgesprochener Pakt, durch den es zu einem Abtausch kam: Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus gegen Entpersonifizierung der Ausführenden des Terrors. Jede Information über die Repressionen hat der KGB sorgsam zensiert. In den persönlichen Akten der Opfer wurden die Namen der Ermittler und Denunzianten geschwärzt, den Angehörigen wurden Akten mit zugeklebten oder herausgerissenen Seiten vorgelegt. Man dachte, der Akt einer Rehabilitierung reiche aus, damit jemand Satisfaktion empfindet: Er hat ja überlebt (alternativ: er wurde zwar erschossen, aber der gute Ruf ist wiederhergestellt), Gott sei Dank. In einer Situation, in der man sich ständig auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand, galt ein Staat, der nicht erschießt, schon als großer Segen.

    „Gern hätt’ ich sie alle mit Namen genannt“, schrieb Anna Achmatowa in ihrem Requiem. Allerdings wurde nur von einer Nennung der Opfer geträumt, von den Tätern war gar nicht erst die Rede. In der Ära Chruschtschow wurden die Ermittler des NKWD von den Stellen der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen, die auch mit den Rehabilitierungen befasst waren. Zu tatsächlichen Strafen wurden nur einige wenige verurteilt – überwiegend folgten verwaltungsrechtliche Strafen, Entlassungen, Entzug der Rente, Aberkennung von Rang oder Titel. Nach Angaben des Historikers Nikita Petrow sind bei den Prozessen, die unter Chruschtschow offen gegen Stalins leitende Tschekisten geführt wurden, über Berija hinaus nicht mehr als 100 Menschen zur Verantwortung gezogen worden. Unter Breshnew und Gorbatschow ist dieser Prozess ganz zum Erliegen gekommen. Es wurden zwar einzelne entlarvende Materialien veröffentlicht, etwa über den Ermittler Alexander Chwat, der Nikolaj Wawilow gefoltert hat; oder über Generalleutnant Wassili Blochin, Kommandantur-Chef des OGPU-NKWD-MGB, der persönlich zwischen zehn- und fünfzehntausend Menschen erschossen hat. Doch waren das nur einzelne Fälle, die ohne juristische Folgen blieben.

    Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße oder in der Schlange vorm Geschäft, bisweilen saßen sie sogar beisammen und tranken miteinander (bekannt wurde eine solche Begebenheit mit Juri Dombrowski). Das alles geschah in dem anonymen Raum namens Sowjetvolk. In dessen Mitte klaffte ein riesiges schwarzes Loch namens „Repressionen“ – doch dieser Abgrund wurde von allen penibel gemieden, vom offiziellen staatlichen Bereich bis in die persönlichen Familiengeschichten, wo das Thema sorgsam beschwiegen wurde.

    Unterdessen bot dieser Schweigepakt die Gewähr für eine Fortführung des Terrors. Genau wie das Räderwerk der Stalinschen Repressionen anonym arbeitete, so lief auch die Verfolgung der Dissidenten unter Breshnew anonym: Hier war die Maschine der Strafpsychiatrie am Werk.

    Heute haben wir es mit der anonymen Gewalt des Systems von Polizei- und Sicherheitsbehörden zu tun, in dem Folter die Regel ist und nur einzelne Fälle an die Öffentlichkeit gelangen, etwa die Folter im Polizeiabschnitt Dalny in Kasan, der Fall Magnitski, der Fall Ildar Dadin. Hunderte anderer Polizeiabschnitte, Untersuchungsgefängnisse und Strafkolonien jedoch bleiben Gebiete der totalen, entpersonifizierten Gewalt.

    Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße, saßen sogar beisammen und tranken miteinander

    Wie auch tausende Haushalte in Russland, in denen alltäglich, allstündlich Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden (in Russland sterben offiziell bis zu 40 Frauen täglich durch Schläge, und wie viele weitere Todesfälle die Ärzte und Polizisten unter anderen Ursachen einordnen, weiß nur Gott). Häusliche Gewalt gilt in Russland als Regelfall; sie bleibt unerwähnt und anonym, gewöhnlich wird sie nicht angesprochen, nicht der Polizei gemeldet. Und jetzt wird einem neuen Gesetzentwurf zufolge beabsichtigt, sie zu entkriminalisieren, indem sie aus dem Bereich des Strafrechts in den der Ordnungswidrigkeiten überführt wird. Bekannt werden nur Fälle, die in die Sozialen Netzwerke gelangen, wie jüngst in Orjol, als die Polizei sich weigerte, einer jungen Frau zu helfen. Die Beamten versprachen, sollte sie getötet werden, ihre Leiche zu Protokoll zu nehmen – und tatsächlich prügelte ihr Lebensgefährte sie eine halbe Stunde später tot.

    Das Problem ist, dass Gewalt in Russland eine sozial anerkannte Norm ist, ein Weg, um Probleme zu lösen und Beziehungen zu klären, ein Mittel der Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung, Mann und Frau, Eltern und Kind, Lehrer und Schüler. Genau deshalb brauchen wir eine Entautomatisierung und Entanonymisierung von Gewalt; sie muss beim Namen genannt, genau beschrieben und verurteilt werden.

    Unsere Gesellschaft wird erwachsener und beginnt, über Gewalt zu reden. Allein über das Jahr 2016 kam es zu dem Flashmob Ich habe keine Angst zu reden, in dem Frauen erstmals von ihrer als standardmäßig erlebten Erfahrung sexueller Gewalt und Erniedrigung sprachen; zum Offenlegen des Skandals an der Schule Nr. 57 in Moskau, wo erstmals die Namen jener Lehrer genannt wurden, die eine Beziehung mit Schülern eingegangen waren. Zum Abschluss dieses Jahres übergibt der geheimnisvolle Sammler Andrej Shukow, der 15 Jahre lang Dossiers und persönliche Akten von Mitarbeitern des NKWD aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gekauft hat, noch eine Liste zur Veröffentlichung an Memorial; und dann kommt der furchtlose Philosoph Denis Karagodin aus Tomsk, der vier Jahre lang hartnäckig in den Archiven des KGB die Namen jener Mitarbeiter gesucht hat, die seinen Urgroßvater verurteilt und erschossen haben, bringt alle Namen in Erfahrung und rekonstruiert das gesamte Verbrecherteam, das an dem Mord beteiligt war: Vom Fahrer des Schwarzen Raben und der Schreibkraft beim NKWD bis hin zu Jeshow und Stalin. Wenn Namen genannt werden, dann löst sich die Kette des Schweigens, die Gesellschaft wird von der mafiösen Omertà befreit.

    Das ist wichtig, weil die Gewaltkultur in Russland auf zwei Säulen ruht: auf dem Recht des Stärkeren und dem Schweigen des Schwächeren, wobei Letzteres nicht weniger wichtig ist als das Erste. Erinnern Sie sich, wie alle die Frauen angingen, die endlich von den Vergewaltigungen und den Belästigungen sprachen: Die sind doch selbst schuld! Was provozieren die denn so! Ganz genauso spann sich der Pakt des Schweigens um die prestigeträchtige Moskauer Schule, aus der Furcht heraus, das Image der hauptstädtischen Intelligenzija könnte Schaden nehmen.

    Noch wichtiger für das Verständnis, welche Komplexe und Ängste in der modernen Gesellschaft Russlands bestehen, ist das „Schweigen der Lämmer“ angesichts ihrer Henker, der Unwille, das Thema Stalins Terror aufzugreifen und durchzusprechen. Nachdem die Shukow-Liste und Karagodins Posts mit den Namen der Mörder im Netz verfügbar waren, folgten umgehend Stellungnahmen, dass man die Vergangenheit nicht schwarzmalen und nicht das Boot zum Wanken bringen dürfe.

    Alexander Chinschtein, ehemaliger Duma-Abgeordneter mit Verbindungen zu den Sicherheitsorganen und stellvertretender Leiter von Rosgwardija, erinnerte im Moskowski Komsomolez mit gütigen Worten an die Streitkräfte des NKWD und überschüttet jene mit Kritik, die „unsere jüngere Vergangenheit in Schwarz und Weiß trennen wollen“. Die Journalistin Natalja Ossipowa fürchtet in einer Kolumne in der Izvestia mit dem bezeichnenden Titel Ich fürchte die Gerechtigkeit ebenfalls Enthüllungen und wiederholt dabei die Lieblingsthese russischer Propagandisten der Postmoderne: Jeder hat seine eigene Wahrheit, seine Version der Wirklichkeit, seine Liste der Schuldigen und sein Märtyrologium – und kommt zu dem Schluss, dass „ein schlechter Frieden besser ist als ein guter Bürgerkrieg. Einen Krieg für Gerechtigkeit kann man nicht ohne Barmherzigkeit und Vergebung führen“.

    Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt

    Der Aufruf zur Vergebung und Versöhnung zwischen den Nachkommen der Henker und Opfer ist ein typisch russischer Ansatz, die Probleme nicht qua Gesetz zu lösen, sondern über ungeschriebene Normen und Regeln – es ist die Verlagerung der Verantwortung weg von juristischen Formulierungen und Folgen hinein in die nebulöse Welt der Ethik und politischen Zweckmäßigkeit. Der Terror ist in Russland wie eine klebrige Schicht über die Gesellschaft und die Geschichte geschmiert worden, und so scheint es, als wären alle und jeder daran beteiligt, alle und jeder schuldig und unschuldig. Als Heilmittel wird die süße Illusion einer allgemeinen Reue und Vergebung angeboten, eine postapokalyptische Nihilierung der Erinnerung, in der Wolf und Lamm friedlich beieinander weiden, die Nachkommen der Henker und der Opfer sich umarmen, und die russische Geschichte auf einem leeren Blatt neu beginnt.

    Karagodin verlagert die Frage nicht auf die ethische, sondern auf die juristische Ebene: Wenn das Regime – seiner teuflischen, quasi-legalen Kasuistik folgend – Menschen umbringt, dann soll es das jetzt qua Gesetz verantworten. Aus der Ungegliedertheit und Subjektlosigkeit des Lebens in Russland hebt er die Namen der Exekutanten und Mittäter des Terrors hervor – und damit ist er gefährlich für ein System, das auf der Anonymität des Terrors und dem Schweigen der Opfer beruht – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.

    Die Wächter des Systems verstehen sehr wohl, dass angefangen mit der Entlarvung toter Täter ein Prozess der Entanonymisierung auch auf lebende Beteiligte am Terror übergreifen könnte – im öffentlichen Bewusstsein taucht sofort die Magnitski-Liste auf und setzt die herrschende Elite schmerzhaft unter Druck (es ist kein Zufall, dass deren Abschaffung als eine der ersten Forderungen Putins gegenüber der neuen US-Führung genannt wurde, hervorgebracht im Oktober 2016).

    Zudem ruft das Europäische Parlament zur Verabschiedung einer Dadin-Liste auf, inklusive konkreter Nennung jener, die an den mutmaßlichen Misshandlungen des Aktivisten Ildar Dadin in der Strafkolonie IK-7 im karelischen Segesha beteiligt waren. Einen ähnlichen Weg schlägt Alexej Nawalny ein, der beabsichtigt, gegen Sergej Blinow Klage einzureichen, den Richter am Amtsgericht des Leninski-Rayons im Gebiet Kirow, der den Schuldspruch im Fall Kirowles gefällt hat.

    Ganz wie bei Stalins Henkern wäre eine einfache Rehabilitierung der Betroffenen nicht ausreichend. Notwendig wäre eine qualifizierte Bewertung des kriminellen Handelns jeder konkreten Person, die an den Repressionen beteiligt war, und womöglich deren Bestrafung. Doch zeichnen sich nach dieser Logik am Horizont Risiken für das Regime in Russland ab – wegen der Krim, wegen des Fluges MH-17 und wegen des Kriegs im Osten der Ukraine und wegen vieler interessanter Momente der jüngsten russischen Geschichte, die allesamt für sehr viele Bürokraten – bis hin zu höchsten Amtsträgern des Staates – mit juristischen Konsequenzen verknüpft sein könnten. Ganz wie Karagodin Josef Stalin zum Mittäter bei der Ermordung seines Urgroßvaters erklärt.

    Genau so, indem man an dem Faden einer einzigen Geschichte über einen 1938 von den Tschekisten ermordeten Getreidebauern zieht, lässt sich allmählich das ganze Spinnennetz aus Anonymität und Lüge auftrennen – und gerade deshalb fürchtet das Regime einen „Karagodin-Effekt“ und lässt seine Propaganda-Hunde auf ihn los.

    Für Russland gibt es keinen anderen Weg in die Zukunft als einen juristischen. Zu lange hat das Land sich einer illusorischen Hoffnung von Errettung anvertraut und nach ungeschrieben kriminellen Regeln gelebt (hinter denen meist höchst persönliche Interessen des Regimes stehen und die Sorge um das eigene Fell).

    Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt und in der man deren Rechtfertigung oder Leugnung unter Strafe stellt, genau wie jetzt in den meisten Ländern des Westens die Leugnung des Holocaust unter Strafe steht. Ohne echte juristische Klarheit in Bezug auf den historischen Stalinismus und den politischen Terror wird in Russland kein gesellschaftlicher Frieden möglich sein – weder im gegenwärtigen Regime, noch in nachfolgenden.

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  • Die Wegbereiter des Putinismus

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Den Moskauer Ökonomen und Publizisten Wladislaw Inosemzew treibt die Frage um, wie Putin sein Machtsystem in Russland habe aufbauen können. War es wirklich ein Bruch mit der laufenden Demokratisierung des Landes? In einem meinungsstarken Essay für das unabhängige Webmagazin snob stellt er die Schuldfrage und schaut genauer auf die 1990er Jahre.

    Immer, wenn sich in Russland oder jenseits seiner Grenzen Verfechter demokratischer und liberaler Ansichten versammeln, drehen sich die Diskussionen um eine der ewigen russischen Fragen: „Was tun?“. Viele Jahre schon findet sich darauf leider keine Antwort. Es gelingt nicht, den „Nerv“ der Sorgen in der Gesellschaft zu treffen, attraktive Losungen zu formulieren und in den eigenen Reihen die Anstrengungen zu koordinieren.

    Eine der Folgen ist, dass das Land mit jedem Jahr tiefer in Selbstisolation und Ignoranz abgeleitet und von Militarismus und imperialem Denken durchdrungen wird. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit demokratischer Politiker nur ganz selten auf die in Russland nicht weniger traditionelle Frage „Wer ist schuld?“ Der Grund hierfür ist meiner Ansicht nach offensichtlich: Die Antwort gilt seit langem als bekannt. Schuld ist natürlich Wladimir Putin und die „verbrecherische Clique“, die sich das Land unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung zu fernsehenden Zombies gemacht haben und alles und jeden mit schmutzigen Öldollars kaufen.

    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber
    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber

    Diese Erklärung lässt jedoch einen wichtigen Umstand außer Acht: Das Russland, das sich Putin mittlerweile praktisch zu seinem persönlichen Eigentum gemacht hat, wurde keiner demokratischen Regierung „abgerungen“. Der jetzige Präsident wurde seinerzeit von Boris Jelzin, dem Vater des neuen Russland, „an der Hand“ in den Kreml geführt. Mitstreiter der neuen Regierung waren die Oligarchen, die durch das Marktchaos und die geschickt organisierte Privatisierung der 1990er Jahre am meisten Geld gemacht hatten. Ideologe dieser Politik war damals der Chefliberale Anatoli Tschubais.

    Die unbeschränkte Macht, die Putin über den Staat gewann, wurde durch die von Sergej Schachraj und Viktor Scheinis ausgearbeitete „demokratischste Verfassung“ gestützt. Der „nationale Anführer“ selbst wurde als leitender Verwaltungsmitarbeiter im Team des unbestechlichen Volkstribuns Anatoli Sobtschak geprägt, einer der anerkannten Führungspersönlichkeiten der demokratischen Bewegung in der UdSSR. Insofern haben die sich heutzutage über das Leben beklagenden Veteranen des „freien Russland“ Wladimir Putin nicht nur einfach „übersehen“ – sie haben ihn großgezogen und ihm das volle Instrumentarium uneingeschränkter Macht in die Hand gegeben.

    Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Demokraten in Russland in den 1990er Jahren eine Lage geschaffen hatten, die ihren Verbleib an der Macht wahrlich unmöglich machte: Zunächst hatten sie Wirtschaftsreformen auf eine Art gestartet, dass die Wirtschaft fast um ein Drittel einbrach und die Hälfte der Bevölkerung sich unterhalb der Armutsgrenze wiederfand. Dann hatten sie beschlossen, die Beziehung zum rechtmäßig gewählten Parlament mit militärischen Mitteln zu regeln. Der nächste Markstein war die himmelschreiend ungeschickte Verwaltung der Staatsfinanzen, die zum Crash und der Rubelentwertung von 1998 führte. Der letzte Tropfen schließlich war die unmotivierte Ablösung der Regierung Primakow, der kompetentesten Regierung, die das postsowjetische Russland hatte – diktiert allein von der Logik eines Kampfes um Macht und Finanzströme.

    Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Machtantritt von Wladimir Putin und die nachfolgende Errichtung eines korporativen, autoritären Regimes im Land keineswegs Zufall ist. Die Ursprünge des Putinismus liegen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik des neuen Russland, und zwar von seiner Gründung an – und die Demokraten von heute können allein sich selbst die Schuld für ihre Lage geben.

    Auf dem Gebiet der Wirtschaft sollte die Aufmerksamkeit zunächst dem zukommen, was als wichtigstes Verdienst des Regimes der 1990er Jahre gilt: der Privatisierung. Indem sie Großunternehmen praktisch für Groschenbeträge in private Hände gab, festigte die Regierung auf Jahre hinaus ein System im Land, in dem die hausgemachten Oligarchen einen Vorrang gegenüber allen neuen Akteuren erhielten.

    Schicksalhafte Ereignisse im Jahr 1993

    In der Folge waren im Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Erdölraffinerie und eine Zementfabrik gebaut worden; in Metallurgie und Maschinenbau war kein einziges neues Unternehmen entstanden. Selbst die Öl- und Gasförderung war auf dem früheren Niveau stehengeblieben. In China, wo der Staat die großen Unternehmen nicht privatisiert, sondern die Kontrolle über sie behalten hat und dabei eigenen und ausländischen Investoren erlaubte, neue Kapazitäten aufzubauen, arbeiten vier der hundert finanzstärksten Unternehmen überwiegend mit Infrastruktur von vor 1989. In Russland sind es 74. Das begründet auch die fehlende Nachfrage nach neuen Technologien und die „Rohstoffabhängigkeit“.

    Im Grunde haben die Demokraten der 1990er Jahren die Initiative russischer und westlicher Investoren nicht dazu genutzt, die Entwicklung voranzubringen: Das Privatunternehmertum wurde zum Instrument einer sozialen, nicht einer volkswirtschaftlichen Transformation. So wurde der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt, für dessen Vermehrung aber nicht gesorgt (Letzteres geschah erst in den 2000er Jahren aufgrund der gestiegenen Ölpreise). Im Unterschied zu Russland ist China durch die Reformen, deren zentrales Element in Anreizen zur Schaffung neuer Kapazitäten bestand, zu einer weltweit führenden Volkswirtschaft aufgestiegen. Russland blieb hingegen ein Land, in dem Reichtum vor allem aus einer Umverteilung der Aktiva entsteht (und da der wichtigste Hebel hierfür die Macht ist, war der Einzug des Putinschen Herrschaftsstils somit vorbestimmt).

    Zweitens haben sich die russischen Demokraten der 1990er Jahre als gar nicht ganz so demokratisch erwiesen. Nachdem sie bei den ersten freien Wahlen – noch zu sowjetischen Zeiten – gesiegt hatten, taten sie alles Mögliche, um ihre Machtpositionen zu sichern. Einer der kritischen Punkte in diesem Zusammenhang waren die Ereignisse des Jahres 1993. Hier sei einerseits an den lokalen Bürgerkrieg erinnert, ebenso an den Beginn unumkehrbarer Veränderungen im System der Sicherheitsbehörden, die durch die Entlassung von Walentin Stepankow eingeläutet wurden, des einzigen unabhängigen Generalstaatsanwalts der neuesten russischen Geschichte. Andererseits sei auf die Wahlen von 1996 verwiesen: Nur durch eine totale Konsolidierung der politischen und Finanzeliten gelang es, Jelzin im zweiten Wahlgang zu einem Sieg zu verhelfen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Reihe deklarativer Schritte – sei es der Vertrag mit den Separatisten in Tschetschenien, der Bildung des Unionsstaates aus Russland und Belarus oder die Palast-Intrige, bei der General Alexander Lebed ins Spiel kam.

    Meiner Ansicht nach waren es gerade die Jahre 1993 bis 1996, in denen das „Wüten der Demokratie“ in Russland seinen Abschluss fand: Zum einen wurde eine „superpräsidentielleVerfassung angenommen, die dem Staatsoberhaupt praktisch außerordentliche Vollmachten verlieh; die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsgericht wurde beseitigt, und es bildete sich eine geschlossene Bürokratie- und Finanzoligarchie heraus, die für den Erhalt des bestehenden Regimes arbeitete. Zum anderen wurde der Akzent der politischen und ideologischen Rhetorik verschoben, von Freiheitswerten in Richtung einer „fehlenden Alternative“ (praktisch analog zur heutigen „Stabilität“), mit Betonung von Souveränität und der Macht des Staates und der Suche nach einer „nationalen Idee“.

    Russland hat das Imperiale nicht abgeschüttelt

    In jenen Jahren hörte Russland auf, als eine der Zukunft zugewandte Nation wahrgenommen zu werden und ließ die Symbole des vorrevolutionären Imperiums wieder aufleben (Christ-Erlöser-Kathedrale, Bestattung der sterblichen Überreste der Familie des letzten Herrschers im Zarenreich). Es zahlte sogar einen Teil der Schulden der zarischen Regierung zurück. Nach dieser ersten Erfahrung war der Übergang zu einer Apologie des Sowjetischen für Wladimir Putin nicht mehr schwer – schließlich wurde das Ideal da schon nicht mehr in der Zukunft gesucht.

    Ich betone noch einmal: Die Alternativlosigkeit der Staatsmacht, die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen, das Verschmelzen von Geld und Bürokratie sowie eine Apologie der Vergangenheit – all diese äußerst wichtigen Grundlagen des Putinschen Regierungsstils waren bereits in den „demokratischsten“ Jahren der neuesten Geschichte Russlands wenn nicht ausgefeilt, so doch angelegt.

    Drittens war es durch die „Demokratisierung“ Russlands mit dessen „imperialem“ Anfang keineswegs vorbei. Obwohl die UdSSR zerfallen ist, hat die Russische Föderation de facto nur die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt. Die „gelenkte Instabilität“, die jetzt gegenüber der Ukraine angewandt wird, wurde in Bezug auf viele postsowjetische Länder getestet. Russland war direkt an dem Konflikt in Moldau beteiligt, bei dem „Transnistrien“ entstand; es hat offen den Separatismus in Georgien – auch den adscharischen – gefördert und hat Abchasien und Südossetien direkt unterstützt. Der berühmte Anruf Boris Jelzins bei Eduard Schewardnadse nach dem Attentat vom 9. Februar wies unzweideutig darauf hin, dass Russland auf alle geopolitisch bedeutsamen Entscheidungen im postsowjetischen Raum Einfluss nehmen wollte. Die Annexion der Krim wäre nicht möglich gewesen, wenn die politische Elite in Russland der Bevölkerung nicht schon seit 1994 das Gefühl vermittelt hätte, die Halbinsel sei durch falsche und rechtswidrige Entscheidungen ein Teil der Ukraine geworden.

    Einen besonderen Platz auf der Tagesordnung jener Zeit nahm natürlich Tschetschenien ein. Der Krieg dort wurde getreu der Losung von der Einheit des Landes geführt und ließ in vielfacher Hinsicht das Bedürfnis nach einer „harten Hand“ entstehen (während doch zugleich eine Gewährung der Unabhängigkeit Tschetscheniens sicherlich die Kräfte gestärkt hätte, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Russland anstrebten und nicht einen starken Staat; erinnern wir uns, dass Boris Nemzow zu den wichtigsten Befürwortern einer Beendigung des Krieges zählte; formal war die Unabhängigkeit ja schon zu Sowjetzeiten verkündet worden).

    Der Kern der Sache steht fest: Russland hat während der demokratischen Regierungsjahre das Imperiale der Vergangenheit nicht abgeschüttelt und kaum etwas für den Aufbau einer Gesellschaft europäischen Typs geschafft.

    Viertens, und auch das ist zu betonen, ist in Russland die Idee von einer Integration mit dem Westen (die Schaffung des berühmten „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“) recht schnell „verwelkt“, die in den letzten Jahren der Regierungszeit von Michail Gorbatschow praktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben worden war. Die Regierung hat nicht versucht, einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (die formal seit Januar 1992 besteht) oder zur NATO zu stellen. Das 1994 abgeschlossene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und den Europäischen Gemeinschaften hatte grundsätzlich keinen Hinweis enthalten, dass der Wandel in Russland zu dessen Integration in die EU führen könnte. Analysiert man aufmerksam die Auftritte der russischen Führung in den 1990er Jahren, so zeigt sich, dass von 1993 bis 1996 die Ideen von „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ an die Stelle eines Konzepts der „Einbeziehung“ in die westliche Welt trat. Das entsprach dem Verständnis der Elite, die den Wert der Souveränität Russlands als äußerst wichtige Grundlage für ihre politische und wirtschaftliche Dominanz über das Land betrachtete.

    Wer bringt die Zukunft des Landes?

    Ohne den Leser überfrachten zu wollen, möchte ich nun einige Schlussfolgerungen ziehen: Ich gehe davon aus, dass die Russische Föderation nur über einen sehr kurzen Zeitraum die Chance hatte, im Land eine verantwortungsbewusste politische Klasse zu schaffen – ab dem Moment, als (noch im Rahmen der Sowjetunion) eine demokratische russische Regierung agierte, bis Ende 1993. Eine Klasse, die sich an europäischen Werten und europäischer Praxis orientiert, sei es an der Gewaltenteilung oder der Trennung von Bürokratie und Oligarchie. Von 1993 bis 1997 wurde der Regierung bewusst, dass sie sich von überzeugten Demokraten befreien und praktisch um jeden Preis Bedingungen für einen Machterhalt schaffen müsse (es ist bezeichnend, dass sich dieses Bewusstsein am schärfsten, ja fast schmerzhaftesten bei jenen entwickelte, die einen der äußerst wenigen Fälle miterlebten, bei denen ein Lokalfürst die Macht auf demokratische Weise verlor: mit der Niederlage Anatoli Sobtschaks bei den Gouverneurswahlen 1996).

    1997 bis 1998 entstanden dann die Grundelemente einer neuen Staatsideologie: Man begann, die Bevölkerung als Stimmvieh wahrzunehmen, das beim Wählen alles Mögliche nutzt, nur nicht den Verstand; das Oligarchat verwuchs mit der Bürokratie; das Bestreben, Elemente eines Ideals in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft zu suchen, und danach, dass sich „Russland von den Knien erhebt“, und sei es nur in der eigenen Phantasie. In der Grundanlage war schon alles da, einer neuen Führungsgeneration blieb es vorbehalten, diese Ideologie ein- und umzusetzen.

    Was sie dann auch getan hat. Und genau das ist der Grund, warum ich – so sehr ich Putin und seine Politik in manchen Augenblicken kritisieren möchte – eine große Abneigung gegenüber den Versuchen vieler russischer Analytiker hege, die ihn als Verbrecher bezeichnen oder behaupten, er habe den Bruch in der Entwicklungsrichtung des modernen Russland zu verantworten. Wladimir Putin hat vielmehr jene Tendenzen aufgegriffen und verstärkt, die eifrig und gekonnt von den gleichen Leuten geschaffen wurden, denen dann Ende 1999 bewusst wurde, dass zur Umsetzung ihres Modells „einer wie Putin“ gebraucht werde.

    Im gleichen Maße, wie in der sowjetischen Geschichte die Ära Stalin und die Ära Lenin durch Tausende historischer, ideologischer und praktischer Fäden miteinander verbunden sind, besteht in der Geschichte Russlands eine unüberwindbare Verknüpfung der Jelzin-Ära mit der Ära Putin.

    Und das führt mich zum letzten Gedanken, mit dem ich schließen möchte, und der, da bin ich mir sicher, geteilte Reaktionen hervorrufen wird: Politiker und Aktivisten, die in den 1990er Jahren auf russländischer Erde „heilig erstrahlten“ und heute versuchen, sich als Oppositionelle in Szene zu setzen, verdienen wohl kaum die wie auch immer geartete Unterstützung derjenigen, die Russland in Zukunft als freien europäischen Rechtsstaat zu sehen hoffen. Die Art, in der sie in den 1990er Jahren „gewütet“ haben und dabei die organisatorischen und mentalen Grundlagen des Putinismus schufen, wie auch die Art, wie sie das Land der heutigen Führung in die Hand gaben, nimmt ihnen jede ethische Berechtigung zu einer Rückkehr an die Macht.

    Das neue Russland wird man ohne jene bauen, die es in den 1990er oder 2000er Jahren regiert haben. Das wird allerdings, so belegen es Beispiele, bei denen autoritäre Regime demontiert wurden, Jahrzehnte dauern – aber es bedeutet auch, dass die in den 1990er Jahren entwickelten und in den 2000er Jahren erprobten Herrschaftsprinzipien nicht auf ewig Bestand haben werden.

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  • HIV-Epidemie in Jekaterinburg?

    HIV-Epidemie in Jekaterinburg?

    „HIV in Jekaterinburg offiziell zur Epidemie erklärt“ – diese Meldung erregte kürzlich großes Aufsehen in Russland. Auch weil schnell ein unerwartetes Statement kam: Das sei überhaupt keine Neuigkeit und in vielen russischen Regionen der Fall. Jekaterinburgs Bürgermeister Jewgeni Roisman hatte sich da zu Wort gemeldet, ein unkonventioneller Typ in der russischen Regionalpolitik.

    Roisman – der nicht im Tagesgeschäft der Stadtregierung steckt, sondern repräsentative Funktionen hat – sprang mit seiner Stellungnahme zum HIV-Problem dem eigenen Gesundheitsamt zur Seite, das ohne Umschweife einfach nur neueste Zahlen präsentiert habe. Die schockierenden Zahlen einerseits und das halbe Dementi zur Meldung andererseits verschafften dem Thema zusätzlich großes mediales Echo.

    Das liberale Webmagazin slon.ru bat Anton Krassowski, den Leiter des gemeinnützigen HIV-Präventivfonds spid.center, gemeinsam mit Roisman zum Interview. Ist die Situation in Jekaterinburg tatsächlich schlimmer als anderswo in Russland?

    Jewgeni Roisman, Bürgermeister von Jekaterinburg

    Kürzlich wurde bekanntgegeben, dass in Jekaterinburg 1,8 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind. Aber das bedeutet ja nicht – betrachtet man ganz Russland – dass in Jekaterinburg die meisten Menschen mit HIV leben, sondern dass die Erkrankung in Jekaterinburg am häufigsten festgestellt wurde.

    Eine derartige Situation haben wir nicht nur in Jekaterinburg – sondern im ganzen Land. Nur hat unser städtisches Gesundheitsamt den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir haben keine Angst, das laut zu sagen.

    In Wirklichkeit unterscheidet sich Jekaterinburg, was die Anzahl von HIV-Infizierten betrifft, überhaupt nicht von anderen russischen Millionen- und Industriestädten. Bei uns ist es genauso wie bei allen anderen. Aufs Ganze gesehen ist die Situation im Land sogar schlechter als in Jekaterinburg. Wir haben nur einfach die höchste Anzahl an getesteten Personen. Das Gesundheitsamt in Jekaterinburg arbeitet schon seit vielen Jahren an der Dokumentation von HIV. Wir haben ein großes Zentrum für Prävention und Bekämpfung von Aids. In Jekaterinburg wurde bislang etwa ein Viertel der Bevölkerung erfasst, also auf HIV getestet. In ganz Russland sind das durchschnittlich weniger als 15 Prozent.

    In der Oblast Swerdlowsk ist die Anzahl der HIV-Infizierten auf 100.000 getestete Personen sicherlich höher als in Jekaterinburg. Ganz sicher gibt es auch eine ähnliche Situation in Saratow, Nowosibirsk, Irkutsk, Kimry, Twer, Wyschni Wolotschok und vielen anderen russischen Städten. In landwirtschaftlichen Regionen sieht es vielleicht etwas besser aus, aber in Millionenstädten ist die Situation schlechter.

    Warum dann jetzt erst die Nachrichtenschwemme über eine Epidemie?

    Еine allgemeine Epidemie liegt vor, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert ist. Das haben wir doch schon vor fünf Jahren öffentlich gemacht. Ich persönlich spreche seit 1999 davon, dass sowohl in der Stadt als auch in der gesamten Region eine HIV-Epidemie grassiert, weil es schon damals offensichtlich war.

    Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche.”

    Den Zahlen des Gesundheitsamtes zufolge steigt die Zahl der Infizierten jährlich. Wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich bei diesen Zahlen um die im jeweiligen Jahr dokumentierten HIV-Fälle und nicht um Neuinfektionen. Wie steht es denn um die tatsächliche Zahl der Neuinfizierten? Denken Sie, dass sie gerade zurückgeht?

    Ich denke, die Dynamik dürfte sich ein bisschen verlangsamen. Dennoch steigt die Gesamtzahl der HIV-Infizierten, und diese werden unweigerlich weitere Menschen anstecken.

    Die erste sehr starke HIV-Welle wurde durch Heroinkonsum ausgelöst: Bis zu 40 Prozent der heroinabhängigen jungen Männer hatten HIV. Von den jungen Frauen, die heroinabhängig waren, hatten es fast alle, außerdem waren fast alle von ihnen Prostituierte. Aber seit jener Zeit gibt es in den Apotheken sehr viele Einmalspritzen, so dass man sie problemlos kaufen kann.

    Dann kam die zweite Welle durch die Droge Desomorphin, im Volksmund auch Krokodil genannt. Zu der Zeit wurden in allen Apotheken im Land tonnenweise codeinhaltige Präparate vertrieben und jeder – vom Apothekerlehrling bis zum Gesundheitsminister – wusste ganz genau, wem und wozu sie verkauft wurden.

    Damals lief alles völlig aus dem Ruder, denn Desomorphin ist eine Gemeinschaftsdroge, sie wird in den letzten Löchern konsumiert. Hinzu kommt noch, dass die Droge mit eigenen Spritzen aus einer gemeinsamen Schüssel aufgezogen wird. Im Vergleich mit Heroin war das so, als würde man Öl ins Feuer gießen – ich hatte mit diesen Menschen zu tun, die Zahl der Infizierten unter ihnen war erheblich höher.

    Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche. Wir haben in 15 Jahren etwa 9.000 Drogenabhängige behandelt und haben jeden, den wir aufgenommen haben, zur Blutabnahme ins HIV-Zentrum gebracht.

    Codeinhaltige Präparate werden seit 2012 offiziell nur noch auf Rezept verkauft. Hat sich die Situation dadurch gebessert?

    Man muss bedenken, dass HIV mit der Zeit vom Drogenmilieu in besser sozialisierte Schichten vorgedrungen ist. Es gibt plötzlich eine Menge Leute, die überhaupt nichts dafür können, dass sie sich angesteckt haben. Die Menschen stecken sich im normalen Leben an – bei Bluttransfusionen, und natürlich durch Geschlechtsverkehr. Doch am meisten schmerzt, dass bei uns seit Mitte der 1990er Jahre Kinder mit HIV zur Welt kommen. (In Jekaterinburg wurde bei 342 Kindern HIV diagnostiziert, bei weiteren 400 besteht der Verdacht. – Slon)


    Anton Krassowski, Leiter der Stiftung spid.center

    Laut den Ihnen vorliegenden Informationen: Handelt es sich um eine Epidemie oder nicht?

    Ich kenne keinen Fall, wo eine HIV-Epidemie auf regionaler Ebene festgestellt wird. Es geht ja hier nicht um eine Grippe, um eine Krankheit, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, und auch nicht um eine, die sich durch regionale Maßnahmen bekämpfen ließe, verstehen Sie? Welche epidemologischen Maßnahmen könnten denn erfolgen? Das ist mir völlig unklar. Die Region kann natürlich eine gewisse Summe für den Einkauf von Präparaten beisteuern, lokale Programme und andere Dinge vorschlagen, aber das ganze Maßnahmenpaket muss mit Moskau abgestimmt werden. Das heißt grob gesagt: Die Region muss beim Gesundheitsministerium, beim Verbraucherschutz, beim Föderationsrat und bei der Regierung irgendwelche Subventionen für irgendwelche Zusatzausgaben erwirken. Das alles ist eine sehr schwierige Angelegenheit.

    Aber die Zahlen in Jekaterinburg sind tatsächlich so: zwei Prozent – und das sind nur die offiziell dokumentierten zwei Prozent.

    Wie unterscheiden sich die Zahlen für ganz Russland?

    Momentan sind in Russland über eine Million Menschen mit HIV-Infektion erfasst: Am 1. Juni waren es 1.057.000, zum Ende des Jahres werden es 1.120.000 Menschen sein. Und das sind die Zahlen über die gesamte Zeitspanne seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt gerade in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.

    Eine Epidemie beginnt, sobald in einem Land der erste Fall einer Infektionskrankheit auftaucht, die sich ausbreitet. Nach dem ersten Fall folgten immer mehr, es sind nie weniger geworden, sondern immer mehr. Die Epidemie war seit Beginn bekannt. Auch vor 30 Jahren in der Sowjetunion war sie bekannt. Heute sprechen wir jedoch von einer „generalisierten Epidemie“. Das tut man, wenn die Epidemie den Charakter einer Naturkatastrophe annimmt und ein Ausmaß erreicht, das sich durch nichts und niemanden kontrollieren oder vorhersagen lässt. Wenn also die Zahl ein Prozent übersteigt.

    Hinzu kommt, dass das nicht die gesamte Bevölkerung betrifft, sondern den sexuell aktiven Teil. Die Epidemie grassiert also nicht unter Rentnern über 65. Das heißt zwar nicht, dass es unter ihnen keine Virusträger gibt, aber sie sind nicht der „Motor im Handelsverkehr“. Kinder auch nicht. Das sind Menschen im Alter zwischen 18 und 50. Und von dieser Bevölkerungsgruppe sind 5 Prozent infiziert. Bei Männern im Alter zwischen 20 und 39 Jahren sind es sogar 10 Prozent. Das sind die realen Zahlen.

    „​Das sind Zahlen seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.”

    Welche Regionen stehen außerdem noch oben auf der Liste?

    Das ganze Uralgebiet, die ganze Wolgaregion, ganz Westsibirien. Aber das Problem ist ja nicht, dass in irgendeiner Stadt, beispielsweise in der Oblast Swerdlowsk, ausnahmslos alle HIV haben. In dieser und vielen anderen Regionen ist das Problem, dass ausnahmslos alle kein Geld und keine höhere Bildung haben. Aber sie haben HIV. Fahren Sie mal zum Beispiel nach Sewerouralsk und versuchen Sie dort, Menschen auf HIV zu testen. Oder versuchen Sie mal in Nishni Tagil, einen Aidstest durchzuführen.

    Es geht nicht darum, dass die Menschen die Krankheit nicht dokumentieren lassen wollen, sondern darum, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, wie sie mit ihr umgehen sollen. Das Problem heißt nicht „HIV in Russland“, es heißt: Drogenkonsum wegen der depressionsfördernden Situation in den Regionen mit stümperhafter Lokalpolitik.

    Das bedeutet, solange es bei uns Drogenkonsum gibt – und den wird es geben –, werdet ihr mit keiner Mühe dieser Welt das HIV-Problem lösen. Solange ihr keine Methadon-Therapie in eurem Land erlaubt. Solange ihr nicht aufhört, Drogenkonsum zu kriminalisieren und jeden kleinen Junkie nach Paragraph 228 zu verurteilen, anstatt ihn anständig zu therapieren, ihm ein paar Tropfen Methadon, ein paar Tabletten und einen Job zu geben. Doch in unserem Land sperrt man ihn stattdessen für acht Jahre weg. Das ist der Grund, warum wir nächstes Jahr zwei Millionen Infizierte haben werden. Andere Lösungen gibt es nicht – das ist eine wissenschaftlich belegte Tatsache.

    In der ganzen Welt wird sie anerkannt, nur bei uns herrscht eine andere Politik: Unser Chef-Suchtmediziner sagt, die Heilung von Drogensucht sei eine Frage der Willenskraft des Abhängigen. Und morgen behauptet dann der Chef-Onkologe, das Problem unserer Krebstherapie bestünde in der fehlenden Willenskraft der Krebskranken. Deswegen ist es völlig unmöglich, HIV zu besiegen. Hier ist es unmöglich.

    Ende Oktober hat Premierminister Dimitri Medwedew die offizielle Regierungsstrategie im Kampf gegen die Verbreitung von HIV bis ins Jahr 2020 und darüber hinaus bestätigt.

    Ja, und sie ist grausig. Diese Strategie lautet folgendermaßen: „Wir werden weiterhin haargenau das tun, was wir all die Jahre getan haben, sprich gar nichts.“ Wir werden den Drogenkonsum nicht bekämpfen. Wir werden Drogenabhängige weiterhin einsperren. Wir werden keine Tabletten ausgeben, weil wir kein Geld haben. Aber dafür werden wir irgendeine gemeinnützige Organisation unterstützen, die sich für irgendwelche traditionellen Familienwerte, geistig-moralische Klammern usw. einsetzt. Dann gibt es noch die Webseite des Gesundheitsministeriums o-spide.ru [über-aids.ru – dek], die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.

    Es gibt viele gemeinnützige Organisationen, die tatsächlich versuchen etwas zu verändern, mit gefährdeten Gruppen zu arbeiten, über das Problem zu sprechen. Ehrlich gesagt, ohne unsere Bemühungen hätte man überhaupt nicht angefangen, darüber zu reden. Noch vor zwei Jahren hat niemand darüber geredet. Glauben Sie etwa, die Dynamik war damals eine andere? Dass die Zahlen sehr viel anders waren? Das waren sie nicht. Die Situation in Jekaterinburg war vor einem Jahr genau die gleiche wie vor zwei Jahren. Sie war einfach immer gleich, das muss man sich vor Augen führen. Sicherlich wird etwas getan, aber vor allem der Staat müsste etwas tun. Die Gesellschaft, oder genauer gesagt die NGOs, sollten den Staat unterstützen, und er sollte diese Hilfe dankbar annehmen. Aber der Staat hat kein Recht, wissenschaftlich fundierte Methoden im Kampf gegen das Problem abzulehnen. Ein Staat, der verkündet: „Wir werden den Virus und Drogenkonsum mit Ikonen und Kreuzprozessionen bekämpfen“, hat kein Recht darauf zu existieren. Und ganz sicher wird er HIV nicht besiegen.


    Quelle: Föderales AIDS-Bekämpfungszentrum

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  • Erinnerungs-Entzündung

    Erinnerungs-Entzündung

    Geschichte ist zu einem der wichtigsten Streitgegenstände geworden in Russland – die Politik spielt dabei eine aktive Rolle. Morgen, zum Tag der Einheit des Volkes in Russland, wird in Moskau eine Statue zu Ehren des Fürsten Wladimir eingeweiht. Das Denkmal ist mit einer Vielzahl historischer Konnotationen aufgeladen (Verhältnis russischer Staatlichkeit und Orthodoxie zur Kiewer Rus, Verhältnis zwischen russischer und ukrainischer Geschichte). Zugleich werden durch Gedenktafeln, Büsten und Diskussionen um die Umbenennung von Straßen oder gleich ganzen Städten Bezüge in die Sowjetzeit und zum Stalinismus hergestellt.

    Für das Webmagazin InLiberty hat sich Nikolay Epplée mit dem sensiblen Thema der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland auseinandergesetzt. Seine zentrale These: Die Interpretation der Geschichte werde derzeit völlig von der herrschenden Politik instrumentalisiert. Mit der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass sei dies aktiv vorangetrieben worden. Das habe gewaltige Impulse in die russische Gesellschaft hineingegeben – und Raum für eine lange nicht dagewesene Anknüpfung an Stalin freigesetzt. Ein Kurzessay.

    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva
    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva

    Was noch vor wenigen Jahren nur einige besonders feinfühlige Autoren und Forscher konstatierten, ist heute offensichtlich: Russland ist von der Vergangenheit besessen. Der Ausdruck „Kampf der Erinnerung“ war zu Beginn der 2010er Jahre nur Soziologen ein Begriff, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis befassten. Heute ist er allgemein bekannt. Keine Woche vergeht ohne einschlägige Nachrichten: Denkmäler für Stalin, Iwan den Schrecklichen, Wladimir den Großen werden eingeweiht (bzw. bestehende Denkmäler geschändet oder demontiert). Entsprechende Museen werden eröffnet oder Gedenktafeln für bestimmte historische Figuren angebracht. Oder es wird wieder einmal eine Initiative zur Umbenennung von Wolgograd gestartet.

    Die Massenkultur überschlägt sich: TV-Moderatoren stehen in Stalinscher Feldjacke verkleidet vor der Kamera. Werber und Organisatoren kultureller Massenveranstaltungen versuchen, mit dem Thema Repressionen zu spielen. Und ein Aktionskünstler, der die Tür der Lubjanka anzündet, gilt als der wichtigste zeitgenössische Künstler Russlands. Die Historiker sehen mit ohnmächtiger Verzweiflung zu, wie ihr Forschungsgegenstand zur mächtigen Ressource für den Aufbau einer „Geschichtspolitik“ wird – was nicht heißt, dass ihr Urteil dadurch mehr Gewicht erhielte; es wird paradoxerweise erst gar nicht mehr berücksichtigt. Die Erinnerung an die Vergangenheit führt ein Eigenleben, ganz wie es die klassischen Theorien der Kultursoziologen beschreiben. Sie nährt sich von Traumata, Manien, Phobien und der alltäglichen Erbitterung und zeigt wenig Interesse an Tatsachen. Eine grundlegende Besonderheit der heutigen russischen Realität, auf die schon oft hingewiesen wurde, besteht darin, dass die Geschichte an die Stelle der Politik tritt: Im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, auf der Straße und in den Küchen debattiert man nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit.

    „Diskussionen dieser Art (über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Afghanistan oder Tschetschenien, die Repressionen und den Zusammenbruch der UdSSR) kommen ganz von selbst zustande, im Taxi, im Zug, im Wartezimmer beim Arzt – überall, wo sich die Gelegenheit zum Gespräch ergibt“, schreibt Maria Stepanowa in einem der wichtigsten journalistischen Texte des Jahres 2015. „Das Ganze erinnert ein wenig an einen Familienkrach. Nur, dass das ganze, riesige Land als Küche dient. Und dass dabei auch Tote mitwirken, die, wie sich zeigt, ‚lebendiger als alle Lebenden‘ sind.“

    Auf jemanden, der das Geschehen aus der Distanz betrachten kann, macht es einen äußerst merkwürdigen Eindruck. Ein Land, das sich mit all seinen Nachbarn überworfen hat, befindet sich in einer langwierigen Wirtschaftskrise mit unsicherem Ausgang, die Regierung kürzt die Ausgaben auf das Allernotwendigste, außer die für den Krieg – und die Gesellschaft debattiert mit paranoidem Eifer über die Vergangenheit. Die Umbenennung der Metrostation Woikowskaja in Moskau oder das Anbringen bzw. Entfernen einer Gedenktafel für Carl Gustaf Mannerheim in St. Petersburg beschäftigt die Einwohner der beiden Hauptstädte mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr als die Erhöhung der Lebensmittelpreise und die anhaltenden Kampfhandlungen auf dem Territorium des benachbarten Bruderstaates.

    Es lohnt sich, den Gründen für dieses Phänomen nachzugehen. Die Vergangenheit hält uns in Bann, weil sie nicht abgeschlossen ist – weil es nicht möglich war, die Toten gebührend zu begraben und zu betrauern, ihr Erbe anzutreten, Erkenntnisse aus der Geschichte zu ziehen und nach Vollendung eines Zyklus den nächsten zu beginnen. Um sich diesem Problemkomplex anzunähern, sollte man sie genau beobachten, diese Entzündung unseres Erinnerungsapparates.

    Reaktivierung des Stalinkomplexes

    Die Denkmäler für Stalin und seinesgleichen sind nicht auf einmal aus dem Boden geschossen. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder aufgetaucht – mal hier, mal dort. Aber während man in den 2000er und den frühen 2010er Jahren versuchte, sie in den Gedenkräumen von Schulen, in Vorgärten oder auf geschlossenen Betriebsgeländen vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, sind sie seit Anfang 2014 auf öffentliche Plätze vorgedrungen. Im Februar 2015 wurde in Jalta in Anwesenheit des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, das Monument Die großen Drei eingeweiht – das erste offizielle Denkmal seit der von Chruschtschow eingeleiteten Ent-Stalinisierung, das auch Stalin gewidmet ist.

    Die russische Staatsmacht, die die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan als ernsthafte Gefahr für sich selbst empfand, begann, nach einer möglichst universellen Sprache zu suchen, welche die innerlich zutiefst gespaltene (oder vielmehr absichtlich und systematisch aufgespaltene) Nation zusammenführen konnte. Der universalistische Tonfall, der bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi angeschlagen wurde, erwies sich als schlecht geeignet für die Mobilmachung. Es bedurfte einer patriotischen und isolationistischen Sprache, die an die Erfahrung des Sieges über äußere und innere Feinde appellierte.

    In Russland ist die einzige derartige Sprache traditionell die der Beschwörung des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Ein Problem ist dabei, dass sich die Vertreter aus der offiziellen Sphäre diese Sprache zu sehr aneignen und die innere Bereitschaft, ihr zu folgen, auf persönlicher Ebene an Kraft verliert. Zudem eignet sie sich zwar zur Abarbeitung einer „positiven Agenda“, etwa wenn es um das Zusammenstehen gegen einen äußeren Feind geht. Aber für eine negative Mobilisierung, bei der an Gefahr und nicht an Größe gemahnt werden muss, ist sie kaum brauchbar.

    Die gleichzeitige Berufung auf Stalin und die Repressionen öffnet dem aufgestauten Negativen hingegen die Tür. Sie bietet einen kritischen, ja sogar einen Protest-Diskurs an und fügt sich in eine Auseinandersetzung mit inneren Feinden ein. Die staatliche Propaganda benutzte diese Sprache nicht gerade heraus; sie begann einfach nur, von äußerer und innerer Bedrohung, von Strafkommandos und Aufständischen, Bandera-Anhängern und Verrätern der Nation zu sprechen. Die Macht gab ihrer Stimme einen metallischen Beiklang, sie drohte und demonstrierte Stärke. Das genügte, um den Komplex zu aktivieren, der im Bewusstsein der russischen Bürger schlummerte.

    „Die abrupte Änderung der nationalen Politik hat bei vielen Leuten zu einer Veränderung der historischen Wahrnehmung geführt. Das Geschehen ließ sich für sie am folgerichtigsten in der Sprache der Sowjetunion unter Stalin beschreiben“, sagt der Historiker Ivan Kurilla. „In dieser Ära hat die Sowjetunion ihr Territorium erweitert, und das wurde damals als positiver Prozess gesehen. Nach Stalin hatte es das nicht mehr gegeben. Die Expansion des Landes, die Annexion der Krim, erwies sich also für einen Großteil der Mitbürger als Anstoß, zu einem Weltbild zurückzukehren, das wir aus der Sowjetunion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen.“

    Die Staatsmacht hat dieses Bild nicht absichtlich evoziert. Es entwickelte jedoch eine Eigendynamik, und bereits im Frühjahr 2014 bekannten sich mehr Russen als zuvor zu einer sympathisierenden Haltung Stalin gegenüber. Wie in der alten Geschichte vom Zauberlehrling waren die entfesselten Kräfte unkontrollierbar für diejenigen, die sie aus Nützlichkeitserwägungen heraus freigesetzt hatten. Und ihre Wucht und Bedeutung ging weit über den ursprünglichen Anlass hinaus. Aus dem Abgrund stieg ein Problem empor, das weit größer war als Krim und Maidan. Die Staatsmacht war beim Tasten nach einer einenden Sprache auf einen allumfassenden Schmerz gestoßen. Sie hatte auf sensible Stellen im Körper abgezielt, aber den traumatischen Punkt getroffen.

    Sowjetische Ideologie-Versatzstücke

    Gerade das Trauma ist das wichtigste einigungsstiftende Moment dieses wieder zum Leben erweckten Gebildes. Was auf den ersten Blick aussieht wie die Wiedergeburt eines Kolosses, wie die Rückkehr des Staatsmodells der UdSSR unter Stalin, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Reihe heterogener Elemente, denen die innere Einheit fehlt.

    Besonders deutlich wird dies in der Außenpolitik – zum Beispiel in der Wiederbelebung von Ideen und Reaktionsweisen, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen. Anders als die UdSSR kann das heutige Russland – das den wirtschaftlichen Wettbewerb und den Rüstungswettlauf verloren hat und der Welt kein alternatives politisches System, keine alternativen Werte und Ideale mehr zu unterbreiten hat – den eigenen Bürgern nur die Sehnsucht nach einer solchen Alternative und solchen Werten bieten und dem Rest der Welt nur ein Imitat der sowjetischen Bedrohung. Da der Staat den Status als Weltmacht nicht auf natürliche Weise wiedererlangen kann, nutzt er eine Art Analogiezauber. Er legt Kostüme der Vergangenheit an, um in eine Zeit zurückzukehren, in der das Gras grüner war – und er selbst stärker und erbarmungsloser. Interessanterweise spielt die Bevölkerung dabei gerne mit. Die Erinnerung an das Leben im Kalten Krieg ist ja noch recht frisch und leicht wiederzubeleben. Und dass wir anstelle einer Ideologie und eines starken Staates etwas äußerst Amorphes haben, entgleitet der Aufmerksamkeit der meisten Leute, scheint gleichsam irrelevant zu sein.

    Das Gleiche geschieht in der Innenpolitik. Die staatlichen Repressionsorgane sind desintegriert und schwach. Ihnen fehlen die ideologische Motive und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, sie sind allein von Gier und Angst angetrieben. Der Staat spielt die starke Hand nur – und seine Bürger spielen bereitwillig das Leben unter der starken Hand. Innerhalb dieser Logik erklärt sich, weshalb der abrupte Anstieg der Verfahren wegen „Extremismus“ und „Staatsverrat“ sowie die Kampagnen gegen „ausländische Agenten“ und die Fünfte Kolonne funktionieren und von der Mehrheit akzeptiert werden (fast die Hälfte derer, die über das ziemlich schnell eingestellte Verfahren gegen die mehrfache Mutter und „Staatsverräterin“ Swetlana Dawydowa informiert waren, gaben den Daten des Meinungsforschungsunternehmens WZIOM zufolge an, dass sie eine Gefängnisstrafe verdient habe). Selbst rein technische Maßnahmen wie die Einführung gebührenpflichtiger Parkplätze, der Abriss von Verkaufsbuden oder Straßenbaumaßnahmen im Zentrum von Moskau werden nach dem Muster stalinscher Mobilisierungskampagnen durchgeführt.

    Für die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die Gebrechlichkeit der Konstrukte, mit denen wir es heute zu tun haben, spricht auch ihr hoffnungslos eklektischer Charakter. Sowjetische Ideologie-Versatzstücke verbinden sich mit monarchistischen, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus und Erscheinungen der Moderne mit offenkundigem Postmodernismus. Der „weltanschaulichen Rahmen“ beherbergt ein Konstrukt aus äußerst heterogenen Erscheinungen, die je nach Situation aus Ängsten und Traumata  zusammenmontiert wurden.

    Aber wenn das so entstandene Bündel künstlich, unvollständig und nicht lebensfähig ist, wenn es keine Ressourcen für eine echte Renaissance des stalinistischen Modells gibt – woher kommt dann die offensichtliche und augenfällige Energie, mit der dieses Gebilde Lebenszeichen von sich gibt?

    Erstens liegt der schmerzhaft aufbrechenden Erinnerung an die Sowjetunion, wie schon gesagt, ein Trauma zugrunde, das die Zeit nicht heilen kann, wenn es nicht verarbeitet wird. Zweitens erinnert das Phänomen mit seiner Intensität und seinem verkrampften Bemühen stark an eine Agonie. Agonie im medizinischen Sinn bedeutet ja immer eine Aktivierung der Lebenskräfte – Atmung, Herzrhythmus und Durchblutung des Sterbenden funktionieren plötzlich wieder. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht das Gehirn und der obere Bereich des Nervensystems, sondern Hirnstamm und Rückenmark. Es handelt sich um eine von Krämpfen begleitete Verbrennung der letzten Ressourcen im Vorgriff auf das unvermeidliche Ende. Das, was heute zu beobachten ist, erinnert bei aller scheinbaren Lebendigkeit und Frische genau daran.

    Der schlafende Koloss erwacht nicht, sondern liegt im Todeskampf. Das heißt jedoch keineswegs, dass das Geschehen harmlos ist. Diese Agonie von historischem Maßstab kann Jahre andauern, und der Drache kann in den letzten Zuckungen viele mit ins Verderben reißen – sowohl die tapferen Ritter als auch die Anhänger, die sich an ihn geklammert haben, sei es aus Angst, aus Dummheit oder weil sie den Todeskampf mit der Rückkehr zum Thron verwechselten.

    Er hat schon jetzt einige tausend Menschen mit sich gerissen, die – freiwillig oder auf Befehl – in den ukrainischen Krieg zogen und dort getötet haben und gefallen sind. Und einige Dutzend (anderen Angaben zufolge Hunderte) in Syrien. Dazu kommen die Opfer der Verurteilungen wegen Extremismus und anderer parapolitischer Anklagen, die infolge der Aktivierung des repressiven Systems stark zugenommen haben.

    Unheimlicher und Schmerzlicher Diskurs

    So paradox es klingt: Man kann in dieser krampfhaften Aktivierung des „Stalinkomplexes“ auch ein wichtiges Zeichen der Hoffnung sehen. Denn die Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit, die durch zahlreiche politische, soziale und psychologische Faktoren erschwert wird, könnte sich dadurch endlich das ganze Land packen und Russland faktisch zu einem ernsthaften Umdenken zu nötigen. Die Erinnerung an den Großen Terror ist bis heute entweder weitgehend privat, in den Tiefen verborgen, aus denen heraus sie unsichtbar die Gegenwart und die Beziehung zu ihr gefärbt hat (siehe das Buch Krivoe gore – dt. Der entstellte Kummer von Alexander Etkind), oder sie wurde „extern“ bearbeitet. Jetzt kann sie mit voller Kraft erwachen. Die gemeinsame Verarbeitung des gemeinsamen Schmerzes ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Heilung.

    Staatliche Anstrengungen allein reichen in solchen Fällen nicht aus – davon zeugt die äußerst oberflächliche offizielle Ent-Stalinisierung in den 1950er und 1960er Jahren, die als solche schon ein schmerzhaftes Ressentiment provoziert hat, und später dann die Umwertung der Werte in den 1990er Jahren. Auch die Bemühungen lediglich eines aktiven Teils der Zivilgesellschaft sind nicht ausreichend. Die Bedeutung der Tätigkeit von Organisationen wie Memorial ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Mitglieder von Memorial sagen jedoch selbst, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, der Öffentlichkeit die Materialien und Fakten für die Aufarbeitung an die Hand zu geben. Sie können diese Aufarbeitung nicht anstelle der Gesellschaft und ohne Mitwirkung des Staates durchführen.

    In den beiden letzten Jahren ist zu beobachten, dass in der ganzen Gesellschaft ein Diskurs über die Repressionen und das Erbe des Stalinismus beginnt. Dieser Diskurs ist oft unheimlich und schmerzlich, er entgleitet zuweilen in unnötige und emotionale Verallgemeinerungen – aber wenn ein Geschwür aufbricht, ist das unvermeidlich. Oleg Chlewnjuks Buch über Stalin gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2015, und einiges deutet darauf hin, dass es im Kreml aufmerksam gelesen wird. Posts in sozialen Netzwerken, die dem Gedenken an die Repressionen gewidmet sind, werden zu Zehntausenden geteilt (nur zwei Beispiele: Andrej Mowtschans Antwort auf einen Kommentator und Sergej Parchomenkos Erzählung über Kolpaschewski Jar); Bürgerinitiativen wie Woswraschtschenie imjon (Rückgabe der Namen) und Posledni adres (Die letzte Adresse) vermehren sich  exponentiell. Ein wichtiges Detail: In diesem Jahr wird die Aktion Woswraschtschenie imjon am Solowezki-Stein in Moskau erstmals nicht aus Fördertöpfen, sondern durch Spenden von Bürgern finanziert. Früher war so etwas nicht möglich – jetzt ist es auf einmal ganz selbstverständlich geworden.

    Man kann sogar noch etwas weiter gehen. Russland braucht nicht einfach nur einen Diskurs über die Erinnerung. Ein solcher Diskurs ist vielmehr der einzige Weg, um eine weit schwierigere Aufgabe anzugehen: den Versuch, im ganzen Land eine gemeinsame Sprache zu finden.

    Neben vielen anderen Dingen hat die Krim-Krise deutlich gezeigt, dass in der russischen Gesellschaft ein kalter Bürgerkrieg herrscht, der in einer Krisensituation ein heißer werden kann. Der Schmerz, der deutlich mit der Stalinära in Zusammenhang steht, ist wohl die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen vereint oder vereinen könnte, sondern alle Menschen im postsowjetischen Raum.

    Eine solche Vereinigung wäre von gänzlich anderer Art als das, was die Urheber der Post-Krim-Mobilisierung wachrufen wollten. Aber gerade sie könnte ein Gespräch darüber in Gang setzen, wie wichtig und notwendig eine Koexistenz in diesem Raum ist – ein Gespräch über gemeinsame Ziele und über Gemeinsamkeiten, für die es sich lohnt, Kompromisse einzugehen.

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