дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 48: Mord an Denis Woronenkow

    Debattenschau № 48: Mord an Denis Woronenkow

    Am 23. März wurde der Ex-Dumaabgeordnete Denis Woronenkow in Kiew auf offener Straße erschossen.

    Der ehemalige Abgeordnete der Kommunistischen Partei war eine umstrittene Figur: Er hatte die Linie des Kreml mitgetragen, in Sozialen Netzwerken etwa die Angliederung der Krim begrüßt. Umso überraschender war es für Viele, als er Ende 2016 in die Ukraine emigrierte – nachdem er nicht mehr in die Duma gewählt worden war. Da in Russland seit 2014 wegen Korruption gegen Woronenkow ermittelt wurde, vermuteten dies manche als Beweggrund für seine Emigration. In Kiew verglich er Russland schließlich sogar mit Nazi-Deutschland. Woronenkow hinterlässt eine Ehefrau, die populäre Opernsängerin Maria Maksakowa-Igenbergs, den gemeinsamen Sohn sowie zwei Kinder aus einer früheren Ehe.

    Foto © Roman Jarowizyn/Kommersant
    Foto © Roman Jarowizyn/Kommersant

    Unmittelbar nach Woronenkows Ermordung brachen heftige Spekulationen über das Motiv und die Hintermänner aus: Steckt der SBU hinter dem Mord? Der russische Geheimdienst aus „Rache am Verräter“? Oder ging es um irgendwelche schmutzigen Geschäfte? 

    Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sprach von „russischem Staatsterrorismus“, die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa dagegen von einem „Auftragsmord“.

    Der mutmaßliche Mörder war nach der Tat schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert worden, wo er seinen Verletzungen erlag. Am Tag nach dem Mord veröffentlichte der ukrainische Obosrewatel den Namen des mutmaßlichen Täters. Andere, zumeist russische, Quellen stützen sich jedoch auf die Anwältin des Mannes, die behauptet, ihr Mandant sei noch am Leben.

    In russischen Medien wird derzeit heftig spekuliert, wer hinter dem Mord steckt, unter anderem wird die in Russland typische Frage „Wem nützt es?“ aufgeworfen. Dass so viele eine schnelle Antwort darauf haben, das hat vereinzelt wiederum eine eigene Debatte ausgelöst. dekoder bringt Ausschnitte:

     

    Novaya Gazeta: Kreml wird sich nicht herauswinden können

    Julia Latynina von der unabhängigen Novaya Gazeta hat keinen Zweifel, wer hinter dem Mord steckt:

    [bilingbox]Auch wenn die Kiewer Polizei und der SBU hilflos erscheinen, so werden sie doch alles daran setzen, dieses Verbrechen aufzuklären. Meiner Meinung nach besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es aufgeklärt wird, so wie der Mord an Litwinenko. In diesem Fall wird sich der Kreml nicht herauswinden können.

    Bestenfalls wird seine Verteidigungsstrategie folgende sein: „das war Eigeninitiative“, „hat versucht, sich anzudienen“. Funktionieren wird diese Verteidigungsstrategie nur bei den Olgino-Trollen.~~~Как бы ни были беспомощны киевская полиция и СБУ, они бросят на раскрытие этого преступления все силы. На мой взгляд, есть очень большая вероятность, что его раскроют, так же, как было раскрыто убийство Литвиненко. В таком случае Кремлю не отмыться.

    В лучшем случае линия защиты будет такая: «это самодеятельность», «пытались угодить». Действовать эта линия защиты будет только на ольгинских троллей. [/bilingbox]

     

    erschienen am 24.03.2017

    Republic: Komplizierter als MH17-Abschuss

    Oleg Kaschin vermutet eine Rache des Kreml hinter der Ermordung – und fragt sich auf Republic, wie der es schaffen wird, damit ein Zeichen zu setzen und sich gleichzeitig nicht als Täter zu entlarven:

    [bilingbox]Die russische Staatsmacht wird nun vermutlich Mittel und Wege erfinden, um zu zeigen, dass Woronenkow wegen Verrats bestraft wurde. Diese müssen einerseits von allen potentiellen Adressaten eindeutig verstanden werden; andererseits dürfen sie auch nicht zum offenherzigen Bekenntnis werden: „Ja, das waren wir.“

    Diese Herausforderung ist deutlich größer als damals bei der MH17 oder bei Nemzow. Vielleicht werden die russischen Machthaber nicht dicht halten und sich schneller verplappern als die ukrainischen Ermittler den Mordfall aufdecken.~~~[…] российская власть сейчас, скорее всего, будет изобретать способы дать понять, что Вороненков наказан за предательство, и эти способы должны быть такими, чтобы, с одной стороны, они воспринимались однозначно всеми потенциальными адресатами, а с другой – не стали бы чистосердечным признанием: «Да, это мы».

    Tакая задача несопоставимо более сложна, чем то, что было с «Боингом» или Немцовым. Может случиться так, что российские власти не выдержат и проболтаются быстрее, чем украинские следователи раскроют убийство.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Der SBU war’s

    Für das Massenblatt Komsomolskaja Prawda ist ebenfalls klar, wer die Drahtzieher sind – auch wenn es zu einem anderen Schluss kommt als Republic:

    [bilingbox][Woronenkows] kriminelle Sünden in Russland wurden dabei [in der Ukraine – dek] nur spärlich erwähnt, beiläufig, im Rahmen der politischen Verfolgung. Schließlich hatte man das glänzende Bild eines [Unschulds-]Lamms. Aus Woronenkow hat man alles rausgeholt, was ging. Und ihn dann zur Schlachtung überführt. Diese Version sieht doch sehr viel logischer aus, oder? Besonders vor dem Hintergrund der für die Ukraine nicht allzu erfreulichen jüngsten Ereignisse. Für Poroschenko, aus dessen Händen die Macht langsam zu den Radikalen abfließt, ist das der rettende Strohhalm. Vorerst. […]

    Übrigens wurde am Tatort eine Handtasche des Killers gefunden. Eine Handtasche, verstehen Sie? Wozu hat er die „zum Einsatz“ mitgenommen? Bestimmt hatte er darin einen Bart zum Ankleben, einen Kompass, einen Kiew-Stadtplan für Touristen und einen Ausweis der „Abteilung Liquidation“ des KGB. Derartiges wird der SBU wahrscheinlich bald präsentieren. […] ~~~О криминальных прегрешениях в России при этом упоминалось скупо, вскользь, в рамках политического преследования. В итоге образ агнца получился на славу. Из Вороненкова выжали все, что было возможно. И принесли на заклание. Согласитесь, эта версия выглядит куда логичнее. Особенно на фоне последних не самых приятных для Украины событий.
    Для Порошенко, из рук которого власть потихоньку утекает к радикалам, это спасительная палочка. На какое-то время. […]

    Кстати, на месте убийства была найдена борсетка киллера. Борсетка, понимаете? Зачем он брал ее «на дело»? Даже не сомневаюсь, что в ней он носил накладную бороду, компас, туристическую карту Киева и удостоверение «отдела ликвидаций» КГБ. Скоро что-то подобное наверняка обнародует СБУ.[…][/bilingbox]

     

    erschienen am 23.03.2017

    Vedomosti: Russland und Ukraine müssen zusammenarbeiten

    Die Tageszeitung Vedomosti verdächtigt weder Kreml noch SBU – und regt zur Aufklärung des Falls eine Zusammenarbeit der russischen und ukrainischen Behörden an: 

    [bilingbox]Wenn man die spezielle Art der Beschäftigungen des Ex-Abgeordneten bedenkt, darf man auch die Version nicht ausschließen, die man gewöhnlich als Konflikt in der Businesswelt bezeichnet. Selbst irgendwelche persönlichen Hintergründe oder eine Vermischung all solcher Umstände darf man nicht ausschließen.

    Wenn man alle diese Versionen ernsthaft in Betracht zieht, dann wird der Mordfall ohne eine Zusammenarbeit der russischen und ukrainischen Rechtsschutzorgane nur schwer überzeugend aufzuklären sein. Aber nach offiziellen Verlautbarungen, dass russische Geheimdienste am Mord beteiligt gewesen sein sollen, wird es eine solche Zusammenarbeit offenbar nicht mehr geben.~~~Учитывая непростой род занятий бывшего депутата, нельзя исключать и версию, которую принято называть «конфликтом в сфере бизнеса». Нельзя даже исключать и какие-то личные версии, а также сочетание всех этих обстоятельств. Если все эти версии рассматривать серьезно, то без сотрудничества правоохранительных органов России и Украины по-настоящему убедительно раскрыть это убийство будет сложно. Но, похоже, после официальных заявлений о причастности к убийству российских спецслужб такого сотрудничества не будет.[/bilingbox]

     

    erschienen am 24.03.2017

    spektr: Opfer des hybriden Kriegs

    Das russischsprachige Spektr, das in Lettland ansässig ist, ist der Spekulationen und schnellen Verdächtigungen müde: 

    [bilingbox]

    Eine weitere Leiche – diesmal im Zentrum von Kiew – wird blitzartig zur Waffe im Propaganda-Krieg. Eigentlich interessiert sich auch niemand wirklich dafür, wer ihn weshalb umgebracht hat. Den Konfliktparteien ist auch so alles klar. Selbst wenn der Killer überlebt und ausgesagt hätte, würde man die Aussagen, die nicht in das einfache Weltbild der eigenen Seite passten, beiseite legen, es der feindlichen Propaganda anlasten und mit der Entlarvung des Gegners fortfahren.

    Das heißt, obwohl wir das nicht wollten, sind wir auf beiden Seiten der Grenze bereits zu gemeinsamen Opfern des hybriden Kriegs geworden.

    ~~~Еще один труп – на этот раз в центре Киева – тоже молниеносно оказывается орудием пропагандистской войны. Собственно, никому ведь и не интересно, кто и за что его убил. Сторонам конфликта и без того все ясно. И даже если бы киллер выжил и дал бы показания, та сторона, в простую картину мира которой эти показания не впишутся, легко отмахнется от них, спишет на вражескую пропаганду и продолжит сеанс разоблачения противника.

    То есть все мы по обе стороны границы, сами того не желая, уже вступили в союз жертв гибридной войны.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.03.2017

    dekoder-Redaktion

     

    Weitere Themen

    Die Schlacht ums Narrativ

    Anna Politkowskaja

    Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Journalisten in der Provinzfalle

    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

  • Landlust auf Russisch

    Landlust auf Russisch

    Öko und Abgeschiedenheit, das gehört für sie zusammen, wobei meist auch eine Prise Esoterik dazukommt: Die ersten sogenannten Ökodörfer entstanden in Russland in den 1990er Jahren. Oftmals versuchten Menschen aus den Städten dort ein Leben abseits der offiziellen Strukturen.

    Soziologen erklären den damaligen Boom damit, dass nach der Perestroika die alten Sicherheiten fehlten, gleichzeitig habe es vermehrt Nachrichten über Kommunen und alternative Lebensformen aus dem Ausland gegeben. Auch der Zugang zur einheimischen esoterischen Literatur sei nun viel einfacher gewesen. Eine zweite Welle gab es in den 2000er Jahren, inspiriert durch die esoterische Romanfigur Anastasia.

    Russlands Ökodörfer bestehen bis heute – und es gibt auch Neugründungen. Olga Dimitrijewa hat für Zapovednik einige besucht. Und traf dabei nicht nur auf Anastasianer und Eskapisten.

    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik
    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik

    Die 1970er Jahre markieren in der UdSSR eine Zeit des Stillstands. Der 24-jährige Wladimir Pusakow, zukünftiger Begründer eines bekannten russischen Ökodorfs, siedelt in dieser Zeit aus der Ukrainischen Sowjetrepublik nach Nowosibirsk über. Er heiratet und heißt trotz späterer Scheidung von nun an Megre. 20 Jahre später verdient Megre sein Geld mit der Organisation von Flusskreuzfahrten auf dem Ob. Während einer seiner Reisen begegnet er in der Taiga der Einsiedlerin Anastasia. Sein erstes Buch über sie erscheint 1996.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Anastasia, eine Frau von unglaublicher Schönheit, besitzt okkulte und paranormale Fähigkeiten, lebt alleine in der sibirischen Taiga, kommt ohne Heim und Kleidung aus, lehnt alle zivilisatorischen Errungenschaften ab, ernährt sich von Wurzeln und Beeren, die Eichhörnchen für sie sammeln, ist per du mit Bären und Wölfen, und wenn sie nicht gerade mit der Natur kommuniziert, dann bringt sie den Datschniki den richtigen Umgang mit Pflanzen bei (indem sie ihre Ratschläge per Telepathie übermittelt).

    Megres Gegner haben mehr als einmal versucht, Anastasia als eine fiktive Figur zu entlarven, auch der Autor selbst hat das thematisiert. Aber die Fans der Einsiedlerin schreckt das nicht. „Ich existiere für die, für die ich existiere“, so lautet der Slogan auf dem Umschlag des ersten Bandes der Anastasia-Serie Die klingenden Zedern. Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin inspiriert die zweite Welle der Ökodorf-Bewegung in Russland Anfang der 2000er Jahre.

    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“
    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“

    Wie viele Ökodörfer es in Russland heute gibt, ist nicht bekannt. 2012 schätzte ZIRKON die Zahl auf circa 200, 60 Prozent davon zählen die Forscher zu den sogenannten Familienlandsitzen der Anastasianer [Posselenija rodowych pomesti – PRP]. Vier Jahre später spricht die Stiftung Anastasia von 364 existierenden Familienlandsitzen unterschiedlicher Größe. Die Internetseite poselenia.ru zählt 449 Dörfer, die meisten davon ebenfalls Familienlandsitze, wobei diese Statistik auch Siedlungen im Ausland einschließt. Demnach lebten im vergangenen Jahr 5000 Menschen ständig, auch im Winter, in Ökodörfern.

    Neben den Anastasianern nennt die ZIRKON-Studie ein ganzes Spektrum von alternativen Siedlungen, die sich als Ökodörfer ohne spezifische Glaubensausrichtung beschreiben lassen. Diese Siedlungen wurden zum einen gegründet, um einen ökologisch reinen Lebensraum zu schaffen, zum anderen sind sie Ideengemeinschaften (das heißt, Gemeinschaften, die bewusst auf ein enges Zusammenwirken ausgelegt sind).

    Von der Stadt aufs Feld

    Ziel des ZIRKON-Projekts ist es, alle bestehenden Formen von Ökodörfern zu beschreiben. Artemi Posanenko, Analytiker vom Projekt- und Lehrlabor der Stadtverwaltung an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), hat sich dagegen vor allem mit den Familienlandsitzen beschäftigt. „Anfangs interessierte mich das Thema der räumlichen Isolation. Ich war schon immer von der Einöde fasziniert, habe mich immer gern in die entlegensten Winkel verdrückt.“

    Artemi Posanenko und ich unterhalten uns mitten im Zentrum von Moskau, in der Wyschka [wie die Hochschule inoffiziell genannt wird – dek]. „Dann war ich plötzlich mit Selbstisolation konfrontiert. Und wollte Gemeinschaften, die unfreiwillig von der Außenwelt abgeschnitten wurden, mit solchen vergleichen, die die Isolation bewusst anstreben.“

    Der Soziologe sagt, die Menschen, die er beobachtet, kämen aus der Stadt, seien verhältnismäßig jung (im Schnitt 35 bis 45), hätten studiert und nicht selten Erfahrung in der Unternehmensführung. Allerdings, so fügt er hinzu, hätten die Umsiedler meist keinen geisteswissenschaftlichen Hintergrund, sondern einen technischen oder naturwissenschaftlichen. Damit ließe sich auch ihre Neigung zu esoterischer Literatur erklären, die „Antworten auf alle Fragen bietet“. Bereits dieses grobe Porträt der neuen Dörfler lässt erahnen, dass sie an das Leben auf dem Land zunächst eher wenig angepasst sind.

    Einer der Schlüsselgedanken in Megres Anastasia-Büchern ist die Idee der Selbstversorgung. „Auf dem Land angekommen, säen die Städter das Saatgut auf ihrem Grundstück so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt: Sie behalten es zunächst eine Weile im Mund, setzen es in die ungepflügte Erde und kümmern sich nicht weiter um die Pflanzen“, heißt es im Bericht des ZIRKON. „Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht.“

    Sie säen das Saatgut so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt. Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht

    Enttäuscht von Anastasias Ratschlägen, wenden sich die Umsiedler anderen alternativen Formen der Bewirtschaftung zu. Zum Beispiel der Permakultur, einem Landwirtschaftssystem, das auf den Wechselwirkungen der natürlichen Ökosysteme beruht.

    „Es gibt sehr viele, die damit experimentieren, aber nennenswerte Ergebnisse erzielen sie nicht“, berichtet Posanenko. „Obwohl manche eine ganz anständige Ernte haben. Aber während sich in den ländlichen Gebieten die echten Dörfler, nicht die Zugezogenen, mehr oder weniger das ganze Jahr über mit ihren eigenen Garten-Erträgen versorgen können, sind in den neuen Dörfern meist alle Lebensmittel bis zum Jahresende aufgebraucht und müssen dann eingekauft werden.“

    Zwischen Stadt und Land

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik [dt. Lebendiger Quell] im Bezirk Abinsk der Region Krasnodar. Die Geschichte seiner Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer. Mit etwa 25 Jahren begannen seine Frau und er, sich Gedanken über Kinder und Gesundheit zu machen. Sie wollten aus der Stadt raus, aber „auf dem Land gibts ja auch solche und solche – die einen trinken, die anderen sonst was. Ob das die richtige Umgebung für Kinder ist …“ Schließlich fanden sie eine Siedlung, kauften ein Haus von einer Familie, die mit den Strapazen des Landlebens nicht zurechtkam, und zogen um.

    Die Geschichte von Stepans Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer

    Jetzt hat Stepan zwei Kinder. Seine Frau und er kümmern sich um ihr Grundstück und führen ein kleines Unternehmen: „Honig und noch ein paar ökologisch produzierte Lebensmittel. Gewürze – einen Teil bauen wir selbst an, einen Teil kaufen wir ein. Manchmal stellen wir eigene Gewürzmischungen her, sowas wie Chmeli-Suneli oder Curry. Weil das Industrie-Zeug aus minderwertigem Müll gemacht wird. Das hat nicht das Aroma, das es haben sollte.“

    Den Honig und die Gewürze vertreibt Stepan über eine Gruppe in VKontakte. Viele Kunden hat er nicht, aber dafür sind es Stammkunden, die große Chargen einkaufen. [ZIRKON-Forscherin] Darja Malzewa räumt ein, dass es bei Weitem nicht allen gelingt, ein lokales Business aufzubauen, oder aber es läuft nicht besonders erfolgreich.

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar
    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar

    Artemi Posanenko erklärt, wovon die Bewohner der Familienlandsitze meistens leben: Es gibt Privatiers, die Wohnungen in der Stadt vermieten, Saisonarbeiter, ein paar Rentner. Unternehmer, die ein Geschäft unabhängig von der Siedlung haben. Lohnarbeiter, die in Nachbarorte pendeln. Manche leben von Erspartem, das sie vor der Umsiedlung aufs Land auf die Seite gelegt haben. „Die Privatiers und Unternehmer sind die größte Gruppe“, sagt Posanenko, „Solche, die es schaffen, dort Geld zu verdienen, wo sie leben, wenigstens ansatzweise, gibt es bisher nur wenige.“

    Innerhalb der Siedlung haben die Menschen vielleicht ein kleines Sägewerk, eine Schmiede, stellen Bioprodukte her. Manche versuchen, den Ökotourismus für die Städter anzukurbeln.

    Eine relativ weit verbreitete Art, Geld zu verdienen, sind Seminare auf dem Land – für manche Siedler besteht also die Haupteinnahmequelle darin, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. „Ist doch witzig – sie erzählen den Menschen: Ihr werdet dort damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient“, sagt Posanenko.

    Haupteinnahmequelle mancher Siedler ist es, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. Sie erzählen den Menschen: Ihr werdet damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient

    Dorfbewohner Stepan gibt zu, dass er sein Geld vor der Umsiedlung verdient habe – vom „Kohlescheffeln“ hat er die Nase voll.

    „Wenn jemand aus der Stadt in eine Lehmhütte mitten auf freiem Feld zieht, dann macht das natürlich etwas mit seinem sozialen Status. Aber sie haben nicht das Gefühl, etwas zu verlieren, sondern etwas dazuzugewinnen“, sagt Darja Malzewa. „Doch man muss auch bedenken, dass die Menschen dazu neigen, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Zum Beispiel hörte ich einmal von zwei Bewohnern, dass sie ein Geschäft hatten, und alles sei gut gewesen, aber irgendwann hätten sie einfach keine Lust mehr gehabt. Dann kam die Tochter zu Besuch und erzählte mir, das Geschäft sei nicht gut gelaufen, es ging bergab, und deshalb seien sie weggegangen.“

    Partei der Abschotter

    Eines der Merkmale, das die Ökodörfer von anderen Ortschaften in Russland unterscheidet, ist die geringe Einbindung in offizielle Strukturen. Ursprünglich waren die meisten Ökodörfer als ein Raum angelegt, der außerhalb der staatlichen Einflusssphären existiert. Als ZIRKON 2011 seine Studie zur Ökodorfbewegung plante, sahen die Wissenschaftler in dem Phänomen zunächst eine Form von Eskapismus. Doch tatsächlich können und wollen sich die neuen Dörfler gar nicht immer von der Gesellschaft abschotten.

    Wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass es einfach ein Versuch ist, das Leben anders zu organisieren

    „Manche schließen sich nicht ans Stromnetz an, sondern stellen Solarbatterien auf. Schulen sollen aufgebaut werden, damit die Kinder nicht mit dem offiziellen Bildungssystem in Berührung kommen“, sagt Artemi Posanenko. Damit sind die örtlichen Behörden nicht immer einverstanden. Noch weniger gefällt ihnen die Zweckentfremdung der Flächen. Für die Siedlungen wird Boden erworben oder gepachtet, der eigentlich für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen ist – er ist am günstigsten zu kaufen und am niedrigsten besteuert, und offiziell gilt er nicht als Bauland.

    Doch der Kontakt mit staatlichen Strukturen geht nicht immer nur von den Behörden aus. So gründete eine Gruppe von Familienlandsitz-Bewohnern eine eigene politische Partei.

    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“
    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“

    „Die Rodnaja Partija ist eine beim Justizministerium eingetragene Partei“, sagt Posanenko. „Das sorgt für große Konflikte innerhalb der Siedlungen, denn sie bleiben nicht einfach nur im System (obwohl das für sie so ein Schimpfwort ist), sondern klinken sich auch noch aktiv ins politische System ein. Manche werben eifrig: Kommt, tretet ein, zahlt Beiträge. Die anderen finden das ganz schlimm.“

    „Anfangs trug unsere Studie den Titel Ökodörfer als Form der Binnen-Emigration“, sagt Darja Malzewa. „Das heißt, wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass das kein ‚Weggang‘, sondern ein ‚Übergang‘ hin zu einer anderen Daseinsform ist. Einfach ein Versuch, das Leben anders zu organisieren.“

    Das neue Dorf

    Das Ökodorf Kowtscheg [dt. Arche] wurde Anfang der 2000er Jahre auf Brachland erbaut. Dann brauchten sie sieben Jahre, um „sich ins System einzugliedern“, und 2009 erhielt Kowtscheg den offiziellen Status eines Dorfes. Aber, so Artemi Posanenko, ein gewöhnliches Dorf ist Kowtscheg trotzdem nicht geworden. Artemi zeigt mir Satellitenansichten der Siedlung: „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf. Da, überall seltsame Bauten, verstreut in wuchernden Feldern. Ganz unverwechselbar.“

    Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun

    Posanenko betont, dass es nicht nur optische Unterschiede gibt: „Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule, sie versuchen die Kinder zu Hause zu erziehen, unabhängig vom offiziellen Bildungssystem. Es gibt kollektive Veranstaltungen. Forstschutz. Tage der offenen Tür, Vorträge, Workshops, Feste. Sie unterscheiden sich im Lebensstil, im Denken, in der Bevölkerungszusammensetzung und demografischen Struktur grundlegend von anderen Dörfern. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun.“

    Betrachtet man die Ökodörfer als eine neue Gemeindeform, so sehen die Forscher ihre Zukunft in Russland weniger optimistisch. Nach Darja Malzewas Ansicht hängt alles davon ab, inwieweit sie bereit sein werden, auch Technik einzusetzen. „Wenn sie auf dem Stand des Archaischen stehenbleiben, verlieren sie ihre Anhänger, gewinnen keine neuen hinzu und erfahren keine Verbreitung.“

    Artemi Posanenko setzt, was die Zukunft der Ökodörfer angeht, den Akzent woanders: „Der Status, unter dem die landwirtschaftlichen Flächen bewohnt werden, ist ziemlich brüchig. Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben. Deshalb braucht es die Institutionalisierung.“

    Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben

    Die Alternativen: Entweder man strebt den Status einer Ortschaft an, wie im Fall von Kowtscheg, oder man erreicht die Verabschiedung eines Ökodorf-Gesetzes. Ein dritter Weg, den die Forscher in der Praxis bereits beobachtet haben – die Verwandlung des Ökodorfs in eine Datschensiedlung – bedeutet faktisch das Ende des Ökodorfs in seinem ursprünglichen Sinn.

    Es gibt nicht sehr viele Möglichkeiten, außerhalb des Staates zu leben: „Wenn man sich in der Taiga ansiedelt, wo es kein Öl gibt, keine Durchfahrtsstraßen und so weiter, wird sich vermutlich niemand für dieses Land interessieren, und man kann dort in aller Ruhe sein Einsiedlerleben leben. Zum Beispiel eine Siedlung im Gebiet Tscheljabinsk, in der ich war – die einzige wirklich räumlich isolierte.“ Gleichzeitig schließen die Forscher nicht aus, dass es Dörfer gibt, die die Idee der Abschottung verwirklicht und sich nicht auf den einschlägigen Internetseiten registriert haben.

    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen
    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen

    „Wenn man sie lässt, ist das für manche ein Weg. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er zum Mainstream wird und sich eine neue Kultur daraus entwickelt“, resümiert Posanenko. „Aber ich glaube nicht, dass diese Dörfer verschwinden werden. Es gab eine Zeit, da verdoppelte sich die Zahl der Siedler laut offiziellen Angaben einmal in drei Jahren. Dieses Tempo wird zurückgehen. Aber ich glaube nicht, dass die Spitze schon erreicht ist. Ich denke, das Phänomen wird weiter wachsen und gesellschaftlich sichtbar werden. Man wird sagen: Ja, in Russland gibt es diese Form der ländlichen Siedlungen.“

    Die Ideologie, die ursprünglich eine große Rolle im Leben der Ökodörfler eingenommen hatte, tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen. Doch der Wunsch nach dem Landleben unter Gleichgesinnten bleibt: „Ich kann nicht sagen, dass ich ein Anastasianer bin oder so etwas“, sagt Stepan. „Die Zeit, als ich auf der Suche nach mir selbst war, ist eigentlich vorbei. Wir haben uns gefunden.“

    Weitere Themen

    Walenki

    Kleine Auszeit

    „Sie sind völlig frei“

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Journalisten in der Provinzfalle

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

  • Wie ich den Winter verbrannt habe

    Wie ich den Winter verbrannt habe

    Sie sägen Blöcke aus Schnee, bauen eine Festung daraus und stürmen sie. Die Bakschewsche Masljaniza ist ein großes Fest an geheimem Ort, organisiert von Freiwilligen. Und am Ende verbrennt der Winter. Wirklich. Pawel Nikulin war für Takie Dela dabei. 

    Fotos © Stoyan Vassev/Takie Dela
    Fotos © Stoyan Vassev/Takie Dela

    Anarchie im Wald

    „Hier sehen Sie, wie Anarchie funktioniert“, erklärt mir eine Frau um die vierzig und hält mir eine Tasse dampfenden Tee entgegen.

    Hier – das ist auf einem namenlosen Feld im Wald hunderte Kilometer von Moskau entfernt. Ich bin hergekommen, um mir die Vorbereitungen der Bakschewschen Masljaniza anzusehen. (Genau so, mit „ja“ schreibt man hier das Fest.) Im Slang der Masljaniza-Veranstalter heißen diese Vorbereitungen Butterbau. Und die freiwilligen Helfer Butterbauarbeiter.

    Ich lerne sie am Lagerfeuer kennen. Über den Flammen köcheln Suppen und blubbert Tee. Dicke Äste knacken. Gemahlene Arabica-Bohnen werden in einen kleinen Armee-Kochtopf geschüttet und dazu noch ein paar Tannenzweige. So kocht man Waldkaffee. 

    Ich versuche, meine Füße trockenzukriegen. Strecke sie möglichst ans Feuer, von den Socken steigen dichte Dampfschwaden auf. Die Frau, die mich auf die Tasse Tee eingeladen hat, lacht. An ihren Füßen trägt sie riesige Überzieher eines Chemieschutzanzugs.

    Vom Rand des gigantischen Feldes – mindestens so groß wie ein Fußballfeld – dringt das Heulen einer Motorsäge zu uns herüber. Die Butterbauarbeiter sägen Blöcke aus gepresstem Schnee für den Bau der Schneefestung – ein Bauwerk von mindestens fünf Metern Höhe, das an Masljaniza gestürmt werden soll, unter Anführung des Frühlings-Woiwoden. Aufgetürmt werden die Blöcke mithilfe eines Krans, der ist selbstgezimmert aus ein paar Baumstämmen, Seil und Segeltuch. Darin wird der Schnee mit den Füßen zusammengestampft und zersägt.

    Am Waldrand ist die nächste Gruppe Bauarbeiter am Werk, sie errichten Toiletten, stellen das Eingangstor auf oder entfernen die Rinde von gefällten Bäumen. Am schnellsten gelingt das einer jungen Frau, die den Baumstamm gekonnt mit einer großen Machete bearbeitet. 

    „Ich habe über Freunde, die schon mal hier waren, von dem Fest erfahren. Das erste Mal bin ich nur zum eigentlichen Fest gekommen, das war 2015. Im nächsten Jahr bin ich schon über Nacht geblieben, und diesmal wollte ich auch bei den Vorbereitungen dabei sein. Es ist ein tolles, fröhliches Fest, hier kann ich alle Hektik und Sorgen der Großstadt vergessen und einfach die Seele baumeln lassen“, erzählt mir Olja.

    Der längste glattpolierte Baumstamm, etwa zehn Meter lang, wird später in der Mitte vom Feld aufgestellt. Er ist fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms einer jeden Masljaniza. Ganz oben werden Preise angebracht – für diejenigen, die es so weit hoch schaffen. Ich bekomme die Aufgabe, eine Wippe zu bauen. Dafür braucht es einen Baumstamm, Tannen und ein paar Feuerwehrschläuche.

    Bliny und Postmoderne

    Den richtigen Ort für das Fest suchen die Veranstalter lange im Voraus. Manchmal sind sie bis zu einem Jahr unterwegs, um sich verschiedene Örtlichkeiten anzusehen. Bei der Auswahl spielen viele Faktoren eine Rolle: Entfernung zur nächsten Ortschaft, Erreichbarkeit im Winter wie im Sommer.

    Informationen über die Masljaniza findet man auf der Webseite des Vereins Roshdestwenka, einer Bewegung freiwilliger Restauratoren, die sich der Wiederherstellung alter russischer Denkmäler, Bräuche und Volksfeste verschrieben haben.

    Natalja Charpalewa, ein aktives Mitglied von Roshdestwenka erzählt, die erste Masljaniza sei noch in den Achtzigern von ein paar Ausflüglern veranstaltet worden. Enthusiasten, die sich im Sommer mit der Restaurierung von Klosteranlagen beschäftigten, hätten die ersten Masljazina-Feste im kleinen Kreis gefeiert und Mal für Mal mehr Folklore-Elemente hinzugefügt. Von den KSP-Anhängern hätte man beispielsweise die Butter-Abzeichen übernommen – die jährlich wechselnden Aufnäher für die Masljaniza-Teilnehmer.

    1998 verstarb Michail Bakschewski, ein Gründungsmitglied der Masljaniza, doch das Fest, das nun nach ihm benannt wurde, lebte weiter und fand immer mehr Anhänger. Irgendwann wurde das den Veranstaltern sogar lästig. Der Wald war voller Autos, es wurde immer schwieriger den Müll wegzuräumen. Deswegen wird das Fest mittlerweile fast schon konspirativ durchgeführt: Nur wer sich im Voraus registriert hat, erfährt wenige Tage vorher per Mail, wo die Masljaniza stattfindet. „Schaltet bitte die Ortsangabe aus, wenn ihr während der Vorbereitungen Fotos vom Feld postet“, richten sich die Organisatoren auf der offiziellen Webseite der Roshdestwenka an ihre Helfer.

    Örtliche Regierung und Polizei wissen nichts vom Fest. Die Veranstalter informieren nur den Rettungsdienst.

    Über die Jahre hat sich ein fester Ablauf etabliert. Bestimmte Protagonisten sind vom Fest nicht mehr wegzudenken: der Frühlings-Woiwode, die Strohpuppe Winter, der Bär.

    Es gäbe zwar keine Belege dafür, dass unsere Vorfahren die Masljaniza exakt so gefeiert hätten, räumt Charpalewa ein, aber einzeln kämen alle Figuren in ethnografischen Skizzen vor.

    „Irgendwie postmodern“, werfe ich ein.
    „Ein wenig“, erwidert Charpalewa lächelnd.

    Ein verbindendes Ding

    „Ich bin seit zwanzig Jahren dabei. Ich bin gern im Wald. Allein fährst du vielleicht ein, zwei Mal im Winter raus. Aber ganz bestimmt nicht jedes Wochenende, und so kannst du immer herkommen. Hier sind viele Menschen, du lächelst, sie lächeln“, erzählt Roshdestwenka-Koordinator Arkadi Jurowizki.

    Er trägt einen dicken Lammfellmantel und sieht selbst ein bisschen aus wie ein gutmütiger Bär. Zum Feld ist er mit einem Kettenwagen gekommen. Geduldig erklärt mir Arkadi, dass die Freiwilligen die Masljaniza zwar eigentlich für sich selbst veranstalteten, aber so ganz ohne Gäste wäre es doch langweilig. Wenn Arkadi nicht gerade bei der Roshdestwenka arbeitet, repariert er Computer. 

    Die Veranstaltung war seit ihren Anfängen unkommerziell. Besucher werden keine Sponsorenwerbung antreffen, und es wird auch niemand Eintrittsgeld von ihnen verlangen. Die Organisatoren machen keinen Gewinn. Auf den Vorschlag, Kassenbuden auf dem Feld aufzustellen, erwidern sie: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie fehl am Platz bei uns Gespräche über Kassenbuden sind.“

    Ein weiteres Tabu ist politische und religiöse Agitation. Nicht zuletzt, weil bei der Masljaniza das ganze politische Spektrum vertreten sei, sagt Jurowizki:

    „Wir haben hier Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten. Es gibt Kommunisten, ich selbst bin Demokrat, Putinisten sind auch dabei. Unterschiedlichste Menschen kommen hier zusammen. Und da passiert dann so ein verbindendes Ding, es ist mal stärker, mal schwächer, aber es ist da. Es sind sicher 50 Berufsgruppen vertreten! Vom LKW-Fahrer bis zum Forscher.“

    „Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“

    Die Nacht vor Masljaniza ist die schönste: Die Leute stellen Kerzen auf, bringen elektrische Lichterketten an, lassen Himmelslaternen aufsteigen, zünden Feuerwerk. Man geht von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, bietet sich gegenseitig etwas zu essen an, spielt Gitarre und singt.

    Alkoholkonsum ist bei dem Fest nicht besonders gern gesehen. Aber es gibt auch kein Alkoholverbot. Ein angetrunkenes Grüppchen zieht, von einem Akkordeonspieler angeführt, durch den Wald, man könnte meinen, sie wären Braunbären. Kommt ihnen jemand entgegen, verstummt plötzlich die Musik und die soeben noch Kosakenlieder grölenden Männer blicken verlegen um sich.

    „Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“, frage ich einen Künstler, der mit Gouache-Farbe blaue Wellen auf einen Schiffsrumpf aus Schnee malt.
    „Ein Drakkar?“, wundert er sich über meine Frage.
    „Ein Wikingerschiff.“
    „Ähm … genau. Ein Drakkar … Was ist denn ein Drakkar?“
    „Ein Wikingerschiff.“
    „Die Slawen hatten auch solche, die waren wahrscheinlich mit den Wikingern befreundet …“
    „Wahrscheinlich“, stimme ich zu und gehe in mein Zelt schlafen.

    Morgens sitze ich am Lagerfeuer und versuche wieder, meine Füße trockenzukriegen. Von meinen Socken steigen wie schon beim Butterbau dichte Dampfschwaden auf. Ich hätte mir doch Schuhüberzieher kaufen sollen.

    Am Eingangstor herrscht ausgelassene Heiterkeit – alle singen, tanzen und jauchzen Tschastuschki. So „bezahlt“ man hier den Eintritt. Ein paar Meter weiter führt ein Seil über den Bach, für diejenigen, die keine Tschastuschki kennen oder keine Lust haben, zu singen und zu tanzen.

    Tausende Menschen tummeln sich auf dem Feld: backen Bliny oder klettern durch das Schneelabyrinth. Ich beobachte, wie eine Frau lachend ein Pawlow-Possad-Tuch um ihre Dreads wickelt und muss daran denken, dass mein Witz über die Postmoderne wirklich ins Schwarze trifft. Ein Mann kraxelt nur mit einer Unterhose bekleidet den Pfosten mit den Preisen hinauf. Das Ausziehen muss sein, denn nur ohne Kleidung, mit nackter Haut, hat man den nötigen Griff an dem glatten Pfosten.

    Eroberung der Schneestadt

    Die interaktive Vorstellung kann beginnen. Ausgestattet mit einem schmackhaften Blin brechen wir auf, um den Bären aus der Höhle zu locken. (Die Rolle des Bären übernimmt einer der Masljaniza-Veranstalter und der Blin ist der Anschaulichkeit halber aus Papier.) Danach stehlen wir die Strohpuppe Winter und tanzen um sie herum Chorowod.

    Schon bemerkt der Bär den Verlust, erobert die Puppe zurück und versteckt sie in der Schneefestung. Der Frühlings-Woiwode ruft zum Sturm auf die Festung. Sie wird von alteingesessenen Masljaniza-Teilnehmern verteidigt, die nicht davor zurückschrecken uns mit Schneebällen zu bewerfen oder von der steilen Mauer in den Schnee zu schmeißen.

    „Scheiße“, entfährt es dem jungen Mann neben mir.

    Es ist wohl kaum der Raub der Puppe, der ihn so erbost. Eher schon der wuchtige Schneeball, den er soeben abbekommen hat.

    „In Stellung! In Stellung! Erster Stock!“, erschallen eindringliche Kommandos aus der Menschenmenge.

    Der Startschuss ertönt. Der Sturm kann losgehen. Riesige Kerle aus der Menschenmenge rücken unter einem Schneeballhagel zur Festungsmauer vor, dicht an dicht stehen sie in drei Reihen zusammen.

    „Kletter rauf!“, ruft der junge Mann links neben mir.

    Ich komme gar nicht dazu, ihm zu antworten, da hievt man mich schon auf die Rücken vom ersten Stock. Ich rutsche auf dem Helm von jemandem aus.

    „Rückzug!“ 

    Wer da ruft, kann ich nicht zuordnen, aber ich sehe, wie ein junger Mann neben mir von der Mauer abrutscht. Der menschliche Belagerungsturm fällt in sich zusammen, und ich werde unter einem Haufen Körper begraben. Ich halte die Arme über den Kopf und brülle vor Schmerz: Jemand versucht mich am Bein aus diesem Geknäuel herauszuziehen. Es gelingt mittelprächtig – mehrere Leute liegen auf mir drauf. 


    Ich stehe wieder auf, wasche mir mit Schnee das Gesicht, weiche einem Schneeball aus und klettere wieder auf die Festung. Beim zweiten Mal bilde ich einen Teil des ersten Stocks. Ich versuche, einen Blick zu erhaschen, was da oben los ist, muss aber schnell einsehen, dass es eine sehr schlechte Idee war – jemand tritt auf mein Gesicht und versucht sich abzustoßen, um höher zu klettern.

    Wieder stürzt einer von der Mauer, schließe ich aus dem ohrenbetäubenden Aufschrei. Ich sehe nichts außer Füßen und Schultern. Wir fallen. Ein junger Mann mit blutiger Nase hilft mir auf und spuckt rot in den Schnee. Neben uns ist noch ein Verwundeter. Aufgeschlagene Augenbraue.

    Das Herz pocht in den Schläfen, die Beine zittern vor Aufregung, ein Teil vom Armband meiner Uhr ist abgerissen, genau wie die Schnürsenkel-Haken von meinen Schuhen. Trotzdem stürme ich immer wieder die Festung, rutsche wieder ab, falle wieder in die aufgeheizte Menschenmenge. Jemand hat die Festungsmauer erklommen. Jetzt darf er die anderen Angreifer hinaufziehen. Den jungen Mann mit der aufgeschlagenen Augenbraue, den mit der kaputten Nase und mich.

    Ich helfe immer mehr Stürmern über die Mauer. Neben mir steht ein Teenager mit einem blutigen Schuhabdruck im Gesicht.

    „Tut’s weh?“, frage ich mitfühlend.

    „Sch… drauf“ [im russischen Original Mat dek], winkt er fröhlich ab und blickt verzaubert auf die Strohpuppe Winter, die auf dem Feld langsam in Flammen aufgeht.

    Weitere Themen

    Samogon

    Walenki

    „Sie sind völlig frei“

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    November: Einst war hier das Meer

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

  • „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.

    Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.

    Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?

    V. Zur Rolle Nikolaus II.

    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress
    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress

    Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.

    Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.

    Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form

    Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.

    Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?

    In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburgdek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.

    Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?

    Kriegsminister Alexander Kerenski. „Als der Zar Kerenski kennenlernte, sagte er: ‚Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.‘ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld, und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.

    Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.

    Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an

    Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.

    Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.

    Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme

    Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt  – seine Denkweise war nicht sehr modern.

    Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?

    Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem Kadettenführer Pawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.

    Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.


    VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg

     „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung  herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv
    „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?

    Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.

    Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.

    Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.

    Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.

    In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.

    Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.

    Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins

    Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße. 


    VII. Von der Februar- zur Oktoberrevolution

    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?

    Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.

    Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.

    Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.

    Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.

    Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.

    Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.

    Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee

    Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst  schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
     
    Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.

    Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?

    Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.

    Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.

    Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.

    Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen

    Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.

    Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.

    Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.

    Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.

    Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.

    1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.

    Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Oktoberrevolution 1917

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Dezember: Prokudin-Gorski

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

    „Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen …“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd, die zur Februarrevolution führten.

    Zu Beginn des Jahres 1917 erwächst aus Protestmärschen und Streiks eine Protestbewegung, die Zar Nikolaus II. den Thron kostet. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen am 27. Februar zentrale Knotenpunkte der Stadt, darunter Waffenarsenale, die Telefonzentrale und Bahnhöfe. Die Regierung verliert ihre Macht und Kontrolle, aus der Duma wird die Forderung nach Abdankung des Zaren laut – der er sich kurz darauf beugt.

    Die Februarrevolution krempelt die politischen Verhältnisse um: Die 300-jährige Herrschaft der Zarenfamilie Romanow endet. Russland ist keine Monarchie mehr.

    Boris Kolonizki ist auf dem Feld der Revolutionen von 1917 führender Experte in Russland. Im ersten Teil eines Longread-Interviews mit The Village, geht er vor allem auf die Stimmung jener Zeit ein, warum sie damals so dramatisch hochkochte, welche Symbole eine wichtige Rolle spielten und wie das Jahr 1917 gegenwärtig wahrgenommen wird. 

    Fotos © Kommersant-Archiv
    Fotos © Kommersant-Archiv

    Alexey Pavperov: Welche der beiden Revolutionen, deren Jahrestage dieses Jahr begangen werden, ist Ihrer Meinung nach von größerem Interesse für die Öffentlichkeit? Es sieht so aus, als würde von seiten der Regierung die Oktoberrevolution mehr Aufmerksamkeit bekommen.

    Boris Kolonizki: Das hängt ganz davon ab, wie man die Geschehnisse betrachtet. Viele meinen, es war ein zusammenhängender Revolutionsprozess. Die Frage ist, wie wir die Revolution begreifen, wie wir den Begriff definieren. Ich denke, sowohl der Februar als auch der Oktober wecken Aufmerksamkeit bei den Menschen und den Medien. Möglicherweise hat es sich aus der Historie heraus so ergeben, dass viele meinen, besser über die Ereignisse des Oktobers informiert zu sein. Aber das ist bei weitem nicht immer der Fall.

    Für die derzeitige Regierung ist die Revolution kein angenehmes Thema. Es spaltet eher, als dass es verbindet. Ich erwarte einige Kontroversen

    Man wird sehen. Für die derzeitige Regierung ist es im Grunde kein angenehmes Thema: Es spaltet die öffentliche Meinung eher, als dass es verbindet. Wie Sie wissen, haben viele auf irgendein Signal gewartet, und in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung haben sie eines bekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man auf dieser Grundlage zu einer nationalen Einheit kommen wird, daher erwarte ich einige Kontroversen. Schwer zu sagen, was da kommt.

    Ich meine damit nicht nur den gesamtpolitischen Kontext, sondern auch unvorhersehbare Ereignisse. Zum Beispiel hätte ich absolut nicht damit gerechnet, dass der Kinofilm Mathilda so viel Aufsehen erregen und Publicity bekommen würde. Gut möglich, dass noch andere Überraschungen warten.


    I. Die Stimmung in St. Petersburg vor 100 Jahren

    „Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917
    „Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917

    Wir unterhalten uns heute im Februar 2017. Können Sie bitte beschreiben, wie die Stimmung in der Hauptstadt etwa zur gleichen Zeit vor 100 Jahren war? Bis zur Revolution blieb noch knapp ein Monat, die Hungerrevolten brachen erst in der letzten Februar-Dekade aus. Was bewegte die Stadt in dieser Phase?

    Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues. Doch die Versorgungsengpässe waren jetzt deutlich spürbar. Das betraf nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz und Kohle – die Versorgung hing davon ab, dass die Infrastruktur funktionierte. Es gab Schwierigkeiten mit dem Transport, Zeitzeugen berichteten von einer Eisenbahnkrise. Dabei deutet in der Statistik nichts auf eine Krise hin, dank der Professionalität ihrer Mitarbeiter wurde die Russische Eisenbahn immer besser. Immer schwieriger aber wurde es, die Armee zu versorgen – entsprechend litt der Binnentransport. Außerdem herrschten schwierige Witterungsverhältnisse in verschiedenen Regionen des Landes und die Schienen mussten vom Schnee freigeschaufelt werden. Auch der teilweise sehr unübersichtliche organisatorische Überbau und der ungeregelte Markt hatten negative Auswirkungen.

    Die Menschen strömten nach St. Petersburg: Flüchtlinge, Soldaten, Deserteure

    Eine weitere Besonderheit war der Alltag in der Stadt. Die Menschen strömten hierher: Flüchtlinge in Not, Soldaten auf Fronturlaub oder nach einem Krankenhausaufenthalt, Deserteure. Die Grenze zwischen entlassenen oder beurlaubten Militärs auf der einen und Fahnenflüchtigen auf der anderen Seite war manchmal recht schwer auszumachen. Zwar stieg die Kriminalität nicht so stark an, wie es dann in der Folgezeit der Fall war, insgesamt jedoch war eine höhere Instabilität zu spüren. Spekulationsgeschäfte und Korruption florierten.

    In der Stadt begegneten einem zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter in Zivil oder in Uniform, die fernab der Gefahren an der Front lebten. Durch Schmiergelder oder dank guter Verbindungen konnten sich viele einer Einberufung entziehen. Eine Mobilisierung von solchem Ausmaß, wie sie einem auf den Straßen von Paris oder London ins Auge fiel, gab es in St. Petersburg nicht.

    Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften und Spekulationen. Zum Beispiel war damals  in Russland ein großer Mangel an Medikamenten spürbar. Bis zum Krieg waren sie vorwiegend aus Deutschland importiert worden. Führte man diese wertvollen Waren über Skandinavien ein, um sie für ein Heidengeld hier weiter zu verkaufen, konnte man davon in Saus und Braus leben. Der Aufstieg von Neureichen – den Marodeuren im Hinterland, wie sie damals in Russland genannt wurden – war bezeichnend in der Kriegszeit. Diese Aspekte der Krise bleiben häufig außen vor. Krieg ist immer ungerecht, aber hier war er vielleicht besonders ungerecht.

    Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften. Krieg ist immer ungerecht. Aber hier war er vielleicht besonders ungerecht

    Hinzu kamen innerstädtische Verkehrsprobleme. Zeichnungen von damals zeigen Menschenmassen, die Straßenbahnen stürmen. Die Spannungen im Alltag spitzten sich zu.

    Ich möchte noch einmal betonen, dass das Kinkerlitzchen waren im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren. Aber Menschen können nun mal ihre aktuelle Situation nicht mit der Zukunft vergleichen.

    Noch etwas machte die Stadt damals besonders aus: die Gerüchte. Gerüchte über Verrat, über Spione, Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, Gerüchte über das Vorhaben, einen Sonderfrieden zu schließen, darüber, dass die Zarin eine Agentin des Feindes sei, und über ihre Protektion durch den Zaren. Man munkelte, es gebe eine Verschwörung.

    Heute streiten die Historiker über deren tatsächliches Ausmaß, allerdings können Gerüchte über Verschwörungen manchmal genauso bedeutsam sein wie die Verschwörungen selbst. 


    II. Zunahme der Gewalt und Proben für die Revolution

    „Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd
    „Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd

    Wie stand es um die Gewalt in der Stadt, wie alltäglich war sie? Lew Lurje beispielsweise spricht in diesem Kontext oft von Hooligans und dass junge Arbeiter oft und gerne Gewalt angewandt hätten.

    Ich denke, wir können zu jener Zeit  nicht von einer einheitlichen Subkultur der Arbeiterklasse sprechen. Es gab zum Beispiel Textilarbeiter, die vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich saisonal beschäftigt waren. Wenn es im Dorf nichts zu tun gab, zog es sie in die Stadt. Sie waren Arbeitsmigranten, die Geld nach Hause schickten und die Verbindung zu ihren Dörfern nicht abreißen ließen.

    Es gab aber auch ausgebildete Arbeiter, die sich teilweise selbst als Arbeiter-Intelligenzija bezeichneten. Sie hatten ein gutes Einkommen, das mitunter dem eines Staatsbediensteten gleichkam. Manche von ihnen konnten ihre Kinder auf Gymnasien schicken. Diese Arbeiterelite, die in England Arbeiteraristokratie genannt wurde, bestand aus gebildeten, politisierten Menschen, die Karriere gemacht hatten. Dabei waren sie oft oppositionell eingestellt. Die Arbeiterklasse war also vielfältig und umfasste verschiedene Generationen.

    Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten zu werfen

    Lurje hat aber absolut recht: Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten oder mit einer Schraubenmutter nach dem Meister zu werfen.

    Die amerikanische Forscherin Joan Neuberger hat ein Buch mit dem Titel Hooliganism geschrieben: Dieses englische Fremdwort ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Sprachgebrauch eingegangen; seine Bedeutung war damals allerdings eine andere als heute.

    Hooliganismus ist kulturell ritualisierte Gewalt. Das heißt, junge Leute aus Arbeitervierteln, die sich in ihrer Nachbarschaft durchaus anständig verhalten, die sich gut anziehen und eventuell gut verdienen, begeben sich auf das Territorium des Klassenfeindes, ins Stadtzentrum oder in einen Datschenvorort, um Vertreter einer anderen sozialen Gruppe zu provozieren.

    Lassen sich die steigende Kriminalität und die spontanen Gewaltausbrüche als eine Art Probe für die Ereignisse Ende Februar deuten?

    Proben für die Februarrevolution gab es im ganzen Land und viele. Eine Probe, die häufig vergessen wird, gab es auch in St. Petersburg: ein großer Streik im Sommer 1914. Dabei wurden Telegrafenmaste abgesägt, Barrikaden in Arbeitervierteln errichtet, Bahnwaggons umgekippt und unter Revolutionsgesängen Gebäude gestürmt.

    Der Unterschied zur Revolution bestand darin, dass die Arbeiter zu jenem Zeitpunkt vom Großteil der Bevölkerung isoliert waren, von der Bildungsschicht, der Mittelschicht, den Liberalen. Liberale Zeitungen äußerten Entrüstung, nach dem Motto: Was für ein unerhörter unzivilisierter Vandalismus, wo wir doch Steuern zahlen, es sind unsere Telefonleitungen und unsere Straßenbahnen!

    Während der Februarrevolution haben die Arbeiter dann haargenau dasselbe gemacht. Vielleicht haben sie keine Barrikaden errichtet, dafür aber Straßenbahnen blockiert, hier und da Waggons umgekippt, es gab ziemlich viel Vandalismus.

    Ein wichtiges Moment der Februarrevolution waren Pogrome: Lebensmittelläden oder Bäckereien wurden verwüstet. Wissen Sie, die Kruste des französischen Brötchens krachte ziemlich laut. Es kam zu Überfällen auf Juwelierläden, manchmal wurden aber auch nur Schaufenster eingeschlagen. 

    Auch den Machthabern war ein ebensolches Maß an Gewalt nicht fremd. 

    Natürlich, und das ist sehr entscheidend. Gewalt galt auch auf der anderen Seite als probates Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die Machtorgane bei jeglichen Konflikten in der Regel sehr hart durchgriffen.

    Charakteristisch für Russland war, dass es ein Polizeistaat mit einem Mangel an Polizisten war. Sogar in St. Petersburg, wo es eigentlich ein hohes Polizeiaufkommen gab, kam man bei Unruhen nicht ohne die Armee aus. In erster Linie wurden Kosakentrupps eingesetzt, wobei uns bekannt ist, dass auch die Infanterie hinzugezogen wurde. Das heißt, die Armee wurde zu Polizeizwecken eingesetzt. Aber in der Armee lernt man andere Dinge: mit einem Bajonett zu stechen, mit einem Gewehrkolben zu schlagen und – im Extremfall – zu schießen.

    Unterm Strich liefen bereits Jahrzehnte vor der Februarrevolution auf beiden Seiten Vorbereitungen zum erbitterten Kampf. Ich mache mir derzeit viele Gedanken zu Konfliktkultur: Wie haben unterschiedliche Länder die Krisen überwunden. Schließlich war Russland nicht das einzige Land, in dem es während des Ersten Weltkriegs Spannungen gab. Aber in Russland bereiteten schon viele kleine Bürgerkriege, an denen sich viele, viele Menschen beider Seiten beteiligten, die Revolution mit vor.

    Gerade wurde im Bolschoi Dramatitscheski Teatr das Stück Der Gouverneur nach der gleichnamigen Erzählung von Leonid Andrejew inszeniert. Darin befiehlt der Gouverneur, Streikende, einschließlich Frauen und Mädchen, zu erschießen. Ab diesem Zeitpunkt wird er von ihnen regelrecht verfolgt. Nach den blutigen Ereignissen wartet die ganze Stadt darauf, dass der Gouverneur erschossen wird: Damit endet das Stück. Es zeigt eindringlich, wie die Gesellschaft Terror bestraft und wie Gewaltspiralen ausgelöst werden.

    Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite

    Natürlich gab es einerseits die aggressive Subkultur der Arbeiterklasse. Und in manchen Teilen Russlands war das Ausmaß der Gewalt noch wesentlich größer als in St. Petersburg. Nehmen Sie zum Beispiel die Beschreibungen der Streiks auf dem Gebiet des heutigen Donbass. Andererseits ist es aber den Machtorganen auch zu keinem Zeitpunkt gelungen, für Verhandlungen, Kompromisse oder Deeskalation zu sorgen. Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite.

    Sicher, die Bolschewiki haben in der russischen Geschichte eine ungeheuer große Rolle gespielt. Doch gerade die Rahmenbedingungen – eine Bürgerkriegskultur und der Mangel an Kompromissbereitschaft – waren Wind in ihren Segeln. 


    III. Der zunehmende Konflikt zwischen Regime und Gesellschaft

    „Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren
    „Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren

    Kann man sagen, dass 1917 von vielen als ein Jahr wahrgenommen wurde, in dem es zu umfassenden Veränderungen kommen musste – ohne dass man in dem Moment hätte sagen können, wie die aussehen?

    Zum einen sagten viele, dass das Leben so nicht weitergehen könne. Zum anderen kam die Revolution recht unerwartet. Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen – ein Konflikt, dann ein zweiter, ein dritter …

    Zum Teil lag die Schuld bei der Regierung: Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert.

    Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit.

    Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert. Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit

    Beispielsweise wird jetzt über einen Zusammenschluss zweier Bibliotheken geredet, der Petersburger Publitschka und der Moskauer Leninka. Es gibt keinerlei rationale Argumente für eine Vereinigung dieser beiden Giganten; Probleme und Errungenschaften finden sich bei beiden. Enden wird alles damit, dass in St. Petersburg schließlich eine Menge Leute aufheulen werden: „Das ist unsere Stadt – was sollen bloß diese Moskauer Pöbeleien?!“

    Im Jahr 1917 gab es noch weit mehr solcher Fälle. Viele wollten ihre privaten Angelegenheiten regeln, die dann ohne Notwendigkeit politisiert und ideologisiert wurden, was dann wiederum die Machthaber ausbaden mussten.

    Mich hat das Buch Les Français dans la Grande Guerre des Historikers Jean-Jaques Becker sehr beeindruckt. Wir fragen uns, warum es in Russland zur Revolution gekommen ist und wie das hätte verhindert werden können. Und er fragt, wie wir – wir Franzosen – es hingekriegt haben, während des Ersten Weltkrieges eine Revolution zu vermeiden.

    Er beschreibt die Konflikte und du erkennst, wie alles am seidenen Faden hing. Manchmal wollten die Streikenden einfach Ärger machen und die örtlichen Verwaltungen versuchten mit unglaublicher Geduld, diese Konflikte zu lösen: mit Hilfe von Lehrern, mit Hilfe der Kirche, mit Hilfe von Schriftstellern, die sie hatten hinzuziehen können. Das ist eine enorme Leistung, die Tradition des demokratischen Diskurses hat die Lage stabilisiert.

    Und was geschah in Russland, als diese Konflikte begannen? Im Gouvernement Tomsk beispielsweise kam es während der Mobilisierung zu Unruhen und Zusammenstößen, halb Barnaul wurde abgefackelt. Und in Moskau kam es zu einem antideutschen Pogrom – auch hier setzten die Truppen Waffengewalt ein. In den Textilfabriken in der Provinz kam es zu Konflikten – und wieder Truppen, wieder Waffen.

    Ganz zu schweigen von dem Aufstand 1916 in Turkestan, der durch den idiotischen Befehl ausgelöst wurde, die örtliche Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen zu rekrutieren. Schlecht durchdacht, schlecht umgesetzt und entsprechend begleitet von Korruption. Die Behörden haben alles Mögliche getan, damit es zu einem Konflikt kam.

    Lässt sich das Erbe der Leibeigenschaft als Grund für das Unverständnis und die Spaltung ausmachen, als Grund vieler damaliger Konflikte? Es gab sehr viele Bauern in der Stadt; zwischen ihnen, den Offizieren und den Soldaten herrschte ein grundlegendes Unverständnis.

    Die Leibeigenschaft ist sicher wichtig, allerdings gab es in Petersburg viele Arbeiter, die aus Regionen kamen, in denen es nie Leibeigenschaft gegeben hatte, oder eine ganz andere als in Russland. In der Hauptstadt lebten damals viele finnische Arbeiter und Balten …

    Aber ich stimme Ihnen insofern zu, als dass es wohl eher eine kulturelle Frage war. Mir scheint: Länder, die eine stürmische Urbanisierung erleben, sind ganz prinzipiell sehr verwundbar.

    Die wichtigste Veränderung in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Umsiedlung Russlands in die Städte. Für die erste, und manchmal auch für die zweite Generation der neuen Städter ist das ein sehr schwieriger Prozess, mitunter schwieriger als eine Emigration. Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion.

    Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion

    Wenn jemand auf dem Land lebt, dann ist die Gemeinde mit dem Dorf und dessen Umgebung kongruent, alle kennen einander mehr oder weniger. Dann kommt er in die anonyme Stadt, in der nicht mal der Bau von Kirchen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Zum einen gibt die Stadt viele Möglichkeiten und Freiheiten. Zum anderen bedeutet sie eine große Prüfung und riesigen Stress.

    Schauen Sie: Das Spanien, in dem ein Bürgerkrieg ausbricht, die iranische Revolution, der aktuelle arabische Frühling – das alles sind Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften in modernisierte Städte gelangen. Die können in verschiedene Richtungen driften.


     IV. Über die Effektivität der Bolschewiki und die Schwäche der Regierung

    „Der Snamenskaja-Platz fungierte wie ein riesiges Sammelbecken“ – Demonstration auf dem Snamenskaja-Platz im Februar 1917 / Foto © Wikipedia/Desconocido – gemeinfrei
    „Der Snamenskaja-Platz fungierte wie ein riesiges Sammelbecken“ – Demonstration auf dem Snamenskaja-Platz im Februar 1917 / Foto © Wikipedia/Desconocido – gemeinfrei

    In einem Interview sprachen Sie vom kreativen Gehalt der Revolution; sprich, dass die Kräfte, die um die Macht kämpfen, auch miteinander um die Kreativität der Rhetorik und Propaganda konkurrieren, um die Ideologie und die Kreativität des eigenen Handelns. Kann man sagen, dass die Bolschewiki ihren Konkurrenten hier einiges voraus hatten?

    Vor der Revolution war über Jahrzehnte hinweg eine hoch entwickelte Subkultur, ein revolutionärer Untergrund entstanden, insbesondere seit den 1870er Jahren, seit der Bewegung Narodnaja Wolja. Es gab Bestseller des revolutionären Untergrunds, Bücher, mit denen die radikale Jugend erzogen wurde. Es gab Lieder, städtische Mobilisierungsrituale. Diese Kultur hatte ihre Berührungspunkte mit der russischen Hochkultur, ob uns das gefällt oder nicht.

    Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein politischer Pluralismus. Ja, die monarchistischen rechten Parteien waren zwar am Drücker, viele Zeitungen waren verboten, aber man konnte im Großen und Ganzen alles sagen, was man wollte – es bestand absolute Freiheit.

    Und wenn wir uns die Symbolik anschauen, dann war diese von Anfang an von der revolutionär-politischen Kultur geprägt. Manche Leute bezeichneten diese Revolution als eine bürgerlich-demokratische, doch die dominierende Symbolik war eine sozialistische. Das wiederum schafft einen Rahmen, der vor allem den Radikalen entgegenkommt, in diesem Fall den Bolschewiki und ihren Verbündeten.

    Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme

    Die Menschewiki waren in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits waren es ihre Lieder und ihre Subkultur. Andererseits war ihnen bewusst, dass sie den politischen Prozess radikalisieren könnten, und davor hatten sie Angst. Ihre Botschaft war folgende: Leute, das sind jetzt nur Symbole; fasst das nicht als direkte Handlungsanleitung auf. Schließlich verstehen die Franzosen die recht blutrünstige Marseillaise ja auch nicht als unmittelbare Anleitung zur Revolution.

    Das war damals ein etwas naiver Aufruf. Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Hilfe von Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme. Das war dann der Radikalisierungsfaktor.

    Warum war der Stabilitätspuffer des gesamten Systems so schwach? Anfang 1917 war die Situation in Petrograd längst nicht katastrophal. Die Аnsprachen der Arbeiter führten zu der Kundgebung auf dem Snamenskaja-Platz, allerdings hatte diese Demonstration größtenteils symbolischen Charakter. Die Autokratie zu stürzen, war anfangs gar nicht das Ziel. Für die meisten politischen Akteure kamen die anschließenden Ereignisse völlig überraschend. Warum lag das Regime des Zaren buchstäblich innerhalb einer Woche am Boden? Warum erhob sich niemand, den Thron zu verteidigen?

    Was den Ort angeht, so war traditionell der Platz vor der Kasaner Kathedrale die Bühne für politischen Protest. Der Snamenskaja-Platz allerdings fungierte wie ein gigantisches Sammelbecken. Leute aus gleich mehreren Arbeitervierteln – aus den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Moskowskaja Sastawa, Ochta – konnten gar nicht anders, sie mussten an diesem Platz vorbei, wenn sie zum Newski-Prospekt gelangen wollten.

    Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht. An der Oktoberrevolution ist das noch deutlicher zu sehen. Wenn wir uns die revolutionären Ereignisse jener Zeit anschauen, erkennen wir, dass in den Städten kein sonderlich großer Teil der Bevölkerung mobilisiert wurde. Und auch im Februar 1917 ging nur ein bescheidener Teil der Bevölkerung auf die Straße; allerdings war das eine recht aktive und sichtbare Minderheit.

    Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht

    Eine Revolution – das ist eine sehr wichtige These für mich – bedeutet, dass gleichzeitig die einen sehr schnell mobilisiert werden, während die anderen – jene, die sich dem revolutionären Prozess entgegenstellen oder ihn wenigstens hemmen könnten – ganz erheblich demobilisiert werden. Mit anderen Worten: Der Grund für die Februarrevolution lag darin, dass ihr nicht massiv entgegengewirkt wurde, selbst von jenen nicht, die das ureigentlich hätten tun müssen. Da waren Generäle, die mit Entscheidungen zögerten, Offiziere, die Befehle nicht weitergaben, Kosaken, die nur so taten, als ob sie Befehle ausführen …

    Und dann noch die Gerüchte! Nicht wenige Offiziere der kaiserlichen Armee nahmen ernsthaft an, dass mit der Zarin nicht alles in Ordnung sei. Es wurden Pläne diskutiert, die Herrscherin mit Hilfe von Gardeoffizieren zu verhaften. Vor dem Krieg wäre so etwas kaum denkbar gewesen.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Die Februarrevolution

    Oktoberrevolution 1917

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • „Alles abgerooft“

    „Alles abgerooft“

    Zunächst sieht man den Wolkenkratzer nur von unten, dann Zoom auf die Stern-Skulptur auf der Spitze des Gebäudes. Zwei winzige Figuren sind da zu erkennen, sie kraxeln entlang der Stahlverstrebungen, um sie herum das Nichts, der Himmel über Moskau. 

    Roofing heißt dieser Trend, das Erklettern von Hochhäusern und Kränen, eigentlich von allem, was schwindelerregend hoch ist. Fotos und Videos vor allem russischer Roofer schwemmen das Netz. Was als Subkultur begann, ist inzwischen längst zum Trend geworden. 

    Mindestens genauso gefährlich ist das so genannte Sazepping, außerhalb Russlands auch Trainsurfing genannt: Das „Surfen“ zwischen fahrenden Waggons oder auf Zugdächern. Es sind erschreckend viele Minderjährige, die dieses gefährliche Hobby betreiben, manche erst zwölf Jahre alt.
    Verbreiten konnten sich Roofing und Trainsurfing in Russland auch deswegen, weil lange Zeit kaum rechtliche Konsequenzen zu befürchten waren. Das änderte sich erst, als immer mehr Minderjährige dabei ums Leben kamen.

    Julia Reprinzewa von der Novaya Gazeta hat sich in der russischen Roofing– und Sazepping-Community umgehört – und traf auf eine Szene im Wandel.

    Shenja und ich laufen langsam die abendliche Uferstraße an den Sperlingsbergen entlang. Er hat eine schwarze Jacke und unter einer Kapuze versteckte schwarze Locken, fast wie ein Kinoheld. Er erzählt, dass er „ganz jung damit angefangen hat”. Erst Surfen, dann Roofen. 

    „Hast du gehört, was in Tuschino los war? Nein? Merkwürdig. War sogar in den Nachrichten. Gib auf YouTube ein: Trainsurfing Tuschino. Da ist ein Typ zuerst über das Dach einer Elektritschka gerannt, dann auf den nächsten Zug gesprungen, weggerannt, wurde geschnappt, es gab eine Schlägerei – richtig Action. Jedenfalls – das war ich.“

     

    Der „Typ“ ist 16. Über  die Zeit damals (vor zwei Jahren) sagt er: „War geil, aber ich war ein Idiot. Jeden Tag bin ich auf dem Dach einer Elektritschka oder zwischen den Waggons zur Schule gefahren – hin und zurück. Hab mich von der Elektritschka bis zum Sapsan vorgearbeitet. Ist wie eine Droge. Ich konnte nicht aufhören. Hab’s einfach nicht gepeilt. Wie in einem Sog.“ 

    Die Mutter hatte immer einen Verdacht: Shenjas Kleidung war immer schmutzig, in den Taschen flogen Handschuhe und Waggonschlüssel rum. Aber dass ihr Sohn auf Elektritschkas surft, erfuhr sie zufällig – aus dem Internet: „Sie hat auf YouTube Trainsurfing eingegeben – und mich gefunden.“ „Und, wie hat sie reagiert?“ „Sie hat gesagt: ,Du Trottel‘.“ 

    Shenja wollte gerade zum letzten Mal auf dem Sapsan mitfahren, um ein „okayes Video“ zu drehen und auf YouTube einzustellen. Kurz vor der Fahrt erfuhr er, dass sein Freund tödlich verunglückt war. Er war betrunken auf einen Zug geklettert und heruntergefallen. 

    Seitdem fährt Shenja nicht mehr auf Dächern der Elektritschka: „Für mich war das ein Zeichen.“

    Geplante Aktion

    Ende letzten Jahres gab das Ermittlungskomitee an, es sei aktiv mit der Ausarbeitung von möglichen Ergänzungen zum Paragraphen Anstiftung zum Selbstmord im Strafgesetzbuch beschäftigt. Wie ein Vertreter der Behörde, Sergej Wasjulin, erklärte, geht es dabei um die Strafbarkeit der Anstiftung Jugendlicher zu Extremdisziplinen wie  „Trainsurfing“ (dem Mitfahren auf Zugdächern oder zwischen Waggons) und „Roofing“ (dem Spazieren auf Gebäudedächern). Wasjulin insistierte, diese beiden Trends seien eine „von außen motivierte Aktion“. Genaueres – motiviert von wem? wozu? – sagte er nicht.  

    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0
    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0

    Am 19. November, einen Monat nach dieser Äußerung des Ermittlungskomitees, stürzte in Murmansk ein 13-jähriges Mädchen vom Dach eines neunstöckigen Hauses. Das Ermittlungskommitee leitete ein Verfahren ein wegen „Verleitung zum Selbstmord“, und auf der Website der Staatsanwaltschaft erschien eine Mitteilung, dass „die Zugehörigkeit des Mädchens zur sogenannten Roofing-Bewegung“ geprüft werde. 

    2012 erlitten in Moskau 17 minderjährige Trainsurfer Verletzungen, 2013 waren es 29, 2014 – 48 und 2015 – 25 (davon endeten 13 Fälle tödlich). In den ersten neun Monaten des Jahres 2016 wurden von der Moskauer Polizei 1167 Minderjährige gefasst wegen Aufenthalts auf nicht für Passagiere vorgesehenen Transportmitteln. 

    „Festzustellen, ob jemand die Kleine  zum Selbstmord angestachelt hat, ist richtig und wichtig“, sagt Ilja Kremer, der Gründer einer der beliebtesten Roofing-Gruppen auf Vkontakte, Wysokije kryschi Moskwy [kurz WKM, dt. „Die hohen Dächer Moskaus“ – dek]. „Nur, dass Roofer so etwas ganz sicher nicht tun würden. Die Fotos, die wir machen, sind voller positiver Emotionen, sie zeigen dir, wie schön deine Stadt ist. Solche Hetzer suchen sich ihre Opfer bestimmt in anderen Kreisen, in solchen mit ausgesprochen negativer Thematik.“

    Die Romantik ist dahin – alles abgerooft

    Die Roofer kamen als wahrnehmbare soziale Gruppe unter Jugendlichen vor etwa sieben Jahren auf. „Am Anfang waren die Leute fasziniert vom Fotografieren. Überlegten, wie sie noch höher klettern und noch bessere Perspektiven kriegen könnten“, erzählt Pascha, einer der Gründer der Roofing-Gruppe auf VKontakte. „Mittlerweile treibt sie nur noch Gier nach Anerkennung und Selbstdarstellung an. Das ist keine schmale Subkultur mehr. Ich mag die Bewegung nicht mehr besonders – sie ist zu breit geworden“, meint der einstige Roofer Marat Djupri.

     

    „Früher hat sich keiner an den Rand eines Daches gehängt“, stimmt Pascha zu. „Die Leute, die geklettert sind und fotografiert haben, wussten, was sie tun, und haben versucht, möglichst wenig Spuren auf dem Dach zu hinterlassen. Sie haben sich nicht nackt ausgezogen und alles angeschmiert. Roofing ist schon lang nicht mehr das, was es mal war: Es ist ein chaotischer Trend geworden, die Romantik ist dahin – alles abgerooft.“

    Manche haben aus dem Roofing einen Job gemacht: Sie organisieren Touren und romantische Dates auf dem Dach. Dafür, sagt Pascha, haben sie von Anfang an Geld verlangt. 

    Er selbst hat seiner Freundin den Heiratsantrag auf dem Dach gemacht … Stundenlang kann Pascha von den unterschiedlichen Bauweisen der Moskauer Häuser erzählen, von Methoden, reinzukommen, von Vielfalt und  Funktionsweisen der Alarmanlagen, und – was man der Polizei erzählen muss, um nicht bestraft zu werden. Verwaltungs- und Strafrecht kann er auswendig zitieren. 

    Pascha ist ein Roofer, der nicht fotografieren kann und … Höhenangst hat. „Wieso kletterst du dann?“, frage ich. „Das ist eine Technik, seine Gedanken zu ordnen, zu sich zu kommen. Manche Menschen gehen in die Kirche, manche – so wie ich – aufs Dach“, antwortet er.

    Die Stars unter den Roofern: Interviews nur gegen Bezahlung

    Roofing betreiben vor allem Schüler und Studenten, aber es gibt auch ältere unter ihnen. In Gruppen auf VKontakte tauschen sie Fotos und nützliche Informationen aus: Zum Beispiel, wie man ein Dachbodenschloss knackt. Jede der Gruppen hat ihre eigenen Regeln. So darf man bei WKM nicht nach Adressen offener Dächer fragen – dafür kann man sogar einen Monat gesperrt werden. Und man darf sich nicht niemanden aufdrängen, der ein neues Dach klarmachen.

    Es gibt viele Roofing-Gruppen. Die älteste und bekannteste ist WKM, sie hat mehr als 30.000 Mitglieder. In der Gruppe Rufery sind es über 33.000.

    „Sehr oft werden Mitglieder solcher Gruppen von Firmen kontaktiert, die Fotos kaufen wollen. Das ist für Roofer ein perfekter Zuverdienst“, sagt Pascha. 

    https://www.youtube.com/watch?v=6ta-BmmSDbw


    Einer der ersten, die weithin bekannt wurden, war Witali Raskalow. Und zwar, nachdem er zusammen mit ein paar anderen in Moskau auf das Dach des noch im Bau befindlichen Komplexes Moskwa City geklettert war. Er wurde dann im Sicherheitsdienst des Gebäudes angestellt … Jetzt reist er um die Welt, und die Liste der Höhen, die er erklommen hat, lässt jeden Roofer vor Neid erblassen.    

    Fotos von bekannten Roofern werden aktiv von internationalen Medien gekauft. Daily Mirror, Guardian, Independent, Der Spiegel und National Geographic zahlen für gute Aufnahmen bis zu 200 Euro pro Stück. Auch Interviews sind für manche Roofer eine Einnahmequelle. Angela Nikolau etwa schrieb mir: „Interviews nur gegen Bezahlung.“ Was die Reichweite der eigenen Websites betrifft, sind die Roofer nahe an den Medien dran, die erwähnte Angela hat auf Instagram 400.000 Follower. 

    Trainsurfer Jelzin

    Während Roofing eine Spielart der Urban Exploration ist, meint Trainsurfing das Mitfahren mit Transportmitteln, allerdings nicht drinnen, sondern außen dran – meistens an Zügen, manchmal Straßenbahnen oder Autobussen. Wie die Roofer stellen auch die Surfer nach ihren Heldentaten Fotos oder Videos ins die Sozialen Netze. 

    Dass man außen am Zug mitfährt, ist keine neue Erfindung – das gibt es seit Aufkommen des Schienenverkehrs. Bekannt ist auch, dass der spätere Präsident Russlands Boris Jelzin in den 1950er-Jahren vor Antritt seines Studiums das Land ansehen wollte und zwei Monate lang auf Dächern und Trittbrettern von Waggons mitfuhr – beim Kartenspielen hätte er damals fast sein Leben verloren. Er hatte auf einem Zugdach mit Verbrechern gespielt … Heutige Surfer können von so etwas nur träumen. 

    Laut Sergej, einem alten Hasen unter den Surfern, ist Trainsurfing in den Oblasts Moskau und Leningrad  am weitesten entwickelt. Allein Richtung Jaroslawl springen täglich rund 1000 Leute auf. 

    „Auf unserer Strecke fahren die Leute schon seit zehn Jahren so. Die meisten wissen, glaube ich, gar nicht, dass das Trainsurfing ist“, sagt Roman Gromow, der selbst seit zehn Jahren surft. 

    Unerwünschte Nebenwirkung

    Gromow teilt die Surfer in zwei Kategorien: Die einen fahren zweckgebunden (um ans Ziel zu kommen), die anderen, um neue Erfahrungen zu machen. Schüler sind bei ihm eine eigene Kategorie. 

    „Die machen gefährliche Sachen, aus Drang zur Selbstdarstellung. Ich verjage sie immer“, sagt Gromow. „Ich kenne in Mytischtschi ein paar Bullen. Wenn ich Schüler sehe, rufe ich die. Dann holen sie sie runter. Mich lassen sie in Ruhe, mich kennen sie. Erwachsene lassen sie überhaupt meistens in Ruhe. Das ist eben deine Art zu fahren – was geht’s die anderen an? Aber die Schüler, die dauernd verunglücken – das ist eine Nebenwirkung unserer Bewegung und die gehört ausgemerzt.“

    „Als ich die ersten Treffs organisierte, haben wir erstmal alles rausgefunden“, setzt er fort. „Am Anfang haben wir uns einfach hinten angehängt, mit der Zeit dann gelernt, auf dem Dach zu fahren, dann vorne, dann unter dem Waggon, seitlich und so weiter … Dann stellten wir Rekorde auf: Wer sich als erster an den Sapsan hängt, wer in einem Jahr am meisten damit fährt, wer das größte Massensurfing veranstaltet. Das kann man endlos weiterspinnen. Das gibt der Sache den Drive.“

    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Den Sapsan zu surfen gilt übrigens als am schwierigsten. „Früher dachte ich, den Sapsan zu surfen geht gar nicht, das ist eine eigene Wissenschaft“, sagt Gromow, „und jetzt fahre ich 20 Mal im Jahr so nach Piter. Jede Fahrt schreibe ich in ein Notizbuch – für die Chronik. Ich habe schon 60 Fahrten. Sapsan-Surfen ist total geil.“ 
    „Die Schüler sterben wegen der Medien“, ist Roman überzeugt. „In den Nachrichten zeigen sie ständig Trainsurfing als Extremhobby, und die Schüler denken, das ist gefährlich und deswegen cool. Das stimmt aber nicht. Es ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen.“ 

    Die Leute rundherum sterben, das bin ich schon gewöhnt

    Derzeit sind fast alle Trainsurfer-Gruppen auf VKontakte auf Beschluss der Strafverfolgungsbehörde gesperrt. Allein im Jahr 2015 haben die Staatsanwälte der Moskauer interregionalen Verkehrsstaatsanwaltschaft die Schließung von 101 Gruppen erwirkt. 

    Im Vergleich zu den Roofer-Gruppen sind die Gruppen der Trainsurfer klein: von 69 bis 2500 Mitglieder. In den Gruppen tauscht man Erfahrungen aus und informiert einander über Sicherheitsbestimmungen. „Wir erinnern daran, dass Trainsurfing auf dem Gebiet der Russischen Föderation eine Übertretung gemäß Paragraph 11,17 Nr. 1 des Russischen Ordnungswidrigkeitsgesetzbuchs ist“, heißt es in den Regeln der Jugendbewegung Trainsurfing. „Die Gruppe ist für Leute gedacht, die auf die eine oder andere Art mit Trainsurfing zu tun haben. Kommunikation zum Thema Trainsurfing und der Austausch von Material dazu ist nicht gesetzlich verboten.“

    Hang zum Risiko 

    „Wissen Sie noch, was Sie als Kind im Hof gespielt haben? Für eine normale Entwicklung muss jeder Junge gewisse Risikostufen durchlaufen“, erklärt auf der Website der Russischen Eisenbahnen der Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Andrej Schiljaew, Lehrstuhlleiter für Klinische, Neuro- und Pathopsychologie am Wygotski-Institut für Psychologie. „Jahrhundertelang sind Jungs auf Bäume geklettert, haben allerlei riskante Spiele gespielt. Die Lust daran, sich an der Grenze des Möglichen zu erfahren, entspricht dem Wesen des heranwachsenden Mannes. Jetzt, wo die Hinterhofkultur praktisch gänzlich aus dem Erziehungssystem verschwunden ist, leben diese Jungen ihren Hang zum Risiko in extremer Form aus.“

    „Es geht nicht um das Risiko“, widerspricht Gromow. „Es ist einfach bequem so [zu fahren, Anm. Ju. R.]. Viele glauben, wir drehen Videos, um zu zeigen, wie cool wir sind, aber das stimmt nicht. Wir filmen, um zu sehen, woran man sich festhalten kann, wie der Zug gebaut ist, also um irgendwelche technischen Aspekte zu besprechen. Und diese Videos tauschen wir dann untereinander aus.“

    Erst am Ende des Interviews erzählte Gromow, dass viele seiner Bekannten verunglückt sind, nicht nur beim Trainsurfing: Einer stürzte tatsächlich vom Sapsan, ein anderer wurde vom Zug überfahren, der nächste hatte beim Fallschirmspringen „Pech“ … „Die Menschen um mich herum sterben, das bin ich schon gewöhnt. Wenn ein Mensch kein Gespür für Gefahr hat, kann es ihn überall erwischen.“

    Strafen verschärfen die Situation nur

    Alle „renommierten“ Roofer und Trainsurfer wissen über Initiativen der Strafverfolgungsbehörde und der Staatsduma Bescheid, aber das lässt sie ziemlich kalt. „Das geht schon seit Jahren so. Irgendwann haben die uns bestimmt vergessen. Letztes Jahr haben sie auch gezetert – und nichts ist passiert. Wenn die Onkels da oben wirklich den Roofern zusetzen wollten, wäre schon vor Jahren ein Gesetz rausgekommen“, meint Pascha. „Dieses Gesetz soll schon seit zehn Jahren kommen“, stimmt ihm Gromow zu. „Durchziehen werden sie das kaum. Vielleicht heben sie die Strafen für Schüler an, und damit hat sich’s.“

    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Bekämpfen muss man Trainsurfing schon, findet Pascha, aber nicht nur so pro forma, wie das jetzt der Fall sei, sondern radikal: „Sie sperren Gruppen, andere wachsen nach, sie sperren sie wieder – und immer so weiter. Die Strafen verschärfen nur die Situation: Es entstehen Korruption und total durchschaubare Pseudo-Erfolgsberichte. Man sollte die Ursachen rausfinden und sich die vornehmen – aber Druck auf die Folgen dieser Ursache auszuüben ist zwecklos.“      

    „Ich bin einerseits für die Schließung der Gruppen, weil dort viele Schüler sind“, sagt Gromow. „Andererseits bin ich dagegen, weil wir nützliche Informationen für Leute veröffentlichen, für die Trainsurfing ganz neu ist: Sicherheitstechniken, Regeln, Fortschritte. Wir bemühen uns, die Bewegung unter Kontrolle zu halten, damit nicht alles aus dem Ruder läuft und die Schüler nicht allein surfen und dann verunglücken.“ 

    Psychologe Schiljaew meint allerdings, man müsse den Kindern eine Alternative bieten („Ermahnungen führen zu nichts“), jedoch gebe es „derzeit kaum Alternativen“. Sportvereine, ist er überzeugt, könnten schon allein deshalb keine Alternative zu Trainsurfing sein, weil „dort ein anderes Prinzip herrscht – das Konkurrenzprinzip“, es gehe dort nur um das Ergebnis. „Für ein Kind ist das Mitmachen viel wichtiger als das Ergebnis. Ein Kind, das auf einen Zug klettert, denkt nicht daran, wo der Zug hinfährt – es hat einfach Vergnügen an dem Prozess“, erklärt der Arzt. 

    Mitte November gab es in den Nachrichten eine Meldung aus  Finnland: Man hatte sich zur Bekämpfung von Trainsurfing etwas Neues überlegt. Im Warteraum eines Bahnhofes wurde eine Kletterwand für Kinder aufgestellt. 

    Elf Tage später lautete eine Meldung aus Russland dagegen: In Belgorod hatte die Verkehrsstaatsanwaltschaft Studenten von den Nürnberger Prozessen erzählt. Man wollte sie patriotisch bilden. Am Ende der Veranstaltung habe der Assistent des Verkehrsstaatsanwaltes dann auch noch kurz auf die Gefahren von Trainsurfing hingewiesen.

    Weitere Themen

    Presseschau № 36: #янебоюсьсказать

    Schnur hält die Fäden zusammen

    „Sorokin wird plötzlich zum Spiegel unserer Polit-Phrasen“

    Kaliningrader Bundesflagge

    Junge Talente

    Das besondere Theater

    Krasser Cocktail

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    VKontakte

  • Das Fake-Engagement

    Das Fake-Engagement

    Ein gutes halbes Jahr ist das sogenannte Jarowaja-Paket nun in Kraft. Neben verstärkter Vorratsdatenspeicherung und Internetkontrolle beinhaltet das umstrittene Anti-Terror-Gesetz auch eine Anzeigepflicht für Bürger: Wer sogenannte „extremistische” Taten nicht anzeigt, dem droht bis zu einem Jahr Haft. Nicht nur, weil der Extremismus-Begriff in Russland schwammig definiert ist, befürchten Kritiker, das Gesetzespaket könne Denunziationen Tür und Tor öffnen. 

    Initiiert wurde das Gesetz von der Abgeordneten Irina Jarowaja. Sie hatte sich zuvor bereits als Ko-Autorin des sogenannten NGO-Agentengesetzes ihren Ruf als Hardlinerin erarbeitet.

    Im historischen Gedächtnis Russlands sind mit Denunziationen vor allem die Jahre des Großen Terrors verbunden. 80 Jahre danach blickt Wadim Wolkow in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti kurz zurück und fragt vor allem nach dem Wesen der Denunziation im Russland von heute: Worin unterscheidet sich eine Denunziation von einer ganz normalen Beschwerde? Wo fängt sie an? Und: Inwiefern wird hier ziviles Engagement einfach ad absurdum geführt?

    Genosse Stalin wird ohne Ende verflucht, und das natürlich nicht ohne Grund. Trotzdem möchte ich mal fragen, wer denn die vier Millionen Denunziationen geschrieben hat“, schrieb Sergej Dowlatow einst in seiner typisch ironischen Art. Die Frage ist zum größten Teil rhetorisch, wobei digitale Technik und Fortschritte in der Datenverarbeitung irgendwann eine durchaus konkrete Antwort hervorbringen dürften.

    Die Motivation eines Denunzianten kann unterschiedlich sein, ist aber hier nicht so wichtig. Denn Denunziation als soziales Phänomen lässt sich nur in Verbindung mit Interesse von Polizei und Justiz erklären: Eben diese schaffen einen Bedarf an denunzierenden Eingaben und filtern sie dann für ihre Zwecke. So ist die Denunziation eine sehr wirksame  Maßnahme, um den Rechtsapparat in Bewegung zu setzen, insbesondere in einem repressiven Staat. Denn für sich genommen ist Recht etwas Passives; darauf haben Soziologen schon seit Langem hingewiesen. Um es zur Anwendung zu bringen, bedarf es besonderer Anstrengungen, die gesetzlich festgelegten Regeln folgen.

    Denunziation unter dem Deckmantel der Beschwerde

    Ein Gericht wird eine Sache nur dann verhandeln, wenn jemand Klage erhebt; die Polizei wird einen Fall nur dann prüfen, wenn es einen Bericht oder eine Meldung zu einem Vorfall gibt. Eingereichte Klagen, Anrufe bei der Polizei, Beschwerden, Anzeigen und Denunziationen, Anträge der Staatsanwaltschaft – Millionen solcher Vorgänge mobilisieren ständig verschiedene Rechtsbereiche. Den handelnden Personen liefern sie somit eine Grundlage (oder bringen sie dazu), Gebrauch von ihren dienstlichen Befugnissen zu machen. Ohne diese Trigger setzt sich die Rechtsmaschine nicht in Bewegung.

    Die Rechtswissenschaftler schenken der Praxis der Rechts-Mobilisierung nur wenig Aufmerksamkeit, doch für die Anwender des Rechts ist das eine äußerst wichtige Fertigkeit: Wie kann man ein repressives Verfahren sachgerecht in die nötige Richtung lostreten, und dann auch noch so, dass das eigene Handeln diskret bleibt?

    Eine Denunziation unterscheidet sich von einer Beschwerde weniger dadurch, dass ihr eine Lüge oder etwas frei Erfundenes zu Grunde liegen, sondern dadurch, dass eine Denunziation für Rechtsanwender instrumentalisierbar ist. Selbst wenn sie nicht auf vorheriger Absprache beruht, so kalkuliert die Denunziation doch die aktuellen Interessen der Rechtsanwender mit ein und empfiehlt sich quasi selbst: Kommt, benutzt mich.

    Viele Denunziationen imitieren zwar Beschwerden, doch echte Beschwerden versuchen, das Problem des Beschwerdeführers zu lösen und nicht das Problem des Rechtsanwenders. Wenn zum Beispiel Datschenbesitzer an die für Umweltschutz zuständige Anklagebehörde eine Beschwerde wegen wilder Waldrodung schreiben, dann ist das eine Beschwerde. Wenn jedoch wachsame Bürger dieser Behörde etwas über die Umweltstiftung ISAR–Sibir melden, die Anklagebehörde, sprich die Staatsanwaltschaft, daraufhin eine Überprüfung durch das Justizministerium anstrengt und dieses dann in Umweltschutz-Wettbewerben der Stiftung Merkmale politischer Tätigkeit erkennt und die Stiftung in das Register ausländischer Agenten aufnimmt, dann ist das Denunziation.

    Denunziation als Antrieb für eine repressive Maschinerie

    Die Intensivierung des Denunziantentums in der UdSSR in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ist hinlänglich bekannt. Das NKWD benötigte formale Anlässe für politische Repressionen, und die wachsamen Bürger ließen nicht lange auf sich warten. Die Masse an Denunziationen schuf zwar auch Raum für den Kampf gegen innere Feinde, vor allem aber ließ sie die repressive Maschinerie heißlaufen. Und die lief dann 1938 derart aus dem Ruder, dass die eifrigsten Kader des NKWD selbst repressiert werden mussten.

    Auch in heutiger Zeit sind Denunziationen verbreitet. Signale und Beschwerden wachsamer Bürger über Theaterinszenierungen, Ausstellungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Filme und NGOs – das sind die neuen, massenhaft zur Verfügung stehenden Instrumente zur Mobilisierung des Rechts. Zum Instrumentarium gehören in der Regel auch Beschwerden, die von Polizei und Justiz initiiert werden, eine Unterfütterung in Form eines Abgeordneten, der wirksamer eine Aktivierung der Aufsichtsbehörde (Staatsanwaltschaft) erreichen kann, außerdem eine Reihe von Überprüfungen durch andere Kontroll- und Aufsichtsbehörden, deren Ergebnis von vorneherein feststeht.

    Eine schnelle Durchsicht der Fälle, bei denen Organisationen als ausländische Agenten eingestuft wurden, zeigt, dass in den allermeisten Fällen alles mit einer Beschwerde begann. Als deren Urheber sind entweder einfache Bürger aufgetreten, die gewisse Anzeichen von Extremismus festgestellt haben wollten, oder auch Regionalregierungen (wie die Regierung der Region Altai im Falle des Umweltverbands Geblerowski) oder sogar ein Mitglied des Föderationsrates (Dimitri Sablin im Fall des Lewada-Zentrums).

    Denunziation als Gegenteil von offenem Dialog

    Neben dem Zweck, den Anlass für ein Verfahren zu liefern, hat die rechtsmobilisierende Denunziation eine weitere Funktion: Werden als Trigger Beschwerden wachsamer Bürger, Aktivisten oder Abgeordneter eingesetzt, wird dadurch Aktivität einer Zivilgesellschaft imitiert und die Anwendung des Rechts legitimiert. Wenn Polizei und Justiz Verschwörungen aufdecken, ist das eine Sache; dann könnte man Willkür vermuten. Wenn das Vorgehen als Reaktion auf Bedürfnisse und Fragen aus der Gesellschaft dargestellt wird, sieht die Sache ganz anders aus; das ist sehr viel schwieriger von aufrichtigem Bürgerengagement zu unterscheiden.

    Wahrscheinlich gibt es unter den aktiven und wachsamen Bürgern aufrichtig Überzeugte und Gläubige. Ich bezweifle jedoch, dass diese ihre Besorgnis sofort zur Polizei oder zur Staatsanwaltschaft tragen, dabei Amtssprache verwenden und derart genau das Ziel treffen. Wie dem auch sei, es bleibt eine bedenkliche Tatsache: Wachsamkeit und Aktivismus, die durch den Bedarf von Polizei und Justiz stimuliert werden, lassen sich immer schwerer von echter zivilgesellschaftlicher Aktivität unterscheiden.

    Hier kann es nur ein Kriterium geben und das liegt nicht im Bereich von Ideologie und Werten (seien diese nun ultrakonservativ oder liberal), sondern in den Mitteln, mit denen Ziele erreicht werden. Bürgerliches Handeln impliziert eine offene und rationale, einander zugewandte Diskussion, einen Dialog, der nicht davon ausgeht, dass jemand a priori Recht hat. Insofern sind all die moralischen Aufrufe und geäußerten Besorgnisse, die sich direkt oder indirekt an die Staatsanwaltschaft richten, vor allem eines: Fake.

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Aus und vorbei für Paragraph 282?

    Irina Jarowaja

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Angstfreiheit als Kunst

  • Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Russlands Dörfer verlieren ihre Bewohner. Wie anderswo auch, bieten die großen Städte oft mehr Jobs und Perspektiven – hier begünstigt dadurch, dass die Sowjetunion die Verstädterung einst massiv vorangetrieben hat. Russland ist mit offiziell rund 146 Millionen Einwohnern ohnehin dünn besiedelt. Es gibt Versuche, die Trends umzukehren: Gerade hat die russische Regierung etwa ein Programm gestartet, das mit geschenktem Grundbesitz in den Fernen Osten locken soll.

    Was macht den Orten fernab der großen Städte zu schaffen? Unter welchen Bedingungen leben die Menschen dort? Und was tun, wenn qualifizierte Fachkräfte für die elementarsten Dinge fehlen? Zum Beispiel Pädagogen. Anna Bessarabowa hat für die Novaya Gazeta ganz besondere Lehrerinnen in der sibirischen Taiga begleitet: Das lokale Projekt Mobile Pädagogen soll die Dorfschulen retten.

    Reportage aus verschneiten Winkeln, wo der Schulweg auch mal ein Trampelpfad übers Eis ist. 

    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Im sibirischen Parabel ist es schon 10 Uhr abends, in Moskau erst 18 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt, 36 Grad unter Null. Blinzelst du, verkleben dir die Wimpern vor Kälte. Atmest du, frieren weiße Muster auf den Brillengläsern. Redest du, kommt es dir vor, als würdest du Plombir-Sahneeis in ganzen Stücken hinunterschlingen.

    Mascha eilt voran wie ein Eisbrecher, wir laufen wie die Pinguine hinterher, um mitzuhalten. Maria Alexejewna Jurjewa, wie sie mit vollem Namen heißt, eine hübsche 24-Jährige, ist nach ihrem Biologie-Studium in Tomsk aufs Dorf zurückgekehrt. Tagsüber erklärt sie Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie mit ihrer Freundin, einer Erzieherin, Gewichte. Mittwochs fahren Mascha und noch zwei Lehrerinnen, die „Engländerin“ und die „Chemikerin“, wie man sie hier nennt, in verschiedene Dorfschulen. Seit September arbeiten sie in dem lokal angelegten Projekt Mobile Pädagogen mit und unterrichten in den abgelegensten Ecken des Bezirks Tomsk.

    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte
    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte

    In der Siedlung Parabel wohnt man Haus an Haus mit Erdgas- und Erdölarbeitern. Das bringt hohe Mieten und teure Lebensmittel mit sich, denn die Preise richten sich nach den Löhnen dieser Arbeiter. Und so träumen alle Einheimischen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, davon, dass ihre Kinder einmal eine Ausbildung im Erdgas- und Erdölbereich machen werden. In den Dorfschulen aber fehlen Fachlehrer. Die Schulverwaltung von Parabel hat einen Ausweg gefunden. Man kaufte ein neues Auto, einen Chevrolet Niva, rekrutierte eine Gruppe von „Wanderlehrern“ und bringt sie nun bei jedem Wetter in gottverlassene Dörfer.

    Morgen fahren wir zusammen mit Mascha nach Stariza. Sie ist gar nicht begeistert: Die Meteorologen haben 40 Grad Frost vorhergesagt. Der Weg in die Taiga ist menschenleer, es gibt keinen Empfang. Wie kommen wir da raus, wenn das Auto steckenbleibt?

    Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren

    „Außerdem müssen wir über den Fluss fahren. Letzte Woche sind wir zu Fuß, ohne Auto rüber“, erinnert sich Mascha. „Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt. Da habe ich mich erschrocken. Aber der Fahrer hat den Trampelpfad übers Eis geprüft und gesagt: ‚Mädels, geht nur, bei euch hält das Eis.‘ Jetzt ist natürlich alles richtig gefroren, aber wenn wir doch mal steckenbleiben? Dort ist Wald, es gibt Bären. Die öffnen Autos wie Konservendosen.“ 
    „Das ist doch spannend!“, antworten wir und werden mit einem Mal richtig munter.

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei
    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei

    „Ja, echt superspannend“, antwortet Mascha. „Wir haben hier Romantik pur: Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern  Zeit, um meine Wohnung zu renovieren. Die knapse ich mir zwischen den Schulstunden ab. Ich unterrichte in Parabel und Stariza. Da bleibt mir nur ein Tag am Wochenende – der Sonntag. Gut, dass ich nicht noch in der zweiten Schicht am Nachmittag unterrichte, der Nachmittagsunterricht ist überhaupt das reine Armageddon.“

    Mascha nimmt uns mit zu sich nach Hause. Zu ihrer Mietwohnung im ersten Stock einer Holzbaracke führt eine alte Treppe hinauf. Die Küche ist klein. Und das alles kostet sie 7000 Rubel [umgerechnet 115 Euro – dek] im Monat. Anders als andere Fachlehrer, die nach dem Studium aufs Dorf ziehen und dort arbeiten, hat sie keine kostenlose Wohnung und keine Million Rubel [rund 16.000 Euro – dek] Umzugsgeld bekommen – im Gebiet Tomsk gibt es so etwas nicht. Mascha ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen.

    Wir trinken Tee, sprechen über ihre Eltern, die Nachbarn, die „die Lehrerin mit Gartenkürbis durchfüttern“, über aufgegebene Dörfer und über die „durchgeknallten Schüler in den Städten und die motivierten auf den Dörfern, für die es wichtig ist, sich hochzuarbeiten“. Als wir weg sind, bereitet Mascha ihren Unterricht vor. Morgen hat sie laut Stundenplan sechs Unterrichtsstunden. Sie muss lange vor Sonnenaufgang aufstehen.

    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“
    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Der Mond hängt tief über dem Weg, draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei. Die Seitenfenster sind vereist. Alle wollen eigentlich schlafen. Aus irgendeinem Grund denke ich an die neue Bildungsministerin Olga Wassiljewa und an ihre Worte: „Als Lehrer zu arbeiten, ist eine Aufgabe, eine Mission. Heute sind es unsere Kinder, morgen sind sie das Volk“ – und an die Bewohner von Queyras aus Victor Hugos Roman Die Elenden. In dem Roman werden Schulmeister für Dörfer eingestellt, die selbst nicht in der Lage sind, Lehrer zu bezahlen. Und die wandern dann von einem Dorf zum anderen und unterrichten. Bei Hugo erkennt man die mobilen Pädagogen an Hüten mit Gänsefedern. Eine Feder bedeutet, dass sie nur Lesen und Schreiben unterrichten, bei zwei Federn unterrichten sie auch Rechtschreibung und Rechnen, bei drei Federn kommt noch Latein hinzu.

    Unsere Mitfahrerinnen haben keine Federhüte. Mascha trägt Kopfhörer, sie hört Rammstein. Die Chemielehrerin Ljubow Alexejewna Safonowa trägt eine warme Mütze. Unterwegs schaut sie, ob ihr Handy Empfang hat, sie will ihre Tochter anrufen, die in die Schule muss. „Wärm dein Frühstück auf, zieh dich warm genug an.“ Sie sagt, was alle Mütter sagen.

    Ljubow Alexejewna hat drei Kinder, sie hat sie allein großgezogen. Ihr ältester Sohn ist schon erwachsen. Auch ihre Kleinste wird in ein paar Jahren zum Studieren nach Tomsk gehen.

    „Und dann verlasse ich Parabel“, sagt Ljubow Alexejewna noch, „vielleicht. Bis dahin aber fahre ich als mobiler Pädagoge herum … Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo wir den Fluss überqueren.“


    Als Erste gehen die Lehrerinnen über den Fluss. Dann schlittern der Fotoreporter und ich hinterher. Der Wagen folgt uns vorsichtig. Das Eis kracht und knackt wie ein gebrochener Zweig, das Auto beschleunigt. „Und wie kommen wir wieder zurück?“, fragen wir am anderen Ufer Fahrer Andrej Knaup.

    „Wir fliegen einfach!“, sagt der und lächelt.

    Den seltenen Familiennamen hat Andrej von seinem Großvater. Der war Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Die Gegend war über Jahrzehnte ein Gebiet der Verbannung. Von hier war Josef Stalin im Jahr 1912 geflohen, nachdem er notgedrungen 38 Tage in Sibirien war, und hierhin wurden dann auf seinen Befehl zwischen 1930 und 1936 Tausende von Volksfeinden deportiert. Darunter waren viele Deutsche, Polen, Letten und Esten.

    In Stariza empfängt die Direktorin der Mittelschule Maria Alexejewna Fritz die Wanderlehrerinnen. Während sie sich auf ihren Unterricht vorbereiten, schlendern wir durch die Gänge der Schule und beobachten die Kinder.

    Es hat sich herumgesprochen, dass mit den Lehrerinnen „Moskauer angebraust kommen“, und die Einheimischen haben sich vorbereitet: Die Mädchen sind in den Stiefeln und Pelzmänteln ihrer Mütter zur Schule gekommen, die Lehrerinnen haben sich Festtagskleider angezogen, und im Speisesaal der Schule riecht es nach den selbstgebackenen Piroggen der Schulleiterin. Nur die Jungs kümmern sich nicht um dieses Getümmel, sitzen rum und hören russischen Rap.
    Im Sommer hatte ein junger Chemielehrer an der Schule in Stariza gekündigt. Er war frisch von der Uni gekommen, hatte ein Jahr gearbeitet und konnte dann nicht mehr. Aber wie soll es ohne ihn gehen? Die Kinder brauchen Biologie und Chemie für einen Studienplatz an der Polytechnischen Uni in Tomsk, für ihre Zukunft.

    Was soll man tun, wenn man beispielsweise Erdölspezialist werden möchte, der mehr als 100.000 Rubel [1500 Euro – dek] im Monat verdient? Die Oberstufenschüler wollen das, und ihre Mütter wollen das auch, und so haben sie ein Ultimatum gestellt: „Findet ihr keinen Lehrer, schicken wir unsere Kinder aufs Internat in Tarsk und gehen eben selbst weg von hier.“

    Da unter den Eltern auch hiesige Pädagogen waren, beschloss die Bildungsbehörde von Parabel, dass man lieber auf die Suche nach zwei Fachlehrern geht, als noch mehr Kollegen zu verlieren. Außerdem wurde im Herbst in der Oblast Tomsk ein Projekt gestartet, das den Lehrermangel beheben soll: die Mobilen Pädagogen. In diesem Rahmen bekamen die Bezirke auch Geld für neue Autos. Jetzt kommen die Mobilen Pädagogen den Dorfschulen zu Hilfe, aber spätestens 2025 werden sie die Schulen nicht mehr retten können. Experten prognostizieren, dass dann etwa 1700 Lehrer in der Region fehlen werden.

    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen
    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen

    „Bei uns im Dorf gibt es 56 Schüler und 9 Vorschulhühnchen“, erklärt Schulleiterin Maria Alexejewna. „Bei den kleinen Kindern ist es einfacher, aber die älteren müssen das GIA und das EGE ablegen. Ich kann doch keinem Russisch- oder Mathelehrer sagen, er soll Chemieunterricht machen, wobei das Schulleitungen in anderen Gebieten Russlands tun. Aber wir haben uns Fachlehrer gesucht.“

    Den Unterricht der Vorschulkinder hat in Stariza sowieso eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung übernommen, und die Werklehrerin Aljona Tichonowa unterrichtet auch Bildende Kunst und Erdkunde.

    Aljona und ihr Mann Jewgeni Stoljarow, der das Fach Grundlagen der sicheren Lebensführung und Katastrophenschutz unterrichtet, haben zwei kleine Kinder. Um deren Erziehung kümmern sie sich in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn sie nicht gerade Anwesenheitslisten ausfüllen oder Berichte verfassen: über die Lernentwicklung der Schüler oder die Qualität der eigenen Lehre oder andere Dinge.

    „Wie leben wir? Ein Holzhaus, Kohleofen, das Wasser müssen wir von der Pumpe holen“, so beschreibt Aljona ihren Alltag. „Fürs Wäschewaschen musst du fünf Eimer Wasser ins Haus schleppen, geputzt wird sonntags, dafür braucht es zehn bis fünfzehn. Die Schulleiterin Maria Alexejewna holt ihr Wasser seit fast 30 Jahren von den Nachbarn.

    Mit dem Handyempfang ist es vorbei, seit die Firma Wellcom pleite gemacht hat. Festnetz haben wir auch keins. Das Mobilsignal des Anbieters MTS kommt kaum durch. Von Internet ganz zu schweigen … Die Löhne sind bei uns völlig okay, dank der Zulagen, die man vom Staat für den Dienst in Dörfern und im Norden bekommt, aber in Saus und Braus leben wir nicht.

    Mein Mann jagt und angelt. Ich kümmere mich um Haushalt und Garten. So leben die Lehrer hier. Die Betriebe haben alle zugemacht, der Bus nach Parabel fährt einmal am Tag, aber nur, wenn die Fähre in Betrieb ist. Eine Kranken- und Hebammenstation haben wir noch in Stariza, aber der Sanitäter ist nicht berechtigt, Krankschreibungen vorzunehmen, dafür muss man anderthalb Stunden nach Parabel fahren. Ich will Jewgeni überreden, in die Stadt zu ziehen, wenn unsere Töchter größer sind. Wir haben noch eine Hypothek auf unserem Haus, aber die zahlen wir Schritt für Schritt ab.“

    Pause in Stariza
    Pause in Stariza

    „Die Dörfer sterben aus“, sagt Aljonas Mann Jewgeni und setzt sich neben sie auf die Bank. „In unsere Schule gehen Kinder aus mehreren Dörfern der Umgebung. Dort steht zum Teil die Hälfte der Häuser leer. Im Dorf Ust-Tschusik sind nur drei Familien übriggeblieben. Im Dorf Ossipowo lebt nur noch ein alter Altgläubiger. Das Dorf Nowikowo hängt am Tropf der Hubschrauberplattform für die Erdölarbeiter. Die Leute machen sich auf und davon. Wir leben hier am Ende der Welt.“

    Zum altgläubigen Alten nach Ossipowo fahren wir nicht mehr. Der Ortsvorsteher von Stariza Dawyd Dawydowitsch Fritz erzählt uns, der alte Mann habe im Herbst einen Schock erlitten, als ein Bär in sein Haus gestiegen sei. Der Alte habe sich im Schuppen eingeschlossen und verschanzt. Als das Monster weg war, habe der alte Mann seine Sachen gepackt und sei zu seinem Sohn in die Stadt gezogen. Dawyd Dawydowitsch gesteht ein, dass sich auch er und seine Frau, die Direktorin der Schule, nach Tomsk absetzen wollen: „2017 ist meine Dienstzeit zu Ende, ich gebe das Amt ab, und das war’s. Die Kinder sind erwachsen. Für unsere Rente haben wir genug gearbeitet – Zeit, dass wir uns erholen.“

    Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen. Das ist unser Unterhalt

    Jeden Morgen fährt ein Schulbus vom Dorf Ust-Tschusik nach Stariza. Er bringt vier Kinder zur Schule: die Enkelin von Tatjana Sergejewa und die Kinder von Natalja Nikitina. Das Dorf zieht sich über einige Kilometer hin, aber nur in drei Häusern brennt Licht.

    „Hier wohnt keiner mehr“, sagt Anna Iwanowna Sykowa und lässt uns ins Haus. „Nur ich, mein Sohn Shenka, meine Nachbarin Tanka mit ihrem Mann und ihrer Enkelin Alessja, ja und die kinderreichen Nikitins wohnen noch hier. Schreiben Sie doch in ihrer Zeitung bitte, dass wir in Tschusik Straßenlaternen brauchen, denn wenn der Schulbus abfährt, ist es noch ganz dunkel. Auch wir fahren mit diesem Bus nach Stariza, weil es keine anderen Verkehrsmittel gibt. Zum Einkaufen, zur Krankenstation, zur Post. Bei uns in Ust-Tschusik gibt es das alles nicht mehr. Hier bekommt man weder Brot noch bekommen sie einen Arzt zu greifen. Wenn wir in Stariza ankommen, kaufen wir dort Lebensmittel und Medikamente ein, bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt. Wir warten sechs oder sieben Stunden, anders geht es nicht. Bis Ust-Tschusik sind es zehn Kilometer durch den Wald. Aufregendes Leben, das wir führen: Einen Rettungswagen rufen, können wir nicht, und irgendwo hinrennen, wenn was passiert, können wir auch nicht. Als Shenka von einem Bären angegriffen wurde, haben wir im ganzen Verwaltungsbezirk Alarm geschlagen, damit der Arzt kam.“

    „Was machen Sie, wenn die Kinder im Dorf krank werden?“
    „Fragen Sie das lieber meine Nachbarin Tanka“.

    Tanka, mit vollem Namen Tatjana Sergejewa, kümmert sich um ihre siebenjährige Enkelin Alessja. Sie sagt, mit der Gesundheit habe das Mädchen Glück gehabt, mit ihrer Mama weniger (die hat das Kind bei der Großmutter gelassen und ist selbst nach Parabel, um sich ein besseres Leben zu zimmern). Aber mit ihrer Gesundheit sei alles Ordnung. 

    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel
    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel

    „Wir bitten schon lange darum, dass man uns ins Verwaltungszentrum nach Parabel umsiedelt. In Tschusik ist es schwer, hier kann ich auch nichts dazuverdienen. Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen“, rechnet uns die Sergejewa vor. „Das ist unser Unterhalt. Mein Alter jagt auch Zobel. Für ein Stück Fell kriegt er 5000 Rubel [umgerechnet rund 80 Euro – dek]. Draußen ist das 21. Jahrhundert, Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Als wir das dritte Haus betreten wollen, eilt uns die kleine Wassilissa entgegen, schmuddelig und in einem Pullover, in den sie noch lange hineinwachsen kann. Weil es zu kalt ist, darf sie heute nicht in die Schule. Auf dem Boden liegen Spielsachen und Kleidungsstücke verteilt. Die kleine Nikitina quengelt, die große Nikitina erzählt, dass sich ihre Familie mit einer Kuh, einem Bullen und dem Garten über Wasser halte. Reis, Nudeln, Buchweizen und Brot kaufe aber ihr Sohn, wenn er nach Stariza in die Schule fahre.

    „Würde ich selbst einkaufen gehen, würde ich einen ganzen Tag verlieren“, sagt die Mutter. „Und er weiß, was und wieviel wir brauchen.“
    „Was wird mit dem Dorf in den nächsten ein zwei Jahren geschehen?“
    Die Einheimischen zucken mit den Schultern: „Wer kann das schon wissen?“

    Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute

    In der Schule in Stariza ist der Schultag fast zu Ende. Die Mobilen Pädagogen wissen sicher, dass die Schüler ihre Hausaufgaben selbst machen werden, denn einen Zugang zum Internet, wo sie Lösungen abschreiben könnten, gibt es hier nicht.

    In einigen Minuten werden die Fachlehrerinnen ihre Taschen packen, von den Kollegen Abschied nehmen und nach Parabel zurückfahren. Die Dorflehrer aber bleiben hier. Einige für ein Jahr, die anderen für zwei, die jüngste, die 26-jährige „Engländerin“ Nelli Jurjewna Jewsejewa, bis zum Sommer.

    „Seit drei Jahren arbeite ich hier. Ich kann nicht mehr“, gesteht uns Nelli Jurjewna aufrichtig. „Eine Freundin von mir hat mich gefragt, ob ich nicht nach Stariza kommen möchte. Sie selbst ist nach Parabel gezogen und hatte mich bei der Schulverwaltung empfohlen. Ich komme aus Mari El. Das ist nicht Moskau und nicht Tomsk, aber du kommst dir nicht vor wie am Ende der Welt. Sibirien ist was anderes. Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, ist nicht schlimm, das kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute. Und ich will eine Familie haben, will in die zivilisierte Welt.

    Hier kann man nirgends hingehen, mit niemandem reden. Samstags und sonntags hockst du zu Hause und weißt nicht, was du tun sollst. Ich habe so viel geweint! In den Ferien besuche ich meine Eltern, aber im September muss ich zurück, das kostet mich wahnsinnige Überwindung. Die Kinder und die Kollegen sind wundervoll, aber die Lebensbedingungen …

    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“
    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Ich heize hier den Ofen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Holz auf dem Arm hatte. Wasser muss ich von draußen holen, das Klo ist hinterm Haus. Ich habe hier einen Computer und andere Geräte, aber warum gibt es hier keine Internetverbindung? Ich lebe wie in der Verbannung. Ich will weg. Ich verschwende hier Lebenszeit. Und wozu, was für eine Mission habe ich hier?“

    „Das Mädel hat recht. Sie muss leben. Und wir, was tun wir? Im Sommer machen wir uns daran, eine Wanderlehrerin für Englisch zu suchen“, sagen die Starizer Pädagogen zu ihren Plänen. „So decken wir wenigstens die Fächer ab, solange die Kinder noch hier sind.“

    … Am anderen Flussufer, 100 Kilometer von Stariza, im Zentrum des Verwaltungsbezirks Parabel erwartet unseren Aufklärungstrupp eine Nachricht der russischen Regierung: Ab 2017 soll laut Lehrplan für Musik auch Chorgesang unterrichtet werden. Na ja, vielleicht wird die hiesige Bildungsbehörde den Chevrolet-Niva durch einen Kleinbus ersetzen müssen.

    Weitere Themen

    Samogon

    Kleine Auszeit

    „Sie sind völlig frei“

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Journalisten in der Provinzfalle

    November: Einst war hier das Meer

  • Karriere in Uniform

    Karriere in Uniform

    „In der ganzen Welt wünschen sich Eltern für ihre Kinder eine Karriere als Arzt“, schreibt Jewgeni Karassjuk auf Republic. In Russland, so legt er dar, steht daneben noch etwas anderes hoch im Kurs: der Dienst beim Militär oder bei Sicherheitsorganen.

    Wie kommt das? Gerade die Armee hatte eine Mehrheit laut einer Umfrage noch vor sechs Jahren als Zukunft für ihre Kinder abgelehnt, zu viel Angst vor Gewalt, Willkür und politischer Verantwortungslosigkeit gaben die Befragten als Gründe an. Das hat sich geändert. Es sind heute meist Eltern ärmerer Schichten, die für ihren Nachwuchs eine Karriere in der Armee oder bei den Sicherheitskräften erträumen. Wo Jobs fehlen, wo Perspektiven ausbleiben, bietet sich hier zumindest die Aussicht auf ein stabiles Gehalt: Je nach Dienstgrad und -jahren kann zum Beispiel ein Berufssoldat rund 1000 Euro im Monat verdienen. Ärzte bekommen Umfragen zufolge oft nur rund 310 Euro. Entsprechend legendär sind die Wsjatki, Bestechungsgelder, die Patienten oft an Ärzte zahlen.

    Karassjuk erklärt auf Republic, weshalb es nicht nur an Propaganda, Ukraine und Syrien liegt, dass viele Russen ihren Kindern eine Karriere ausgerechnet dort wünschen – und verdeutlicht das mit anschaulichen Infografiken.

    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto ©  Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0
    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto © Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0

    Vergangenen Herbst hielt Wladimir Mau, Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst, einen Vortrag an der privaten Wirtschaftshochschule Skolkowo. Dort sprach er über die Zukunft der Bildung in Russland und zeigte dem Publikum erneut auf, welche Zukunft sich die Russen für ihre Kinder wünschen: Reichere Familien erwägen eine Karriere als Manager in einem staatlichen Unternehmen, ärmere Familien eine Laufbahn beim Militär oder bei den Sicherheitsbehörden.

    „Eine unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“

    Die Armut im Land nimmt weiter zu, dem entsprechen auch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM: Über die Hälfte der Bürger (53 Prozent) ziehen als zukünftigen Arbeitsplatz für ihre Kinder die Polizei-, Justiz- oder andere Sicherheitsbehörden in Betracht. Den Staat mit seiner jetzigen Beschäftigungsstruktur – eine „unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“ – nennt Alexander Idrissow, Chef der Strategy Partners Group, eine Katastrophe. Doch das Interessanteste steht womöglich erst noch bevor. Denn die kommende Generation von Russen folgt vielleicht dem elterlichen Rat und schlüpft massenhaft in Uniformen. Warum halten die Russen eine Karriere als Militärangehöriger, Polizist oder Mitarbeiter der Geheimdienste für eine gute Idee?

    In ihren Präferenzen unterscheiden sich russische Eltern gar nicht so sehr von Eltern in anderen Ländern. Fast alle Untersuchungsergebnisse sind mit den Daten ähnlicher internationaler Erhebungen vergleichbar – einzige Ausnahme: der Wunsch nach einer Karriere in den Sicherheitsbehörden.



     * Die Angaben zu den Berufswünschen Ärzte, Unternehmer, Lehrer und Wissenschaftler sind einer Studie entnommen, die die Higher School of Economics 2013 durchgeführt hat. In der Umfrage waren mehrere Antworten möglich. Laut dieser Studie haben 14 Prozent der Befragten eine Karriere bei der Armee als bevorzugt angegeben. Quelle: Republic (WZIOM, HSE)


    Quelle: Republic (WZIOM)

    Assoziation einer längst vergessenen Stabilität

    Eltern aus 16 Ländern, die von der [weltweit agierenden Bank] HSBC im Rahmen der Studie Learning for Life befragt wurden, wollten im Schnitt, dass ihre Kinder Ärzte (19 Prozent), Ingenieure (11 Prozent) oder Programmierer/Software-Entwickler (8 Prozent) werden. Die russischen Daten zu diesen Berufswünschen fallen ähnlich aus: 21, 13 und 14 Prozent. Doch spielen das Innenministerium (MWD), der Inlandsgeheimdienst FSB und die Armee heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle, wenn es um die Prioritäten geht, die in Familien gesetzt werden.

    In den letzten Jahren wecken Menschen in Uniform bei Russen Assoziationen einer fast vergessenen Stabilität. Die monatliche Vergütung für Militärangehörige steigt. 2015 betrug sie im Schnitt 62.200 Rubel [rund 1000 EUR – dek], was mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns ist.

    Außerdem steigen die Renten und Pensionen, die ein Großteil der Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsstrukturen bereits früher beziehen (vor dem üblichen Renteneintrittsalter: 55 Jahre bei Frauen und 60 Jahre bei Männern). In Zeiten der Krise, so verkündete die stellvertretende Verteidigungsministerin Tatjana Schewzowa stolz, „gelingt es, die finanzielle Vergütung der Militärangehörigen auf dem Niveau der führenden Wirtschaftsbranchen zu halten“. Im Jahr 2015 haben auch erstmals in der neuesten Geschichte Russlands mehr Berufssoldаten (300.000) als normale Wehrdienstpflichtige (276.000) in der Armee gedient.



    * Mittelwerte für die Offiziershochschulen Blagoweschtschensk, Nowosibirsk, Rjasan
    ** Mittelwerte für die MGTU, MIFI und MFTI 2014-2016
    Quelle: Republic (Universitäten, Verteidigungsministerium)

    „Ich beschäftige mich seit langem mit den Aufnahmeprüfungen an den Militärhochschulen. Eine derartige Konkurrenz wie in diesem Jahr hat es noch nie gegeben“, meinte im Jahr 2015 der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolaj Pankow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge ist die Zahl der Abiturienten, die auf Militärhochschulen gehen, im Laufe des vergangenen Jahres um 36 Prozent gestiegen. „Heute haben wir, wie es aussieht, den größten Andrang auf unsere Ausbildungsstätten“, erklärte der Minister.

    Gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach Plätzen in den Nachimow– und Suworow-Militärschulen und Kadettenkorps (2015 gab es 3,5 Bewerber pro Platz). An den zivilen technischen Hochschulen werden sogenannte Wissenschafts-Kompanien eingerichtet, und auch da ist der Andrang groß.

    Selbstisolierung spielt Militär in die Hände

    Der explosionsartige Beliebtheitssprung bei militärischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Selbstisolierung der Bevölkerung, auch im Bildungssektor. Für jene, die sich von Feinden umringt fühlen (laut Lewada-Zentrum 68 Prozent), die meinen, dass man Russland in der Welt fürchte und dass das gut sei (75 Prozent laut FOM), wäre es merkwürdig, davon zu träumen, die Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

    68 Prozent der Russen, die 2015 im Rahmen der Studie Integrationsbarometer der Eurasischen Entwicklungsbank befragt wurden, konnten oder wollten kein einziges Land nennen, in das sie ihre Kinder theoretisch zwecks Studium fahren lassen könnten. Zum Vergleich: Den Daten der HSBC zufolge denken in westlichen und asiatischen Ländern 77 Prozent der Eltern mit Kindern bis 23 Jahre daran, die Kinder für Bachelor-, Master- oder Doktoranden-Programme ins Ausland zu schicken.

    Die Russen in Uniform fühlen sich sicher

    Es wäre zu einfach, das gestiegene Interesse der Russen an einer Arbeit in den Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen in der Ukraine und in Syrien zu erklären oder mit der speziellen Art, wie darüber in den staatlichen Medien berichtet wird. Das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC) führt Russland bereits seit vielen Jahren unter den zehn (und häufiger noch: fünf) am stärksten militarisierten Staaten. Dem Ranking des internationalen Zentrums liegen mehrere Faktoren zugrunde, beispielsweise die Haushaltsausgaben für Militär im Verhältnis zu denen im Gesundheitssektor, das Zahlenverhältnis von Militärangehörigen (inklusive Milizen, aber ohne Mitarbeiter von Polizei und Justiz) und Ärzten zur Gesamtbevölkerung sowie die Menge schwerer Waffen bezogen auf die Bevölkerungszahl.



    Quelle: Republic (Finanzministerium)

    Viele Russen fühlen sich in Uniform sicher – und zwar ungeachtet der Wirtschaftskrise und planmäßigen Kürzungen sowie der außerplanmäßigen Reformen in einigen Behörden. Was die Staatsfunktionäre auch immer sagen mögen über die Unterstützung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die Silowiki erfahren die Fürsorge des Staates zuerst. So bedeutet der Anstieg der Ausgaben für den öffentlichen Dienst, wie er im Haushaltsplanentwurf 2017 bis 2019 vorgesehen ist, in erster Linie eine Ausgabensteigerung für die Staatsanwaltschaften, das Ermittlungskomitee, den FSB und andere privilegierte Behörden des Innen- und Verteidigungsministeriums.

    Auch die immaterielle Motivation wird immer größer. „Ränge, Auszeichnungen, die Vertikale der Macht und das Unterordnungsprinzip gehören zu den Grundsätzen einer militärischen Organisation der Gesellschaft. Und diese Prinzipien zeigen sich wieder im alltäglichen Leben des heutigen Russland“, schreibt Cyril Bret vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po).

    Wie es aussieht, ist die Mehrheit der Russen aufrichtig davon überzeugt, dass diese Kasernenstruktur im Land noch lange Bestand haben wird. Wenigstens für die Kinder wird’s reichen.

    Weitere Themen

    Arbeitsmigration in Russland

    Entlaufene Zukunft

    Disneyland für Patrioten

    Journalisten in der Provinzfalle

    Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Russland auf der Flucht vor sich selbst

  • Unter die Haut

    Unter die Haut

    Eine geplante Gesetzesnovelle, die weniger harte Strafen für häusliche Gewalt vorsieht, sorgt derzeit für Diskussionen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeigt Takie Dela eine Fotoreportage des Ufaer Fotografen Wadim Braidow: Er hat Shenja in ihrem Tattoostudio besucht und auch ihre Klientinnen getroffen. Über sie schreibt Braidow: 

    „Zu Shenja kommen Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden – sie brauchen Trost und wollen vergessen. Shenja ist keine Psychotherapeutin, sie ist Tattookünstlerin. Mit den Tattoos übermalt sie Narben, die von der Gewalt geblieben sind. Geld nimmt sie dafür keines, Geschichten hat sie schon so viele gehört, dass sie ein Buch schreiben könnte.“

     Fotos © Wadim Braidow
    Fotos © Wadim Braidow

    Tattookünstlerin Shenja Sachar, 33

    Tätowierer führen ein fröhliches, sorgloses Partyleben. Immer hängt irgendwer in deinem Studio ab, dankbare Kunden laden dich auf Feten ein. Doch dann bin ich irgendwann auf einen Artikel über Flavia Carballo gestoßen, eine brasilianische Tattookünstlerin, die die Narben von Opfern häuslicher Gewalt übertätowiert, und ich dachte: „Warum sollte ich das nicht auch mal versuchen?“ Ich wollte technisch besser werden – immerhin sind Narben für Tätowierer eine Herausforderung – ja, und ein bisschen was Gutes zur Welt beisteuern.

    Ich veröffentlichte eine Anzeige auf Vkontakte, und dann gings los. Aus allen Ecken Baschkiriens schrieben mir Frauen. Junge und ältere, stille und hysterische – und alle hatten eines gemeinsam: den Schmerz. Sie alle sagten, sie könnten ihre Narben nicht mehr sehen, sie würden sie an den Tag erinnern, als der geliebte Mann seine Hand gegen sie erhob. Wenn es doch nur die Hand gewesen wäre. Narben von Stichwaffen sind für mich keine Seltenheit, einmal war sogar eine Schusswaffe dabei. Ich, in meiner ruhigen und fröhlichen Welt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass so viele Frauen zu Hause Gewalt erleben.

    Ich habe schon an die hundert Kundinnen behandelt, und ich weiß, sie wollen bei mir auf der Liege ihr Herz ausschütten und nachdem sie aufgestanden sind, nie wieder an diese Geschichte denken. Ich habe so viele Geschichten gehört, dass ich ein dickes Buch schreiben könnte. Ich versuche, den Frauen eine Freundin zu sein, und irgendwie klappt das – viele von ihnen kommen mit was Süßem wieder, einfach auf einen Plausch. Und sagen: „Zwei Stunden lang hast du uns Schmerzen zugefügt, damit wir den Schmerz vergessen, den wir jahrelang ertragen haben.“ 

    Derzeit nehme ich eine Kundin pro Woche, für mehr reicht weder die Zeit noch das Material. Ideal ist mein Studio nicht und kosten tut es auch. Ich muss überwiegend zahlende Kunden bedienen. Gerade versuche ich mit meinem Partner und einem Kollegen ein eigenes Studio zu eröffnen, das unabhängig ist von Vermietern. Ich will weiter versuchen, wenigstens eine Kundin pro Woche reinzunehmen. Auch wenn die Selbstkosten bei jedem von diesen Tattoos zwischen 2000 und 4000 Rubel [30 bis 60 EUR – dek] liegen, kann ich von diesen Frauen kein Geld nehmen. So haben meine Eltern mich nun mal erzogen. Anfragen habe ich viele, bestimmt um die zweihundert. Leider ist Gewalt, genau wie Krieg, immer da.


    Guldar, 28

    Vor sieben Jahren war ich mit einem jungen Mann zusammen, er arbeitete bei einer Behörde. Es war ernst, wir hatten schon die Nikah, die islamische Ehe, gefeiert, wollten standesamtlich heiraten. Irgendwann kam er angetrunken nach Hause, wir fingen an zu streiten. Er verprügelte mich. Trat mir mit den Füßen in die Brust und in den Bauch. Ich packte meine Sachen und ging zu meiner Mutter. Dann sagte ich zu ihm, dass ich ihn bei der Polizei anzeigen werde, drohte damit, für seine Kündigung zu sorgen. Er kam zusammen mit seinem Bruder zu mir, einem Anwalt, und sie erklärten mir hart und deutlich, dass ich das mit der Anzeige besser sein lasse.

    Nach diesem Gespräch packte ich schnell meine Sachen und floh von Belorezk nach Ufa. Es verging ein Jahr, die Verletzungen taten immer noch weh, also ging ich ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass in der Brust und im Bauch Schwellungen zurückgeblieben waren, innere Blutergüsse. Ich wurde ein paar Mal operiert. Jetzt habe ich diese Narben und kann keine Kinder mehr bekommen. Es fällt mir schwer, Beziehungen zu Männern aufzubauen, ich schäme mich, mich auszuziehen, schäme mich, diese Geschichte zu erzählen. Vor kurzem war ich im Urlaub. Als erstes habe ich mir Mehndi, Hennatattoos, auf die Narben machen lassen, sofort fühlte ich mich im Badeanzug viel selbstsicherer. Da hatte ich die Idee, die ganzen alten Erinnerungen mit Tattoos übermalen zu lassen.


    Ljaisan, 33

    Vor zwei Jahren hat mich mein Mann, er war völlig unzurechnungsfähig, mit dem Küchenmesser verletzt. Die Schnittwunde war tief, ich hatte einen Leberriss und innere Blutungen. Ich rief selbst den Notarzt, aber man hat mich sehr schlecht genäht, es blieben große Narben. Natürlich kam die Polizei ins Krankenhaus, ich sollte Anzeige erstatten. Ich habe es nicht getan. Mein Mann flehte mich an, zu ihm zurückzukommen.

    Nach meiner Entlassung versuchte ich, weiter mit ihm zusammenzuleben, aber es ging nicht. Er hat nie zugegeben, was er getan hat, sagte, dass er sich an nichts erinnere, und dass ich mich selbst mit dem Messer verletzt hätte. Da habe ich bereut, dass ich ihn nicht angezeigt habe. Aber ich denke, eines Tages wird ihm das Leben alles heimzahlen.

    Jetzt geht es mir gut, aber mit den Narben konnte ich diesen schwarzen Tag nicht endgültig hinter mir lassen. Deshalb habe ich mich zu der Tätowierung entschlossen.


    Lilja, 41

    Meine Geschichte handelt nicht von Gewalt, sondern von einer Verletzung aus der Kindheit. Meine Eltern sind Geologen und waren ständig auf Dienstreisen, sie waren überall in Baschkirien unterwegs und ließen mich bei meiner Oma. Als ich ein Jahr und zwei Monate war, haben die Großeltern einmal nicht richtig aufgepasst. Ich hatte mein Stühlchen genommen, es an den Herd gestellt und nach dem Teekessel gegriffen. Ich konnte ihn nicht halten und habe mich verbrüht. 84 Prozent meiner Körperoberfläche waren geschädigt, ich lag einen Monat lang auf der Intensivstation im Koma. Außerdem diagnostizierte man bei mir Infantilismus. Ich kann auch keine Kinder bekommen.

    Mein ganzes Leben habe ich mit diesen Brandnarben am Körper gelebt. In den 1990ern entschloss ich mich zu einer Reihe plastischer Operationen, aber schon nach der zweiten ging es mir so dreckig, dass ich abbrach. Jedes EKG, jede Untersuchung, Sauna, Strand – alles war für mich eine große nervliche Belastung. Jeder, der meinen Bauch sah, war sofort geschockt, oh weh, und wollte wissen, was mir passiert war. Letztens wurden wir bei der Arbeit untersucht, ich zog meine Bluse aus, und alle riefen „Oh!“. Aber jetzt fühle ich mich selbstsicherer. Für Narben schämt man sich, mit Tattoos gibt man an.

    Shenja wollte mich zuerst nicht behandeln. Sie arbeitet ja eigentlich mit Opfern von häuslicher Gewalt, Frauen, die von ihren Männer verletzt wurden. Aber als ich ihr meine Narben zeigte, sahen wir uns ein paar Minuten lang in die Augen, und dann sagte sie: „Leg dich hin.“ Ich bin ihr unendlich dankbar. Dieses Tattoo hat mein Leben verändert, weil ich mich jetzt für nichts mehr schämen muss.


    Wika, 28

    2009 war ich schwanger. Eines Tages holten mich mein Ex-Mann und sein Kumpel von der Arbeit ab und fuhren mit mir in den Wald. Mein Mann brüllte, er wolle dieses Kind nicht, irgendwelche alten Weiber hätten ihm gewahrsagt, es sei nicht von ihm. Er holte ein großes Küchenmesser hervor. Stieß es mir immer wieder gegen die Brust, aber schaffte es nicht, richtig zuzustechen. Dann gab er das Messer seinem Freund. Der nahm Anlauf und rammte es mir in die Brust. Ich wehrte es mit meiner Tasche ab, beim zweiten Mal traf er meine Achsel. Es floss viel Blut. Mein Mann erschrak, stürzte sich auf seinen Kumpel. Schlug ihn zusammen, setzte mich ins Auto und brachte mich ins Krankenhaus, durchbrach auf dem Krankenhausgelände sämtliche Schlagbäume. Die Ärzte riefen die Polizei, einer der Polizisten war ein alter Bekannter von mir. Er begriff sofort, was los war, und bestand darauf, dass ich die Wahrheit sage. Mein Mann wurde noch im Krankenhaus festgenommen. Er bekam acht Jahre, sein Freund, glaube ich, sechs. Die Ärzte konnten nicht nur mich retten, sondern auch das Kind. Der Chirurg sagte mir später, das Messer hätte die Schlagader um zwei Millimeter verfehlt.

    Ich habe daran gedacht und hätte auch Möglichkeiten gehabt, meinen Ex-Mann noch direkt in der Haft zu bestrafen. Aber als mein Sohn zur Welt kam, ließ das nach. Am liebsten denke ich weder an meinen Mann noch an jenen Tag. Aber jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel geschaut und diese Narbe gesehen habe, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Als würde sie mich zurück in die Vergangenheit ziehen.

    In den Ufaer Nachrichten hörte ich von Shenja und dachte, dass mir das helfen würde, mit der Vergangenheit abzuschließen. Es war schwierig zu glauben, dass mich jemand umsonst tätowieren würde. Ich kam ins Studio, man sagte mir, doch, das stimmt, und gab mir eine Telefonnummer für die Terminvereinbarung. Shenja und ich sprachen miteinander und entschieden uns für einen Schmetterling. Der ist in vielen Kulturen ein Symbol für die Reinkarnation der Seele.

    Weitere Themen

    Die Silikonfrau

    HIV und AIDS in Russland

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    Presseschau № 36: #янебоюсьсказать

    Die Täter-Debatte

    Schläge als Privatsache?