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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

    „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

    Ob freiwillig gemeldet oder eingezogen, ob Schweißer oder Student, Großstädter oder Dörfler – sie alle hat Russlands Krieg gegen die Ukraine an diesem Ort versammelt. Wo die Raucherpause das Highlight des Tages ist und die Einnahme von Neuroleptika Routine: die psychiatrische Abteilung der russischen Militärkrankenhäuser. Dort werden Soldaten mit diversen Diagnosen – von Schizophrenie bis PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) – monatelang behandelt, bis die Medizinische Kommission entscheidet: ausmustern oder weiter kämpfen? Keiner will wieder an die Front. Manche sagen, da gehen sie lieber ins Gefängnis oder bringen sich um. 

    Für das russische Onlinemedium Nowaja Wkladka, das sich auf Veränderungen im Alltag in den russischen Regionen seit dem Überfall auf die Ukraine spezialisiert, hat eine Autorin eine Woche als „Ehrenamtliche“ in solch einem russischen Militärhospital verbracht. Als Journalistin hätte sie keinen Zutritt bekommen.  

    Alle Namen wurden geändert, um die beschriebenen Personen nicht zu gefährden. 

    Im Eingangsraum, wo Passierscheine für Besucher ausgestellt werden, stehen zwei Männer und sieben Frauen. Eine darf nicht rein: Der Patient, den sie besuchen will, hat keinen Schein für sie beantragt. Die Frau schnappt wütend die Einkaufstüten vom Discounter, die vor ihr auf dem Boden stehen. 

    „Das ist doch Schikane!“, ruft sie mit tränenerstickter Stimme. 

    „Jetzt bloß nicht heulen“, sagt die Frau hinter ihr in der Schlange streng.  

    „Ich heul ja nicht.“ 

    Auf einmal knattert ein Maschinengewehr: Im Fernseher an der Wand läuft ein Kriegsfilm. 

     

    „Man will nur noch kämpfen“ 

    Das Krankenhaus versinkt im Grünen. Alle zwanzig Meter eine Bank, auf der Männer sitzen: Dem Einen fehlt ein Bein, dem Anderen ein Arm, der Dritte hat den Kopf einbandagiert. 

    Am Eingang zur Psychiatrie rauchen die Patienten. Wer keinen Stuhl mehr bekommt, hockt sich auf ein Schaumstoffpolster auf dem Bordstein. Der Spezialschlüssel für die Station steckt in der Kitteltasche der Krankenschwester, die daneben steht und aufpasst. 

    Ein langer, hell beleuchteter Korridor, schummrige Zimmer, in denen die Vorhänge zugezogen sind. Die meisten Patienten verbringen den ganzen Tag am Handy. Nachrichten über den Krieg lesen sie keine: „Es wird überall gelogen.“ Neben manchen Betten stehen Rollstühle und auf den Fensterbrettern Wasserflaschen. 

    Auf der Psychiatrie sind etwa 80 Menschen, die meisten aus niedrigeren Rängen bis hin zu Unteroffizieren: Feldwebel, Gefreite, Leutnants. Manche sind erst seit kurzem hier, andere schon seit dem Frühjahr, als draußen noch Schnee lag. 

    Die Patienten sind unterteilt in „verschärftes“ und „strenges Regime“. Erstere dürfen sich frei im Krankenhaus bewegen, Zweitere nur in Begleitung, damit sie sich und anderen nichts antun. Nach jedem Besuch kontrollieren die Schwestern die persönlichen Sachen der Patienten auf spitze und scharfe Gegenstände, Alkohol und Drogen. 

    Als Ehrenamtliche begleitet man die „Strengen“ zu den Ärzten. Die Männer müssen sich auch einer militärärztlichen Untersuchungskommission unterziehen, die feststellt, ob sie weiterhin diensttauglich sind oder nicht. 

    Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. 

    Im Flur ist es stickig, die Gesichter der herumlungernden Patienten glänzen verschwitzt. Viele tragen uniforme gestreifte Pyjamas mit Aufdruck „Russische Armee“. 

    Die Patienten beäugen mich finster. Ein großer, schlanker Kerl in Unterhemd und Jogginghosen bricht das Schweigen. Alexej – so sein Name – baut sich dicht vor mir auf und sieht mir von oben direkt ins Gesicht: 

    „Ich bin kerngesund. Aber für die Gesellschaft bin ich nicht normal, genau wie die Gesellschaft für mich. Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. Wenn ich hier rauskomme, wird die ganze Menschheit sterben.“ 

    Alexej hängt sich ein weißes Handtuch um den Hals und zieht mit einem unheimlichen Grinsen daran: „Der Stoff ist feeest.“  

    Er ist einer von den „Strengen“, und manchmal wirkt er wirklich wahnsinnig. Die meisten Patienten verhalten sich hingegen ziemlich normal: Sie reden mit mir, stellen Fragen, interessieren sich für das Leben „in Freiheit“. Sie alle sind auf Neuroleptika. 

    Ich bringe Alexej und ein paar andere Patienten zur schapka (dt. Mütze) – so nennen die Patienten hier die Elektroenzephalografie [EEG, da wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt – dek]. Neben mir läuft schweigend Sergej, ein Mann Ende zwanzig aus einer Stadt an der Wolga. Im Krieg war er Späher. Während er auf die schapka wartet, spielt er auf seinem Handy Schach. 

    Ein junger Mann wird auf seinem Bett durch den Flur gerollt. Sein linkes Auge verdeckt eine Mullbinde, anstelle des rechten Arms hat er einen Stumpf. Auch der Rest seines schmalen, tätowierten Körpers ist einbandagiert. Er versucht, die verbliebene Hand zu einer Faust zu ballen, aber es geht nicht – im linken Ellbogen steckt ein Splitter. 

    Als Nächster ist Ruslan dran, ein großer, stämmiger Kerl aus einer Republik im Nordkaukasus. Er wurde im September 2022 eingezogen; in der Psychiatrie ist er gelandet, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er ist 28 Jahre alt. 

    Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken,  
    und die anderen in Ruhe lassen.

    Auf die Frage, was sie gearbeitet haben, nennen alle Patienten sofort ihre Funktion im Krieg, als hätten sie kein Leben davor gehabt. „Leitender Chemiker“, antwortet Ruslan ohne Umschweife. „Chemiker“, erklärt er, seien die, die das Gelände von Minen befreien. „In Wirklichkeit war ich einfach im Sturmtrupp. Da hat dich keiner gefragt, wer oder was du bist. Man sagt dir stürmen, und du stürmst.“ 

    Ruslan sagt, nach so einem Sturm wolle man „immer nur noch immer weiterkämpfen“. Das zivile Leben sei ihm seitdem zu langweilig. 

    „Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken, und die anderen in Ruhe lassen.“   

    Ruslan sagt, er sei in den Krieg gezogen, weil er mobilisiert wurde und weil seine Brüder schon dort seien. 

     

    Verloren in der Zeit 

    „Fertigmachen zum Rauchen!“, ruft die Krankenschwester und schließt die Tür auf. 

    Alle strömen zum Ausgang, auch die, die erst vor fünf Minuten draußen waren. Ihre Gummilatschen quietschen auf dem Linoleum. Im Flur riecht es nach Desinfektionsmittel, die Lüftung rauscht leise. Ein Priester kommt uns entgegen: Er besucht die, die die Kommunion empfangen oder auch einfach nur reden wollen. 

    Pjotr Pawlowitsch geht nicht mit rauchen: Er liegt mit einer Kompresse am Kopf in seinem Zimmer. Es ist sehr heiß. Er muss zur schapka, hat aber keine Kraft. Die ganz Schwachen werden mit einem Krankenwagen zwischen den Gebäudetrakten hin und her gefahren. Der Krankenwagen ist sauber und ordentlich, wie frisch vom Werk. Vorne beim Fahrer läuft leise Musik. 

    Schleichende Demenz: Die Erinnerungen kommen nie wieder. 

    Wie er hier in der Klinik gelandet ist, weiß Pjotr Pawlowitsch nicht mehr. Vielleicht war es im Herbst. Oder Frühjahr. Er studiert aufmerksam mein Gesicht und sagt: „Wir haben uns schon mal irgendwo gesehen.“ Er hat blaue Augen und lächelt abwesend; ich schätze ihn auf ungefähr 60. Er wirkt desorientiert, beim Laufen muss er sich an den Wänden abstützen. Mehrfach sagt er besorgt, er habe seine Papiere nicht dabei. Als wir die Treppe hinaufgehen, hakt er sich vorsichtig bei mir unter. 

    Pjotr Pawlowitsch stammt aus einem Dorf in Zentralrussland. Bevor er sich freiwillig zum Krieg meldete, war er Schweißer. Abends finde ich sein Profil auf Odnoklassniki. Den Fotos nach war er passionierter Angler, der gern mit seinem Fang posierte. 

    „Wie sind Sie hier in unserer Gegend gelandet? Zugeteilt? Ein Verlobter?“, fragt Pjotr Pawlowitsch schelmisch. Ihm ist nicht bewusst, dass er Hunderte Kilometer von seinem Zuhause entfernt ist. Immerhin gibt er zu, dass er vergessen hat, welches Jahr wir haben. „2024“, erinnere ich ihn. 

    Entsetzter Blick. Er denkt, das sei ein Witz. 

    Später erzählt mir die Krankenschwester, dass Pjotr Pawlowitsch Alkoholiker ist. Er habe eine schleichende Demenz, seine Erinnerung werde vermutlich nie wiederkommen. 

    Während sie die Medikamente auf Plastikdöschen verteilt, schallen aus einem Zimmer Schüsse herüber: Ein Patient spielt Ballerspiele auf dem Notebook (die Patienten dürfen ihre Handys und Laptops auf die Station mitbringen). 

     

    „Weil ich bescheuert bin“ 

    „Strenges Regime, aber schwach“, sagt die Krankenschwester über den 55-jährigen Wladimir. Ausgeblichenes T-Shirt, strahlend blaue Augen, die nicht zu seinem abgestumpften, verlorenen Blick passen. Wladimir warnt mich vor, er sei nach einem Knalltrauma auf dem linken Ohr taub. 

    Vor dem Krieg war Wladimir Lastwagenfahrer im russischen Fernen Osten. Für eine mehrtägige Fahrt nach Jakutien bekam er um die 220.000 Rubel [umgerechnet ca. 2.080 Euro – dek]. Den Vertrag bei der Armee unterschrieb er 2023, nach eigener Aussage aus patriotischen Beweggründen. Im Krieg – wojnuschka, wie er verniedlichend sagt – war er Minenräumer. Wie eine Mine funktioniert, habe er bei YouTube gelernt: „Ich habe einfach nach ‚Minen entschärfen‘ gesucht.“ Im Trainingslager habe man ihnen lediglich Poster mit verschiedenen Granatenmarken gezeigt, bevor sie an die Front geschickt wurden. 

    In der Oblast Saporishshja, wo er im Einsatz war, hätten ihnen die Kommandeure verboten, mit Einheimischen zu sprechen. 

    „Ich habe am Anfang auch gedacht, dass da lauter Banderowzy sind. Dann hab ich welche näher kennengelernt – die sind genau wie wir, keine Banderowzy! Wir haben eine Weile ein Haus von den Leuten da gemietet. Na ja, was heißt gemietet, wir haben da einfach gewohnt. Der Nachbar hat uns Eier für 50 Rubel [ca. 50 Cent – dek] das Stück verkauft, brachte Grünzeug aus seinem Garten.“ 

    Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg.

    Wladimir erinnert sich, wie sie gleich in den ersten Tagen im freien Feld abgesetzt wurden. Die Kommandeure hätten ihnen befohlen, Erdbunker zu bauen, und sie einfach zurückgelassen. 

    „Wir hatten nicht einmal Spaten. Wir waren 20 Mann, jeder gab 5.000 [Rubel, ca. 50 Euro – dek] dazu, dann sind wir los, kauften einen Generator, eine Kettensäge, Schaufeln und fingen an zu graben.“ 

    Auf die Drohnen, erinnert sich Wladimir, zielten sie mit Maschinengewehren: „Drohnenabwehr hatten wir nicht, die kostet eine halbe Mille.“ Dann landete Wladimir in einem „Säufertrupp“. 

    „Sie soffen, ließen ihre Gewehre überall liegen, und ich sammelte sie ein und räumte sie auf. Die Magazine sind schwer, wenn du sie in die Taschen steckst, zieht es dir fast die Hosen aus. Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg. Einmal habe ich im Verteilungspunkt was getrunken, und plötzlich – Luftalarm. Ich steh da und merke, dass ich in diesem Zustand zu nichts in der Lage bin. Wer säuft, den knallen sie gleich ab. Seitdem lass ich die Finger davon.“ 

    Wladimir meint, dass der Krieg noch lange gehen wird: „Putin will sich so viel Land wie möglich abzwacken.“ Dass er den Vertrag unterschrieben hat, bereut er.  

    „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit Mäusen unter der Erde leben würde, wäre ich nie in den Krieg gezogen. Ich wusste überhaupt nicht, wie das wird. Ich wusste nicht einmal, was sie mir zahlen.“ 

    „Warum sind Sie dann hin?“ 

    „Weil ich bescheuert bin.“ 

     

    Ruslan reist ab 

    Am nächsten Tag treffe ich im Flur Ruslan. Er hat eine Sonnenbrille auf. 

    „Wie sehe ich aus?“ 

    Ruslan wird heute entlassen. Er will zurück in seine Einheit und fragt mich, ob ich ihn zur Bushaltestelle begleite. Ich lehne ab. 

    Eine halbe Stunde später fragt er mich: 

    „Gibt es heute Flüge nach Mineralnyje Wody?“ 

    Ich schaue nach: Die Tickets kosten 30.000 Rubel [ca. 280 Euro – dek]. Ruslan seufzt. 

    „Kommen Sie mit?“ 

    Ich erzähle der Krankenschwester davon. Sie ist vehement dagegen:  

    „Auf gar keinen Fall! Er hat die Behandlung verweigert. Keiner weiß, in welchem Zustand er ist!“ 

    Als ich aus der Station komme, sitzt Ruslan auf einem Sitzpolster und raucht. Er erinnert sich nicht mehr an sein Angebot und verabschiedet sich ruhig. Ich sehe ihn nie wieder. 

     

    „Lieber in den Knast“ 

    Nur wenige Patienten der Psychiatrie wollen mit einem Priester sprechen, auch wenn es ihnen die Ehrenamtlichen regelmäßig anbieten. „Nach den Tabletten, die sie uns geben, prallt alles Heilige ab“, winkt einer der Männer ab, bittet aber dennoch um eine kleine Ikone des Heiligen Nikolaus von Myra. Ein anderer lacht: „Bei uns hier leben Dämonen.“ 

    Andrej dagegen – er stammt aus einer Kleinstadt im Ural – ist erst nach einem Gespräch mit einem Priester in den Krieg gezogen. Bevor er den Vertrag unterzeichnete, ging er in die Kirche, um Rat zu suchen: Soll er an die Front oder nicht? Der Priester sagte, man müsse „für seine Sache einstehen“ und das sei „eine gute Sache“. So reden viele Geistliche, meint Andrej. Wenn der Pater damals gesagt hätte, dass kämpfen nicht gut ist, hätte er Zweifel bekommen. Jetzt trägt Andrej die gestreifte Krankenhauskleidung, geht mit Krücken und hört Stimmen ukrainischer Spione, die „auf den Bäumen sitzen“. 

    In den Krankenakten, die wir Ehrenamtlichen manchmal von anderen Stationen holen sollen, stehen die militärische Spezialisierung und die Diagnose der Patienten: Granatenschütze, paranoide Schizophrenie; Sanitäter, psychopathische Schizophrenie. Heute begleite ich den 27-jährigen Pascha aus Kyjiw zum Urologen, er ist einer der „Strengen“. In seiner Akte steht: Posttraumatische Belastungsstörung. 

    „Ich bin Fernmelder, hab ich mir selbst beigebracht. Ich habe mich im Bataillon bis zum Chef des Fernmeldetrupps hochgedient. Mit 18 bin ich in die Donezker Volksrepublik (DNR) gezogen, um gegen Nazis zu kämpfen.“ 

    Paschas Verwandte leben in Kyjiw. „Meine Mutter und mein Stiefvater sind auf unserer Seite, die anderen für die ukropy. Mein Vater war früher bei der [ukrainischen] Staatssicherheit, wir reden nicht mehr miteinander. Er sagt: ‚Geh und verteidige deinen Putin.‘ Obwohl ich Putin doch gar nicht so toll finde. Ich kämpf natürlich nicht für ihn. Er hat so viel Leute auf dem Gewissen.“ 

    Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. 

    Ein Mann wird im Rollstuhl hereingeschoben. Ihm wurde vor kurzem ein Bein amputiert. Die Pflegerinnen diskutieren, wie sie ihn zum Ultraschall bringen sollen: „Sie haben ihm schon die Narkose gegeben, gleich ist er weg.“ Irgendwie wuchten sie ihn aufs Krankenbett. Der mit Mull verbundene Stumpf hängt in der Luft. 

    „Da wurde nichts genäht, einfach nur abgesägt“, erklärt der junge Mann. Mit einem Stöhnen legt er den Stumpf aufs Kissen: „Au, au, au, Scheiße, verdammt.“ 

    Pascha sitzt mit seinem Handy da, er scrollt durch TikTok. Nachrichten überspringt er: „Uninteressant.“ 2019 hatte er seinen Armeevertrag gekündigt, doch am 22. Februar 2022 lebte er in der DNR und wurde mobilisiert. „Vom Verteidigungsministerium gab es null Unterstützung. Meinen ganzen Lohn hab ich in diesen Scheißdienst gesteckt. Die Kommandeure hat das nicht interessiert“, erzählt Pascha. 

    Im Krieg bekam er Panikattacken: hatte ständig Angst, konnte kaum noch schlafen. Er erklärt sich seinen Zustand durch den Stress und „die permanente Erniedrigung durch Vorgesetzte“: 

    „Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. Seit drei Monaten schlucke ich Tabletten, die helfen kein bisschen. Ich liege richtig flach, voll depri. Ich kann mich kaum unterhalten, als ob mir das Hirn stehenbleibt, der Kopf schaltet sich ab. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich komm mir vor wie ein Idiot. Manchmal würd ich am liebsten Tabletten fressen, damit’s ein Ende hat.“ 

    Paschas Frau lebt mit den beiden Kindern in Zentralrussland, in einer kreditfinanzierten Wohnung. Sie wünscht sich, dass Pascha entlassen wird. Er sagt, dass sei „nicht realistisch“: 

    „Entweder in den Knast oder wieder in den Krieg. Sollen sie mich doch einbuchten! Fünf Jahre, aber dafür überleb ich. Und wenn’s zehn sind, häng ich mich auf und aus. Da gibt’s keinen Ausweg außer Selbstmord. Ich habe versucht, diese Gedanken zu vertreiben, habe immer sofort ‘ne Tablette genommen, um mich zu beruhigen. Manchmal hab ich Aggressionen, das ist erst recht beschissen. Dann hab ich nur ein Ziel – töten. Und manchmal, da bin ich gut drauf, aber dann hab ich auf einmal Leichen vor Augen.“ 

    Pascha und ich kommen vom Urologen auf die Psychiatrie zurück. Alte, hohe Linden, Halbschatten. 

    „Hier lebt ein Eichhörnchen in den Baumkronen. Haben Sie’s gesehen?“, sage ich. 

    Zum ersten Mal seit anderthalb Stunden lächelt Pascha. Ich zeige ihm ein Foto, er betrachtet es lange, gerührt. Als wir ins Krankenhaus hineingehen, erlischt Paschas Gesicht wieder. 

     

    Witja will zu Mama 

    Am Morgen regnet es, die Raucher drängen sich unter dem Vordach zu einer dichten Traube. Ich gehe mit dem 33-jährigen Witja zum Augenarzt. Vorsichtig stellt er in Gummilatschen einen Fuß vor den anderen. Er hatte eine Kontusion, jetzt fühlen sich seine Beine steif an. Die Zähne sind schlecht, er redet undeutlich. 

    Witja ist vor einem halben Jahr freiwillig in den Krieg gezogen. Aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Er sagt, er hatte dort ein gutes Leben. 2023 kamen zu Halloween verkleidete Kinder, und Witja gab ihnen Süßes. 

    Seine Arbeit in der Holzfabrik brachte ihm 60.000 Rubel im Monat ein. Nicht genug, um einen Kredit über 40.000 für die Sanierung des Hauses abzubezahlen. Also unterschrieb er den Vertrag beim Militär. Witjas Mutter ist bettlägerig. Als ihr Sohn in den Krieg zog, „bekam sie Löcher, die Haut löste sich auf.“ Keiner kümmert sich um sie, sagt Witja. Er bereut seine Entscheidung, will zurück zu seiner Mutter. 

    Ein Dutzend Wartende beim Augenarzt. Unter ihnen eine grauhaarige, hagere Dame von vielleicht 75 im Rollstuhl. Der Arzt kommt aus seinem Zimmer: 

    Spezialoperation, wer ist der Nächste?“ 

    „Und wann bin ich dran? Ich hab nicht mal gefrühstückt und warte immer noch“, sagt die Dame. 

    „Sie müssen warten. Wer war noch bei der Spezialoperation, kommen Sie!“ 

    Ein Mann mit Basecap und Unterhemd rollt in das Behandlungszimmer. Ihm fehlt der rechte Arm und das linke Bein. Als Nächster kommt Witja dran, der ein Bein nachzieht. 

     

    Über Leichen gehen 

    Kamil studierte in einer Regionalhauptstadt Tiermedizin. Ihm fehlte noch ein Jahr zum Abschluss. Im Sommer 2022 unterschrieb er bei der Armee. Seine Eltern waren dagegen. Die jüngeren Schwestern schenkten ihm zum Abschied Anhänger: ein Blümchen und ein Legomännchen. Er trägt sie als Armband. Kamil ist mit 26 der Älteste von fünf Geschwistern. 

    Kamil hat ein feines Gesicht, lange Wimpern. Zuerst sagt er, er sei in den Krieg gegangen um „zu helfen“. Dann meint er: Wenn er gutbezahlte Arbeit als Übersetzer gefunden hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Er erzählt, dass er einige Jahre in Syrien, der Heimat seines Vaters, gelebt hat und gut arabisch spricht. Kamil hat paranoide Schizophrenie. 

    „Wäre nicht das Geld, wäre ich nicht gegangen. Aber wenn man ein paar Tausender dafür kriegt, dass man einer Oma über die Straße hilft – na klar“, lacht Kamil. Einen Teil des „Kriegsgeldes“ hat er im Fronturlaub verprasst, den Rest gab er seinen Eltern. 

    Kampferfahrung hatte Kamil keine, er hatte lediglich in Russland seinen Grundwehrdienst geleistet. Er sollte einen Zug kommandieren, eine eigene Untereinheit der Kompanie. Kamil hatte keine Ahnung, was das bedeutet, willigte aber ein. 

    Im November 2023 geriet er unter Beschuss und wurde durch Splitter schwer verletzt. Laufen und springen kann er nicht mehr, den Zeigefinger kann er nicht mehr bewegen. Vor kurzem rief ihn ein Kamerad von der Front an. Er sagte, er beneide alle, die Beine oder Arme verloren haben, denn die müssen nicht mehr kämpfen. 

    Kamil erzählt, dass er um neun Uhr morgens verwundet wurde. Den ganzen Tag lag er mit einem Maschinengewehrschützen in einem Nadelwald, sie schossen zurück auf die Ukrainer in 500 Metern Entfernung. Er erinnert sich, wie er „Lieder sang, Zigaretten rauchte“ und sah, wie „die Kugeln die Äste abknickten“. Neben seinen Kopf hatte er eine Granate gelegt. 

    „Ich dachte nicht, dass ich da lebend rauskomme.“ 

    Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht.

    Am Abend liefen die Männer übers Feld. Es kam ein „Vögelchen“ [eine Drohne – dek] geflogen und warf eine Granate ab. Der MG-Schütze wurde verwundet. Kamil gab ihm einen Klaps auf den Helm: Lauf weg! Als er allein war, gingen ihm Gebete durch den Kopf. Er schleppte sich zu seinen Leuten und wurde nach Rostow am Don gebracht. Ab da verloren ihn alle aus den Augen. Am dritten Tag rief ein Freund Kamils Eltern an: „Ihr Sohn ist gefallen.“ Die Mutter fiel im Supermarkt in Ohnmacht, der Vater schlachtete drei Hammel, als Qurban [arab. Opfergabe – dek] für den Verstorbenen. Zwei Tage später rief Kamil zu Hause an: „Ich bin noch am Leben.“ 

    „Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht. Einmal haben wir eine Stellung bezogen, und dort gehen die Gräben nur bis zur Hüfte und sind sehr klein. Was für eine Scheiße, warum haben die nicht weiter gegraben? Da sagt einer: Schau nach unten! Da sehen wir, dass wir über Leichen gehen. So viele, dass sie sich schon mit der Erde vermischt haben. Keiner hat sie geborgen. Die Leichen waren Russen.“ 

    Nach einem Moment des Schweigens fährt Kamil fort: „Ich habe in dem Krieg niemanden getötet.“ Auf die Frage, ob das für ihn wichtig sei, zuckt er mit den Schultern. Es sei schrecklich gewesen, als von den Vorgesetzten der Befehl kam: „Macht eure Leute zu 200ern“.  

    Kamil zufolge kam das so: Zwei aus der Kompanie hatten sich betrunken und ballerten herum. Die Kommandeure verprügelten die beiden einen ganzen Tag lang, bis ihre Gesichter ganz blau waren. Dann übergaben sie sie an Kamil, „ohne Schutzwesten, ohne Waffe, ohne alles.“ „Macht sie fertig“, hieß es, berichtet Kamil. 

    Ihm taten die Jungs leid; er besorgte ihnen irgendwie eine Uniform und schickte sie mit irgendeiner Aufgabe los. Einer fiel, einer überlebte. 

    Kamil möchte am liebsten nach Hause und sein Veterinärstudium abschließen. 

     

    „Das war’s Leute, ich bin raus.“ 

    Drei Krankenschwestern sitzen beim Tee und beschreiben ihre Arbeit. Die Mutter eines Patienten hat selbstgebackenen Kirschkuchen mitgebracht. 

    „Hier liegen solche Typen, schrecklich. Im Krankenhaus kann man auch alles kaufen: Drogen, Wodka, Nutten … Und so viele Löcher im Zaun! Wenn einer weglaufen will, kann man das nicht verhindern. Du gibst der Wache 500 Rubel, gehst raus, gibst dir die Kante und kommst zurück. Drogen- und Alkoholabhängige werden von der Gesundheitskommission als Kategorie D [untauglich – dek] eingestuft. Einige kehren nach dem Krankenhaus zum Stützpunkt zurück: Sie helfen den Sanitätern, hacken Holz … Waffen bekommen sie nicht mehr in die Hand. Die anderen kriegen Kategorie C [eingeschränkt tauglich – dek] – und zurück geht’s. Die sitzen hier sieben, acht Monate [suchen Vorwände, um nicht wieder in den Krieg zu müssen]: Der Popo juckt, ein Pickel auf der Nase … Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht. Die drehen ab, weil sie sich irgendeinen Chemiescheiß reinziehen, oder wenn sie vorher schon schizo waren. Gibt’s irgendeinen Stress, macht’s sofort klick.“ 

    Die Krankenschwestern erinnern sich aufgeregt, wie im Winter ein 20-jähriger Patient abhaute, ein Mobilisierter. 

    „Er ging vor die Tür eine rauchen und sagte: ‚Das war’s Leute, ich bin raus.‘ Und ist einfach übers Eis verduftet.“ 

    „Genau, in Sneakers durch den Zaun. Er hatte ein Taxi bestellt, das stand schon bereit." 

    Die Krankenschwestern sagen, der junge Mann sei nach Hause gefahren, dort dann „voll auf Drogen abgestürzt“ und habe sich nach drei Monaten im Schuppen erhängt. Seine Mutter kam danach ins Krankenhaus und holte seine Sachen und den Pass ab. 

    Die Krankenschwestern verstummen, kauen ihren Kuchen. Eine stellt ihre Tasse zur Seite und schaut mir fest in die Augen: „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg.“ 

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  • „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    Im Mai 2024 brach Pavel Kritchko Richtung Osten auf. Der belarussische Fotograf hatte wegen der Repressionen seine Heimat verlassen und war in Deutschland gelandet. Er fuhr nach Podlachien, eine Region im östlichen Polen, wo eine belarussische Minderheit beheimatet ist. „Während der gesamten Expedition hatte ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren”, sagt Kritchko, „und die gleichen Erfahrungen zu machen, die ich als Kind gemacht habe.” 

    So entstand das Fotoprojekt Podlachien, das sich um die Suche nach Identität dreht. Wir haben mit dem Fotografen gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Eine alte Eisenbahnbrücke an der polnisch-belarussischen Grenze, nahe dem Grenzübergang Bobrowniki, der im Februar 2023 von den polnischen Behörden geschlossen wurde, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Schriftzug МИР (dt. Frieden oder Welt) befindet sich auf belarussischer Seite. Ende Mai 2024 präsentierten die polnischen Behörden einen Plan zur Errichtung von Grenzbefestigungen entlang der gesamten Grenzlinie zu Belarus und Russland. Die Kosten betragen voraussichtlich 2,5 Milliarden Euro.” 

     

    dekoder: Nicht alle unserer Leser haben von der Region Podlachien gehört – erzählen Sie uns ein wenig darüber. Was ist das für eine Region und was ist so besonders an ihr? 

    Pavel Kritchko: Podlachien (poln. Podlasie, belaruss. Padljaschscha) ist eine Region im Osten Polens an der Grenze zu Belarus, wo 56.000 polnische Staatsbürger leben, die im Zensus 2021 angaben, Belarussen zu sein. In der Region gibt es einige belarussische Schulen, an denen belarussische Sprache und Literatur auf dem Lehrplan stehen. Meinem Gefühl nach sind es hauptsächlich das orthodoxe Christentum und die mit kirchlichen Festtagen verbundenen volkstümlichen Bräuche, die die belarussische Gemeinschaft Podlachiens verbinden. Vor allem die ältere Generation beherrscht noch frei die podlachischen Dialekte, während die Jugend sie zwar versteht, aber nicht mehr aktiv nutzt. Jahrzehntelang galten diese Dialekte als Dorfsprache mit geringem Prestige, in letzter Zeit ist das Interesse an ihnen wieder gestiegen, da Aktivisten, Musiker und Schauspieler sie wieder unters Volk bringen. 

    Die Bewohner der grenznahen Wojewodschaft Podlachien waren im 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden nationalen und religiösen Konflikte einschneidenden Migrationszwängen ausgesetzt. Heute symbolisiert diese Region die Grenze zwischen den Belarussen, die ab 2020 ihr Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind, aber auch zwischen dem Westen (EU) und dem Osten (Belarus, Russland, China). Die angespannte Situation spitzte sich durch den Bau eines Grenzzauns zu, die Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika davon abhalten soll, durch Belarus in die EU zu gelangen, aber auch potentielle militärische Konflikte mit Russland verhindern soll.  

    Wie ist Ihr Fotoprojekt zu Podlachien entstanden? 

    Im März 2024 wurde ich in die Internationale Klasse für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover aufgenommen, wo ich mit großem zeitlichem Aufwand ein Archiv der Jahre 2020 bis 2023 anlegte: Ein Teil besteht aus Fotos von den Protesten, der andere aus Geschichten aus dem Exil. Das war ein sehr eigentümliches Großprojekt über parallele Realitäten: Belarus, wie ich es 2020 gesehen hatte, und die Belarussen, die – wie ich – im Ausland gestrandet waren. Je länger ich im Exil bin, desto schwächer wird meine Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu den Menschen und Orten. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Podlachien sich genau zwischen diesen beiden Realitäten befindet und dort viele ethnische Belarussen leben, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Veränderungen, die die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, ihre Identität zu bewahren wussten. Ich dachte, diese Region könnte ein Bindeglied für mein Großprojekt sein, deshalb fuhr ich im Mai 2024 hin, um sie näher kennenzulernen.  

    Das Projekt als eine Art Spiegelbild ihrer eigenen Suche? 

    Als ich im Frühjahr 2024 durch Podlachien reiste, war ich fasziniert davon, dass ein Teil der ethnischen Belarussen dieser Gegend, oder einfach die Bewohner Podlachiens, sich jahrelang die Identitätsfrage gestellt und eine Antwort darin gefunden hatten, dass sie sich als Einheimische und ihre Dialekte als ihre bezeichneten.  

    Genau darum geht es in meinem Projekt – um das Finden und Bewahren der eigenen Identität. Darüber hinaus ist es auch ein sehr persönliches Thema. Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise, auf der ich meine Erfahrungen in verschiedenen Phasen meines Lebens nachempfinde: die Reise mit meinem Vater in sein Dorf vor 30 Jahren, oder das Belarussische Fest in Białystok, das mich irgendwie an Maladsetschna erinnerte, und viele andere Assoziationen.  

    Wie genau haben die Podlachen die Ereignisse in Belarus seit 2020 verfolgt? 

    Schwer zu sagen, weil ich 2020 in Belarus war und nicht gesehen habe, wie man in Podlachien auf die Ereignisse reagierte. Ende 2021 war ich einen Monat lang in Białystok und konnte dort die belarussische Diaspora beobachten, die sich im Exil wiederfand und die das Jahr 2020 zusammengeschweißt hatte. Diese Welle von Menschen, die ab 2020 nach Polen kamen, brachte neue Ideen, frischen Schwung und Energie, sie motivierten die schon früher emigrierten Belarussen, die den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung helfen wollten und konnten. 

    Ein Beispiel für die Anteilnahme an 2020 ist das Tattoo einer Belarussischlehrerin, die noch nie in Belarus war. Das Tattoo zeigt das Symbol der vereinten Opposition im Wahlkampf 2020. Ebenso kann man die Kundgebungen der lokalen Bevölkerung (sowohl polnischer Belarussen als auch einfach Polen aus Podlachien) zur Unterstützung des Wandels in Belarus erwähnen. Viele Podlachen haben Verbindungen nach Belarus: Manche haben dort Verwandte, manche haben dort gearbeitet, manche sind einfach hingefahren, um billige Zigaretten zu kaufen und zu tanken, manche hatten ein Geschäft für Belarussen, die nach Polen kamen. All das wurde von den Ereignissen 2020 indirekt beeinflusst.  

    Wie ist das Verhältnis zwischen den Podlachen und den Belarussen, die neu dazugekommen sind? 

    In Podlachien leben auch viele Belarussen, die Belarus aus politischen Gründen verlassen mussten. Man kann die Belarussen Podlachiens ins drei Gruppen unterteilen: die ethnische Minderheit (Belarussen, die in Polen geboren wurden, einen polnischen Pass haben, sich aber als Belarussen identifizieren), Belarussen, die vor 2020 emigriert sind, und diejenigen, die seit 2020 das Land verließen, um den Repressionen in Belarus oder dem Krieg in der Ukraine zu entgehen.  

    Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen drei Gruppen konnte ich nicht abschließend klären. Mein Eindruck war, und das erzählte man mir auch, dass die erste Gruppe in einer anderen Realität lebt als die zweite und dritte Gruppe, sie haben unterschiedliche Interessen: Die Einen kämpfen für den Erhalt der belarussischen Schulen in der Region und für die Kultur, die Anderen müssen zunächst ihren Alltag regeln und sich ein Leben im erzwungenen Exil aufbauen.  

    Wann haben Sie selbst Belarus verlassen? 

    Im August 2021, um an einem Residenzprogramm für Fotografen in Warschau teilzunehmen, organisiert vom Kollektiv Sputnik Photo. Ich hatte ein Ticket für die Rückfahrt, aber angesichts der Umstände ließ ich es verfallen: zuerst die Gerichtsverhandlungen gegen Maria Kalesnikawa und Maxim Snak und die Urteile, dann die Selzer-Prozesse und die Verhaftung des Journalisten (Henadz – dek) Maschejka von der Komsomolskaja Prawda. Irgendwann war ich endgültig überzeugt, dass man nicht mehr offen sagen kann, was man denkt, Freunde rieten mir, ein wenig abzuwarten und nach Möglichkeit nicht sofort zurückzukehren, und schließlich ließen mich die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze und der Beginn des Krieges in der Ukraine meine Rückkehr endgültig vergessen, solange sich nichts geändert hat.  

    War es schwer, sich an ein neues Leben zu gewöhnen? 

    Es war dann gar nicht so leicht, sich einzuleben. Das Schwierigste ist sich einzugestehen, dass es für lange ist. Es gibt einen Zustand der Ungewissheit. Leuten, die Belarus bewusst verlassen, fällt das Ankommen etwas leichter – weil es ihr Ziel ist, sich ein Leben irgendwo im Ausland aufzubauen. Ich würde nicht sagen, dass ich Heimweh habe, mich nach Dingen oder Orten sehne. Ich habe vielmehr das Gefühl, das irgendwo tief in mir vergraben zu haben und mir zu sagen, dass solche Gedanken mich nur daran hindern würden, auf die neue Umgebung einzulassen.  

    Ich habe zweieinhalb Jahre in Polen gelebt, davon fast anderthalb Jahre nur mit einem polnischen Visum [also ohne Reisemöglichkeit, Anm. dek], nun bin ich nach Hannover gezogen, um hier in die Fotografieszene einzutauchen. BelarusTown in Warschau lasse ich ein wenig hinter mir, weil es meine Integration und Sozialisation in der lokalen Gesellschaft auch ein bisschen behindert hat. Jetzt lebe ich in zwei Ländern – Deutschland und Polen: In dem einen studiere ich, im anderen setze ich meine Arbeit an den Geschichten über Belarus fort, weil es dort mehr Belarussen gibt und einfach deutlich mehr passiert. 

     

    Die Umgebung von Terespol nahe dem polnisch-belarussischen Grenzübergang für PKW und Busse, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Dort wird geparkt, geschraubt und gerastet. Im Moment ist Brest-Terespol der einzige offene Grenzübergang für den Personenverkehr aus Belarus, der dortige Übergang kann jederzeit eingeschränkt oder geschlossen werden. Seit April 2022 besteht seitens der EU ein Einreiseverbot für LKW aus Belarus und Russland, auch für den Transit. Belarus reagierte umgehend und zwingt nun auch Spediteure aus der EU, ihre Fracht an der Landesgrenze zu übergeben.” 

     

    Die LKW-Warteschlange zur Ausreise nach Belarus am Zollterminal Koroszczyn, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Fahrer, der mich aus Krzyczew in Richtung Terespol mitnahm, war ein Pole, der an den LKW-Warteschlangen Geld verdient. Er ist sehr zufrieden, dass gerade alle anderen Grenzübergänge geschlossen sind: ,Je länger sie geschlossen bleiben, desto besser für mich’.” 
    Das Mädchen Aja. Warschau, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Sie ist die Tochter der belarussischen Musikerin Rusia, deren Projekt Shuma traditionelle heidnische Gesänge mit elektronischer Musik verbindet: Ethno- und Ambient-Elemente, schwerer, hypnotischer Techno und abstrakte IDM (Intelligent Dance Music). Rusias Ziel ist es, das belarussische Kulturerbe zu erhalten und weltweit bekannt zu machen.”
    Ein Tattoo auf dem Arm von Alina Wawrzeniuk zeigt das Symbol der vereinten Wahlkampfstäbe der Opposition bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020. Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Alina ist Belarussischlehrerin und Leiterin einer Theatergruppe an der Schule Nr. 4 in Białystok. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Journalisten Mikołaj Wawrzeniuk, lebt sie im Dorf Gredele in Podlachien. Beide sind in Polen geboren und identifizieren sich als Belarussen ,Ich habe nie in Belarus gelebt, aber das hindert mich nicht daran, mich als Belarusse zu fühlen’, sagt Mikołaj.”
    Kinder proben ein Schauspiel über Belarus in der Theatergruppe der Belarussischlehrerin Alina Wawrzeniuk an der Schule Nr. 4 in Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko  
    „Alle Kinder sind außerhalb von Belarus geboren, lernen aber Belarussisch in der Schule, in den meisten Fällen, weil ihre Eltern sich als Belarussen in Polen identifizieren. Ich fragte die Kinder, warum sie in Polen Belarussisch lernen, bekam aber nur Antworten, die eine gewisse Gewohnheit erkennen ließen: Sie gingen in den Kindergarten, wo sie Belarussisch lernten, was sie in der Schule fortsetzten, und selbst nach dem Schulabschluss seien sie weiter in der Theatergruppe aktiv.” 
    Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Hajnówka. Heute beherbergt es das Kulturzentrum Stacja Kultury, wo regelmäßig Theaterfestivals, Künstlerresidenzen und andere Kulturveranstaltungen stattfinden, 10.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In der Stadt gibt es nur wenige Orte, an denen junge Leute ihre Freizeit verbringen können. Ich sprach mit einer Gruppe Teenager darüber, wie sie die Situation der belarussischen Sprache einschätzen, wie Jugendliche ihre Zeit in Hajnówka verbringen und ob sie später weggehen wollen. Andrej, ein 17-jähriger ukrainischer Geflüchteter, unterhielt sich mit mir. Ich sprach belarussisch und polnisch, er verstand alles und antwortete auf Polnisch. Er lebt seit fast zwei Jahren mit seinen Eltern in Polen, zwei seiner Brüder sind an der Front, auch er denkt darüber nach, in die Ukraine zurückzukehren, wenn er 18 wird, um im Krieg zu kämpfen.” 
    Der Imker Marian in der Nähe des Dorfes Krzyczew, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Marian sammelt Honig an der polnisch-belarussischen Grenze. Vor seiner Pensionierung arbeitete er in Brest (Belarus) im Eisenbahndepot und war für die Umspurung der Züge verantwortlich, die die Grenze überquerten. Die Spurweite der Eisenbahngleise in Belarus und Polen unterscheidet sich.” 
    Bewohner des polnischen Dorfes Ciełuszki kehren mit ihrem sowjetischen Wladimirez-Traktor vom Feld zurück, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Das Dorf interessierte mich auch deshalb, weil mein Vater in einem Dorf namens Zeluscha im Gebiet Mahiljou geboren wurde, die Ortsnamen ähneln sich sehr. Ich erinnere mich nicht gut an meine Großeltern väterlicherseits, denn sie starben, als ich noch klein war. Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, wie aktiv sie Landwirtschaft betrieben, welche Tiere sie seinerzeit hatten: Hühner, Schafe, Schweine, Kühe und natürlich einen Gemüsegarten. Der Großvater war seit dem Zweiten Weltkrieg Invalide, er hatte nur ein Bein und ging an Krücken.” 
    In der Nähe des Dorfes Krzyczew, wo der Bug die polnisch-belarussische Grenze bildet, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Ich lief fast zehn Kilometer, um an diesen Ort zu gelangen, wo man ohne Mauer nach Belarus schauen kann. Unterwegs wurde ich dreimal von Fahrzeugen des Grenzschutzes gestoppt. Meine Dokumente wurden kontrolliert, ich wurde befragt, was ich hier mache, warum ich fotografiere, und sie notierten meine Mobilnummer, wahrscheinlich, um später meinen Aufenthaltsort tracken zu können.” 
    Schaufenster in Białystok, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Mich interessierte die Analogie der Hautfarbe der Schaufensterpuppen mit der Situation an der Grenze, wo Belarussen und Ukrainer, die illegal die Grenze überqueren, einfach Schutz und Asyl in Polen erhalten sollen, während Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft, Religion in der Regel beim Versuch, ins Land zu kommen und um Asyl zu bitten, nach Belarus zurückgeschoben werden. Einige dieser Migranten tragen extra Kreuze bei sich und erklären, dass sie ebenfalls Christen sind, in der Hoffnung auf eine andere Haltung der Grenzsoldaten.” 
    Im Hof eines agrotouristischen Anwesens im Dorf Puchły, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Meine erste Nacht in Podlachien verbrachte ich im Dorf Puchły, wo ich ein Zimmer auf einem Bauernhof gebucht hatte. Ich hatte lange gezögert, da die Anreise ohne Auto kompliziert ist. Letztlich bereute ich die Entscheidung nicht: Nachdem ich angekommen war, lernte ich die Wirtin Maria kennen, mit der ich mich gut verstand und über das Leben, die Welt, mich selbst und die Umstände sprechen konnte. Maria lud mich zum Osterfrühstück mit der Familie ein, denn es sei nicht gut, an diesem Feiertag allein zu sein, ich solle mich wie zuhause fühlen und Teil ihrer Familie sein. Das Frühstück erinnerte mich sehr an die Tradition in meiner Familie, zu Ostern zusammenzukommen.”
    Ausfahrt des Urlaubs-Bauernhofes im Dorf Puchły, unterwegs zum Ostergottesdienst in der orthodoxen Kirche in der Nacht des 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es ist etwa 23:15 Uhr und sehr dunkel. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Ab und an ist ein Geräusch zu hören und in der Ferne Licht zu sehen von den Autos, die ebenfalls auf dem Weg zur Kirche sind. Die Kirche verbinde ich mit meiner Großmutter (mütterlicherseits). Wir lebten alle zusammen in einer Wohnung in Minsk, und ich weiß noch, wie meine Oma fast jeden Morgen im gemeinsamen Wohnzimmer eine Kerze anzündete und betete. Ich konnte sie von meinem Zimmer aus durch den Vorhang an der Tür sehen. Im Winter, wenn es morgens noch besonders dunkel war, konnte ich das Flackern der Kerze sehen, das Flüstern der Großmutter hören und das heiße Kerzenwachs riechen.” 
    Ein Junge am orthodoxen Osterfest in der Kirche im Dorf Puchły, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Der Junge erinnert mich an mich selbst, denn ich war etwa in seinem Alter, als ich im Heimatdorf meines Vaters, Zeluscha in Belarus, orthodox getauft wurde. Ich erinnere mich nur undeutlich daran, da ich noch sehr klein war und mir während der Zeremonie heißes Kerzenwachs die Hand verbrannte. Ich glaube, meine Kirchgänge zu Gottesdiensten, Beichten und Kommunionen kann man an zwei Händen abzählen, alle fanden auf Bitten meiner Mutter statt. Sie wollte, dass ich die Tradition und den Glauben bewahre, die ihre Mutter (meine Großmutter) ihr beigebracht hatte. Ich verstand die Bedeutung dessen nicht ganz und beobachtete einfach alle notwendigen Gebräuche.”
    Osterprozession um die Kirche im Dorf Puchły, Polen, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es gehört zu den Ostertraditionen, Ikonen und andere Gegenstände aus der Kirche zu tragen und damit dreimal um die Kirche zu gehen.” 
    Der Text des Liedes Oreszki (dt. Nüsse). Er ist in lateinischer Schrift geschrieben, die Sprache aber eigentlich ein lokaler Dialekt – eine Mischung aus Belarussisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch. / Foto © Pavel Kritchko 
    Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze unweit des Dorfes Usnarz Górny, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
    Eliasz Fionik und Agata auf dem Weg in ihr Musikstudio in Bielsk Podlaski, 07.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Doroteusz Fionik hat zwei Söhne, Eliasz und Maksym. Maksym unterstützt den Vater stärker bei der Erhaltung der Kulturtradition, er ist Mitglied im traditionellen Liederensemble Żemerwa. Eliasz hingegen scheint all das etwas ferner zu liegen, vielleicht, weil er der Jüngste ist. Er findet, dass ein Akkordeon allein und alte Methoden nicht ausreichen, um die traditionelle Kultur zu fördern. Ihn interessiert eher, wie man die traditionelle Kultur durch moderne Musik zugänglicher machen kann. Deshalb verfolgt er sein eigenes Projekt, komponiert Musik und schreibt Songtexte im lokalen podlachischen Dialekt.” 
    Ein Storch im polnischen Dorf Trześcianka, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In den belarussischen Legenden ist der Storch (belarus. busel) ein heiliger Vogel, Verbindung zwischen Himmel und Erde, Herr und Beschützer der Ernte, des Himmelsfeuers und anderer himmlischer Elemente. Für viele Belarussen ist der Storch auch etwas Besonderes, das an Zuhause, an die Heimat erinnert. Der Storch wurde in Belarus zum Symbol der nationalen Reinheit und Wiedergeburt. Man glaubt, dass der Storch Erfolg bringt, wenn er sein Nest neben deinem Haus baut, weshalb die Menschen in den Dörfern Plattformen auf den Strommasten anbringen, damit die Störche leichter ihre Nester bauen können.” 

    Fotografie: Pavel Kritchko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 21.11.2024

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nicole Tung

    Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird bei Kurachowe in ein Frontlazarett eingeliefert / Foto © Nicole Tung 

    dekoder: Die Verteidiger der Ukraine sind im Osten des Landes seit Wochen stark unter Druck. Sie waren Ende September im Frontgebiet zwischen Pokrowsk und Kurachowe. Was haben Sie da erlebt? 

    Nicole Tung: Das Feldlazarett in Kurachowe, in dem ich dieses Foto aufgenommen habe, versorgte einen 90 Kilometer langen Frontabschnitt. Das ist ein riesiges Gebiet. Als der verwundete Soldat auf einer Trage eingeliefert wurde, wand er sich vor Schmerzen. Die Sanitäter hatten ihm diese Plastikspritze zwischen die Zähne gesteckt, damit er da draufbeißen konnte. Unter anderen Umständen hätte die Wunde an seinem linken Bein gut behandelt werden können. Aber das Bein war oberhalb des Knies mit einem Tourniquet abgebunden, um die Blutung zu stillen. Wegen des starken Beschusses konnten die Sanitäter ihn nicht gleich aus der Gefechtszone rausholen. Also lag er einen halben Tag da. Als sie ihn eingeliefert haben war das Bein schon lila. Er flehte immer wieder: „Bitte rettet mein Bein!“.  

    Welchen Eindruck haben sie insgesamt von der Situation an der Front? 

    Die Lage ist sehr ernst. Die Ukrainer verlieren stetig an Boden. Als ich den Versorgungspunkt zum ersten Mal besuchte, befand er sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes in Kurachowe. Beim nächsten Besuch war er in den ersten Stock verlegt worden, weil bereits Gleitbomben in die Stadt flogen. Als ich dieses Foto aufnahm, war die Front nur noch zehn Kilometer oder weniger entfernt. Erkundungsdrohnen kreisten über der Stadt und wir konnten hören, wie die Ukrainer Mörser abfeuerten. Zwei Wochen später musste das Lazarett in einen anderen Ort verlegt werden, weiter weg von der Front.

    Es gab unterschiedliche Phasen in diesem Krieg: Auf den ersten Schock nach dem Überfall folgte eine Euphorie, als die Russen zurückgeschlagen werden konnten. Wie ist die Stimmung in der Truppe zur Zeit? 

    Ich glaube, sie sind ziemlich verzweifelt, weil kein baldiges Ende des Krieges absehbar ist. Die Ukrainer sind sehr innovativ, zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen. Aber sie können einfach nicht dieselben Ressourcen mobilisieren, wie Russland sie in die Schlacht wirft. Der Staat bemüht sich verstärkt darum, mehr Männer einzuziehen. Aber sie haben momentan einfach nicht genug Leute. Und wenn die Russen rasch vorrücken, wirkt sich das auch auf die Moral der ukrainischen Soldaten aus. Selbst wenn es in nächster Zeit Verhandlungen geben sollte, könnte das bedeuten, dass so viele Kämpfer vielleicht vergeblich gestorben sind und Russland dennoch große Territorien einnimmt. Eine verbreitete Klage lautet: „Unsere Unterstützer geben uns gerade genug Waffen, damit wir nicht verlieren. Aber nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen.“ 

    Zu Beginn des Krieges hatten sich viele Männer und auch Frauen freiwillig gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Jetzt werden Männer auch gegen ihren Willen eingezogen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus? 

    Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Wehrpflichtige heute nur einen oder anderthalb Monate lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz müssen. Einige werden Truppenteilen zugewiesen, die russische Stellungen stürmen müssen, das sind die gefährlichsten Einsätze. Ich war in letzter Zeit bei vielen Beerdigungen von Einberufenen. Die waren oft zwischen 40 und 50 Jahre alt, als sie nach vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt wurden. Man kann sich denken, dass sich diese Situation auch auf die erfahreneren Soldaten auswirkt, die vielleicht schon seit 2014 kämpfen, wenn sie sehen, wie schlecht die Soldaten ausgebildet sind, die sie unterstützen sollen. 

    Sie sind eine erfahrene Reporterin und haben schon aus vielen Kriegen berichtet, unter anderem aus Syrien. Was ist das Besondere am Krieg in der Ukraine? 

    Zunächst handelt es sich aus historischer Sicht um den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir leben im Jahr 2024 und in Europa sitzen Menschen in Schützengräben. Zum anderen ist da die Technik: Wir sehen Artilleriegeschütze aus der Sowjetzeit und gleichzeitig Drohnen, die erst am Morgen zusammengebaut wurden. Und die Soldaten, die sie steuern, gucken durch diese VR-Brillen auf das Schlachtfeld. Dieser Kontrast ist krass. Und schließlich ist da die menschliche Seite: Die Ukrainer sind sehr widerstandsfähig. Sie halten ihr Alltagsleben unter allen Umständen aufrecht. Aber auch das wird langsam zermürbt. Einst lebendige Orte wurden ausgelöscht. In jedem Krieg gibt es Tod und Zerstörung. Aber dieser Krieg fühlt sich wirklich an wie ein Angriff auf die ukrainische Identität und ihre Geschichte. 

     

    Foto: Nicole Tung @nicoletung 
    Bildredaktion: Andy Heller @frau.heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.11.2024

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Pernille Sandberg

    Links: Die Tänzerin Liza Riabinia bei einer Probenpause. Rechts: Präsentation der Designerin Nadya Dzyak auf der Ukranian Fashion Week / Fotos © Pernille Sandberg

    dekoder: Als wir die Serie „Bilder vom Krieg“ gestartet haben, haben wir nicht an Fotos von Tänzerinnen oder einer Modeschau gedacht. Wie kommt der Krieg auf den Laufsteg?

    Pernille Sandberg: Ich war im Mai auf der Buchmesse in Kyjiw zu Gast und war beeindruckt von der kreativen Szene in der Ukraine. Dabei ist die Idee zu meinem Projekt A State of Uncertainty gereift. Die Menschen dort leben ständig in einem Zustand der Ungewissheit: Ungewissheit über ihre eigene Zukunft. Ungewissheit darüber, was aus ihrem Land wird. Ungewissheit, weil sie schon im nächsten Augenblick ihr Leben verlieren können. Dieses Gefühl wollte ich einfangen. Die Künstlerinnen, die ich dafür porträtiert habe, waren froh darüber, nicht als Opfer gezeigt zu werden, sondern mit ihrer Kunst. Schöpferisch zu arbeiten bedeutet, lebendig zu sein. Wenn Neues entsteht, ist das auch eine Antwort auf die zerstörende Kraft des Krieges.

    Die Frau auf dem ersten Bild wirkt zugleich erschöpft und entschlossen. In welcher Situation ist es entstanden?

    Liza Riabinia ist eine Tänzerin und Choreographin aus Kyjiw. Ich habe sie im September in ihrem Studio im Stadtteil Podil besucht. Sie probte dort zusammen mit einer anderen Tänzerin. Für die Fotosession hatten sie die Idee, die gleiche Kleidung zu tragen, die sie an dem Tag getragen hatten, als die russische Invasion begann. Sie wählten sehr düstere, atmosphärische Musik dazu. Dieses Bild ist in einer Pause entstanden, als Liza völlig erschöpft und verschwitzt aus dem Fenster schaute.

    Wie haben die Künstler in der Ukraine auf den russischen Angriff reagiert?

    Zunächst einmal sind von einem Tag auf den anderen alle Pläne in sich zusammengefallen. Liza hat in unterschiedlichen Ensembles getanzt, auch für internationale Produktionen. Die kamen jetzt nicht mehr in die Ukraine. Früher war sie viel auf Tournee, auch das ist jetzt schwieriger. Und dann kamen auch Zweifel am Sinn ihrer Arbeit: Bringt das, was ich tue, dem Land überhaupt irgendeinen Nutzen? Darf man Bilder malen, während Soldaten ihr Leben für uns opfern? Hat Musik noch einen Sinn? Wozu noch Gedichte schreiben? Wie kann man sich die Zeit nehmen, ein Buch zu lesen, wenn die Welt blutet? Aber mit der Zeit wurde vielen Künstlern klar, wie wichtig ihr Schaffen auch für die Gesellschaft ist. Dass sie den Menschen Freude machen und Lebensmut verbreiten können. Und dass Kunst und Kultur ein Gefühl der Verbundenheit und der Zusammengehörigkeit schaffen.

    Es ist schließlich auch ein erklärtes Ziel der Angreifer, die ukrainische Kultur zu zerstören…

    Kurz bevor ich im Mai zur Buchmesse nach Kyjiw reiste, hatten russische Raketen die Factor-Druckerei in Charkiw zerstört. Unter den Tausenden verbrannten Büchern in den Trümmern waren auch viele Kindenbücher, das hat die Menschen besonders getroffen.

    War es schwer, einen Zugang zu den Künstlerinnen und Künstlern zu bekommen?

    Im Gegenteil. Ich war überrascht, wie offen ich empfangen wurde und wie bereitwillig alle ihre Erlebnisse und ihre Emotionen mit mir geteilt haben. Auch ihre Zweifel und ihre Schwächen. In der Nacht, bevor wir zu einem Fotoshooting verabredet waren, gab es mehrfach Luftalarm. Wir hatten alle kaum ein Auge zugetan und waren ziemlich gerädert. Aber viele Menschen in der Ukraine gehen jeden Morgen in diesem Zustand zur Arbeit. In diesen Situationen trägt niemand eine Maske. Niemand versucht, sich als jemand anderes zu präsentieren, um dir zu gefallen. Da ist kein Platz für oberflächlichen Smalltalk. Diese Ehrlichkeit fand ich sehr befreiend.

    Was ist die Geschichte hinter dem zweiten Bild mit der Prothese auf dem Laufsteg?

    Das war auf der Kyjiw Fashion Week, die in diesem Jahr zum ersten Mal seit der Beginn des Angriffskrieges wieder stattgefunden hat. Die Veranstaltung im Kultur- und Museumskomplex Mystezkyj Arsenal war total überlaufen. Vor jeder Modenschau stand der ganze Saal auf und hat eine Schweigeminute abgehalten und der Armee gedankt, weil auch Dank ihr solche Veranstaltungen stattfinden können. Auf dem Gelände gab es auch eine große Gedenkmauer mit den Porträts von Frauen und Männern aus der Modeindustrie, die als Soldaten oder Zivillisten Opfer des Krieges geworden waren.

    Ist das Model mit der Prothese auch ein Opfer des Krieges?

    Karyna Staschtschyschtschak ist eine Tänzerin aus Odessa, die ihr Bein aufgrund einer Erkrankung in der Kindheit verloren hat. Sie tanzt sehr erfolgreich bei Wettbewerben für lateinamerikanische Tänze. Damit ist sie auch ein Vorbild für die vielen Kriegsversehrten: Auch mit einer Prothese kann man ein gutes Leben führen, sogar tanzen oder bei einer Modeschau auftreten.

    War der Krieg auch in den Kollektionen gegenwärtig?

    Viele Designer haben traditionelle Motive in ihren Kollektionen aufgegriffen als Bekenntnis zur Lebendigkeit der ukrainischen Kultur. Die Farbe Rot hat eine besondere Rolle gespielt, etwa in fließenden Stoffen, die an Blut erinnerten. Mein Eindruck, war, dass der Auftritt gerade den männlichen Models viel bedeutete: Über den Laufsteg zu gehen, die Musik zu genießen, etwas Schönes zu präsentieren und dafür gefeiert zu werden. Und für einen Moment die Angst zu vergessen, dass man vielleicht bald an die Front muss. Ich arbeite selbst in der Fashion-Industrie und habe Mode schon immer Spiegel der Gesellschaft gesehen. Aber zu erleben, welche Freude sie den Menschen in der Ukraine bringt, und dass sie gleichzeitig ihren Schmerz durch ihre Kreationen ausdrücken können, das hatte enorme Kraft.

     

    Fotos: Pernille Sandberg, aus der Serie: A State of Uncertainty
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 19.11.2024

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  • „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

    „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

     

    145 politische Gefangene wurden seit Juli 2024 in Belarus freigelassen. Von einem Abflauen der Repressionen kann allerdings keine Rede sein. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna konstatiert in ihren monatlichen Analysen „ein unverändert hohes Niveau der politisch motivierten Repressionen“. Mit den bevorstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen zieht das Regime die Daumenschrauben wieder deutlich an. Allein seit Anfang November wurden über 100 Personen festgenommen

    Gleichzeitig werden auch Familien und Verwandte von politischen Gefangenen häufig Ziel der Sicherheitsbehörden. Eine solche Geschichte erzählt das Online-Medium Mediazona Belarus.  

    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat
    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat

    Mitte Sommer 2023. Der achtjährige Wanja, seine elfjährige Schwester Marija und der 16-jährige Daniil haben endlich Ferien. In ihrer Wohnung in Minsk finden regelmäßig Durchsuchungen statt. Weil eine Sonderkommission entschieden hat, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. 

    Ihre Mutter Galina Budai versucht bereits seit Monaten, der Kommission zu beweisen, dass mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Galina muss gleichzeitig die Formulare studieren, mit denen die Beamten sie überhäufen, die Kinder erziehen und ihren Mann in der Strafkolonie unterstützen. Im September 2022 wurde der 46-jährige Andrej im Fall Busly ljazjaz (dt. Die Störche fliegen) zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Behörden lassen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, nach welchem Paragrafen Andrej verurteilt wurde, wie lange er sitzen muss und dass er auf der „Terrorliste“ steht. 

    Offiziell steht die Familie unter Beobachtung, weil Galina und Andrejs Kinder zu Hause unterrichtet werden. Dabei hat sich daran jahrelang niemand gestört. Bis eines Tages der damals 15-jährige Daniil kurz nach 23 Uhr in der Metro von der Miliz aufgegriffen wurde. Er fuhr ohne Begleitung eines Erwachsenen nach Hause. Die Beamten brachten den Teenager auf die Wache und durchsuchten sein Handy. Dort fanden sie ein Abo des Telegram-Kanals von Nexta

    „Sie fragten ihn aus, wo seine Eltern sind“, erzählt Galina. „Er sagte, wo ich bin, und dass sein Vater in Untersuchungshaft sitzt. Sie wollten wissen, weswegen, da hat er geantwortet: ‚Wegen nichts.‘ Die Antwort schmeckte ihnen gar nicht, sie fingen an zu brüllen und ihn zu beschimpfen. So was kennt er von zu Hause nicht. Sie haben ihm richtig Angst eingejagt, und mir auch, als ich ihn abholen kam. Zum Abschied sagten sie, so was verjährt nicht, und wenn er sechzehn wird, kommen sie ihn wegen diesem Kanal holen.“ 

    *** 

    Über den Vorfall wurde die Einzugsschule der Kinder informiert. Weil sie zu Hause unterrichtet werden, gehen sie dort nur für die Prüfungen hin. Die Eltern haben sich immer selbst um den Unterricht gekümmert: Galina ist diplomierte Pädagogin und hat eine entsprechende Zusatzausbildung abgeschlossen. Nach Daniils Verhaftung verlangte die Schulleiterin, dass die Kinder umgehend wieder die Schulbank drücken. Für Galina kam das gar nicht in Frage. 

    „Für mich sind die Mängel des belarussischen Schulsystems offensichtlich. Wir sind zum Beispiel gegen jeglichen Militarismus, gegen den Krieg und jede Form von Gewalt. Von Freunden wissen wir aber, dass diese Themen jetzt an den Schulen zum Alltag gehören.“ Weil Galina sich weigerte, die Kinder zur Schule zu schicken, wurde eine Sonderkommission darauf angesetzt, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. Über das Schicksal der Familie entschieden die Leiterin der Bildungsabteilung im Exekutivkomitee, die Schuldirektorin, eine Beamtin vom Sozialdienst, Milizionäre und aus irgendeinem Grund sogar Feuerwehrleute. „Die Dame vom Sozialdienst erzählte irgendwas von Pflegeeltern und Adoption“, erinnert sich Galina. 

    Dass die Kinder in einer akkreditierten Online-Schule angemeldet sind und ausgezeichnete Noten haben, dass die Mutter Pädagogin ist und keiner in der Familie je irgendwie auffällig geworden ist, interessierte die Kommission nicht im Geringsten. Die Familie wurde für drei Monate als „sozial gefährdet“ eingestuft. In dem Gutachten hieß es, die Eltern würden „den Grundbedürfnissen der Kinder nicht nachkommen und den Erhalt der obligatorischen allgemeinen Sekundarschulbildung (in jeglicher Form) verhindern“. Es wurden „Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen und Bedingungen, die zur Schaffung eines ungünstigen Umfelds für die Kinder geführt haben“ festgesetzt. 

    *** 

    Daraufhin begannen die ständigen Kontrollen – nicht nur durch die Schule, sondern auch durch den Sozialdienst, das Bezirkskrankenhaus und – seltener – durch die Polizei. „Ich saß nicht untätig herum, sondern versuchte, den Beschluss des Exekutivkomitees anzufechten, aber vergeblich“, sagt Galina. 

    Das Bildungsministerium, an das sich Galina ebenfalls wandte, äußerte sich widersprüchlich. Ein Anwalt, den sie konsultierte, sagte, das Dokument könne auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: Es ließe offen, ob häuslicher Unterricht nun verboten oder erlaubt war. „Ich pochte auf mein Recht, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, und sah seitens des Ministeriums oder der Schule keine Spur von Unterstützung. Keinen Funken Menschlichkeit. Die Schule interessiert sich nur für die Ideologie, die Zukunft der Kinder ist ihr völlig egal“, meint Galina. 

    Für die Kinder, die 70-jährige Großmutter, die in der Familie lebt, und für Galina selbst bedeutete die Aufmerksamkeit des Staates eine enorme Belastung. Die Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte und anderen Beteiligten kamen meist ohne jede Vorwarnung, höchstens ein Anruf 15 Minuten vor dem Besuch. Die Familie musste immer in Alarmbereitschaft sein. Die Kontrolleure überprüften, ob im Haus genug zu essen war, ob die Kinder Arbeitsplätze hatten, die richtigen Hefte und Lehrbücher. Sie durchwühlten die Dokumente und sahen nach, ob die Kinder alle vorgeschriebenen Impfungen hatten. Zu beanstanden gab es nichts – außer, dass der Vater im Gefängnis war und die Kinder zu Hause lernten anstatt in der Schule. Nach drei Monaten kam die Kommission wieder zusammen. Der Status als „sozial gefährdet“ wurde verlängert. 

    „Wir standen alle unter Schock, wir waren sicher gewesen, dass sie uns endlich in Ruhe lassen würden. Aber nein, es gab weder Mitgefühl noch Verständnis. Mir kam es damals vor, als hätte der Staat mehr Anrecht auf die Kinder als ich. Er wollte entscheiden, wie sie lernen, mit wem sie Umgang haben und so weiter.“ Wegen der fremden Leute im Haus standen die Kinder extrem unter Stress, sie machten sich Sorgen um die Mutter und vermissten ihren Vater, dem sie regelmäßig Briefe schrieben. 

    „Er hat immer sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht. Er spielte mit ihnen, fuhr die Kleinen mit dem Fahrrad herum, machte Touren mit unserem Großen. Sie waren es gewohnt, dass Mama die Hausarbeit macht und sie unterrichtet. Papa war für sie Freizeit, Ferien. Er dachte sich immer Abenteuer für sie aus: bei Hitze im Springbrunnen baden, mit dem Großen nachts heimlich Schawarma essen fahren oder mitten in Minsk einen Igel aufspüren und ein Video von ihm machen. Er steckte voller verrückter Ideen.“ 

    Andrej Budai war Im Juli 2021 verhaftet worden. Nach der Festnahme kamen Mitarbeiter des GUBOPiK mehrfach zu ihm nach Hause, durchsuchten die Wohnung nach Waffen – alles vor den Augen der Kinder. Andrej Budai leitete zuvor ein Bauunternehmen. 

    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat
    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat

    *** 

    In der Zeit, in der die Familie als „sozial gefährdet“ galt, sprach Galina mehrfach mit dem Schulamt. Einmal sagte man ihr: „Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie diesen Status nicht ewig behalten werden. Beim nächsten Mal übergeben wir Ihre Akte einfach der Staatsanwaltschaft, und dann geht es bis hin zum Kindesentzug.“ 

    „Man hat mir also zu verstehen gegeben, dass sie mir die Kinder wegnehmen, wenn ich nicht pariere“, erinnert sich Galina. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, das Land zu verlassen. Für 2023 war bereits die dritte Sitzung der Kommission anberaumt. 

    „Im Herbst wollten wir Andrej in der Kolonie besuchen. Wir wollten ihn so gerne sehen, bevor wir wegziehen, aber die Lagerleitung hat uns nicht zu ihm gelassen. Diese Situation zog sich bis zum Winter hin, der Druck wurde immer größer. Dann brach der Kontakt zu meinem Mann ab.“ Später erfuhr Galina, dass Andrej in eine andere Kolonie verlegt worden war. 

    *** 

    Galina reiste mit ihren Kindern nach Litauen aus. Die Großmutter blieb und bekam noch mehrmals Besuch von diversen Behörden, die wissen wollten, wo die Kinder sind. Die Familie hatte immer noch den Status „sozial gefährdet“. „Aber das ist nicht mehr unsere Sache“, sagt Galina. 

    In Litauen hat die Familie nun eine Aufenthaltserlaubnis, aber vor Galina liegen noch viele Herausforderungen: Arbeit finden, in die Krankenversicherung aufgenommen werden, die Sprache lernen und den Kindern dabei helfen und darauf achten, dass sie ihren Vater nicht vergessen. „Wir beten für ihn und unterstützen ihn, so gut es geht. Wir erinnern uns an gemeinsame Momente mit ihm, was er zu wem gesagt hat. Denken daran, dass wir ein Team sind. Wie unser Team am Ende abschneidet, hängt davon ab, wie jeder einzelne von uns mit der Situation umgeht. Auch wenn mein Mann physisch nicht anwesend ist, sind wir trotzdem immer zusammen.“ 

    Der älteste Sohn Daniil ist in den letzten Monaten merklich erwachsener geworden, er möchte seiner Mutter eine Stütze sein. Marija und Wanja vermissen ihren Papa sehr. Wanja habe lange nicht darüber gesprochen, erzählt Galina, aber jetzt habe er ihr anvertraut, dass sein Papa ihm fehle und es ihm wehtue, andere Jungen mit ihren Vätern zu sehen. Zu Hause in Belarus hatte Wanja eine ganze Sammlung von selbstgezüchteten Veilchen, die er zurücklassen musste. Jetzt hat Wanja auch in der neuen Heimat sein Hobby wiederaufgenommen und kümmert sich um seine Blumen. 

    Andrej Budai befindet sich währenddessen in der Strafkolonie IK-2 in Bobruisk, wo er regelmäßig in den Strafisolator gesperrt wird. Am 23. September 2024 wurde eine neue Anklage gegen den Politgefangenen verhandelt: wegen „böswilligen Ungehorsams gegen die Lagerverwaltung“. 

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  • Lieber tot als in Haft

    Lieber tot als in Haft
    Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago 

    Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden: 

    Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.  

    Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium. 

    Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben. 

    Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat. 

    Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie. 

    Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert. 

    Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden. 

    Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“ 

    Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“ 

    Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses. 

    Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät. 

    Die Rekrutierung 

    Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge. 

    Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri. 

    Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago 

    Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern. 

    „Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.  

    „Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen. 

    „Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“ 

    Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat. 

    An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“ 

    „Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“  

    In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen. 

    Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen. 

    „Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“  

    Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“ 

    Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe. 

    Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“ 

    Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“ 

    Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein 

    Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen. 

    „Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen. 

    Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter. 

    Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“ 

    Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“ 

    Fast jeder Dritte wählt die Front 

    Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg. 

    „Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“ 

    „Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago 

    Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen.“ 

    Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“. 

    Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.   

    Nur die Angehörigen sind dagegen 

    Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige. 

    „Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina. 

    „Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“ 

    In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind. 

    Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“ 

    Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“ 

     

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  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

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    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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  • Tote Seelen vor Gericht

    Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger. 

    Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können. 

    Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben. 

    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka
    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka

    Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.  

    2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben. 

    Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.  

    Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704). 

    Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen? 

    Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden. 

    Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben. 

    In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt. 

    „Wenn man die Leichen holen will,  
    kommen sofort Granaten geflogen“ 

    Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.  

    In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“ 

    Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Warum schießen die Zahlen 2024 in die Höhe? 

    Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten. 

    Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.  

    So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen. 

    Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft. 

    „Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist,  
    kann man Aufstockung beantragen“ 

    Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten. 

    „Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“ 

    Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld 

    Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen. 

    Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk). 

    So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war. 

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Wie die Familien vor Gericht ziehen 

    Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen. 

    Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“ 

    Prozess für einen „Helden“ 

    Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte. 

    Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.  

    Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei. 

    Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch. 

    Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden. 

    Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe. 

    „Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“ 

    Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“ 

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  • Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Im Oktober 2024 wurde bekannt, dass der russische Oppositionelle Ildar Dadin Anfang des Monats im Krieg gefallen ist. Er hatte an der Seite der Ukrainer gegen die russischen Invasoren gekämpft. Nach Bekanntwerden von Dadins Tod schrieb der renommierte russische Journalist Andrej Loschak auf Facebook einen kurzen Nachruf, der eine heftige Diskussion auslöste. Denn Loschak erwähnt darin auch, dass Dadin von den Zuständen in der ukrainischen Armee enttäuscht gewesen sei. Darf man als Unterstützer der angegriffenen Ukraine die Zustände dort mit denen in Russland vergleichen? 

    dekoder dokumentiert den umstrittenen Beitrag. 

    Ildar Dadin (1982-2024) protestierte in Moskau, schloss sich dem Freiheitskampf der Ukraine an und fiel an der Front / Foto © Komers Real / flickr / CC BY 2.0

    Ildar Dadin ist an der Front gefallen. Für mich war er immer ein leuchtendes Beispiel für einen Menschen, der Ungerechtigkeit nicht tatenlos hinnehmen konnte. Das Wort, das in seinen Interviews wahrscheinlich am häufigsten zu hören war, lautet „Gewissen“. So äußerte er sich zum Beispiel damals zu den Bolotnaja-Prozessen: 

    „Ich war erstaunt, dass die Bewegung sich auflöste, statt dass die Menschen erst recht auf die Barrikaden gehen. Wir haben einfach zugesehen, wie man die, die mit uns gemeinsam für faire Wahlen demonstriert haben, als Geiseln genommen und eingesperrt hat. Ihre gebrochenen Schicksale haben auch wir auf dem Gewissen. Ende 2012 waren wir höchstens noch 30 Leute. Die Luft war raus, das habe ich verstanden, es hatte praktisch keinen Sinn mehr, auf die Straße zu gehen. Aber ich bin trotzdem gegangen, das war eine Frage des Gewissens.“ 

    Dadin wurde nicht müde zu wiederholen, dass alle Russen Verantwortung für das totalitäre Regime tragen, in das Putins Herrschaft ausgeartet ist. Bereits seit Anfang der 2000er Jahre verwandelte sich das Land allmählich in einen riesengroßen Karzer, bis man nach 2012 nicht mehr die Augen davor verschließen konnte. Und trotzdem haben wir es geschafft. Die Menschen in der Provinz – weil sie schon immer an der kurzen Leine gehalten wurden und gar nicht wissen, dass es etwas anderes gibt. Die Großstädter aus Bequemlichkeit. Zumal der Karzer, zumindest am Anfang, noch ziemlich komfortabel war. Das machte ihn jedoch nicht weniger zum Karzer. 

    Dadins Kampf für Versammlungsfreiheit brachte ihn ins Gefängnis 

    2014 wischte sich das Regime wieder mal mit der russischen Verfassung den Arsch ab und schränkte die Versammlungsfreiheit noch krasser ein (damals ging es bereits nur noch um Einzelkundgebungen). Der erste, der gegen das Verbot verstieß und dafür ins Gefängnis wanderte, war natürlich Ildar Dadin. Deshalb trägt der entsprechende Paragraf seither seinen Namen: „Dadin-Gesetz“. Im Gefängnis, das in Russland nur dafür da ist, die Inhaftierten maximal zu erniedrigen und die Menschenwürde mit Füßen zu treten, musste Dadin leider Gottes Folter erleiden. 

    „Ich habe damals erfahren, dass Russland nicht nur das Land von Mördern ist, weil es ein anderes Land überfallen hatte, sondern auch ein Land der Folterknechte und Sadisten. Ich glaube, sie haben mich gefoltert, weil ich mich nicht brechen ließ. Sie wollten ein Exempel an mir statuieren, um zu zeigen, was mit denen passiert, die für ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einstehen, offen über die Verbrechen des Kreml sprechen und für die das eigene Gewissen die höchste Instanz ist. Sie mussten mich mit ihren Stiefeln in den Dreck treten, damit andere sehen und verstehen, dass es ihnen genauso ergehen würde.“ 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, bei diesen Verbrechen Mittäter zu sein“ 

    Dadin schrie seit 2014 laut heraus, dass Russland einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine führt. Als Putin 2022 die großangelegte Offensive begann, stand Dadin nicht wie die meisten von uns vor der Frage: gehen oder bleiben? Er stand vor einer viel unerbittlicheren Entscheidung: ins Gefängnis wandern oder auf Seiten der Ukraine kämpfen? 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, Mittäter bei diesen Verbrechen zu sein. Das Einzige, was mir bleibt, ist entweder in Russland auf die Straße zu gehen und dafür eingesperrt oder getötet zu werden, oder in die Ukraine zu fahren und mit der Waffe in der Hand gegen das Böse zu kämpfen. Einen dritten Weg – wegschauen und mein Leben weiterleben – gibt es nicht. Ich verstehe nicht, wie man das tun kann.“ 

    In Dadins Worten steckt viel unbequeme Wahrheit. Er betonte immer wieder, er sei Humanist. Das Leben und die Menschenrechte hatten für ihn oberste Priorität, sein ganzes Leben vor dem Krieg ist Beweis genug dafür. Und genau deshalb musste er diese harte, paradoxe Entscheidung treffen und zur Waffe greifen. Etwas ähnliches muss Dietrich Bonhoeffer, einen zutiefst religiösen Mann, dazu bewogen haben, sich den Hitler-Attentätern anzuschließen. Manchmal muss man, um seine Menschlichkeit zu wahren, das Irdische vom Göttlichen trennen. Sich zwischen dem Gebot „Du sollst nicht töten“ und dem eigenen Gewissen entscheiden, das dir sagt, dieses Böse kann nur mit Hilfe von Gewalt gestoppt werden. Einen perfekten Weg, mit weißer Weste aus diesem Konflikt zu kommen, gibt es nicht. Alle anderen Strategien sind, was den Kampf angeht, sinnlos. Das können wir leider daran beobachten, wie sich die Opposition im Exil selbst zerfleischt. Dadin und Nawalny sind mit zwei extremen und gleichzeitig extrem konsequenten Strategien als Beispiel vorangegangen. Das Unbequeme daran ist, dass sie uns, die wir vor dem Bösen in sichere Länder geflohen sind, unsere Feigheit vorführen. Ohne jeden Vorwurf, ohne Belehrungen, einfach nur durch ihr persönliches Vorbild. Und das macht es nur noch schonungsloser. Wir haben, wie es Julija Galjamina in einem Interview ausdrückte, die Strategie der Selbstrettung gewählt. Familie, Kinder, Pazifismus, schöpferische Entfaltung – das ist alles schön und gut. Aber lasst uns ehrlich sein: Sie hatte vollkommen recht. 

    Nawalny wählte den Weg Gandhis, Dadin wählte den Weg des Kriegers 

    Die Bedeutung von Ildar Dadin wird unterschätzt. Ich denke, mit der Zeit wird er in den Pantheon der Helden unserer Zeit aufsteigen, ebenso wie Nawalny. Sie werden beide zu Symbolen des Widerstands gegen den Putinismus werden (Dadin bevorzugte den Begriff „Raschismus“). Beide sind heldenhaft in diesem Kampf gefallen. Nur dass der eine den Weg des Satyagraha gewählt hat, der Gewaltlosigkeit, und der andere Buschido, den Weg des Kriegers. Vielleicht wird man ihn einmal den „Dadin-Weg“ nennen, wie man es mit dem repressiven Gesetz gemacht hat. Auf dieser hohen Note könnte man den Nachruf beenden, aber in Dadins Geschichte gibt es ein letztes Kapitel, das nicht weniger unbequem und widerspenstig ist als sein ganzes Leben. 

    Kurz vor Dadins Tod hatte ein guter Freund von mir, der ihn flüchtig persönlich kannte, über einen Messenger Kontakt mit ihm aufgenommen. Auf das floskelhafte „Wie-geht-es-dir“ brach es aus Dadin heraus. Ich glaube, er fühlte sich von allen vergessen, und so ließ er alles, was sich angestaut hatte, bei dieser Gelegenheit raus. Es war die grausame, unerbittliche Wahrheit über den Krieg. Dadin litt zutiefst. Seine Ehre, sein Gewissen und seine Menschenwürde waren konfrontiert mit der „Wahrheit des Schützengrabens“, und er konnte sie nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Diese Wahrheit besteht darin, dass in der ukrainischen Armee der gleiche Scheiß los ist wie in der russischen. Demütigung, Korruption, Dummheit, Grausamkeit und die Selbstdarstellung der Kommandeure, die die Tatsachen vor der Obrigkeit verbergen. Mit einem Wort (das Dadin selbst verwendet): derselbe sowok wie auf der feindlichen Seite. Aber er betonte auch den einen prinzipiellen Unterschied: Dass nämlich die Ukrainer einen Befreiungs- und die Russen einen Besatzungskrieg führen. Ich kann hier aus verschiedenen Gründen nicht das gesamte Gespräch veröffentlichen, aber ein Zitat möchte ich bringen: 

    „Ich kann nicht als Sklave kämpfen“ 

    „Man muss den Raschismus bekämpfen. Denn wenn man nicht gegen das Böse kämpft, dann stellt man sich dem Bösen durch seine Untätigkeit in den Dienst, man ergibt sich ihm. Aber meine Menschenwürde sagt mir, dass ich nicht als Sklave kämpfen kann.“ 

    Vielleicht ist das Tragischste an der Geschichte, dass Dadin kurz vor seinem Ende offenbar bereute, in die Legion eingetreten und in den Krieg gezogen zu sein. Ja, das ist eine für viele unbequeme, bittere Wahrheit, die unter Umständen ein gefestigtes Weltbild zerstört, in dem das Licht gegen die Dunkelheit kämpft, aber schon aus Respekt vor Ildar muss ich diesen Teil der Wahrheit ebenfalls erzählen. Über ein Jahr lang kämpfte er in den Sturmtruppen an vorderster Front. Er war zweifellos emotional ausgezehrt und in einem depressiven Zustand, das geht aus seinen Worten hervor. Vielleicht war es eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie es in solchen Fällen vorkommt, aber das glaube ich nicht. Ich glaube, Dadins natürlicher, angeborener Instinkt für (Un-)Gerechtigkeit war untrüglich. 

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