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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Error 505 – Teil 1/2

    Error 505 – Teil 1/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

    Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

    „Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

    Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

    „Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

     

    Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Wynohradne, 23. Februar 2022 

    Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

    „Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

    Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

    „Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

    „Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

    Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

    Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Raketen flogen, und ich betrank mich.

    „Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

    Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

    „Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

    Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

    Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

    Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

     

    Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

    Enerhodar, 2014 

    Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

    „Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

    1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

    2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

    „Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

    Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

    Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

    „Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

    Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

    Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

    2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

    „Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

     

    Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

    Wynohradne, 26. März 2022 

    In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

    Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

    „Ein Russe?“, fragen wir nach. 

    „Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

    Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

    „Der wievielte Tag war das?“ 

    „Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

    „Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

    „Was blieb denn sonst?“ 

    „Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

    „Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

    Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

    „Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

    Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

    Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

    „Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

    Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

    Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

    „Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

    Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

    „An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

    Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

    Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

    Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

    Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

    Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

    „Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

    „Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

    Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

    Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

    „Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

    „Und Sie haben gegraben?“ 

    „Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

    „Erinnern Sie sich an Namen?“ 

    „Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

    Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

    „Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

    Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

    „Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

    „Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

    „Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

    ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

    ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

    „Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

    „Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

    „Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

    „Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

    Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

    „Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

    Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

     

    Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“ 

    Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

    Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

    „Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

    Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

    „Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

    Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

    „Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

    Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

    Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

    Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

    Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

    „Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

    Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

    „Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

    Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

    Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

    Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

    „Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

    „Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

    Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

    Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

    „‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

     

    Fortsetzung folgt … am 23. Januar 2025. 

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  • Kollegen jagen Kollegen

    Kollegen jagen Kollegen

    Viktor Babariko war im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 der aussichtsreichste mögliche Kandidat der Opposition in Belarus. Doch bereits vor der Registrierung wurde er festgenommen und schließlich zu 14 Jahren Straflager verurteilt, sein Anwalt Maxim Znak zu zehn Jahren. Seit Februar 2023 wird auch sein Verteidiger nicht mehr zu ihm vorgelassen. Über 600 Tage gab es keinerlei Lebenszeichen von Babariko, bis kürzlich immerhin Fotos mit ihm in den sozialen Medien auftauchten. So ergeht es vielen bekannten politischen Gefangenen: Sie werden im sogenannten Incommunicado-Regime gehalten, in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Anwälten. 

    Derweil stehen auch die Rechtsanwälte selbst im Fadenkreuz der Strafverfolgungsbehörden im Lukaschenko-Staat. Ihnen wird die Zulassung entzogen, sie werden festgenommen und weggesperrt, viele verlassen das Land. Die Journalistin Jana Machowa zeigt die Folgen dieser Verfolgung. 

    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago
    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago

    Lebt Maxim Znak? Keiner seiner Nächsten kann das mit Sicherheit sagen. 

    In Belarus wurde eine Repressionsspirale gegen Juristen losgetreten: Der Gründer der Rechtsanwaltskanzlei Braginez und Partner, Witali Braginez, wurde im Mai 2022 festgenommen, kurz vor dem Gerichtsprozess seines Mandanten Andrej Motschalow. Im Januar des folgenden Jahres wurde Braginez in einer nichtöffentlichen Verhandlung wegen vier Paragraphen des Strafgesetzbuches zu acht Jahren Freiheitsentzug im Straflager mit verschärften Bedingungen verurteilt. Sein ehemaliger Mandant Motschalow war übrigens auch Anwalt. Die Strafverteidiger von Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maria Kolesnikowa, Sofia Sapega und vielen anderen mussten überstürzt das Land verlassen. 

    Insgesamt verloren von 2020 bis Anfang 2024 mehr als 140 belarussische Anwälte ihre Zulassung, mindestens 23 Anwälte wurden verhaftet, nachdem sie Menschen verteidigt hatten, die aus politischen Motiven festgenommen worden waren. Diese Angaben stammen aus dem Projekt Recht auf Verteidigung (russ. Prawo na saschtschitu). Gegen sechs Juristen wurden Strafverfahren eröffnet. Ende Februar 2024 startete der KGB eine erneute Razzia gegen Anwälte politischer Gefangener und ihre Familien, bei der mindestens zwölf Verteidiger festgenommen wurden, die juristisch Hilfe leisten. Ein Ende der Repressionen ist nicht absehbar. 

    Immer mehr unabhängige Verteidiger verlassen den Beruf 

    Mit der Änderung des Rechtsanwaltsgesetzes 2021 zerstörte die politische Führung die unabhängige Anwaltschaft, indem Einzelanwälte und unabhängige Anwaltskanzleien abgeschafft wurden. Jetzt kann man nur in juristischen Kanzleien arbeiten, die von Anwaltskollegien mit Zustimmung des Justizministeriums eröffnet werden. Anwälte mussten sich diesen Kanzleien anschließen – oder ihren Beruf aufgeben. 

    „Dadurch sollten die belarussischen Rechtsanwälte unter die Kontrolle der Staatsführung gebracht werden“, ist sich Maria Kolessowa-Gudilina sicher, die 2020 Dutzende politisch verfolgte Belarussen verteidigte. Dann wurde ihr die Lizenz entzogen, sie verließ das Land, ihre Social-Media-Accounts wurden als „extremistisch“ eingestuft. Früher hat sich das Ministerium mit der Widerrufung der Zulassungen befasst. Jetzt wurde diese Verantwortung an die Kollegien delegiert – denen kann aber nur eine Person vorsitzen, die vom Ministerium bestätigt wurde. 

    Silowiki, Staatsanwälte und Richter wechseln zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts 

    „Kollegen verfolgen jetzt Kollegen. Man findet praktisch keine Anwälte für politische Strafsachen mehr – wer einen Fall übernimmt, geht ein Risiko ein. Das ist ein großes Problem. 2023 wurden Anwälte festgenommen, die als Kontaktpersonen agierten [also als Empfänger und Übermittler von Informationen – dek]. Sechs Anwälte sitzen im Gefängnis, weil sie professionell ihre Arbeit ausgeführt haben. Und trotz alledem gibt es noch Menschen, die politische Fälle übernehmen und ihre Arbeit sorgfältig erledigen“, berichtet Kolessowa-Gudilina. 

    In Belarus nehmen die Anwälte derweil wahr: Während immer mehr unabhängige Verteidiger den Beruf verlassen, wechseln ehemalige Silowiki, Staatsanwälte und Richter zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts. Dafür gibt es eindeutig grünes Licht: Für den Quereinstieg reichen ein Empfehlungsschreiben vom Fachamt, ein verkürztes Praktikum und statt der regulären schriftlichen Prüfung im Justizministerium ein Vorstellungsgespräch.  

    Mehr als nur ein „teurer Briefträger“ 

    Viele Anwälte, denen die Zulassung entzogen wurde, sind in Belarus geblieben. Manche haben sich einen neuen Tätigkeitsbereich gesucht, aber einige arbeiten weiterhin im juristischen Geschäft. Ein belarussischer Anwalt, der seine Lizenz wegen der Verteidigung politischer Häftlinge verloren hat und daher anonym bleiben muss, berichtet: „Anwälte, die ihren Beruf weiterhin ausüben, sind quasi Staatsbeamte, von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Vereinzelt gibt es noch Anwälte, die in Ordnung sind. In vier Jahren Arbeit unter völlig wahnsinnigen, stressigen Bedingungen haben sie die neuen Regeln verstanden und sich angepasst. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist gut, dass sie sich angepasst haben und so weiterhin helfen können.“ 

    Viele Menschen in Belarus glauben gar nicht mehr an den Nutzen von Anwälten, insbesondere bei politischen Prozessen, und bezeichnen sie als „teure Briefträger“. Maria Kolessowa-Gudilina ist überzeugt, dass das nicht richtig ist: Die Arbeit eines Anwalts ist für die Öffentlichkeit oft nicht sichtbar, aber dank ihm kann ein Fall in völlig anderer Form vor Gericht kommen, mit weniger Anklagepunkten und entsprechend einer geringeren Haftdauer im Urteil.  

    Dem stimmt ein weiterer belarussischer Anwalt zu, dem die Lizenz entzogen wurde, er erinnert im Gespräch mit dekoder daran, dass seit 2020 viele politische Fälle verhandelt wurden, von denen die Öffentlichkeit gar nichts weiß. „Viele erhielten statt einer Lagerhaft nur Arrest mit Zwangsarbeit oder sogar nur Hausarrest, viele Anklagepunkte konnten abgewendet werden!“, sagt er unter der Bedingung, anonym zu bleiben.  

    „Es war nicht leicht, aber wir fanden einen Anwalt für unsere Mutter, die für einen Kommentar in den sozialen Netzwerken angeklagt war. Wir erwarteten nicht viel von ihm, und er erfüllte unsere „Nichterwartungen“. Aber wir sind froh, dass Mutter einen relativ unabhängigen Verteidiger hatte, der am Prozess teilnahm, uns zu juristischen Feinheiten beriet und uns Informationen über ihren Zustand überbrachte“, berichten die Angehörigen der Angeklagten, die letztlich zu einem Jahr Straflager verurteilt wurde. 

    Ein Anwalt kann eine riesige moralische Stütze für einen Menschen sein, der dem System sonst ganz allein gegenüberstünde. Er leistet Hilfe, die hier und jetzt gebraucht wird. „Dem Gefangenen, der sich in unmenschlichen Bedingungen befindet, zuhören, helfen, Rat geben“, zählt Kolessowa-Gudilina auf. „Manch einer sagt: Wozu einen Anwalt bezahlen, man bekommt ja doch Hausarrest nach Artikel 342? Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht noch etwas finden. Manchmal belasten sich die Menschen vor Schreck selbst noch zusätzlich. Damit das nicht passiert, braucht man qualifizierte juristische Hilfe. Ja, die Rechtsanwaltskammer liegt in Trümmern, aber einzelne Anwälte gibt es noch, die Hilfe leisten.“ Ihr anonymer Kollege verweist zudem darauf, dass es – wenngleich selten – vorkommt, dass Verfahren eingestellt werden. Darüber wird aber nicht laut gesprochen, da es sich ansonsten schnell wieder ändern könnte. 

    „Schutz vor Maßlosigkeit“ 

    Außer Zweifel steht für die Juristen: Haben Ermittlungsbehörde und Staatsanwalt schon einen Plan bezüglich des Festgenommenen, dann hilft auch kein Anwalt, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen. 

    „Aber der Anwalt kann vor Maßlosigkeit schützen und eine mildere Strafe erstreiten“, sagt ein belarussischer Anwalt und führt als Beispiel Personen an, die für die Teilnahme an einer der Minsker Großdemonstrationen auf Grundlage des Artikels 342 (Landfriedensbruch) bestraft wurden. „Das Verkehrsunternehmen Minsktrans forderte eine Entschädigungszahlung in Höhe von mehreren Millionen Rubeln. Die Richter erhoben auf dieser Grundlage bei jedem Verurteilten Geldstrafen, ohne zu beachten, wie viel von der Gesamtsumme bereits bezahlt wurde. Ich kenne Beispiele, wo Anwälte Dokumente vorlegen konnten, die belegten, dass die Gesamtsumme längst von zuvor Verurteilten beglichen worden war. Ohne Anwalt hätte man also nicht nur eine Haftstrafe, sondern auch noch eine maßlose Geldstrafe bekommen.“ 

    Die Repressionen gegen die Anwälte wirken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen aus. „Die Einschüchterung hat sich auf alle Fälle ausgeweitet, die staatlichen Organe haben verstanden, dass sie grünes Licht haben“, konstatiert Maria Kolessowa-Gudilina. Verteidiger, die noch in Belarus sind, bestätigten gegenüber dekoder, dass seit 2020 für das Regime insgesamt und die Silowiki insbesondere alles „viel einfacher“ geworden sei: Was auch immer wir brauchen – kriegen wir. Gerichtsprozesse sind nur eine Formalität. 

    Es gibt aber auch eine andere Ansicht. 

    „Bei den nichtpolitischen Fällen war die Rechtsprechung auch vorher schon bedingt abhängig“, erzählt ein anderer anonym bleibender belarussischer Anwalt. „Es gab da aus meiner Sicht sehr seltsame Fälle, wo jemand, der bereits zum fünften Mal wegen Diebstahls angeklagt wird, einfach frei aus dem Gerichtssaal spaziert. Das ist das Wesen des belarussischen Gerichtssystems, so war es vor 2020, und so ist es auch jetzt noch.“ Allerdings stimmt der Anwalt zu, dass früher ein gerechtes Urteil möglich war, wenn der politische Apparat kein besonderes Interesse an einem Fall hatte. Betrachtet man Fälle nach 2020, bei denen ein solches Interesse vorlag, so wurden sie zwar nicht gesondert behandelt, aber man erkennt sehr deutlich die „Annahme der Rechtmäßigkeit staatlicher Interessen“. 

    „Wenn jemand auf dem Balkon eine rote Unterhose zwischen zwei weiße Socken gehängt hat, dann geht er auf jeden Fall ins Gefängnis“, fasst unser Gesprächspartner zusammen.  

    Aus der Kanzlei in die Backstube 

    Wie viele Anwälte genau Belarus verlassen haben, ist nicht bekannt, aber laut Kolessowa-Gudilina sind es definitiv mehr als 100. Oft sind es hochqualifizierte Fachleute, die im Durchschnitt 13,5 Jahre Berufspraxis haben. 

    „Die juristische Ausbildung ist sehr kompliziert und spezifisch. In Belarus und den EU-Staaten unterscheiden sich die Rechtssysteme stark“, berichtet einer der Verteidiger, der Belarus nach dem Entzug der Zulassung verlassen hat. Das belarussische Jurastudium wird in der Regel nicht anerkannt, man muss entweder neu studieren oder den Abschluss anerkennen lassen. Das ist teuer, langwierig und kompliziert. Die Psyche spielt dabei eine wichtige Rolle: Mit einem Mal die über Jahrzehnte hinweg erarbeitete berufliche Reputation zu verlieren und sich in einem Zustand wiederzufinden, als wäre man wieder 18 – das ist sehr schwer. Einige der Anwälte verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland in Arbeiterberufen.  

    „Ich weiß, dass einige Anwälte bei Lieferdiensten arbeiten, in Bäckereien oder in Geschäften“, bestätigt Kolessowa-Gudilina. „Es gibt keine schlechte Arbeit, aber das sind unsere Köpfe, alle Leute, die im Ausland sind, sollten sie nutzen können.“ 

    Ein Jurist, der Belarus verlassen hat, erzählt dekoder unter der Bedingung der Anonymität, dass einige seiner Kollegen sich mit dem polnischen Migrationsrecht beschäftigt haben und jetzt den nach Polen eingewanderten Belarussen bei Fragen zu Migration und Familie beraten. 

    „Ich hoffe, in Belarus wird die Rechtshoheit wiederhergestellt“  

    Die in Vilnius registrierte belarussische Organisation Anwälte der Menschenrechte befasst sich mit der Lösung des Hauptproblems, der Frage des Berufszugangs im Aufnahmeland für Juristen, die zur Emigration aus Belarus gezwungen wurden.  

    „Es ist das erste Beispiel für Selbstorganisation unabhängiger Rechtsanwälte“, sagt Maria Kolessowa-Gudilina, die die Vorsitzende der Organisation war, bis sie den Posten im Oktober 2024 aufgab. „Es gibt ein Leben nach dem Zulassungsentzug in Belarus, es gibt Möglichkeiten, weiterhin zu praktizieren. Unsere Anwälte wurden aus dem Beruf verbannt, weil sie sich den Machthabern nicht unterwerfen wollten, jetzt helfen sie ihren Mandanten vom Ausland aus.“ 

    Ich hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann 

    Eine wichtige Kategorie von Fällen, mit denen die Anwälte im Ausland befasst sind, betreffen die Rechte von Belarussen im Land und im Exil. Die Anwälte können die Rechte ihrer Landsleute insbesondere vor internationalen Strukturen vertreten. Einige Mitglieder der Vereinigung bereiten auch die notwendigen Dokumente für ein zukünftiges Ermittlungsverfahren gegen das Lukaschenko-Regime vor. Dank der Bemühungen der Organisation und der Zusammenarbeit mit den litauischen Kollegen können die Belarussen seit März 2024 im Anwaltsverzeichnis Litauens als ausländische Verteidiger, „Anwälte aus Drittstaaten“, geführt werden, diese Möglichkeit gibt es nicht in vielen Staaten. 

    Als ihre wichtigste Mission nennen die Anwälte der Menschenrechte die Wiedererrichtung der Rechtsanwaltskammer im zukünftigen Belarus. „Ich arbeite in Westeuropa in einem Bereich, der dem Rechtswesen nahesteht, verdiene wenig, aber zum Leben ist es genug“, erzählt ein Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde. Er betont, dass das Problem für ihn nicht so sehr das Geld sei. „Ich kann nicht das tun, was ich am liebsten tue: Seinerzeit bin ich aus Liebe zum Fach Rechtsanwalt in Belarus geworden. Ich verstehe das jetzt als temporären Lebensabschnitt und hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann.“ 

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  • Cancel Russia aus dem Kreml

    Cancel Russia aus dem Kreml

    Die russische Sängerin Monetochka und der Rapper Noize MC sind für den Friedensnobelpreis 2025 nominiert. Eine Gruppe norwegischer Professoren hat die Kandidaturen im Dezember 2024 eingebracht: Mit ihren Stimmen, so die Begründung, würden die beiden Musiker eine Generation vertreten, die für humanistische Werte einstehe.  

    Monetochka und Noize sind zwei von hunderten (wenn nicht tausenden) russischsprachigen Musikern, die Russland wegen dessen Krieges gegen die Ukraine den Rücken gekehrt haben. Heute leben sie überall in der Welt verstreut, nehmen neue Songs auf, gehen auf Tour und sammeln Spenden für die Ukraine. Ihr künstlerischer Protest gegen Putins Russland bildet eine neue Gegenkultur, die hunderttausende Exilierte vereint. Ihre Kreativität verschafft ihnen darüber hinaus auch Resonanz bei den Nicht-Russischsprachigen. 

    Was hat der Kreml mit Konzertverboten, Stigmatisierung als „Agenten“ und Massenexodus der Kreativen verloren? Was und wer bildet heute die russische Musikkultur? Und wie kann ihre Zukunft aussehen? In einem Parforceritt durch die neuere Musikgeschichte Russlands geht der Journalist Pawel Kanygin diesen Fragen für Prodolshenije Sledujet nach.   

    Erinnern Sie sich an Namen wie Ivan Urgant und Ivan Dorn? Bis vor Kurzem wurden diese noch ständig im Fernsehen gezeigt. Jetzt werden Sie in Russland keinen dieser Ivans mehr zu sehen bekommen. Einer entpuppte sich als Ukrainer, der andere sympathisiert mit der Ukraine. So einfach ist das. 

    Der Gedanke mutet heute seltsam an, aber bis vor Kurzem war die russische Musikindustrie wirklich offen, sowohl gegenüber ihren „Nachbarn“ als auch gegenüber „Einflüssen aus dem Ausland“, wie die heutigen Abgeordneten sagen würden. Und erstaunlicherweise hat ihr diese Offenheit absolut nicht geschadet. Im Gegenteil: Bevor der Krieg begann, war in Russland eine moderne, wettbewerbsfähige Musikkultur herangereift. Man interessierte sich im Ausland für unsere Musik, nahm sie zum Vorbild, lernte von uns! 

    Mit dem Verlust der Musik hat Russland auch an Soft Power verloren. Musiker haben über alle Grenzen hinweg einen gemeinsamen kulturellen Raum geschaffen, der Russland mit seinen Nachbarn verband – bis der Staat kam und alles zerstörte. 

     
    IC3PEAK: Alles soll brennen  

    Vom Stillstand zur Moderne 

    In den vergangenen gut dreißig Jahren hat sich die russische Musikszene mehrfach komplett neuformiert. Auch wenn die sowjetische Musik westliche Trends aufnahm, geschah dies nur äußerst langsam. Während in den 1960er und 1970er Jahren auf der ganzen Welt die Rockmusik ihren Höhepunkt erreichte, erlangte der Rock in der Sowjetunion erst Ende der 1970er Jahre allgemeine Anerkennung, und zu Stars wurden seine Vertreter überhaupt erst nach Beginn der Perestroika. Bis dahin war der Rock unter sowjetischen Behörden nicht wohlgelitten, die Musiker verdienten ihr täglich Brot in Fabriken, und der legendäre Viktor Zoi verdingte sich als Heizer. 

    Das hatte zur Folge, dass die Musikindustrie nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs den Westen aktiv einzuholen versuchte – was ihr bis etwa Mitte der 2010er Jahre tatsächlich gelang: Vergleicht man die einzelnen Genres, so hatte sich die russische Musik dem Westen bis zu diesem Zeitpunkt maximal angenähert

    Zum wichtigsten Genre entwickelte sich der Rap. Vergleicht man den russischen und den amerikanischen Rap der Nullerjahre, so könnte man meinen, es handele sich nicht nur um unterschiedliche Genres, sondern um zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Zwischen Mnogotochie und Jay-Z bestehen nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Vergleicht man jedoch den russischen und den amerikanischen Rap Ende der 2010er Jahre, lassen sich kaum noch Unterschiede feststellen. In Russland wurde alles übernommen: nicht nur der Stil, sondern auch etwa die Form der Battles. Dabei erwiesen sich die Nachahmer als äußerst talentiert und brachten ihren ganz eigenen Sound ein. Zu den größten Stars des russischen Rap gehörten Noize, Oxxxymiron, Kasta und natürlich das elektronische Hip-Hop Duo AIGEL. 

     

    Über 130 Millionen Aufrufe für Tatarin von  AIGEL

    Die gleiche Entwicklung lässt sich bei dem russischen Rock beobachten. In den Nullerjahren war es üblich, die russische mit der westlichen Rockszene zu vergleichen und die kleinen Unterschiede hervorzuheben: Viele behaupteten zum Beispiel – und behaupten bis heute -, der russische Rock sei lyrischer und textbasierter.  

    Doch schon Mitte der 2010er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Seit Radiosender und Fernsehen an Bedeutung verloren und es immer mehr Möglichkeiten gab, Musik über das Internet zu verbreiten, veränderte sich die russischsprachige Rockmusik. In Russland entwickelte sich eine einflussreiche und vielfältige Post-Punk-Szene. Im englischen Sprachraum lassen sich leicht Diskussionen finden, in denen Bands wie Molchat Doma oder Buerak besprochen werden. Plötzlich stellte sich heraus, dass russischsprachiger Rock nicht zwangsweise Kino, Grebenschtschikow oder DDT war. Der moderne Rock klang anders und sprach nicht nur russischsprachige Hörer an.  

     

    Die belarussische Band Molchat Doma ist nach der Protestwelle 2020 in die USA emigriert 

    Ebenso veränderte sich auch die Popmusik. Aus heutiger Sicht muten die Hits der Nullerjahre seltsam an. Man mag es kaum glauben, dass die Menschen sich damals mit Genuss Lieder wie „Schokoladny sajaz“ [dt. Der Schokoladenhase] anhörten. Aber mit der Zeit klang die Popmusik immer besser. Das lag vor allem an der Entstehung neuer Kanäle für den Musikvertrieb sowie an der schwindenden Rolle der Produzenten. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen in den 2010er Jahren und dem zunehmenden Einfluss sozialer Netzwerke wurden diese immer unwichtiger. Nun mussten Musiker nicht mehr um ihre Gunst werben, um im Radio oder einem der Musiksender im Fernsehen gespielt zu werdenю Sie konnten ihre Hörer selbst im Internet finden.  

    Streben hin zum russischen Markt

    Die moderne russische Musikszene – also die vor dem Krieg – setzte sich aus vielen einzelnen Teilen zusammen. Es gab immer noch Künstler, die sich in der Sowjetunion einen Namen gemacht hatten. Es gab diejenigen, die man erst in den 1990er Jahren wahrgenommen hatte. Die Projekte der Musikproduzenten aus den Nullerjahren wirkten fort. Und natürlich erschienen neue Interpreten im Internet, die anfänglich niemand ernst nahm. 

    Die russische Musikindustrie nahm nicht nur Einflüsse aus dem Westen auf, eine große Rolle spielten auch die direkten Nachbarn. Russland als größtes Land der zerfallenen Sowjetunion bot einen riesigen Markt für Musiker. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auf Russisch sangen. So wurde die russische Musikindustrie zu einem großen Schmelztiegel.  

    Einige Künstler waren so feste Bestandteile des russischen Marktes, dass den Hörern womöglich gar nicht klar war, dass sie aus einem anderen Land stammten – beispielsweise der Rapper T-Fest aus der Ukraine, die Bands NEMIGA, LSP sowie die Sängerin Palina aus Belarus, Kaspiski grus aus Aserbaidschan. In den Hitparaden waren immer wieder Titel ukrainischer Interpreten zu hören – von Verka Serdyuchka und Vera Breshneva bis hin zu Ivan Dorn, Max Barskich, der Band Griby und der Band Poshlaya Molly, die in Russland wahrscheinlich von allen die meisten Nachahmer hat. 

     

    Poshlaya Molly – Mishka  

    Auch die Labels achteten nicht darauf, woher die Künstler kamen. So wurde der Belarusse Max Korzh über das russische Lable Kasty berühmt und der kasachische Rapper Skryptonite über Gazgolder. Für die Musiker war die russische Sprache der Schlüssel zu einem großen Markt, und das nutzten sie. Für Russland bedeutete das eine gewaltige Soft Power. Doch hat unser Land es nie gelernt, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Gewalt scheint unserer Staatsmacht immer noch der schnellere und einfachere Weg zu sein. 

    Staat vs. Business

    In den Nullerjahren kümmerte sich die Politik kaum um die Musik, doch in den 2010er Jahren gerieten die Musikschaffenden in den Fokus der Staatsgewalt. Sowohl Abgeordnete als auch dafür bezahlte Personen des öffentlichen Lebens setzten sich wiederholt für ein Verbot von Liedern und Künstlern ein, zahlreiche Konzerte wurden gesprengt.  

    Erinnern wir uns an die Skandale im Zuge des Eurovision Song Contests, als die Abgeordneten der Staatsduma ernsthaft darüber diskutierten, wer uns vertreten dürfe: 2020 wurde bekannt gegeben, dass die Gruppe Little Big für Russland antreten würde. Die Band veröffentlichte damals den Videoclip Uno und wenige Monate später S*ck My D*ck 2020. Natürlich konnte der Freak-Abgeordnete Witali Milonow das nicht unkommentiert lassen: „Das ist absolut abscheuliche Musik für Perverse“, erklärte er und fügte hinzu, dass der Clip nichts mit Kunst und Ironie zu tun habe und nur „absolute Scheusale“ ansprechen könne. 

    Als 2021 die in Tadschikistan geborene Manizha für Russland zum Wettbewerb fuhr, rief die Abgeordnete Jelena Drapeko dazu auf, den Auftritt der Sängerin unter russischer Flagge zu verhindern. Komischerweise forderte sie auch, nicht Manizha zum Wettbewerb zu schicken, sondern Little Big. Milonow war also dagegen, Drapeko dafür, und niemand wird jemals die Logik hinter ihren Positionen verstehen. 

     

    Gemessen in YouTube-Aufrufen, ist Skibidi wohl der größte musikalische Kulturexport der jüngsten russischen Geschichte.  

    Der Krieg setzte all diesen Streitigkeiten ein Ende. Der Frontmann der Band Little Big, Ilja Prusikin, verurteilte die russische Aggression. Wenige Monate nach Beginn des Krieges reiste die Band in die USA aus, und weitere sechs Monate später wurde ihr Frontmann zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Auch Manizha tritt nicht mehr in Russland auf. Ebenso wie viele ukrainische Künstler natürlich. 

     

    Manizha tritt in Russland nicht mehr auf, 2024 hat sie jedoch in Moskau einen Antikriegs-Clip aufgenommen. 

    Was ist nun aus der russischen Musikindustrie geworden? Monetochka singt über die Emigration. Pornofilmy touren mit Liedern über das Putin-Regime um die Welt. Auf der anderen Seite schreien Musiker, die ehemals über Mephedron sangen, nun „Russland, Russland“ bei ihren Konzerten und versuchen zugleich, nicht die Aufmerksamkeit von Jekaterina Misulina auf sich zu ziehen.  

     

    Monetochka: Das war in Russland, also ist es lange her.  

    Staatlich verordnete Kultur 

    Und hier stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass der Staat nicht selbst begreift, dass sich die Interessen des Landes gerade über die Kultur auf internationaler Ebene viel effektiver vorantreiben lassen als mit Hilfe von Waffengewalt? Ich denke, die Machthaber begreifen das sehr wohl, nur tun sie dies auf ihre ganz eigene Weise: 

    Auf der ganzen Welt wurden unter der Ägide von Rossotrudnitschestwo sogenannte „russische Häuser“ eröffnet. Ihre Aufgabe besteht eben darin, die russische Kultur zu verbeiten. Aber was verstehen ihre Führungskräfte unter russischer Kultur? Ein paar dutzend Schriftsteller, ein Dutzend Komponisten und exakt zwei Regisseure, das war’s. Die russischen Häuser verfügen über einen Telegram-Kanal, der dies sehr deutlich veranschaulicht: Die Ukraine wurde [Stand: 01.10.2024] in 252 Beiträgen erwähnt, Puschkin in 234, Putin in 220. Michail Bulgakow und Joseph Brodsky dagegen jeweils nur sechsmal, und Nabokow wird überhaupt nicht erwähnt.  

    Aber die russische Kultur wird vom Westen gecancelt, nicht dass Sie durcheinanderkommen! 

    Der russische Staat behandelt die Kultur wie eine heilige Kuh und glaubt aus irgendeinem Grund, sie permanent retten zu müssen. Lew Tolstoi ist in der Vorstellung der Staatsbeamten und Propagandisten anscheinend so unbedeutend, dass er einfach verschwände, würde Margarita Simonjan ihn nicht verteidigen. Und wenn wir nicht unablässig über Pjotr Tschaikowski reden, werden seine Werke nirgends mehr aufgeführt werden. Dabei sind es die USA, in denen am Unabhängigkeitstag die Ouvertüre „1812“ erklingt. Kann sich irgendjemand erinnern, wann dieses Werk in Russland zum letzten Mal bei einer großen öffentlichen Veranstaltung zu hören war? Unsere Hymne ist die sowjetische und das Einzige, was bei offiziellen wie inoffiziellen Veranstaltungen gespielt wird, vielleicht noch gefolgt von einem Lied von Schaman. Und das sollen wir dann also als russische Musikkultur betrachten? 

    Banale Geschmacklosigkeit  

    Während unsere, und nicht nur unsere, Musiker, ohne es zu wollen, gezeigt haben, dass Russland über eine lebendige, moderne Musikkultur verfügt, die in der Welt wahrgenommen wird, gaben sich unsere Beamten alle Mühe, sich selbst und alle um sie herum zu konservieren. Dabei geht es nicht nur um den fanatischen Hang zur antiwestlichen Rhetorik, eine große Rolle spielt wahrscheinlich ganz banale Geschmacklosigkeit. Hören Sie sich einmal das Ende des Stücks Spolna an, das von Katya Lel gesungen wird. Wissen Sie, wer es geschrieben hat? Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit ist klar, dass solche Menschen Schaman aufrichtig für einen außergewöhnlichen Komponisten halten können. 

     

    „Mit einer Tüte überm Kopf / und Elektroden am Arm / sitzt mein Russland im Knast / aber glaub mir: Das geht vorbei!“ Eto proidjot (dt. Es geht vorbei) ist eine der vielen russischen Protesthymnen. 

    Doch was ist mit der echten russischen Musik? Wird sie wirklich in diesem Sumpf untergehen? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein banaler Gedanke in den Sinn: Die Wendepunkte in der russischen Geschichte gingen immer mit einem gewaltigen Aufschwung der Kultur, insbesondere der Protestkultur einher. So fiel das silberne Zeitalter der russischen Poesie mit dem Untergang des Russischen Reichs und der Gründung der Sowjetunion zusammen. Der Russische Rock lieferte den Soundtrack zur Perestroika und zum Zerfall der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass ich unserem Land eine neue schwere Prüfung prophezeien möchte, aber diese ganze herangereifte coole Musikkultur der Kriegsära lässt sich da ohne Umstände einreihen. 

     
    Schwanensee ist heute ein Code für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“ 

    Die Stimme unserer Musiker ist lauter als die der Politiker. Keine Propaganda wird sie übertönen – und das ist vielleicht der Grund, warum die Herrschenden solche Angst vor ihnen haben. Vielleicht haben sich die russischen Staatsbeamten deshalb die ganze Zeit über so vehement gegen die Soft Power der russischen Musikkultur gewehrt, weil diese weder lenk- noch kontrollierbar ist. Sie lässt sich nicht dazu benutzen, eine „Russische Welt“ zu konstruieren, sie baut und gestaltet ihre eigene unvorhersehbare, aber kluge und menschliche Welt. Eine, in der sich Menschen wie Putin, Sacharowa und Misulina sehr unwohl fühlen werden. 

    Es wird sich zeigen, wer letztlich stärker ist. Das aktuelle Konstrukt „Putins Russland“ oder die niemals vollständig erklärbare Urgewalt der Musik. 

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  • „Ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter”

    „Ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter”

    Die Zustände in belarussischen Arbeitslagern und Gefängnissen beschreiben ehemalige Inhaftierte als unmenschlich. Politische Gefangene werden zusätzlich erniedrigt. Vor allem Frauen wird die Haft zur Qual gemacht, indem das Gefängnispersonal ihnen Tampons und Binden vorenthält. Mit ihrem wenigen Geld müssen sie sich beim Einkauf im Gefängnisladen entscheiden, ob sie dafür Lebensmittel kaufen, die helfen, die körperlich und psychisch belastende Haft zu überstehen, oder eben Menstruationsprodukte. 

    Die Journalistin und Aktivistin Jewgenija Dolgaja hat im Exil die Initiative Politvyazynka gegründet, um auf die besondere Lage von weiblichen politischen Gefangenen in Belarus aufmerksam zu machen. Im Auftrag des russischen Online-Portals Meduza hat sie Berichte von Frauen über ihre Haft protokolliert. Dazu hat die unter Pseudonym arbeitende Fotografin Volya, die auch selbst Teil dieser Stimmen-Sammlung ist, beschriebene Vorfälle mit Videos und Fotos nachgestellt. 

    Die Untersuchungshaftanstalten: Waladarka, Akreszina, Shodino 

    Seit den Protesten 2020 haben sich die Untersuchungsgefängnisse auf der Wolodarski- und der Okrestin-Straße sowie in der Kleinstadt Shodino im Gebiet Minsk einen besonderen Namen gemacht: Die Festgenommenen, die gegen Alexander Lukaschenko und die Wahlfälschung protestiert hatten, wurden dort geschlagen und gefoltert.  

    Die Verfolgung Andersdenkender in Belarus dauert bis heute an. In Erwartung ihrer Gerichtsverhandlung oder in administrativer Kurzhaft leben die Menschen in diesen Gefängnissen ohne Matratze und Decke, ohne Zugang zu einer Dusche oder die Möglichkeit, Paketsendungen zu erhalten. Eine besondere Herausforderung ist das für Frauen während ihrer Monatsblutung. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen im Jahr 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in den U-Haftanstalten Waladarka und Okrestina sowie im Frauenstraflager in Gomel.  

    Als sie mich festnahmen, hatte ich meine Tage. Zuerst brachten sie mich nach Hause, es gab eine Durchsuchung, dann brachten sie mich zur GUBOPIK. Zuhause schaffte ich es, mich umzuziehen und ein paar Sachen einzupacken: drei Unterhosen, fünf Paar Socken – es war ja nicht das erste Mal, ich kenne die Geschichte [meines Landes]. Außerdem nahm ich eine Packung Damenbinden mit. Natürlich packte ich auch Zahnbürsten ein, die wurden mir aber sofort weggenommen. Die Bindenpackung gab ich nicht aus der Hand, verwahrte sie immer zusammen mit meinem Pass. Ich nahm sie überall mit hin: zum Verhör bei der GUBOPIK und dann zum Bezirksamt des Inneren. 

    Dann brachten sie mich nach Okrestina. Dort nahmen sie mir alles ab. Aber die Binden drückte ich fest an meine Brust und sagte: „Das geht nicht, ich blute Ihnen sonst sie ganze Zelle voll, geben Sie sie mir.“ Sie gaben mir die Binden zurück, sie waren alles, was ich noch hatte. 

    Nach dem Gerichtstermin brachten sie uns [die Häftlinge] zur Verbüßung der Administrativstrafe ins ZIP [Isolationszentrum für Straffällige – dek], in die Strafzelle. Dort gibt es absolut nichts, nicht einmal Toilettenpapier. Wir waren acht Frauen in der Zelle. Eine hatte eine 1,5-Liter-Plastikflasche mit Wasser dabei – das war unsere Rettung. Erst tranken wir alle daraus, dann benutzten wir sie für die anderen Bedürfnis, alle acht. Wasser gab es im Karzer, der Hahn kam einfach aus der Wand, ohne Waschbecken. Um es aufzufangen, stellten wir den Abfalleimer unter den Wasserhahn. Wir versuchten, uns mit diesem kalten Wasser zu waschen – es war eh schon alles egal. 

    Durch die Panik wollte meine Periode gar nicht mehr aufhören. Irgendwann hatte ich nur noch fünf Binden übrig. Ich wusste, dass ich auf unbestimmte Zeit mit ihnen auskommen musste. Es war Februar und wir schliefen in der Strafzelle gestapelt auf dem Fußboden. Auf Beton. Wir merkten, wie uns langsam die Nieren abfroren. Wir teilten also diese letzten fünf Binden untereinander auf und klebten sie uns auf die Nieren – um wenigstens ein bisschen vor der Kälte geschützt zu sein [das hat sicher nicht geholfen]. Denn zusätzliche Kleidung hatten wie nicht, wir trugen bereits alle Kleidungsstücke, die wir besaßen – es war sehr kalt. So gingen also meine letzten Binden drauf.   

    Manchmal kam eine Krankenschwester und wir sagten – alle acht Frauen im Chor – dass wir alle gerade unsere Tage hätten. Sie gab, glaube ich, [jeder von uns] eine Binde pro Tag aus. Wir sammelten alle und gaben sie denen, die sie gerade brauchten. Indem wir teilten, retteten wir uns gewissermaßen. 

     
    Bei der Festnahme trugen die Silowiki Farbe auf die Kleidung der Protest-Teilnehmenden auf. Damit markierten sie diejenigen, die sich widersetzt hatten oder im Verdacht standen, Organisatoren zu sein. Blutflecken auf der Gefängniskleidung benutzten die Aufseherinnen ebenfalls als Möglichkeit, zu brandmarken und zu bestrafen, berichtet die Fotografin Volya, die ebenfalls in Kurzhaft saß.  

    Olga Loiko  

    Festgenommen im Mai 2021, saß bis März 2022 in U-Haft in der Waladarka. 

    Im Laden des Untersuchungsgefängnisses gibt es Damenbinden, aber man kommt nicht regelmäßig dorthin, vielleicht einmal aller zwei Wochen, manchmal seltener. Die Auswahl ist sehr dürftig, mehrmals gab es nur Slipeinlagen. Aber auch sonst haben sie dort nur die dünnen Binden mit dem Zwei-Tropfen-Symbol. „Super“, „Night“ oder Tampons gibt es nur in Paketen von Angehörigen oder als Mitbringsel. Wer keine oder nur selten Päckchen bekommt, ist schlecht dran.  

    Eine Zellengenossin [verurteilt wegen einer unpolitischen Sache] bekam von ihrer Mutter zu kleine Binden geschickt, was ihr sehr zu schaffen machte: Sie musste mehrere auf einmal einkleben und ging nicht mit zu den Spaziergängen – um nicht auszulaufen [und Blutflecken auf der Kleidung zu vermeiden]. 

    Einige Male im Monat trank sie vor dem Schlafengehen Kaffee und versuchte, halb im Sitzen zu schlummern. Andere Frauen in der Zelle hatten genügend verschiedene Hygieneartikel, aber sie wollte nicht darum bitten: Sie war überzeugt, dass sie allein zurechtkommt. Als ich ging, überließ ich ihr einen großen Vorrat. Sie nahm ihn und sagte: „Das hebe ich für die Verhandlung auf.“ Da ist man [während der Fahrten zum Gericht] tagelang im Gefängniswagen und danach im Käfig im Gerichtssaal. Da lässt einen keiner häufiger als nötig zur Toilette. 

    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 
    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 

    Tatjana  

    Festgenommen im Winter 2023, weil sie einen „extremistischen“ Instagram-Kanal abonniert hatte; saß im Minsker Isolationszentrum Okrestina. 

    Nach der Festnahme wurde ich sofort zur Aufnahme des Protokolls ins Bezirksamt gebracht. Dort überredete ich eine Mitarbeiterin, mich zur Toilette zu bringen und mir eine Binde aus meinen persönlichen Sachen zu geben. Ich wusste, dass mich im besten Fall Kurzhaft, im schlimmsten Fall ein Strafverfahren erwartete. Ich bat die Mitarbeiter, mir noch eine Binde mitzugeben, bevor es nach Okrestina weiterging. Sie lehnten ab. Da geriet ich in Panik: Ich wusste, dass bald meine Periode einsetzen würde. 

    Ich kam in Untersuchungshaft und am nächsten Tag gab mir das Gericht zehn Tage [Haft – dek]. In der Zelle waren acht Frauen. Eine von ihnen war obdachlos, sie hatte Läuse. Wir hatten weder Decken noch Matratzen. Die Verwandten konnten uns das Notwendigste nicht übergeben, wir hatten nur das, worin wir festgenommen worden waren. Ich trug ein schwarzes Blusenhemd, darunter ein weißes T-Shirt, und Jeans. 

    Die Binde, die ich eingelegt hatte, trug ich schon länger als 24 Stunden. Als sie nutzlos geworden war, musste ich mich entscheiden: Entweder ich zerreiße mein T-Shirt und habe ein paar Stoffeinlagen, friere dann aber in der Bluse (in der Zelle war es kalt), oder ich laufe aus. Ich zerriss das T-Shirt. Meine Zellengenossinnen begriffen, was ich vorhatte, und halfen mir, es in Lappen zu zerteilen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl der Ohnmacht, als ich mein weißes Lieblings-T-Shirt zerriss, die Luke in der Tür sich öffnete und ein grinsender Mitarbeiter sagte: „Was machst du denn da?“  

    Es half nicht viel, ich lief trotzdem aus.  

    Ich bat um Binden, doch die Gefängnismitarbeiter sagten, das sei nicht vorgesehen. Ich fragte auch beim medizinischen Personal: Eine ältere Frau mit Locken kam und fragte, was los sei. Ich bat sie, wenigstens Watte zu bringen, aber sie hörte gar nicht hin. 

    In der Zelle gab es keine Möglichkeit, sich richtig zu waschen: nur kaltes Wasser. Ein Lappen, der vom T-Shirt übriggeblieben war, war mein Duschschwamm. Ich tunkte ihn in Wasser und versuchte mich damit zu waschen. Als ich aus der Haft entlassen wurde, war meine Jeans hinten voll Blut. Ich ging und heulte, ich schämte mich. Mir kam es vor, als würden alle Gefängnismitarbeiter mit dem Finger auf mich zeigen und lachen.  

    Olga (Name geändert)  

    Zweimal festgenommen während der Proteste – 2020 und 2021. Beide Male saß sie im Gefängnis Okrestina. 

    Im August 2020 gab es in Okrestina gar nichts [an Hygieneartikeln]. Man durfte auch nichts mitbringen, nicht einmal Zahnpasta. Wenigstens gab es Toilettenpapier – es war von den Vorgängerinnen übriggeblieben. Das war alles, was man für die Periode hatte. Ich hatte Glück: Während der Zeit dort bekam ich meine Tage nicht. Die Frauen, die sie hatten, nahmen Toilettenpapier, aber trotzdem lief das Blut an den Beinen herunter, ohne dass man duschen gehen konnte. 

    Die Frauen zerrissen ihre Kleidungsstücke, was sie eben hatten. Zum Beispiel ein T-Shirt, wenn sie noch eine zusätzliches Stück Oberbekleidung hatten. Daraus machten sie dann so etwas wie Einlagen. Diese mussten dann auch gewaschen werden, in der Zelle war es heiß, über 40 Grad, und Wäsche trocknete recht schnell. Bei den Aufsehern konnte man um nichts bitten. Einer Frau mit Diabetes wurde sogar ihr Medikament verweigert. 

    Ein Jahr später, 2021, musste ich noch einmal in Kurzhaft [in Okrestina]. Da mussten wir auch sparen: Wir bekamen eine Binde bei der medizinischen Visite, aber die fand nicht täglich statt. Wir taten also immer alle so, als hätten wir gerade unsere Periode, um wenigstens ein bisschen was zu bekommen. Aber auch das war nicht genug. Damals gab es schon keine Pakete von außen mehr, an Binden war kein Rankommen. Jeden Tag wurde die Zelle gefilzt, da gab es einen Mann [einen Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde], der in unseren Schränkchen wühlte und auch einen Tampon weggenommen hätte. Stellt euch das mal vor: Du brauchst etwas so dringend, ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter, aber für ihn ist das ein Spaß. Er klaut es einfach, wozu auch immer. 

    Die Straflager: Gomel und Saretschje 

    In Belarus gibt es zwei Straflager für Frauen. Dort sitzen mindestens 111 belarussische politische Gefangene und hunderte Frauen, die aus nichtpolitischen Gründen verurteilt wurden, ihre Freiheitsstrafen ab. Das größere der beiden Lager ist in Gomel, dorthin kommen alle Frauen, die zum ersten Mal verurteilt werden. Dort sitzt auch Maria Kolesnikowa, eine der Anführerinnen der belarussischen Opposition. Sie verbüßt eine elfjährige Freiheitsstrafe in einer Einzelzelle. Bis Mitte November, als sie endlich ihren Vater treffen durfte, gab es mehr als 18 Monate lang keine Nachricht von ihr. Frauen, die zum zweiten Mal verurteilt werden – angebliche „Gewohnheitstäterinnen“ – kommen in das kleinere Straflager in der Siedlung Saretschje im Gebiet Gomel. 

    Ein Vergehen, das in den belarussischen Straflagern sehr weit verbreitet ist, ist der Verstoß gegen eine Regel der Lagerordnung, die als „Enteignung und Aneignung“ bezeichnet wird. Demnach dürfen die Gefangenen nichts miteinander teilen. Das Verbot bezieht sich auf alles, sogar Essen und Hygieneartikel. Für einen Verstoß gegen diese Regel können die Gefangenen in eine Strafisolationszelle gesteckt werden oder die Erlaubnis verlieren, Pakete zu erhalten, zu telefonieren oder Angehörige zu treffen.  

    Nahezu alle politischen Gefangenen müssen ohnehin auf diese Möglichkeiten verzichten: Viele von ihnen wurden von den belarussischen Machthabern zu „Extremisten“ erklärt. Im Frauenstraflager fallen die „Extremistinnen“ unter die Kategorie der Gewaltverbrecherinnen. Sie tragen Uniformen mit Aufnähern in Form eines gelben Dreiecks. 

    Die Lagerverwaltung kann den „Gewaltverbrecherinnen“ nach eigenem Ermessen Anrufe und Pakete untersagen, ebenso die Einkaufsmöglichkeit im Gefängnisladen limitieren. Diese Begrenzung kann bei ein oder zwei Basiseinheiten liegen [eine Basiseinheit beträgt aktuell 40 Belarussische Rubel, das sind etwa 11 Euro – Meduza/dek]. Für diesen Betrag muss die politische Gefangene dann Toilettenpapier, Binden und Tampons kaufen – und Lebensmittel, wenn sie keine Pakete erhält.  

    Alena  

    Verurteilt im Herbst 2022 wegen der Teilnahme an Protestaktionen, verbrachte zwei Jahre in Gefangenschaft, unter anderem im Frauenstraflager Gomel. 

    Der Arbeitslohn im Straflager liegt zwischen 2 und 20 Belarussischen Rubeln im Monat [entspricht aktuell 0,58 – 5,80 Euro – dek]. Die Eine kauft sich dafür einen Quarkriegel oder einen Jogurt, die Andere einen Apfel, um sich wenigstens eine kleine Freude zu bereiten. Man hat so einen Appetit auf Obst und Gemüse! Die Möglichkeit, Päckchen zu erhalten, durch die man ohne den Einkauf im Gefängnisladen auskommt, steht auf sehr wackeligen Füßen. Gegen politische Gefangene kann ohne nachvollziehbaren Grund Meldung gemacht werden – und schon wird die Paket-Erlaubnis entzogen. 

    Im Straflager darf man einmal im Monat eine Hygienebestellung aufgeben: ein Stück Kernseife, ein Stück Toilettenseife, eine Rolle vom billigsten Toilettenpapier, eine Packung Damenbinden. Das Toilettenpapier ist von so schlechter Qualität, dass es förmlich zwischen den Fingern zerfällt. Wenn diese Artikel aufgebraucht sind, behilft sich jede, wie sie eben kann. Die Eine stiehlt bei anderen, die Andere riecht schlichtweg nach Urin. Wieder andere bringen heimlich Stoffstücke aus der Nähwerkstatt mit.  

    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 
    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 

    Anna (Name geändert)  

    Festgenommen im Herbst 2022, verurteilt wegen der Teilnahme an den Protesten, freigelassen im Frühling 2024. 

    Den Frauen reicht nicht, was pro Monat an Hygieneartikeln verteilt wird. In meiner Einheit verschwanden ständig Socken vom Wäscheständer. Ich verstand nicht, woran das lag. Erst später erfuhr ich, dass die Häftlinge sie stehlen, die keine Hilfe von außen mehr bekommen – hauptsächlich Frauen, die schon lange einsitzen. Sie benutzen diese schwarzen Socken als Binden. Socken und Stoffreste, die sie aus der Textilfabrik mitnehmen, all das benutzen sie als Binden. Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal sah, dass in der Toilette der Werkshalle ständig blutige Stofffetzen liegen.  

    Die politischen Häftlinge haben es damit ein bisschen leichter, weil sie, auch wenn es nicht erlaubt ist, untereinander teilen. Aber im Allgemeinen ist die hygienische Situation furchtbar. Eine endlose Erniedrigung. Im Straflager ist einmal pro Woche Duschzeit, gründlich waschen kann man sich nicht. Gut ist schon, wenn man sich über der Toilette in der Zelle mit einer Wasserflasche waschen kann. Stell dir das mal vor: Du wäschst dich über der Toilette und um dich herum sind überall Menschen. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. 

    Darja Afanassjewa  

    Belarussische Feministin und Aktivistin, die sich für Frauenrechte und die LGBTQ-Community in Belarus einsetzt. Festgenommen 2021 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2024. Saß im Frauenstraflager in Gomel.  

    Im Straflager hatte ich zum ersten Mal Menstruationsschmerzen. Vorher war mein Zyklus immer regelmäßig, die Blutung dauerte drei Tage und ich hatte keinerlei Beschwerden. Mit Beginn meines Lebens in Unfreiheit kam die Regel nicht mehr regelmäßig: Es konnte eine mehrmonatige Pause geben, danach zwei Wochen ununterbrochene Blutung. Der erste und der letzte Tag waren immer sehr schmerzhaft. Ich weiß noch, dass ich mich bei der Zellenkontrolle nicht gerade hinstellen konnte, solche Bauchschmerzen hatte ich. 

    Dann gehst du zur sogenannten „Ausgabe“, einem Fenster, wo Tabletten ausgegeben werden. Du sagst, du hast deine Tage und bittest um Schmerzmittel. Das wird abgelehnt, weil du dafür ein Rezept vom Arzt brauchst, für dessen Sprechstunde du dich aber eine Woche vorher anmelden musst. Der Arzt überweist dich an den Gynäkologen, bei dem man sich wieder eine Woche vorher anmelden muss. Die Lagerangestellten wissen das alles. Du stehst also da, die Bauchschmerzen bringen dich fast um, du siehst vor dir diese Tabletten, die du aber nicht bekommen kannst. Zudem wirst du wegen der Schmerzen auch nicht von deinen Diensten (zum Beispiel Putzdienst), dem Abladen von angelieferten Kartoffelsäcken oder dem Reinigen des Außengeländes freigestellt. 

    Einmal bekam ich meine Periode – und draußen schneite es. Im Straflager ist Schnee verboten: Alles muss bis auf den Asphalt weggeschippt werden. Also schippte auch ich nach dem Frühstück mehrere Stunden lang Schnee. Nachdem ich schon eine Weile Schnee in Säcken herumgeschleppt hatte, merkte ich, dass der Schmerz mich umbringt, dass ich bereits auslaufe, aber ich habe nur einen Rock, wenn da Blutflecken draufkommen, muss ich Zeit finden, sie noch vor der Arbeitsschicht auszuwaschen [um keinen Verweis zu bekommen]. 

     
    Wie improvisiert man Binden mit verfügbaren Mitteln? Eine Rekonstruktion. Aus der Erzählung der politischen Gefangenen Nadeshda für das Projekt Politvyazynka: „Als ich nach Okrestina kam, gaben sie mir keine Binden. Schließlich machte ich mir selbst welche – aus Zellophan und Brot, eingewickelt in Toilettenpapier“. 

    Maria (Name geändert)  

    Saß von 2019 bis 2021 im Frauenstraflager in Gomel, verurteilt wegen Drogenbesitz. 

    Menstruation im Gefängnis ist ein schwieriges Erlebnis. Durch den Stress verschlimmern sich die Schmerzen und die Dauer der Blutung verlängert sich. All das vor dem Hintergrund fehlender Hygieneartikel, die man nirgends bekommen kann.   

    Ich hatte wirklich unglaubliches Glück: Ich hatte meine [wiederverwendbare] Menstruationstasse dabei. Damit hatte ich keinerlei Probleme, im Unterschied zu den anderen Frauen in der Zelle. Eine der Frauen, sie war schon über 40, benutzte Stofflappen, und ihre Monatsblutung dauerte 28 Tage lang. Ich teilte meine Binden mit ihr, bat meine Familie, mir mehr mitzuschicken, aber sie reichten trotzdem nicht. Sie verwendete Lappen, die sie dann wusch. Eine andere junge Frau wurde von der langen und schmerzhaften Monatsblutung krank. Sie hatte einen sehr niedrigen Eisenwert und wurde anämisch.  

    Einmal hatte ich aber auch eine schlimme Erfahrung. Etwa in der Mitte der Haftzeit wachte ich auf der oberen Pritsche auf, ringsum war ein schreckliches Chaos. Innerhalb von 20 Minuten mussten sich 120 Frauen für die Arbeit fertigmachen und perfekte Sauberkeit hinterlassen. Alle versuchten, sich an der Toilette anzustellen und so schnell wie möglich ihr Bett zu machen. Ich aber wachte in einer Blutlache auf, die – so schien es mir – schon durch die Matratze tropfte, so viel war es. 

    Ich wusste überhaupt nicht, wie ich aufstehen sollte. Alles war rot, was sollte ich machen, wohin gehen? Wo fange ich an, das zu beseitigen? Was mache ich mit der Bettwäsche, wie bringe ich das Bett in Ordnung? Mein Kopf drohte zu bersten, ich heulte los. Aber niemand hatte einen Nerv für mich. Ich begriff, dass ich absolut allein mit diesem Problem bin und dass ich keine Lösung dafür habe. Ich heulte einfach, mehr ging nicht. 

    Zehn Minuten saß ich da und weinte, bis ich allein in der Zelle war. Dann kam eine junge Frau herein, die ein bisschen mit mir sprach: „Was machst du denn? Du musst raus, sonst kommst du in die Strafzelle!“ – das ist die Strafe, wenn man zu spät kommt. Ich erklärte ihr, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, wie ich damit fertigwerden soll. Sie sagte: „Zieh dich an, komm schnell!“ Innerhalb von 30 Sekunden waren wir draußen. Auf dem Bett war keine Bettwäsche, die Matratze war voll Blut, aber wie durch ein Wunder klärte sich alles: Ich bekam nur Toilettendienst für die Verspätung. Unterwegs fragte uns eine Offizierin, was los sei. Die andere Gefangene erklärte ihr, ich hätte einen Nervenzusammenbruch wegen der Periode. Mir kam es damals so vor, als sei die ganze Welt zusammengebrochen. 

    Ich denke, das lag an der Scham, die schon seit der Kindheit in mir steckt, seit der Zeit der ersten Periode. Damals wurde bei mir offensichtlich einiges ausgelöst: Angst und Scham, dass alle mich anstarren werden, dass in der Lagertoilette 40 andere Menschen zuschauen werden, wie ich das Blut auswasche. Ich muss jetzt neu betrachten, dass das alles überhaupt nicht peinlich ist. Du lebst einfach, und manchmal fließt Blut aus dir, das ist eine ganz normale physiologische Sache. Aber obwohl im Gefängnis nur Frauen um mich herum waren, gab es doch eine furchtbare Ablehnung dieses Normalen, Physiologischen, Weiblichen. Wenn irgendwo Tropfen vom Monatsblut zurückblieben, gab es gleich einen Skandal in der Zelle. Wahrscheinlich konnte ich aus diesem Grund mit der Situation nicht umgehen. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in der Waladarka und in Okrestina, danach im Frauenstraflager Gomel. 

    Ich hatte meine Periode, als man uns gerade in die Quarantänestation gebracht hatte, vor der Aufnahme ins Straflager. Aber in der Quarantäne interessiert es niemanden, ob du krank oder gesund bist. Alle müssen der Reihe nach das Essen [aus der allgemeinen Kantine] in dieses isolierte Gebäude schleppen. Das Wirtschaftsgebäude, in dem gekocht wird, befindet sich am anderen Ende des Geländes. Man muss [mit den Kübeln] durch das ganze Lager, durch diese ganze Kleinstadt laufen.   

    In der Quarantäne sind immer drei Einheiten à ungefähr 25 Personen. Für diese 60 bis 70 Leute muss das Essen in riesigen Gefäßen gebracht werden: Frühstück, Mittag, Abend. Eine nach der Anderen schleppten wir die Kübel, ich war vier Mal dran. Als ich einmal sagte, dass ich heute nicht schwer heben könne, antworteten sie mir: „Hier ist niemand gesund, alle sind krank. Es ist dein Problem. Alle tragen, also trägst du auch.“ 

    Nach einer Woche war meine Periode noch immer sehr stark. Mir war klar: Da stimmt etwas nicht. Die medizinische Kontrolle begann, wir wurden zur Gynäkologin gebracht. Ich sagte, ich könne heute nicht, ich hätte meine „kritischen Tage“. Die Gynäkologin sagte, das interessiere sie nicht: Los, ab auf den Stuhl. Ich kletterte hoch, bekleckerte alles mit Blut. Die Ärztin erschrak und sagte: „Sie haben ja eine Schwallblutung.“ 

    Mir wurden blutungsstillende Medikamente verschrieben, und etwa nach einer Woche hörte die Blutung endlich auf. Aus mir war also zwei, wenn nicht drei Wochen lang Blut geflossen. 

    Dann gab es ein weiteres Problem. Ich hatte einen Vorrat an Binden in einem Paket bekommen, aber vom Stress war meine Blutung ja viel stärker als in normalen Zeiten. Mein Vorrat war sehr schnell aufgebraucht. Woher also neue nehmen? Im Gefängnisladen gab es nur dünne Slipeinlagen, Tampons gab es auch nicht. Es war furchtbar. Ich probierte alles Mögliche, verwendete am Ende sogar Wattepads. 

    Es war jeden Monat von Neuem eine Herausforderung, besonders nachts. Alle „Extremistinnen“ schlafen auf der oberen Pritsche. Leise, ohne Knarren, kommst du dort nicht runter. Die „Eingesessenen“ schimpfen sofort fürchterlich, wenn sie gestört werden. Konflikte will man nicht. Aber diese ganze Wattekonstruktion muss man nachts austauschen. Duschen kann man nur einmal pro Woche, die übrige Zeit läuft man nur mit diesen Flaschen [mit Wasser für die Katzenwäsche] herum, und denkt permanent nur an eines – bloß nicht auslaufen. Wenn du nämlich Rock oder Uniform dreckig machst, kriegst du sie nicht wieder trocken. Auf dem Heizkörper darf man nichts aufhängen, eigentlich kann man nirgendwo etwas trocknen. Eine andere Uniform anzuziehen, ist nicht erlaubt – das ist dein Problem. Mit vollgeschmierten Sachen darfst du aber auch nicht rumlaufen [sonst gibt es einen Tadel]. Eine echte Denksportaufgabe. 

    Olga Klaskowskaja  

    Früher Journalistin bei Narodnaja Wolja, festgenommen im Oktober 2020, freigelassen im Winter 2022. Später noch einmal fast fünf Monate in der Strafzelle und im Karzer des Frauenstraflagers in Gomel im allgemeinen Strafvollzug. In Gefangenschaft erlitt sie abnorme Gebärmutterblutungen und musste zweimal operiert werden. 

    In die Strafzelle darf man keine Bindenpackung mitnehmen, selbst wenn sie aus der eigenen Paketsendung stammt. Binden werden einzeln und nach Laune der Mitarbeiter verteilt: Wenn sie Lust haben, geben sie welche, wenn nicht, dann nicht. Du bittest und bettelst um Seife und eine Binde. Dann wendet sich der Verantwortliche für die Strafzelle an die Hauswartin der Abteilung, in der du gelistet bist, und dann bringt dir die Hauswartin die Sachen – wenn du Glück hast. 

    Für mich war das ein Alptraum. Ich musste ständig betteln, mich erniedrigen. Aber welche Optionen hatte ich? Ich hatte starke Blutungen, hätte mehrere Binden gleichzeitig einlegen müssen. Man darf nur eine Unterhose in die Strafzelle mitnehmen. Aber bei starker Blutung reicht eine Unterhose nicht. Ein Mitarbeiter erbarmte sich und erlaubte mir eine zweite. Ich konnte also eine Unterhose mit kaltem Wasser waschen und hängte sie auf den Heizkörper, wofür ich gerügt wurde, weil man nur waschen darf, wenn Waschtag ist. Es war die reinste Hölle. 

    Als ich [aus dem Krankenhaus] wieder in meine Zelle zurückkam, verboten sie mir die Paketsendungen. Wenn du nur zwei Basiseinheiten [etwa 22 Euro – dek] zur Verfügung hast, kannst du nicht viele Binden kaufen. Die Qualität der Binden, die es im Gefängnisladen gibt, ist auch nicht gut. Deshalb musste ich mir mit Stofflappen behelfen. Ich sah andere Häftlinge, die das auch machten. Denn im Grunde gibt es keine andere Möglichkeit. 

    Ich empfand völlige Erniedrigung, Ausweglosigkeit, Frustration, Minderwertigkeit. Ich weiß noch, wie ich mit nackten Beinen in der Strafzelle stand – dort darf man keine Leggins oder Strumpfhosen tragen – und an meinen Beinen Blut herablief, auf dem Boden war schon eine Lache. Die Kolonie-Mitarbeiterinnen standen da, lachten und sagten: „Was musstest du auch das Gesetz brechen.“ 

    Die Fotografin Volya berichtet von ihrem Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis 

    Während der Proteste in Belarus wurde Volya zweimal festgenommen – beim Frauenmarsch am 19. September und beim Sonntagsmarsch am 8. November 2020. 

    Am 8. November 2020 fand eine der größten Massenfestnahmen statt. Zuerst nahmen sie nur Männer mit. Doch dann hörten wir aus den Funkgeräten die Anweisung: „Alle Weiber einsammeln“. Im Bezirksamt des Inneren, wohin ich gebracht wurde, waren schon über hundert Festgenommene, die Hälfte davon Frauen. Eine der Frauen hatte eine rote Markierung auf dem Arm, einer anderen war ein rotes Kreuz auf den Rücken gemalt. So markierten sie diejenigen, die sich bei der Festnahme widersetzt hatten oder unter Verdacht standen, Organisatorinnen zu sein. 

    Nach den Formalitäten brachten sie uns ins Gefängnis Shodino. Dort begrüßte man uns mit Hunden und Beleidigungen. Sie nahmen uns die Taschen ab, dann mussten wir in der Hocke etwa einen Kilometer weit durch den unterirdischen Gang zu den Zellen rennen. Eine Frau bat darum, normal gehen zu dürfen, da sie Herzprobleme habe, aber man erlaubte es nicht. Sie sagten, wenn sie nicht so laufe wie alle, würde es für die anderen schlimmer. Die Frau weinte und lief weiter in der Hocke. 

    Dann begann die Visitation. Vor der Zuweisung in eine Zelle musst du dich vor einer Mitarbeiterin [des Gefängnisses] nackt ausziehen und dich hinhocken – auch wenn du deine Tage hast. Die Binde muss man aus der Unterhose entfernen. Nach der Visitation verteilten sie uns auf die Zellen. In einer Viererzelle waren wir 20 Personen. In der Zelle selbst gab es nichts – keine Hygieneartikel, keine Matratzen, keine Kissen, nur eine Rolle Toilettenpapier. Trinkwasser und Essen bekamen wir auch nicht. Manche schliefen auf dem Bettgestell, manche auf den Bänken am Tisch. Ich schlief auf dem Fußboden. In der Zelle war es kalt, doch bei geschlossenen Fenstern konnte man nicht atmen. Die ganze Zeit über hörten wir, wie die Männer geschlagen wurden, wie man sie zwang, die Hymne zu singen. Am Morgen kam der Ermittlungsrichter zu uns. 

    Ich las das Protokoll aufmerksam durch und fand Fehler darin. Meine Akte wurde zur Überarbeitung geschickt – unglaubliches Glück. Meine erste Akte [vom 19. September] war auf diesem Weg verloren gegangen, die zweite wurde überarbeitet, danach kam die Verhandlung. Ich bekam eine Geldstrafe mit fünf Basiseinheiten. An diesem Tag ließen sie fast alle gegen Geldstrafe gehen. Ziel der Festnahme war Einschüchterung und Aufnahme in die Datenbank [mit Teilnehmenden der Protestaktionen]. 

    Wenn es einem wie durch ein Wunder gelingt, Binden mit in die Isolationshaft zu bringen, dann ist das ein Erfolg, da man sie auch anders verwenden kann. Manchmal können sie ein Kopfkissen ersetzen, vor dem [kalten] Beton schützen. Manche benutzten sie als Schlafmaske, da das Zellenlicht durchgehend brennt. 

    Wenn du zu einem Protestmarsch gehst, nimm so viele Binden mit wie möglich: für dich selbst und deine Zellengenossinnen. So habe ich es gemacht – und alle meine Bekannten auch. 

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    Anka Upala ist eine bekannte zeitgenössische belarussische Schriftstellerin. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf Janka Kupala, einen klassischen Autor der belarussischen Literatur.   

    Auch Anka Upala musste Belarus wegen der Repressionen verlassen, das Lukaschenko-Regime verfolgt Autoren und verbietet Literatur. „Ich will eine andere Zukunft”, schreibt sie. „Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit.” In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft fragt sie sich, was von dem Wandlungsprozess, der 2020 angestoßen wurde, geblieben ist. 

    Die deutsche Übersetzung und belarussische Originalversion des Essays werden zeitgleich mit der schwedischen und englischen Übersetzung veröffentlicht, die der Svenska PEN möglich gemacht hat. 

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Wundersame Tiefseefische mit Laternen über den Köpfen steigen nach einer Unterwasserkatastrophe vom Meeresboden auf und werden ans Ufer gespült. Man findet sie plötzlich überall auf der Welt. So betrachte ich das Auftauchen der großen Menge meiner Landsleute im Ausland in den letzten Jahren, das durch die politische Krise in Belarus hervorgerufen wurde. 

    „Gestern habe ich Leute aus Belarus getroffen!“, sagt mein Berliner WG-Mitbewohner Matze, als ich morgens in die Küche komme, um mir einen Kaffee zu machen. 

    Matze hatte gestern Abend mit Freunden zu Hause Schnaps getrunken, danach gingen sie in eine Bar. Dort machte er dann diese anthropologische Entdeckung. 

    „Da waren zwei Frauen, sie saßen in einer Ecke. Ich ging hin und fragte sie: ‚Warum sitzt ihr hier so in der Ecke?‘ Sie sahen aus wie zwei Spioninnen!“ 

    „Wieso hattest du diesen Eindruck?“ 

    Matze überlegt. Dann antwortet er: 

    „Sie waren viel zu perfekt!“ 

    „Eine litauische Bekannte, die seit zehn Jahren mit einer Belarusin zusammen ist, sagte mir mal, dass die Belarusen sehr kontrolliert sind.“ 

    „Ja, genau. Sie waren irgendwie so unentspannt.“ 

    „Sie sind es so gewöhnt. Ich glaube, sie können im Ausland nicht so schnell entspannen. Aber sie waren schon aufgeschlossen und haben mit dir geredet, oder?“ 

    „Ja!“ 

     

    Längst Vergangenes empfinde ich heute oft, als sei es gestern gewesen, und die Gegenwart als sei sie eine Wiederholung. Seit der Siegeserklärung des Usurpators nach den letzten Wahlen hat ein neuer Durchlauf begonnen. Und es war schwerer als bei den vorangegangenen Malen. Sicher auch, weil es im Vorfeld diesen Hoffnungsschimmer auf Veränderungen gab. Und der ist verloschen.  

    Ich habe aufgehört, einen Ausweg aus der Zeit zu sehen. Wissen über die Vergangenheit scheint es irgendwie zu geben, irgendwie aber auch nicht. Die Menschen von heute scheinen nichts von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zu wissen. Wir stehen einfach da und beobachten, wie sich die Mauer der Zukunft über uns schiebt, die wir aus uralten Büchern kennen, sie bedeckt den halben Himmel: die Repressionen, der Krieg, die pathologische Herrschaft, die Unmöglichkeit heimzukehren. 

    Erst war ich in Litauen, danach in Deutschland. Meine litauischen und deutschen Bekannten sagen, dass bald wieder ein neuer Weltkrieg beginnt. Meine Freundinnen in Belarus sagen nichts. Wenn wir uns zu Videogesprächen treffen, reden wir nicht mehr über das Furchtbare. In unseren Gesprächen gibt es fast keinen Krieg und kein Gefängnis. Die Haut ist zu dünn, man darf sie nicht berühren. Erwähne nichts, worauf du keinen Einfluss hast. Wie beim Briefeschreiben an politische Gefangene, als ich immer das Thema Essen vermied und nur über Alltagsdinge schreiben konnte. 

     

    Am Abend ist meine Stimmung mies, gerade habe ich in der S-Bahn Online-Nachrichten gelesen, darunter auch eine Prognose der Zukunft unserer Region. Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir: „Lasst uns lesen.“ Unser Minsker Freundinnenkreis hat ein Ritual: Wir lesen uns gegenseitig vor. Weil wir das auch weiterhin per Video machen, lässt sich alles, was um uns herum passiert, besser aushalten. Gleichzeitig bekommt man noch eine kleine Impfung Vergangenheit. Eine Freundin schlägt ein Buch aus der Bibliothek auf, ich höre in Berlin zu. Herbstanfang 1915. Maxim Harezki, Die Kommunarden von Wilna:  

    Sie entlassen anscheinend die Verbrecher aus den Gefängnissen. Die Politischen bringen sie alle weg, niemand weiß, wie und wohin. Sehr geheim wird das erledigt, schrittweise und im Dunkel der Nacht. Irgendwohin fern der Front, ins tiefe Russland, vielleicht Sibirien, damit mein Vater mehr fröhliche Gesellschaft hat. 

    Kommt man zum Bahnhof, sieht man Berge von Sachen: Kisten, Körbe, Koffer, Pflanzen, russische Ikonen … Die gewichtige Obrigkeit und die reichen Leute nehmen in Privatabteilen Platz. Fressen und trinken wie vor dem großen Hunger. Fröhlich rufen sie: 

    „Nicht für lang!“ 

    „Bald kommen wir wieder!“ 

    „Wir werden wieder im schönen Wilna spazieren!“ 

    Dabei sind nachts schon dumpf die Kanonen zu hören … Das sind die Deutschen, sagte man, sie nehmen Kaunas ein … 

     

    Wenn alles schon einmal aufgeschrieben wurde, warum kann man dann nichts ändern? Ich will eine andere Zukunft. Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit. Meine belarusische Großmutter überlebte den Zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil sie durch ein Loch in der Scheunenwand entkam. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass jede Person meiner Generation in Belarus eine solche Großmutter hat, die wie durch ein Wunder überlebt hatte. Das ist meine Norm. 

    Ich habe Belarus Ende letzten Jahres verlassen, ich hatte Glück. Großmutter, ich bin nach Deutschland geflüchtet! Bin dem Staat durch die Finger geschlüpft, die er nach mir ausgestreckt hat. Sie können mir nichts mehr tun. Aber die Menschen in Belarus haben keinerlei Schutz. Über jedem hängt ein Schwert, auch wenn das für die seltenen Gäste aus dem Ausland unsichtbar ist. Man sagt, sie staunen über Belarus, von dem sie – wenn überhaupt, dann nur Schreckliches gehört haben. Es gibt Restaurants, in den Geschäften mangelt es nicht an Lebensmitteln, die Menschen sind gut gekleidet, sie können lächeln und sogar lachen. Ringsum läuft scheinbar das Leben eines europäischen Landes weiter – denn das ist Belarus ja, auch wenn viele keine Ahnung von seiner Existenz haben. Nur auf der Ebene der Macht gibt es einen Bruch. In jedem Moment kann der Staat jeden beliebigen Menschen aus seinem Leben reißen und ihn zerstören, unter unmenschlichen Bedingungen festhalten, ihn und seine Angehörigen quälen, Arbeitsstelle, Besitz, Freiheit, Kontakte, Gesundheit und sogar das Leben nehmen. Die Person verschwindet und über ihr schließt sich das Wasser. Niemand in Belarus ist sicher. Die ausländischen Touristen sind keine Ausnahme. Ich erinnere mich noch daran. Man lebt mit einem Stein auf dem Herzen.  

    Die Tür ist zu. Wenn etwas passiert, kann die Mehrheit nicht fliehen. Es ist fast unmöglich, mit einem belarusischen Pass ein Schengen-Visum zu bekommen. Bislang stellen Deutschland und Italien noch Mehrfachvisa aus. Deutschland und Italien. Aber um ein deutsches Visum zu beantragen, muss man fast ein Jahr vorab einen Termin machen. Die Menschen stehen in einer endlosen Warteschlange, um sich in das Terminheft für die Beantragung eines italienischen Visums einzuschreiben. Es wird „Alehs Heft“ genannt, nach dem Namen des Botschaftsmitarbeiters, der es führt. Wie in einem Fantasyroman. 

    In furchtbaren Zeiten gibt es furchtbar viel Literatur. Früher habe ich häufig darüber nachgedacht, wie die belarusischen Schriftsteller, die in den 1930er Jahren während der stalinistischen Repressionen erschossen wurden, so viele herausragende Werke schreiben konnten, obwohl sie so jung gestorben sind. Mein Lieblingsprosaautor, Lukasch Kaljuha, bekannt für seine besondere, außergewöhnlich reiche Sprache, wurde verhaftet und in die Verbannung geschickt, als er gerade 23 Jahre alt war, erschossen wurde er mit 28. Wenn ich an ihn denke, könnte ich weinen wie um jemanden, den ich persönlich kannte. Es war so lustig mit ihm, als wir seine Texte lasen. Maxim Harezki war 37, als er verhaftet wurde, mit 45 wurde er erschossen. Harezki zu lesen ist wie eine Zeitreise. 

    „Ich habe die Theorie“, sagte meine polnische Freundin und Dichterin Natalia, „dass Autoren, die früh im Leben harte Erfahrungen machen, auch früh als Schriftsteller reifen.“ 

    Mir wäre das nicht in den Kopf gekommen. 

     

    Eine Woche bevor der litauische Migrationsdienst mich nach Deutschland abschob, ging ich auf die Suche nach dem Ort, an dem im Jahre 1864 die Führung des Russischen Imperiums den Revolutionär Kastus Kalinouski erhängte, der für die Belarusen die Idee der nationalen Unabhängigkeit personifiziert. An dem Platz im Vilniuser Stadtteil Lukiškės, wo damals der Galgen stand, stehen heute das Konservatorium und, im Gebäude, das ehemals den KGB beherbergte, das Genozid-Museum. Ich setze mich auf eine Bank und schaue über den Platz. Wenn keine Veränderungen kommen, dann trennt die Zeit gar nichts, vor 160 Jahren ist gleich gestern. Als man Kalinouski vor der Hinrichtung einen Adeligen nannte, widersprach er: „Bei uns gibt es keinen Adel, alle sind gleich!“ Ein Idealist. Zum Zeitpunkt seines Todes war er gerade sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte früh harte Erfahrungen gemacht. 

    Vor Kurzem kam ich hierher nach Lukiškės zu einem Konzert, um den litauischen Sänger Silvester Belt zu sehen und zu hören. Nach meinem Geschmack hatte Litauen dieses Jahr den elegantesten Beitrag zum Eurovision Song Contest. Mir gefällt, wie Silvester sich kleidet, wie er seine Schultern bewegt, ich mag sein feines Gesicht und besonders seine litauische Sprache. Sie klingt wunderschön. Er singt vom aufgeschobenen Leben. Sein lyrischer Held wird gebeten, ein wenig zu warten, und noch ein wenig, immer „morgen, morgen, morgen“. Ein Tag vergeht, und noch einer, und nichts ändert sich.  

    Silvester Belt ist der erste offene LGBTQ+Sänger in der litauischen Geschichte, der im nationalen Vorentscheid für den ESC ausgewählt wurde, aber er hat auch Mobbing erfahren. „Ich bin ein Beispiel für das progressive Litauen“, wandte er ein, als ihm in einem Interview gesagt wurde, seine Heimat sei nicht das progressivste Land in Europa. „Ich bin hier, um euch zu unterstützen“, sagte er zu den Menschen in Litauen, die er repräsentiert, „denkt nicht, dass ihr schlechtere Menschen seid als die anderen.“ Ich schaue im Internet nach, wie alt er ist. Der Typ ist 26. In seinem roten Anzug brennt er auf der Bühne, wie das Feuer seines Mutes. 

    Klassische Musik dringt aus dem Fenster des Vilniuser Konservatoriums. Von klassischer Musik zu Protesten „Für unsere und eure Freiheit!“ ist es nur ein Schritt. 

     

    2017 fanden litauische Archäologen die sterblichen Überreste der Aufständischen von 1863, darunter auch Kalinouskis. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, der Körper mit Kalk bedeckt. Die russischen Machthaber hatten beschlossen, die Leichen nicht weit zu transportieren, und vergruben sie mitten im Herzen von Vilnius, auf dem Gedyminas-Hügel. Man fand sie zufällig, nach einem Erdrutsch am Hang des Hügels. Die Umbettung fand zwei Jahre später statt. Alle Staaten, für die der Aufstand von Bedeutung ist, sandten offizielle Vertreter, aus Polen und Litauen waren die Präsidenten anwesend. Aus Belarus kam der stellvertretende Premierminister, mit anderen Worten: Niemand. Die Grabsteine der Aufständischen sollten in polnischer und litauischer Sprache beschriftet werden, nicht auf Belarusisch, denn der belarusische Staat hatte keine offizielle Anfrage gestellt. So läuft das. Belarusische Aktivisten, deren weiß-rot-weiße Flaggen auf dem Begräbnis dominierten, erreichten schließlich Inschriften in belarusischer Sprache. „Wir haben Briefe geschrieben!“, bestätigt mein Vilniuser Kollege Uladsislau. Der litauische Staat hatte sie ernstgenommen. Der belarusische hingegen machte keinerlei Ansprüche auf den Aufstand für nationale Unabhängigkeit geltend, dessen Geschichte wir mit unseren Nachbarn teilen. Idealerweise sollten sich belarusische Politiker mit Diplomatie beschäftigen und gemeinsam mit den litauischen Kollegen ein für beide Seiten akzeptables Narrativ unserer gemeinsamen Vergangenheit entwickeln, damit wir wie gute Nachbarn und Freunde in gegenseitigem Respekt nebeneinander leben können. Das Problem ist nur, dass es im belarusischen Staat keine belarusischen Politiker gibt. 

     

    Wenn ich außerhalb von Belarus bin, ist eine meiner stärksten Empfindungen das Gefühl der nationalen Verwaisung. 

    „Was weißt du über Belarus?“, fragt der slowakische Schriftsteller Pavel die österreichische Dramaturgin Miriam. 

    Pavel und Miriam habe ich während eines Stipendiums am Literarischen Colloquium Berlin kennengelernt, wir verbringen viel Zeit mit Gesprächen. 

    „Tut mir leid, aber eigentlich nur, dass dort Diktatur herrscht. Ich habe vorher noch nie jemanden aus Belarus getroffen“, antwortet Miriam. 

    „Kennt ihr diese Europakarten im Internet, die sich über die verschiedenen Länder lustig machen“, sage ich. „Früher sind mir immer wieder welche aufgefallen, die einen Witz zu jedem Land hatten, nur über Belarus gab es nichts. Manchmal war es einfach grau schraffiert. Im Ausland war über das Land also so wenig bekannt, dass man sich nicht mal Witze darüber ausdenken konnte. Wir sind die Waisen Europas. Wir haben keine nationalen, probelarusischen Staatsvertreter, die unser Land in der Welt repräsentieren und ein belarusisches Narrativ verbreiten könnten. Ich sehe keine andere Erklärung dafür, dass das Land auf der Welt so wenig bekannt ist.“ 

    Der Hauptgrund dafür, dass Belarus global eine terra incognita bleibt, ist aus meiner Sicht die Dysfunktionalität des Staates als nationale Vertretung. Staaten unterhalten als Institutionen Beziehungen, tauschen offizielle Anfragen aus, verteidigen ihre Kultur und Geschichte, machen das Land präsent und sichtbar auf dem internationalen Parkett. Findet all das nicht statt – ist das Land nicht „lokalisierbar“. 

     

    Im Museum der Wannseekonferenz in Berlin, dem Gebäude, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Entscheidung über die „Endlösung der Judenfrage“ trafen, hatte ich die subjektive Empfindung, dass Belarus dort nur als Territorium präsent ist. Ich konnte die „Stimme“ Israels, Polens, Deutschlands hören, aber nicht Belarus. Und das kommt mir seltsam vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wir einen enorm hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung. Jiddisch war eine der Amtssprachen in Belarus. Die belarusischen Kleinstädte sind gefüllt mit Geschichten von ermordeten Juden. Ich erinnere mich, wie ich an einem der Massengräber stand. Ein Einwohner erzählte, dass einmal ein Fundament für ein Denkmal für die Ermordeten gesetzt werden sollte. Als man zu graben begann, kündigten die Bauarbeiter vor Schreck, weil man gar nicht graben konnte, Jahrzehnte nach den Verbrechen hob der Bagger anstelle von Erde unverweste Leichen aus. Man entschloss sich, kein Fundament zu setzen, und legte einfach Betonplatten auf die Fläche. 

    Wer wird in dieser Geschichte für Belarus sprechen? Ohne offizielle Vertretung ist das schwer. Das Tsichanouskaja-Team, eine probelarusische, protostaatliche Struktur, befindet sich im Exil in Litauen, in einem Schwebezustand. Die Zivilgesellschaft ist in Geiselhaft einer „bewaffneten, kriminellen Vereinigung“, die auf finanzielle, militärische und ideologische Unterstützung von Putins Staat zählen kann. 

    Die Geschichte der letzten Jahre hat gezeigt, dass die belarusische Gesellschaft weit entfernt ist von Infantilität. In Zeiten von COVID und den Protesten 2020 bewiesen die Menschen eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation. Auf der Makroebene werden die Interessen eines Landes aber nicht von Aktivisten vertreten. 

    Nationale Verwaisung empfinde ich auch deshalb, weil beim kürzlichen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen Belarus vergessen wurde. Bei vielen von uns löste das einen Schock aus. Belarusische politische Gefangene leiden und sterben in Isolation. Wir sind durchsichtig. Tsichanouskajas Team wurde ignoriert. Für die Akteure der internationalen Politik ist eine Regierung im Exil keine ausreichende Vertretung, ein vom Nachbarland abhängiger Diktator ebenso. Deshalb gerät alles ins Stocken. Für andere Staaten ist nicht klar, wohin sie Anfragen bezüglich einer Zusammenarbeit mit unserem Land richten sollen. 

     

    Ich denke, ein bislang unreflektiertes Ergebnis der belarusischen Proteste 2020 ist, dass das Land, als es sich für eine kurze Zeit im Zentrum der Weltöffentlichkeit wiederfand, plötzlich mit anderen Augen auf sich blicken konnte, wie ein Beobachter von außen. „Wer seid ihr?“ – diese Frage stand im Raum. 

    Und wir begannen, Antworten zu suchen. Nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. Um uns selbst dadurch besser zu verstehen. Bis heute beantworten die Belarusen diese Frage, als politische Geflüchtete und Arbeitsmigranten über die Welt verteilt, vergleichen sie sich mit den Kulturen, in denen sie gestrandet sind. Und bis heute beantworten sie diese Frage, wenn sie in Belarus geblieben sind. 

    Eine Freundin beobachtete kürzlich in Minsk folgende Szene: Eine Gruppe junger Menschen steht an einem Fußgängerüberweg, keine Autos in Sicht. Zwei von ihnen halten es nicht aus und gehen bei Rot über die Straße. „Jungs, ihr seid keine Belarusen!“, rufen ihnen die anderen zu, die auf Grün warten. 

    Noch vor Kurzem wussten die Belarusen nicht so recht, worin sie sich von anderen unterscheiden, welche Verhaltensmuster typisch für sie sind. Jetzt haben sie es herausgefunden. 

    Ein bekannter, aber aus meiner Sicht bislang unterschätzter Fakt ist, dass Maryja Kalesnikawa, eine der Anführerinnen der Proteste gegen die Diktatur, 2020 zum ersten Mal in der Geschichte sagte: „Belarusen, ihr seid unglaublich!“ Später begegnete mir eine sarkastische Kritik dieser Aussage, sie sei selbstverliebt, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich halte diese Äußerung und die Reaktion darauf für einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Menschen in Belarus haben sich nie für großartig gehalten, nun haben sie sich zum ersten Mal in der Geschichte so gesehen. Ist das etwa nicht bedeutend? 

     

    Mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern sitzen wir auf der Terrasse des Literarischen Colloquiums in Berlin. Wir schauen auf den Wannsee, über den sich schon ein Streifen Sonnenuntergang gelegt hat. Bald werde ich in meine Berliner Bleibe zurückkehren müssen. 

    „Was sagt man auf Belarusisch, wenn man anstößt?“, fragt mich Bojana aus Serbien. 

    „Häufig sagt man Budzma!, aber mir gefällt eine andere Variante, Šanujmasja!“ 

    „Und was bedeutet das jeweils?“ 

    „Das erste heißt „Seien wir!“, das zweite „Respektieren wir uns!““ 

    „Gefällt mir beides!“ 

    Klingt nach einem Plan. 

     

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION: 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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    Menschen, deren Liebesleben nicht mit den Vorstellungen der Gesellschaftsmehrheit von „traditioneller Partnerschaft“ übereinstimmt, hatten es nie leicht in Russland. Seit dem Verbot angeblicher „Propaganda von Homosexualität“ 2013 haben die Repressionen stetig zugenommen. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine dreht sich die Repressionsspirale immer rascher, Queerfeindlichkeit und Gewalt werden weiter normalisiert. 

    Im November 2024 stufte das Oberste Gericht der Russischen Föderation schließlich eine „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ ein – dass es eine solche Organisation gar nicht gibt, war den Verantwortlichen offenbar einerlei. Der russische Fotograf Sergei Stroitelev porträtiert queere Paare, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben. 

    Wladimir und Denis auf der Kölner Pride-Demo im Juli 2024 / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns“ – Wladimir und Denis

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Wladimir (29) und Denis (25) haben sich 2020 in Nowosibirsk über ein Dating-Portal kennengelernt. Wegen des Corona-Shutdowns dauerte es zwei Monate, bis sie sich zum ersten Mal treffen konnten. Denis hielt die Treffen zunächst vor seinen Eltern geheim. Als er sich ihnen schließlich offenbarte, reagierten sie überraschend gefasst. Sein Vater erlaubte sogar, dass Wladimir über Nacht blieb. Wladimir beichtete seinen Eltern schließlich ebenfalls, dass Denis mehr ist als nur ein Freund: „Meine Mutter antwortete, dass Satan endgültig die Oberhand gewonnen habe.“  

    Aufgewachsen ist Wladimir in Usbekistan: „Dort war Homosexualität kriminalisiert. Ich habe schon im Kindergarten gemerkt, dass mir Jungs besser gefallen. Als ich 17 war, zog meine Familie nach Nowosibirsk. Aber auch da war es für mich nicht leicht. Wegen meines asiatischen Äußeren wurde ich oft von Polizisten kontrolliert. Da ich auch noch schwul bin, hatte ich doppelt Angst.“ 

    Als 2021 Alexej Nawalny verhaftet wurde, begann das Paar darüber nachzudenken, Russland zu verlassen. Als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, waren für sie alle roten Linien überschritten und sie reisten im März 2022 aus. „Ich dachte, meine Mutter als religiöser Mensch müsste verstehen, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten“, sagt Wladimir. „Aber sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns dafür, dass wir ausgereist sind.“ 

    Wladimir und Denis. Das Bild von Adam und Adam im Paradies haben sie in Russland gemalt und nach Deutschland mitgenommen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Entenfüttern mit Freunden. Das befreundete Paar ist ebenfalls mit humanitären Visa aus Russland nach Deutschland gekommen / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Wladimir und Denis: „Das Imperium wird nicht frei sein“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Verrecke, Schwuchtel!“ – Alexander und Sascha 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Alexander (32) kommt aus einem kleinen Ort in Burjatien, Sascha (47) aus Joschkar-Ola, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Mari El. Mit dem Umzug nach Moskau entflohen beide Mobbing und Scham. Sascha engagierte sich in der Hauptstadt sogar in einer Organisation für LGBTQ-Sportler:innen.  

    Die beiden lernten sich 2018 kennen und zogen schnell in eine gemeinsame Wohnung: „Sofort gingen die Probleme mit den Nachbarn los“, erzählt Alexander: „Sie wollten wissen, warum Sascha auf dem Balkon Blumen pflanzt, sowas machen Männer doch nicht! Und warum wir keinen Besuch von Frauen bekommen.“  

    Alexander unterrichtete an einer Berufsschule. Er sprach mit den Studierenden über queeres Leben und sagte offen seine Meinung über den russischen Angriff auf die Ukraine. „Ab Oktober 2022 bekam ich regelmäßig SMS: ‚Verrecke, Schwuchtel‘. Ein Telegram-Kanal mit den Buchstaben Z und V im Profil veröffentlichte Videos aus meinem Unterricht, wo ich über Butscha und über LGBT sprach. Ich zitterte vor Angst und mir wurde klar, dass ich hier weg muss.“  

    Alexander ging nach Deutschland und beantragte Asyl. Derweil bekam Sascha in Moskau Besuch von Männern in Zivil, die sich nach Alexander erkundigten. Schließlich folgte er seinem Partner. Alexanders Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Sascha wartet noch auf eine Entscheidung. 

    Sascha spielt Akkordeon, Alexander liest. Das Instrument und die Bücher gehören zu den wenigen Dingen, die die beiden aus Russland mitgenommen haben / Fotos © Sergei Stroitelev
    Beim Sport im Hof / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Sascha: „Hoffnung“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Seid ihr etwa lesbisch?!“ –​ Tanja und Alexandra 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexandra (41) und Tanja (40) kommen beide aus einem kleinen Bergarbeiter-Ort in der Oblast Swerdlowsk. „Mein Vater trank, ich wurde oft geschlagen“, erinnert sich Alexandra. „Mit 18 gestand ich meinen Eltern, dass ich Frauen liebe. Die Schläge nahmen zu, sie nannten mich eine Schande für die Familie. Mein Bruder brach mir die Nase und eine Rippe. Er saß immer wieder im Knast.“ 

    Auch Tanja war bereits Mutter, als die beiden sich kennenlernten. „Es war das erste Mal, dass ich mich in eine Frau verliebte. Ich schämte mich“, erinnert sie sich. Als Tanjas Mutter von ihrer Beziehung erfuhr, drohte sie, Tanja in eine psychiatrische Klinik zu stecken und Sascha zu töten.  

    Ihre Asylanträge stellte die Familie in Bochum. „Der Sachbearbeiter war ein Spätaussiedler aus Ufa und, wie sich herausstellte, ziemlich homophob“, erzählt Tanja. „Seid ihr etwa lesbisch?!“, habe er sie gefragt. „Er musterte uns, als seien wir Monster.“ Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, das Paar und die Kinder seien keine Familie. Ein Gericht gab ihnen schließlich recht und verfügte, dass die Familie nicht getrennt werden dürfe. Aber die Entscheidung über die Asylanträge steht immer noch aus. Zu allem Überfluss muss Tanja jetzt noch gegen eine Krebserkrankung kämpfen. 

    Alexandra und Tanja haben gemeinsam Diskriminierung, Flucht und Kämpfe mit der deutschen Bürokratie durchgestanden. Sie sind entschlossen, auch Tanjas Krebserkrankung zu besiegen. Der kleine Charlie Brown ist ihr Talisman / Foto © Sergei Stroitelev 
    Abendspaziergang am Rhein. Die Familie bewundert den Kölner Dom / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Hier sind wir: ein bisschen müde, ein bisschen erschlagen. Aber am Leben“. Tagebuchnotiz von Alexandra und Tanja / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Ich merke, dass in mir ein Rest Homophobie sitzt“ – Alexander und Wladimir 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexander (38) und Wladimir (35) kommen aus Nishni Nowgorod. Dort sei die Situation von queeren Menschen nicht viel besser als in Tschetschenien, sagen sie. Die Polizei und queerfeindliche Gruppen machten Jagd auf Schwule, Lesben und trans* Personen. Als Alexander sich einmal über ein Dating-Portal verabredete, erwartete ihn am vereinbarten Treffpunkt eine Gruppe junger Männer: „Mir war sofort klar, was los war, und ich rannte davon. Ich bat Passanten, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte. Die Typen verprügelten mich und drohten mir mit einem Messer.“  

    Wirklich akzeptieren konnte er seine Sexualität erst mit 26 Jahren. Wladimir derweil erinnert sich, wie er immer wieder zu seiner Mutter sagte: „‚Guck mal, der hübsche Mann da!‘ Als sie irgendwann kapiert hat, dass ich keine Witze mache, wurde ihre Einstellung immer ablehnender und sie begann, mich zu verurteilen.“ 

    Bis zum Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine sahen Alexander und Wladimir ihre gemeinsame Zukunft in Russland und sparten für eine eigene Wohnung. Nach dem ersten Schock zu Kriegsbeginn sammelten sie die nötigen Dokumente für eine Ausreise. Als im Herbst 2022 dann die Teilmobilmachung verkündet wurde, reisten sie zunächst nach Belarus. Von dort aus bemühten sie sich um ein humanitäres Visum für Deutschland. Den Ausschlag für die Anerkennung habe letztlich wohl Alexanders Engagement für die Wahlbeobachtungsorganisation Golos gegeben, glauben sie. 

    An die Freiheit in Deutschland müssten sie sich erst gewöhnen: „Ich merke, dass tief in mir immer noch ein Rest Homophobie sitzt“, sagt Alexander. „Ich traue mich nicht, öffentlich mit meinem Mann Händchen zu halten. Aber nach und nach ändert sich das. Früher habe ich Gay-Paraden abgelehnt. Ich war der Meinung, dass sie den Hass gegen Schwule nur anfachen. Heute finde ich diese Veranstaltungen gut, weil es wichtig ist, dass alle Menschen sich frei ausdrücken können“.

    Trotz der Queerfeindlichkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche hält Wladimir an seinem Glauben fest. Ein Gebetsgürtel gehört zu den Dingen, die ihn mit der Heimat verbinden / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Alltag für die Neuankömmlinge in Deutschland: Anstehen bei der Tafel. Danach geht es gleich weiter zum Integrationskurs / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Wladimir / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Die Depression war das Ergebnis des enormen Drucks“ – Deidara und Lira 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Als Deidara (42) sich vor vier Jahren zur Transition entschied, waren er und Lira bereits seit mehreren Jahren ein Paar. „Mir war klar geworden, dass die Kosten für die Prozedur doch nicht so schrecklich hoch sind, wenn ich dafür endlich ich selbst sein darf, statt auf eine Reinkarnation als Mann irgendwann in einem nächsten Leben warten zu müssen“, erklärt Deidara. Lira nahm das gelassen auf: „Frauen gefallen mir zwar besser, aber ich liebe doch diesen konkreten Menschen, da ist es mir egal, welches Geschlecht er hat“, sagt sie. 

    Nach Kriegsbeginn wurde ihnen schnell klar, dass die militärische Aggression auch Auswirkungen auf ihr Leben haben wird. „Erst hofften wir, die Situation aussitzen zu können“, sagt Deidara. „Aber bald haben wir verstanden, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie uns in die Konversionstherapie schicken.“ Deidara hat eine Tochter – geboren, nachdem Deidara als junger Mensch Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Als der russische Staat 2023 Geschlechtsumwandlungen verbot, fürchtete er, dass die Behörden ihm das Sorgerecht entziehen könnten.  

    Bis die Berliner LGBTQ-Organisation Quarteera ihnen Visa besorgt hatte, verhielten sie sich so unauffällig, wie es nur ging. „Bei uns beiden wurde eine klinische Depression diagnostiziert, in Russland waren wir mehrfach zur Behandlung in einer Klinik. Aber hier konnte mein Mann die Antidepressiva absetzen. In der sicheren Umgebung hier geht es ihm besser“, sagt Lira. „Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die Depression das Ergebnis des enormen Drucks war, unter dem wir lebten.“  

    Deidara bindet seiner Tochter die Haare. Das Paar im Hof ihrer Unterkunft in Hamburg / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Pause beim Spaziergang in einem Hamburger Park / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Ein anderes Land, eine andere Sprache, ein anderes Leben. Aller Anfang ist schwer. Aber Russland zu verlassen ist nicht nur die beste Entscheidung, es war die einzig richtige. Das Recht man selbst zu sein wiegt schwerer als alle Probleme.“ Tagebuchnotiz von Deidara und Lira / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Eine glückliche Zeit“ bis zum Krieg – Dima und Andrej 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Dima (23) und Andrej (36) haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Dima kommt aus Gelendschik, einem Urlaubsort an der russischen Schwarzmeerküste. Andrej wurde in der ukrainischen Stadt Isjum in der Oblast Charkiw geboren. Beide haben in ihrer Jugend Diskriminierung erlebt.  

    Erst als er aus Isjum wegging und nach Kyjiw zog, habe er ganz zu seiner Homosexualität stehen können, sagt Andrej. „Als ich mit 20 meinen Eltern gesagt habe, dass ich schwul bin, hatte ich schon seit einem Jahr eine feste Beziehung. Sie haben es gefasst aufgenommen, aber sie hatten Angst um meine Sicherheit – ich habe mich damals ziemlich schrill gekleidet.“ 

    Später ging Andrej als Tänzer an ein Moskauer Theater, lebte mit einem jungen Mann zusammen. „Eine glückliche Zeit“ sei das gewesen – bis Putin den Überfall auf die Ukraine befahl. Russland sei seine zweite Heimat, sagt Andrej. „Meine Großeltern kommen dort her.“ Von Moskau aus organisierte er die Flucht seiner Familie aus Charkiw und Isjum nach Deutschland. Dann reiste er selbst hinterher. In Deutschland engagierte er sich in der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland. „Ich liebe Russland, obwohl ich Ukrainer bin“, sagt er. „Ich hoffe, ich kann eines Tages dorthin zurückkehren, in ein freies Land ohne den Irren Putin.“

    Ein Stück Himmel hinter dem Fenster von Dimas Zimmer. Rauchpause im Heck von Andrejs Wagen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Dima und Andrej bei der gegenseitigen Maniküre / Fotos © Sergei Stroitelev
    „Es ist schwer.“ Tagebuchnotiz von Dima und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration“ –​ Dmitri und Andrej 

    Ein Bild aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    In Moskau haben Dmitri (26) und Andrej (26) sich einiges getraut: Sie gingen in der Öffentlichkeit Hand in Hand und demonstrierten gegen Russlands Überfall auf die Ukraine. Diskriminierung kennen sie seit ihrer Kindheit: „Als mir klar wurde, dass ich auf Männer stehe, fielen mir die Worte meines Vaters ein, der einmal sagte, dass man Schwule verbrennen sollte“, erinnert sich Dmitri. „In der Schule wurde ich heftig gemobbt, die anderen Kinder schimpften mich eine ‚Schwuchtel‘. In der Folge habe ich lange Zeit gestottert“. 

    Andrej hat seine Kindheit im Nordkaukasus verbracht. „Die Atmosphäre gegenüber LGBT war dort extrem feindlich“, erzählt er. „In der Schule wurde ich gehänselt, weil ich ein künstlerischer Junge war.“ Das änderte sich erst, als Andrej in eine Schule mit musikalischem Schwerpunkt wechselte: „Ich spielte Cello und Klavier und begann, mich zu entfalten. Im ganzen Kaukasus findet man schwerlich einen Ort mit einer größeren Dichte an LGBT-Personen als diese Schule. Wir waren ganze zehn!“  

    In Moskau unterrichtete Andrej an einer Musikschule. „Als ich am 24. Februar 2022 von einer Freundin aus Dnipro erfuhr, dass Russland die Ukraine bombardiert, rauchte ich erst einmal eine ganze Packung Zigaretten weg. Dann bin ich zur Arbeit gegangen und habe den Kindern das Lied ‚Wir wollen keinen Krieg‘ aus Prokofjews Oratorium ‚Auf Friedenswache‘ vorgespielt“.  

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration gegen den Krieg“, erzählt Dmitri. „Da wurde ich zum ersten Mal festgenommen. Bei einem Gedenkmarsch für Boris Nemzow folgte dann die zweite Festnahme. Danach beschlossen wir, auszureisen.“  

    Andrej und Dmitri nahmen einen Kredit auf, angeblich für den Kauf eines Cellos. Dann flogen sie in den Tschad und weiter nach Istanbul. Dort stellten sie einen Antrag auf ein humanitäres Visum für Deutschland.  

    Eine von Andrejs ersten Erinnerungen in Deutschland ereignete sich im Supermarkt: „Im Lidl neben unserem Wohnheim fragte mich die Verkäuferin auf Englisch, aus welchem Land ich käme. Als ich ihr sagte, dass ich leider aus Russland sei, antwortete sie: ‚Wir machen euch keine Vorwürfe, wir machen Putin Vorwürfe.‘ Das war in dem Moment genau, was ich brauchte.“

    Das Armband hat Andrej Dmitri einst in Russland geschenkt. Einander die Hände gehalten haben sie dort auch in der Öffentlichkeit. / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Das Paar ist froh, seine Beziehung in Deutschland offen leben zu können. Beim Radfahren kann das trotzdem gefährlich sein – neulich sind sie so gestürzt / Fotos © Sergei Stroitelev  
    Tagebuchnotiz von Dmitri und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    Fotos: Sergei Stroitelev, aus der Serie: „Dreamers: Queer Refugees from Russia in Germany“
, 2024 

    Bildredaktion: Andy Heller 

    Das Projekt wurde mit Unterstützung von Quarteera e.V. und dem Auswärtigen Amt im Rahmen des Programms “Civil Society Cooperation” durchgeführt. 

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  • Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать  (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.  

    Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.  

    In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.

    Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt. 

    © IMAGO / Depositphotos

    Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten. 

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“ 

    Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“ 

    Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen. 

    Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. 

    Männerschutz statt „radikalem Feminismus“ 

    Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse. 

    Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“. 

    „Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin. 

    Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus. 

    Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin. 

    „Rein populistischer Schachzug“ 

    Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung: 

    • Stalking ist eine Straftat. 
    • Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können. 
    • Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können. 

    In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa. 

    Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“. 

    Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind. 

    „Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin. 

    Nur Schutz für feste Familien 

    Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis. 

    Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“ 

    Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen. 

    Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.  

    Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe 

    Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.  

    Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. 

    Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“ 

    Eine Million für Verleumdung 

    Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“ 

    Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“ 

    Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen. 

    Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa. 

    Mangel an Frauenhäusern 

    Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen. 

    In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe. 

    „Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa. 

    Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben. 

    2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200). 

    Sicherheit nicht für alle 

    Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind. 

    Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage“ aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung. 

    In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr. 

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  • Der Patriarch und das kosmische Böse

    Der Patriarch und das kosmische Böse

    Im Verlag der Russisch-Orthodoxen Kirche sind in diesem Jahr zwei Bücher aus der Feder des Patriarchen Kirill erschienen. Eines davon ist dem Patriotismus gewidmet, das andere der Pädagogik. Der Redakteur der Novaya Gazeta für Religionsthemen, Alexander Soldatow, hat sich die beiden opulent aufgemachten Bände angesehen – und seinem Entsetzen in einer spöttischen Sammelrezension Luft gemacht. 

     

    Patriarch Kirill spricht im November 2024 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale vor dem 26. Weltkonzil des russischen Volkes / Foto: © IMAGO / SNA

    Patriotismus und Absurdismus 

    Der Verlag der Russisch-Orthodoxen Kirche hat in diesem Herbst zwei „programmatische“ Bücher des Patriarchen Kirill veröffentlicht: Der Titel des einen lautet Für die Heilige Rus, das andere heißt Kirche und Schule: Bildung + Erziehung = Persönlichkeit. 

    Das erste Buch sei der „Russischen Welt“, dem Glauben und dem Patriotismus gewidmet, die von der Kirche ausgehen. So erklärt es der Verlag. Ohne die Russisch-Orthodoxe Kirche wären die Siege Russlands „über die fremdländischen Kräfte“ nicht möglich gewesen, weil nur sie [die Kirche – dek] „die Krieger zu historischen Schlachten inspirieren“ konnte. Ungeachtet des Umstands, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche diese Mission in den vergangenen 1035 Jahren erfolgreich erfüllt habe, versuchten „die Feinde Russlands heute erneut, es mit aller Kraft zu zerstören und zu unterwerfen“. Und das Volk müsse sich erneut „zur Verteidigung der Heimat“ erheben. Das Buch enthält zahlreiche Widersprüche, die die dialektischen Prozesse deutlich machen, die sich im Kopf des Patriarchen vollziehen. Einerseits sei die Geschichte Russlands eine „Geschichte der Siege“; andererseits könne „das Volk sein Land wie auch die eigene Seele verraten“. 

    Das Buch hat den Anspruch, als neues Programm des Patriarchen zu sozialen und politischen Fragen angesichts der aktuellen Realitäten der „militärischen Spezialoperation“ zu gelten. 

    Die vielzähligen Paradoxa und sogar leicht absurden Anflüge in diesem Buch sind nichts anderes als ein Ausdruck der allumfassenden Absurdität, von der der Geist unserer Mitbürger erfasst wurde. 

    Putin als Urquell 

    Das Buch ist aufwändig aufgemacht und erinnert an einen Kunstband: Farbdruck, Hochglanzpapier, sehr hochwertige Fotografien, Reproduktionen von Ikonen und moderner „patriotischer Malerei“ mit den vielsagenden Symbolen Z und V zwischen orthodoxen Kreuzen. Das Programm des Patriarchen wird nicht nur in Worten dargelegt, sondern auch mit einer ganzen Bilderfolge, die die „militärische Spezialoperation“ preist und die gesamte bisherige Geschichte Russlands als eine Vorbereitung auf dieses äußerst wichtige existenzielle Ereignis darstellt. 

    Stilistisch erinnert das Buch an Kirills Predigten der vergangenen drei Jahre. Sie sind allerdings nach Themen geordnet und in einer fast schon plakativen Sprache verfasst. Die Kapitel haben im Grunde ein Thema, schaffen aber gleichzeitig eine gewisse Wertehierarchie: „Russische Welt“, „Christentum“, „Dem folgen, zu dem uns Gott vorbestimmt hat“, „Patriotismus“, „Russland wünscht niemandem Böses“. Den Abschluss des Buchs bildet das kunstvoll ausgestaltete „Gebet des Patriarchen über die Heilige Rus“. Einer ganzen Reihe Geistlicher der Orthodoxen Kirche wurde die Priesterwürde entzogen, weil sie beim vorgeschriebenen Beten dieses Textes das Wort „Sieg“ eigenmächtig durch „Frieden“ ersetzt hatten. 

    Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat. Nicht etwa mit einem Zitat aus der Bibel oder von den Heiligen Kirchenvätern. Keines aus der Liturgie oder den asketischen Schriften. Die Zitate stammen von Wladimir Putin. Insgesamt gibt es im Buch 22 davon. Sie sind farblich und durch die Schriftgröße hervorgehoben, gleichsam eine Quelle der Glaubenslehre und ein moralischer Kammerton. Putin verkündet, und Kirill kommentiert und legt aus. 

    Der Patriarch hat das Schicksal seiner religiösen Organisation mit einem Sieg Putins bei der Spezialoperation verknüpft, als er 2023 auf dem Weltkonzil des russischen Volkes sprach. Dieser Zusammenhang war übrigens schon früher in seinen Predigten und Reden angeklungen. Die bekannte Formel Wjatscheslaw Wolodins: „Ohne Putin gibt es heute kein Russland“ ergänzt Gundjajew gleichsam mit: „…und auch die Orthodoxe Kirche nicht“. Aber warum eigentlich nur Russland und die Russisch-Orthodoxe Kirche?! Folgt man dem Patriarchen, wäre die gesamte Schöpfung ohne Putin nichts wert: In seinem Geleitwort zur neuen Amtszeit des Präsidenten formulierte Kirill den Wunsch, dass Putins Herrschaft erst am Ende aller Zeiten zu Ende gehen möge. 

    „Für die Heilige Rus. Der Patriotismus und der Glaube“ – Aufschlagbild des kürzlich erschienenen Buches aus der Feder des Moskauer Patriarchen / Vorschaubild des Verlages rop.ru 

    In seiner Predigt zum Tag der Einheit des Volkes äußerte Kirill in der Erlöserkathedrale im Moskauer Kreml erneut „die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit unseres Landes […] unter der Führung unseres orthodoxen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin.“ Eines der Kapitel im Buch beginnt mit dem entsprechenden Putin-Zitat: „Orthodoxie und Russland sind nicht voneinander zu trennen.“ In der Verfassung der Russischen Föderation findet sich auf diese Frage eine entgegengesetzte Antwort: „Religiöse Vereinigungen sind vom Staat getrennt.“ 

    Auch wenn man davon ausgeht, dass die Verfassung mit der aktuellen Realität in Russland nichts zu tun hat, drängt sich die Frage auf: Was ist mit jenen Regionen der Russischen Föderation, in denen überwiegend Muslime oder Buddhisten leben? So gibt es etwa in Inguschetien nur zwei orthodoxe Gemeinden, in Tschetschenien sieben, in Kalmückien zehn. In diesen Regionen gibt es zig Mal mehr Gebetshäuser anderer Religionsgemeinschaften. Studien über religiöse Einstellungen in der Republik Tschetschenien – nur als Beispiel – berücksichtigen nicht einmal die Frage, ob es dort orthodoxe Christen gibt, es sind statistisch schlichtweg zu wenige. 

    Wenn „Orthodoxie und Russland nicht zu trennen sind“, gehören dann die Regionen, in denen keinerlei Orthodoxie zu sehen ist, etwa nicht zu Russland? 

    Kosmische Ziele 

    „Es findet ein Kampf des Guten mit dem kosmischen Bösen statt“, schreibt Kirill, und führt damit das Thema der „metaphysischen Natur der militärischen Spezialoperation“ aus, wie er bereits im März 2022 formuliert hatte.  Zwei Jahre später, im Jahr 2024, verabschiedete das Weltkonzil des Russischen Volkes unter Kirills Leitung eine Resolution, in der die „Metaphysik“ ganz konkrete geografische Konturen annimmt: „Das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine muss zur alleinigen Einflusszone Russlands gehören.“ Und die Grenzen der „Russischen Welt“ erstrecken sich nicht nur jenseits der Russischen Föderation, sondern auch jenseits „des großen historischen Russland“. 

    Der Appetit kommt beim Essen – und bereits im Oktober dieses Jahres postulierte ein prominenter Priester der orthodoxen Kirche bei einem Kongress der Gesellschaft zur Förderung der russischen historischen Entwicklung „Zargrad“, der unter dem Segen des Patriarchen in der Christ-Erlöser-Kathedrale stattfand: „Wir werden keine Ruhe finden, bis Russland nicht sein Protektorat über den gesamten Planeten errichtet hat. Diese Mission hat uns der Herrgott selbst aufgetragen.“ 

    Eine Synode unter dem Vorsitz des Patriarchen hat den Sinn des Lebens für russisch-orthodoxe Menschen kürzlich neu formuliert: „Die russische Tradition, die Heiligtümer der russischen Zivilisation und die große russische Kultur sind der höchste Wert und der höchste Sinn des Lebens.“ Auf dieser Grundlage formuliert der Patriarch „die wichtigste Aufgabe“. Die besteht selbstredend nicht in der Seelenrettung, nicht im Sieg über Sünde und Tod oder in der Vereinigung mit Gott. Sie besteht darin, dass Russland „als Sieger hervorgehen“ soll. Die Lösung, die der Patriarch vorschlägt, ist durchaus pastoral: „Mobilisierung aller: der Kriegerschaft, der politischen Kräfte. Und natürlich muss die Kirche mobilisiert werden.“ Kirill verurteilt Pazifismus und wendet sich gegen einen „Frieden ohne Gerechtigkeit“ und prognostiziert, dass „die Kriege niemals aufhören“. Etwas Ähnliches sagte er auch bei seiner Predigt am letzten Sonntag vor der Fastenzeit: „Vergebung ohne Gerechtigkeit bedeutet Kapitulation und Schwäche.“ Wenn genau darin die Lehre Jesu Christi besteht, werde ich mich wohl ins entlegenste aller Einsiedlerklöster zurückziehen müssen. 

    „Die Russische Welt – das ist vor allem die Gesamtheit ihrer Heiligtümer / Vorschaubild des Verlages rop.ru 

    Der orthodox-islamische Glaube der Heiligen Rus 

    Unter den Widersprüchen in den Büchern des Patriarchen nimmt das Verhältnis zum Islam einen besonderen Platz ein. Als Illustration zum Kapitel Die Russische Welt ist vor allem die Gesamtheit ihrer Heiligtümer dient natürlich eine Darstellung des Patriarchen, der (mit Gefolge) an einer von einem Halbmond gekrönten Moschee vorbeizieht. Inhaltlich haben die Heiligtümer für die Russische Welt anscheinend keine Bedeutung, Hauptsache, sie sind „traditionell“. In diesem Sinne steht die ominöse Tradition, die von der politischen Führung definiert wird, höher als das Christentum, der Islam, das Judentum und der Buddhismus mit all ihren theologischen und ethischen Unvereinbarkeiten. Den Platz der klassischen Religionen hat in Russland eine sogenannte „Zivilreligion“ eingenommen, deren Prototyp der sowjetische Staatsatheismus war. 

    Gemäß der akademischen Definition ist eine Zivilreligion ein Kult von „Basiswerten, die der Entwicklung der Gesellschaft zugrunde liegen. Diese Werte sind nicht göttlich, sondern menschlich, werden aber als etwas Sakrales wahrgenommen. Historisch ist das handelnde Subjekt einer Zivilreligion die Nation.“ 

    Durch dieses Prisma lassen sich die auf den ersten Blick recht überraschenden Äußerungen des Patriarchen verstehen, dass der Islam der Russisch-Orthodoxen Kirche näherstehe als das Christentum des Westens. „Sowohl der Islam als auch die Orthodoxie“, sagt er, „gehören zu ein und derselben östlichen Gruppe. Der Osten ist weniger empfänglich für Neuerungen.“ Kirill wäre aber nicht „Dialektiker“, wenn er das in seinem Buch nicht sofort wieder einschränken würde: „Der russischen Welt liegt der orthodoxe Glaube zugrunde, den wir am Kyjiwer Taufstein empfingen.“ Wie kriegt man das alles logisch zusammen? 

    Kyjiw muss zerstört werden (so wird es im russischen Staatsfernsehen gefordert), weil es uns zu sehr am Herzen liegt: Es ist der Ursprung des orthodoxen Glaubens, der die Russische Welt schuf, zu der wiederum auch jene gehören, die den orthodoxen Glauben nicht annahmen und zu dessen Ursprung sie keinerlei Verbindung haben. 

    Die konfessionelle Zugehörigkeit (und überhaupt ein Glaube an Gott) spielt nunmehr – folgt man dem Patriarchen – nicht die entscheidende Rolle für die Seelenrettung, um ins Himmelreich einzuziehen. Am 22. September 2022, als die Teilmobilmachung begann, versprach er automatisch allen das Paradies, die in der „militärischen Spezialoperation“ fallen. In seinem Buch jedoch versucht er – das Evangelium leicht redigierend – das Wesen des ewigen Lebens so zu entschlüsseln: „Das ist das ewige Leben: Du begehst Heldentaten, gibst dein physisches Leben. Doch wisse: Du wirst nicht fallen, wirst nicht sterben.“ (Ursprünglich hieß es: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. – Joh 17,3). 

    Kirill protestiert gegen die „Entideologisierung“ der russischen Schulen und bezeichnet in seinem Buch Kirche und Schule wiederum die Orthodoxie und den Islam als „unsere geistige Tradition“. „Wie könnten wir unsere Kinder überhaupt außerhalb dieses Systems moralischer und geistiger Koordinaten erziehen?“ fragt er entrüstet. Leider begnügt sich Kirill mit diesen abgedroschenen Verlautbarungen; dabei wäre es tatsächlich interessant, ein einheitliches Koordinatensystem zu sehen, das er aus Orthodoxie und Islam zusammenstellt. 

    So hält die Orthodoxie alle für gottlos, die die Dreifaltigkeit (die Einheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist) leugnen, während der Islam eben jene Trinitätslehre als Vielgötterei bezeichnet. Die Orthodoxie predigt strenge Monogamie, und der Islam erlaubt mehrere Frauen. Für die Orthodoxie ist die Ikonenverehrung äußerst wichtig. Sie wurde zum Dogma erhoben. Für den Islam ist dies Götzendienerei. Und so weiter, und so fort. 

    Natürlich sollte ein zivilisierter Mensch politisch korrekt und tolerant sein und alle Religionen respektieren. Objektive und grundlegende Unterschiede einzuebnen, ist jedoch unwissenschaftlich und verantwortungslos. Zudem sei erwähnt, dass der Patriarch diese Unterschiede nicht aus Politkorrektheit oder Toleranz wegwischt, sondern in der Absicht, eine „besonderen Zivilisation“ Russlands zu konstruieren, eine Heilige Rus, in der ein Tandem aus Orthodoxie und Islam dominiert, das sich dem sündigen und häretischen Westen entgegenstellt.

    Der Sinn des Lebens in der Interpretation des Patriarchen Kirill: Kampf und Opfer / Abbildung: Verlagsvorschau rop.ru 

    Häresie der „Eugenik“ 

    In Bezug auf Pädagogik selbst klingt die originelle Idee des Patriarchen so: Man muss Bildung mit Erziehung verbinden, von der Kita bis hin zur Doktorandenzeit. Etwas Ähnliches gab es in der UdSSR und gibt es noch in Nordkorea, wo es Politkurse und Gruppenrituale in allen Stadien der schulischen und wissenschaftlichen Laufbahn gibt. Diese Kombination ist ein Merkmal totalitärer Systeme. „Bildung ist an sich moralisch gleichgültig“, und somit in Kirills Augen sinnentleert. 

    Diakon Andrej Kurajew, ein hervorragender Theologe, der auf Betreiben von Kirill aus der Moskauer Geistlichen Akademie und der Moskauer Staatlichen Universität ausgeschlossen und letztlich aus Russland vertrieben wurde, erkennt bereits in dem Titel des patriarchalen Werkes Erziehung + Bildung = Persönlichkeit eindeutig theologische Häresie. Eine solche Lehre rechtfertigt in den Augen des Theologen, verschiedene Arten von „Eugenik“ und andere unmenschliche Praktiken in Bezug auf „falsch“ erzogene und „nicht ausreichend“ gebildete Menschen. „Jeder spezifische Inhalt menschlichen Lebens [also eben jene Erziehung und Bildung] kann sich wandeln oder zerstört werden, nicht aber die Persönlichkeit“, betont Kurajew. „Die qualitativen Merkmale, der qualitative Inhalt des persönlichen Alltags können sich ändern, reicher werden oder ärmer. Aber die Hypostase, also die Persönlichkeit als Wesenskern des Menschen kann nicht verschwinden […] Wenn man allen Ernstes die Definition des Menschen als ‚vernünftiges‘ Wesen zum Maßstab nähme, gäbe es für psychisch kranke Menschen keinen Platz in diesem Leben.“ 

    Die Bebilderung opulent, die Sprache bürokratisch / Abbildung: Verlagsvorschau rop.ru 

    Die Auflagenhöhe der neuen Bücher des Patriarchen wird vom Herausgeber aus Bescheidenheit nicht angegeben. Der pädagogische Sammelband wird stückweise verkauft, für 700 Rubel [etwa 7 Euro], das militärisch-patriotische Buch nur in Paketen von fünf Exemplaren für insgesamt 1800 Rubel [16,50 Euro]. Die Zwischenhändlerregelung deutet auf die gewünschten potenziellen (genötigt-freiwilligen) Käufer hin: Bistümer, Gemeinden, Bildungseinrichtungen und Garnisonen. Auf ein breites Publikum werden die Bücher wohl nicht hoffen können, weniger wegen ihrer ideologischen Ausrichtung als vielmehr wegen ihres schwerfälligen bürokratischen Stils. Und das ist irgendwie tröstlich. 

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  • „Ich trete auf diese fast leere Straße”

    „Ich trete auf diese fast leere Straße”

    Im Osten Polens, an der Grenze zu Belarus, vermischen seit Jahrhunderten verschiedene kulturelle Einflüsse. Es ist eine Region, die sich eindeutigen Kategorien entzieht und die ihren Wert aus dem Dazwischensein zieht. Die polnische Fotografin Monika Orpik war dort in Podlachien unterwegs. Entstanden ist ein Fotoprojekt, das über die Grenze zwischen Frieden und Unterdrückung meditiert und den inneren Zustand von Migranten visualisiert, denen das Zuhause abhandengekommen ist. 

    Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern.  

    Fotos © Monika Orpik / Stepping out into this almost empty road
    Fotos © Monika Orpik / Stepping out into this almost empty road

    dekoder: Ihr Fotoprojekt Stepping Out Into This Almost Empty Road spielt in der Region des Białowieża-Waldes in Ostpolen – was ist das Besondere an dieser Gegend und warum hat sie Sie fasziniert? 

    Monika Orpik: Der Wald von Białowieża ist in erster Linie einer der ältesten naturbelassenen Wälder in Europa. Von der Geschichte, die die Bäume und die Landschaft dort in sich tragen, war ich schon als Kind begeistert. Diese Gegend in Ostpolen war immer geprägt von dem Übergang verschiedener Kulturen, Religionen und Sprachen. Es ist ein Gebiet, in dem die Geschichte von Polen, Belarus und der Ukraine verschmilzt. Der Urwald markiert die Grenze zwischen Polen und Belarus. Einige nennen es eine natürliche Grenze, für mich sind diese beiden Worte ein Widerspruch in sich. Ich denke aber, dass es diese Betrachtungsweise war, die einen der Anstöße für dieses Projekt gab: Fragen zum Thema Grenzen und das Hier und Dort scheinen nicht auf das Grün des Urwalds anwendbar zu sein. Der Zustand des Dazwischen, der diesen Ort ausmacht, war zu Beginn eine treibende Kraft. Später galt meine Neugier der belarussischen Gemeinschaft, die in der Region Podlachien an der Grenze zu Belarus lebt. Also fuhr ich dorthin und startete mein Projekt. 

    Welche Einstellung haben die Menschen in Ostpolen zu dieser Minderheit? 

    Ich komme aus Masuren, einer Landschaft nicht weit von der Region Ostpolen, auf die ich mich in meinem Projekt konzentriere. Kurz nachdem ich begann, das Material zu bearbeiten, fand ich heraus, dass meine Urgroßmutter aus Belarus kam. Sie hieß ebenfalls Monika Orpik; nach ihr bin ich benannt. Auch das zeigt den fluiden Charakter der Region, den ich erwähnt habe. Ich glaube, die meisten Menschen in Polen sind sich nicht bewusst, wie reich die Geschichte und Kultur dieser Region ist. Ihr Bild hat sich zum Schlechten verändert, seit an der Grenze der Zaun gebaut wurde. Und die Menschen distanzierten sich aufgrund der politischen Rhetorik rund um den Zaun noch stärker davon. Doch die Gemeinschaften in Ostpolen leisten hervorragende Arbeit, um ihr kulturelles und historisches Erbe zu fördern und zu bewahren. Immer mehr Menschen interessieren sich dafür, etwa für die Musik und die polyphonen Gesangstraditionen, und fahren deswegen dorthin. 

    Was wollten Sie vor allem zeigen? 

    Anfangs war meine Idee sehr vage. Ich interessierte mich vor allem für den symbolischen Wert des Waldes und die belarussische Gemeinschaft in der Region. Aus Zufall kam ich an dem Tag in Ostpolen an, um mein Projekt zu starten, als in Belarus die Wahlen stattfanden. Es entstand sofort eine Verbindung zwischen der belarussischen Gemeinschaft in Polen und den Menschen, die aus Belarus flohen. Das Thema Grenzen und Nachbarschaft floss ganz natürlich in die Gespräche ein, die ich mit den Protagonisten des Projekts führte. Für mich war interessant, dass diese beiden Gruppen (wobei ich sie nicht getrennt wahrnehme) so viel gemein hatten – Geschichte, Sprache, Kultur(erbe) –, und gleichwohl nicht miteinander kommuniziert oder koexistiert hatten. Gespräche über Migration und damit verbundene Erfahrungen wurden zum Herzstück der Arbeit.  

    Das Projekt umfasst auch Interviews mit Menschen aus der Region und mit Belarussen, die seit 2020 vor den Repressionen geflohen sind und jetzt in Warschau und anderen Städten leben. Welche thematischen Verbindungen zwischen den Gruppen wollten Sie herausarbeiten? 

    Ich habe die Protagonisten vor allem über ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte befragt, zur Sprache, die sie sprechen, und zu ihren Ansichten über die Region. Als ich an den Interviews arbeitete, bemerkte ich, dass viele Geschichten von beiden Seiten der Grenze sich in vielerlei Hinsicht überlappen. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass das Buch zwei Jahre nach Projektbeginn fertig wurde. Also hatte sich die politische Situation drastisch verändert: Mit dem Bau des Zauns an der Grenze und dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Für mich war wichtig, die Geschichte der Migration universeller zu zeigen – also habe ich die Interviews zu einem „kollektiven Ich“ zusammengeführt und alle geografischen Details entfernt. Durch diese Art der Bearbeitung wollte ich zeigen, dass Geschichten von Migration, ganz gleich, wo sie stattfinden, sich oft ähneln. Menschen, die diese Erfahrung machen, durchleben gleichermaßen diese Ängste und Hoffnungen. Und leider leben wir in Zeiten, in denen für alle das Zuhause bedroht sein kann, sei es aus politischen Gründen oder wegen der Klimakrise. 

    Die Fotos zeigen oft Dinge oder Objekte, keine Menschen. Welche ästhetischen Überlegungen haben Sie bei der visuellen Umsetzung der Projektidee geleitet? 

    Gleich zu Beginn des Projekts beschloss ich, dass ich mit den Protagonisten auf kooperative Art und Weise arbeiten möchte. Das bedeutete, dass wir uns zunächst ohne Kamera oder Diktiergerät trafen, um uns kennenzulernen und gegenseitig Vertrauen aufzubauen. Ich habe bei diesem Projekt zum ersten Mal mit Menschen zusammengearbeitet und sollte wohl auch erwähnen, dass ich keinen journalistischen Hintergrund habe. Deshalb nahm ich mir so viel Zeit wie nötig, um gemeinsam mit den Protagonisten einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder von uns sicher und wohlfühlt. Einige, die ich traf, sind in einer sehr gefährlichen Lage, da politischer Widerstand in Belarus als Verbrechen gilt. Daher war für mich der ihre Sicherheit wichtigste Aspekt – davon war ich die Arbeit bestimmt: Die Protagonisten haben selbst entschieden, ob und wie sie portraitiert werden. Vielleicht sind nicht allzu viele Gesichter in dem Buch abgebildet, doch kann man die Protagonisten immer noch sehen – in den Landschaften und alltäglichen Objekten, die ich später fotografierte. 

     

    Fotografie: Monika Orpik 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Übersetzung: Hartmut Schröder 

    Veröffentlicht am 24.12.2024 

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    Ein einziges Bild kann die Geschichte eines ganzen Landes erzählen: Ein Kloster wird zu einem Straflager und wieder zu einem Kloster mit angeschlossenem Strafvollzug. Frank Gaudlitz hat es in Kungur am Ural aufgenommen. Auf seiner letzten Reise durch Russland ist der Potsdamer Fotograf den Spuren von Alexander von Humboldt gefolgt. Nach 30 Jahren wollte er sich dem Land noch einmal auf neue Weise nähern. Dann befahl Wladimir Putin die Invasion der Ukraine, sein Volk folgte ihm und Gaudlitz brach sein Projekt ab. Im Interview spricht er über 30 Jahre Russland-Neugier und Russland-Verzweiflung. 

    Kungur / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kungur / Foto: © Frank Gaudlitz

    dekoder: Über 30 Jahre lang sind Sie regelmäßig für große Reportagen nach Russland gereist. Ihr letztes Projekt haben Sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vorzeitig beendet. Bevor wir dazu kommen: Was hat ursprünglich Ihre Neugier für das Land geweckt? 

    Frank Gaudlitz: 1988 bin ich zum ersten Mal in die Sowjetunion gereist. Als Fotografiestudent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig absolvierte ich im Sommer einen Arbeitseinsatz auf einer Baustelle der Erdgastrasse „Drushba“, die Gas vom Ural nach Osteuropa bringen sollte, und an der die DDR mitbaute. Ich komme aus Potsdam. In der Garnisonsstadt waren wir umgeben von russischem Militär, um nicht zu sagen „umzingelt“. Das war eher interessant als bedrohlich. Als dann 1991 der Abzug der sowjetischen Truppen beschlossen wurde, habe ich diesen Abzug mit der Kamera begleitet und wollte auch in Russland die Zeltstädte fotografieren, in denen die Offiziere und Soldaten zunächst untergebracht wurden, weil es keine Wohnungen für sie gab. In Sankt Petersburg angekommen, war ich erschrocken über die gesellschaftlichen Verwerfungen, die der Zusammenbruch der Sowjetunion mit sich gebracht hatte: Es ging mir nicht mehr nur um eine relativ elitäre Gruppe von Militärangehörigen, die in Containern lebten, es ging um etwas viel Größeres, eine Bruchstelle der Geschichte. Und da habe ich beschlossen, ich bleibe dran. 

     

    Vielen Russen sind die 1990er Jahre als Zeit des Zusammenbruchs in Erinnerung. Wenigen als Zeit des Aufbruchs. Wie geht es Ihnen? 

    Ich konnte in dieser Zeit den ganzen Kontinent bereisen – habe Lager des Gulags über dem Polarkreis besucht, die Schwerindustrie in Norilsk, die Kohlereviere in Sibirien, den Baikal und den Altai. Manchmal bin ich einfach über eine Mauer gestiegen und plötzlich stand ich zum Beispiel in einer Kokerei in Kemerowo. Klar, man wurde mal festgehalten und verhört, aber eigentlich kam man überall rein. Ich habe nie in Hotels gewohnt, meistens in Kommunalkas geschlafen oder unterwegs in Zügen. In der DDR waren die Möglichkeiten begrenzt gewesen, Weite und Abenteuer zu erleben. Nun konnte man auf einmal die Welt und damit auch einiges über sich selbst erfahren. Mit Abenteuer meine ich nichts Oberflächliches, sondern etwas, das ans Substanzielle geht. Ich war gewissermaßen getrieben von dieser Idee einer psychologischen Gesellschaftsstudie. Mir ging es nicht um die politischen Großereignisse, sondern darum, wie der Einzelne diese Auflösung der Gesellschaftsordnung erlebt. 

     

    Wie hat sich das Land seitdem verändert? 

    Als ich mich 2017/18 nach einer längeren Pause erneut Russland fotografisch zuwandte, fiel mir die Diskrepanz zwischen ideologischer Inszenierung und der Realität besonders auf. Wenn ich in den 90er Jahren ganz unmittelbar den Alltag fotografierte und eine große Nähe, auch emotional, zu den Menschen herstellen konnte, dann war das 2017/18 völlig anders. Ich habe gespürt, dass sich auch in mir selbst eine Distanz aufgebaut hatte, dass die Ereignisse sich eher wie auf einer Bühne abspielten und ich sie von außen betrachtete. Gleichzeitig sah man sich an eine alte Stilistik aus dem Kommunismus erinnert, verbunden mit einem patriotischen Pathos. Das war plötzlich ein völlig anderes Russland. Statt mit einzelnen Menschen in Beziehung zu treten, habe ich Orte gesucht, wo ein ideologisches Vokabular aufgerufen wurde und dann den Blick auf die Inszenierung und auf ihre Wirkung gelenkt. 

     

    Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein? 

    2018 bin ich zur Präsidentschaftswahl nach Moskau gereist. Der Wahltermin war auf den 18. März gelegt worden, den Jahrestag der Krim-Annexion. Und am Abend gab es unterhalb des Roten Platzes ein patriotisches Festival unter dem Motto: „Rossija, Sewastopol, Krim“. Alles war umstellt von Polizei, aber ich bin irgendwie reingekommen. Die Männer die dort standen, die Stimmung, dieses Jubeln, das Fahnenschwenken, das hat mir Angst gemacht. Ich empfand die gesamte Situation als bedrohlich – nicht für mich, sondern allgemein. Und damals dachte ich: Die würden sofort alle in den Krieg ziehen. 

     

    Sie haben sich dann 2021 auf den Weg gemacht, um das Land noch einmal neu zu erkunden, und zwar auf den Spuren von Alexander von Humboldt. Wie kam es dazu? 

    Humboldt hat mich immer fasziniert. Vor vielen Jahren bin ich seinem Weg durch Südamerika gefolgt. Nun wollte ich auf der Route seiner Altersreise durch Eurasien die russische Provinz erkunden. Mit 60 Jahren ist Humboldt von Berlin aus circa 19.000 Kilometer in einer Postkutsche über den Kontinent gefahren bis an die chinesische Grenze. 

     

    Nachdem in ihren frühen Reportagen aus Russland die Menschen im Mittelpunkt standen, sieht man jetzt auf diesen Bildern gar keine Menschen, nur Gebäude.  

    Das ursprüngliche Konzept war, Bruchstellen zwischen urbanem Raum und der Landschaft zu fotografieren. Und als Gegenpol die Verantwortungsträger, am liebsten die Bürgermeister der durchreisten Orte, also nicht mehr Privatpersonen, sondern Vertreter der Staatsmacht. Aber das ließ sich leider nicht realisieren, weil ich trotz Unterstützung durch einen russischen Begleiter und die Russische Geografische Gesellschaft gar nicht an die Entscheidungsträger rankam. Als der erste Bürgermeister bereit war, sich fotografieren zu lassen, waren wir schon am Ural. In Kosmodemjansk hatten wir beispielsweise telefonisch einen Termin mit der Bürgermeisterin vereinbart. Aber statt der Bürgermeisterin kam der örtliche Chef des FSB in Lederjacke und stellte so lange Fragen, bis wir aufgegeben haben. 

     

    Nach welchen Motiven haben Sie gesucht?  

    Ich habe versucht, im urbanen Raum Architekturensembles zu finden, in denen sich Zeiten und Ideologien überlagern und die vielleicht etwas vom Leben der vorübergehend abwesenden Bewohner in der russischen Provinz erahnen lassen. Meine Dolmetscherin hat dann etwas ganz anderes in den Bildern gesehen, was mir gar nicht bewusst gewesen war. Sie sagte: „Da kommen die Soldaten her, die jetzt in der Ukraine kämpfen.“ Auf den Fotos sind sie abwesend. So betrachtet haben die Bilder eine Relevanz gewonnen, die zunächst nicht beabsichtigt war. 

     

    Ein Merkmal der postsowjetischen Zeit war auch, dass die Dinge nicht an ihrem Platz waren: Sportstadien wurden zu Schwarzmärkten, in Schuhgeschäften wurden plötzlich Computer verkauft. Auf vielen Bildern dieser Serie ist eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Epochen zu sehen, der Aufholprozess ist immer noch nicht abgeschlossen. 

    Ich glaube, der wird auch auf absehbare Zeit nicht abgeschlossen sein. Es ist offenbar einfacher, Krieg zu führen, als Straßen durch dieses riesige Land zu bauen. An vielen Orten herrscht die Gleichzeitigkeit einer gigantischen Zeitspanne. Je weiter man hinter den Ural fährt, desto absurder wird es. Da stehen riesige Denkmäler für den Großen Vaterländischen Krieg spiegelblank geputzt und ringsherum fallen die Häuser ein, in denen die Menschen leben. Ich frage mich auch immer wieder, wie man als Russe einem System glauben kann, das niemals wirklich offen mit den Verbrechen der Vergangenheit gebrochen hat? Das eigene Land hat Millionen der eigenen Leute einfach umgebracht zur Stalinzeit! Ich weiß gar nicht, wie man das gedanklich fassen kann. Das kann man wahrscheinlich nur ausblenden, um irgendwie weiterzuleben. Aber dann bleibt in diesem Volk auch die Angst stecken, die Angst, dass alles wieder passieren kann. 

     

    Das Bild aus Joschkar Ola zeigt sehr eindrücklich diese Gleichzeitigkeit und auch die Unsicherheit über die eigene Identität: Im Hintergrund bröckelnde Plattenbau-Riegel aus der Sowjetzeit. Und davor neu errichtete Fassaden, die einen mittelalterlichen Stil imitieren wie eine Filmkulisse. 

    Joschkar Ola ist die Hauptstadt von Mari El, einer der kleinsten Teilrepubliken Russlands. Das architektonische Ensemble geht auf Leonid Markelow zurück, der war 16 Jahre lang Oberhaupt von Mari El. Seine Leidenschaft galt der Adaption bekannter Gebäude aus der ganzen Welt. Bis er schließlich wegen Korruption im Zuge seines Großbauprojekts zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. 

     

    In Kungur steht diese strahlend weiße Kirche neben einem zerfallenden Backsteinbau. Was war da drin? 

    Die Kirche ist ein ehemaliges Kloster, auf dessen Gelände ein Frauengefängnis errichtet wurde. Heute existieren beide parallel – die frisch renovierte Kirche und die Strafanstalt, heute ein offener Vollzug, soviel ich weiß. Hier der Kirchturm, dort die Wachtürme vom Gefängnis. Die sind auf einem anderen Foto zu sehen. 

     

    Ihre Geschichte mit Russland spiegelt gewissermaßen, was die deutsche Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zu Moskau erlebt hat: Von der großen Neugier und emotionalen Nähe über die wachsende Distanz bis zur Entfremdung. Wer nicht regelmäßig dort war, auf den musste die Krim-Annexion wirken wie eine kalte Dusche. 

    Ja, es geht vielen so. Und neben dem Schrecken ist auch eine große Trauer dabei. Und großes Unverständnis. Es gab in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Momente, wo man dachte: Oh, toll, da kann sich etwas entwickeln, da ist eine Verbindung möglich! Zum Beispiel, wenn Visa-Verfahren vereinfacht wurden. Aber leider ist es dann völlig anders gekommen. Nach dem Überfall auf die Ukraine habe ich beschlossen, nicht mehr nach Russland zu fahren. Auch, weil ich Angst habe. Durch Putin haben die Russen für mich jetzt ein Kainsmal auf der Stirn. Das bedeutet aber nicht, dass ich dieses Lebensprojekt nicht mehr fortführen werde. Den zweiten Teil der Humboldt-Reise habe ich abgesagt. Stattdessen bin ich in ehemalige Unionsrepubliken gefahren, nach Moldau, nach Georgien, nach Armenien, und habe dort Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine porträtiert und russische Emigranten.  

     

    Glauben Sie, dass es für Ihren Zugang zu diesem Thema eine Rolle gespielt hat, dass Sie in der DDR großgeworden sind?  

    Ich denke, ja. Abgesehen davon, dass wir im Ostblock alle unter einer ähnlichen ideologischen Überfrachtung gelebt haben, gab es einfach auch mehr direkte Begegnungen. Zum Beispiel mit Soldaten, die man in Potsdam in der Kneipe getroffen hat.  

     

    Irgendwie schließt sich da ja ein Kreis: Am Anfang stand der Abzug der sowjetischen Soldaten aus ihrer Heimatstadt Potsdam. Und am Ende der Einmarsch der Russen in der Ukraine. In der Kneipe und am Küchentisch waren die Soldaten auch einfach Menschen. Und doch sind sie bereit, es wieder zu tun – wieder Land zu besetzen, ihr Territorium mit Gewalt auszuweiten und auch schreckliche Kriegsverbrechen zu begehen. 

    Ja. Es war nicht sonderlich schwer für Putin, patriotische Gefühle von verletzter Ehre aufzugreifen und anzufachen. Aus Putins Sicht war die Krim-Annexion innenpolitisch echt clever. Sie hat diese Gefühle bedient und seine Macht stabilisiert. Als zweites Element kommt die Angst dazu, vor den drakonischen Strafen, wenn man nicht einverstanden ist mit System und Krieg. Viele hat das eingeschüchtert, und viele sind gegangen. 

    Sankt Petersburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Sankt Petersburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Lipitzy / Foto: © Frank Gaudlitz
    Lipitzy / Foto: © Frank Gaudlitz
    Wolotschok / Foto: © Frank Gaudlitz
    Wolotschok / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Pokrowskoje / Foto: © Frank Gaudlitz
    Pokrowskoje / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kasan / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kasan / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Joschkar Ola / Foto: © Frank Gaudlitz
    Joschkar Ola / Foto: © Frank Gaudlitz
     © Frank Gaudlitz
    © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Nischni Tagil / Foto: © Frank Gaudlitz
    Nischni Tagil / Foto: © Frank Gaudlitz
    Werchnjaja Tura / Foto: © Frank Gaudlitz
    Werchnjaja Tura / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kuschwa / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kuschwa / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz

     

     

    Fotos: Frank Gaudlitz, aus der Serie Kosmos Russland
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 4.12.2024
    Kosmos Russland ist ein Projekt des Deutschen Kulturforums östliches Europa e.V., gefördert vom Land Brandenburg.

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