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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor”

    „Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor”

    Die belarussische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erhebt immer wieder ihre Stimme, wenn es um politische Themen und die Verteidigung demokratischer Grundrechte geht. Auch deswegen musste sie ihre Heimat verlassen, wo die Machthaber nach den Protesten von 2020 bis heute mit harten Repressionen gegen jegliche Form des Andersdenkens vorgehen. 

    In einem längeren Interview für das belarussische Online-Medium Zerkalo spricht Alexijewitsch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, über die Frage einer Schuld der Belarussen an diesem Krieg, über die vielen politischen Gefangenen in ihrer Heimat und über die Auswirkungen der post-sowjetischen Ära auf die aktuelle Lage in Osteuropa.

    Zerkalo: Was machen Sie in letzter Zeit?

    Swetlana Alexijewitsch: Ich lebe in Berlin, habe Heimweh, schreibe ein Buch und reise viel. Im Grunde ist mein Leben wie immer, nur eben nicht zuhause. Belarus vermisse ich sehr. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder hinfahren kann. Das macht mich traurig. 

    Sie wurden in der Ukraine geboren, in Iwano-Frankiwsk. Ihre Mutter ist Ukrainerin, Ihr Vater Belarusse. Wie erleben Sie das, was derzeit passiert?

    Ich fiebere mit der Ukraine, ich wünsche mir sehr, dass sie siegt. Das würde das Machtgefüge unserer gesamten Region verändern. Sonst bleiben wir weiterhin außen vor. Die Ukraine ruft in mir nichts als Begeisterung hervor. Wie sich die Ukrainer vom ersten Tag an behauptet und gezeigt haben, dass sie ihre Heimat nicht hergeben, das kann nur begeistern. 

    Haben Sie erwartet, dass die Ukrainer sich so verhalten?

    Wissen Sie, ich habe lange genug in der Ukraine gelebt. Ich habe damit gerechnet, ja, ich wusste, dass sie die Ukraine nicht hergeben werden. Sie haben schon mehrere Maidane hinter sich. Sie sind auf ein europäisches Leben eingestellt und wollen nichts anderes mehr. Ich war dort an vielen Universitäten eingeladen, habe diese Jugend mit ihren leuchtenden Augen gesehen, die sich ein neues Land aufbauen will. Ich fürchte nur, sie sind jetzt alle tot. 

    Tragen die Belarussen Schuld an diesem Krieg und werden wir danach Reparationen an die Ukraine zahlen müssen?

    Ob wir müssen werden, weiß ich nicht, aber ich denke, wir werden helfen. Wir sind ja Geiseln unseres Regimes. In Belarus tragen nur wenige Menschen Schuld, und wenn, dann sind es Russen, die Russland unterstützen. Ich habe hier viele Belarussen getroffen, keiner hat schlecht über die Ukraine gesprochen, niemand will kämpfen und Ukrainer töten. Ich habe zwei Cousins in der Ukraine und will mir gar nicht vorstellen, wie das möglich wäre – dass wir einander umbringen. 

    Das sind nicht meine Worte, aber man hört oft: Dieser Krieg ist ein Krieg der alten Männer, der alten Überzeugungen und Vorstellungen, ein Krieg von Leuten , die diese alte Weltordnung beibehalten wollen. Schade um die ukrainische Jugend, auch um die russische, die gern anders leben würde. Ich habe hier viele Menschen gesehen, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Sie könnten in den Schützengräben sitzen, aber sie wollen nicht sterben oder Ukrainer töten. Sie verstehen nicht, warum sie Menschen töten sollten, die einfach ihr Leben leben. Es ist also ein Krieg der Alten. Sie wollen die Zeit besiegen, aber das geht nicht. Also werden sie verlieren. Die Frage ist nur – wann?

    Sprechen wir über die politischen Gefangenen in Belarus. Halten Sie es für angebracht, wenn es einem peinlich ist, dass sie im Gefängnis sitzen?

    Ich weiß gar nicht, ob man das peinlich nennen kann. Peinlichkeit ist ein oberflächliches Gefühl, hier geht es um etwas viel Tieferes. Man begreift, dass man an ihrer Stelle sein könnte. Bei meiner Gesundheit würden mir zwei-drei Tage Gefängnis wohl reichen, aber trotzdem könnte ich an ihrer Stelle sein, bin es aber nicht. Ich bin nicht einmal im Land. 

    Was ist das also für ein Gefühl? Vielleicht ist es Scham oder Peinlichkeit, auch wenn die sehr an der Oberfläche liegen. Diese Gefühle gehen tiefer. Denn ich kenne Katja Andrejewa (eine Journalistin des Fernsehsenders Belsat, die zu 8 Jahren und 3 Monaten verurteilt wurde, Anm. d. Red.) und Maria Kolesnikowa, diese schöne Powerfrau, die eine Leitfigur im neuen Belarus hätte sein können. Wahrscheinlich ist es nicht Peinlichkeit, sondern Verzweiflung. So würde ich es nennen. 

    Ich denke ständig an Mascha Kolesnikowa, die ich sehr toll finde, an Polina Scharendo-Panasjuk, an Katja Andrejewa – so wunderbare Frauen! Ich will mir nicht vorstellen, was man ihnen dort antut, wie krank sie davon zurückkehren werden. Unsere Hilflosigkeit desillusioniert mich, dass wir nichts für sie tun können. Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich kenne viele, die im Gefängnis sitzen, sehr starke und interessante Frauen. Und auch Männer, wie Maxim Znak zum Beispiel. 

    Swetlana Alexijewitsch nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2015 in Minsk / Foto © Tut.by
    Swetlana Alexijewitsch nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2015 in Minsk / Foto © Tut.by

    Sollte der Westen Zugeständnisse machen, um die politischen Gefangenen zu befreien? Beispielsweise Belarus von Sanktionen befreien oder Lukaschenko als Präsidenten anerkennen?

    Ich weiß nicht. Früher war ich überzeugt, dass man alles tun sollte, um Menschen zu retten. Ich dachte das, als Nord-Ost passierte (eine Geiselnahme in Moskau im Oktober 2002, Anm. d. Red.) und als der Tschetschenienkrieg begann. Und auch jetzt denke ich, dass es unsere oberste Priorität sein sollte, Menschen zu retten. Andererseits wird die Regierung sich kaum auf Zugeständnisse einlassen. Sie halten die Häftlinge nicht nur als Tauschware im Gefängnis, sondern auch aus Rache. Sie sehen ja, die Maschine läuft, sie bleibt nicht einfach stehen, jeden Tag gibt es neue Verhaftungen. Und vor allem so brutale.

    Ich werde nie vergessen, wie eine Frau – ich glaube, es war Nikolaj Awtuchowitschs Mutter – während der Wohnungsdurchsuchung gezwungen wurde, die ganze Zeit zu knien. Vielleicht war es auch jemand anders, aber das hat sich mir eingeprägt. Letztlich hat ja nicht Lukaschenko befohlen, dass sie knien muss, das war deren Wunsch. Das bedeutet, ein Teil der Leute hasst uns, hasst uns dermaßen, dass sie eine alte Mutter vier Stunden lang knien lassen. 

    Das ist alles ziemlich gefährlich. Ich hatte immer Angst vor einem Bürgerkrieg. Wir balancieren ständig auf einem schmalen Grat. Je länger es dauert, desto tiefer geraten wir hinein. 

    Menschenrechtsaktivisten sprechen von 1500 politischen Gefangenen allein in den Untersuchungshaftanstalten und Straflagern, zudem gibt es Menschen, die ohne unser Wissen aus politischen Gründen sitzen, enorm viele haben Verhaftung, Schläge, Prozesse, Strafen, Durchsuchungen und Emigration hinter sich. Wie wird sich diese Erfahrung in unserer Bevölkerung niederschlagen?

    Es ist ein schweres historisches Trauma. Eine Demütigung. Einerseits werden wir, wenn es gut ausgeht, sagen können, dass wir standgehalten haben. Andererseits geht das nicht spurlos an einer Nation vorbei. 

    Es hängt alles davon ab, wie sich unser weiteres Leben entwickelt. Ob wir in Belarus bleiben können, wo wir nun einmal in einer geopolitischen Lage sind, in der Russland auch ohne Lukaschenko und mit einem anderen Präsidenten immer irgendwie präsent sein wird. Es ist also sehr kompliziert. Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, dass die Bewährungsprobe für unsere Nation noch nicht zu Ende ist. Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor. 

    Die aktuelle Emigrationswelle aus Belarus ist nicht die erste, aber wohl die umfangreichste in der Geschichte des Landes. Haben Sie versucht, den Erfahrungen nachzuspüren, die die Menschen machen, die das Land verlassen und alles aufgegeben haben?

    Ja, ich treffe mich viel mit solchen Leuten und möchte ein Buch über sie schreiben. Noch vor einem Jahr hatten diese jungen Menschen leuchtende Augen und dachten, sie würden sehr bald zurückkehren. Jetzt ist dieses Strahlen erloschen. Bei Weitem nicht alle wollen hierbleiben (ich auch nicht), sie wollen nach Hause, wissen aber nicht wie.

    Gelingt es Ihnen, Kontakt mit Belarussen zu halten, die noch im Land sind? Wissen Sie, wie es denen geht?

    Es gelingt mir nur wenig, da ich weiß, dass ich abgehört werde, dafür habe ich Beweise. Ich möchte niemanden gefährden. Aber wenn wir uns treffen, dann frage ich sie aus. Ich möchte in meinem neuen Buch über sie schreiben. 

    Und dieser Streit zwischen Emigrierten und Gebliebenen … Den finde ich ungerechtfertigt. Denn auch, wer ins Ausland geht, hat es schwer. Ich kannte 50-jährige Frauen, die am Bahnhof Lasten schleppten, um zu überleben. Später fanden sie eine andere Arbeit, aber am Anfang mussten sie da durch. Ich möchte nicht, dass die Menschen in Belarus glauben, uns gehe es hier so gut. Einerseits das Heimweh, andererseits wollen bei Weitem nicht alle bleiben. Ja, viele werden hierbleiben, das ist klar, weil sie Kinder haben, die zur Schule gehen, sie werden in einem normalen Land aufwachsen. 

    Polen zum Beispiel ist sehr froh über die belarussischen Immigranten. Ich war in Wrocław, dort gibt es Fabriken, die schon geschlossen waren und nun wieder produzieren können. Für die Wirtschaft ist das sehr gut. Und die Menschen haben alles, was sie zum Leben brauchen. Aber keiner von uns weiß, wann es das neue Belarus geben wird, wer dahin zurückkehren wird. Ich denke, es werden viele sein. 

    Wenn Sie jetzt zurückblicken, drei Jahre nach den Wahlen, würden Sie dann wieder genauso handeln – dem Koordinationsrat beitreten und Ihre Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken?

    Ja, natürlich, damals ging es gar nicht anders. Das war eine solche Bewegung, solche Gesichter! Mein Gott, wie viele wunderschöne Frauen in weißen Kleidern da auf den Straßen waren. Sie schenkten den OMON-Spezialeinheiten Blumen, worauf diese ziemlich verwirrt reagierten, bis sie ihr Kommando empfingen. Es wäre seltsam, wenn ich mit Asarjonok in dieser Rückkehrerkommission säße, während Mascha Kolesnikowa im Gefängnis ist. Nein, das ist unvorstellbar. 

    Halten Sie es für richtig, dass der Protest friedlich geblieben ist? Oder hätten die Protestierenden doch entschlossener handeln sollen?

    Diese Frage wird mir tatsächlich häufig gestellt. Ich war immer für friedlichen Protest, und nun schreibt man mir sogar Briefe, in denen man mir das vorwirft: „Sind Sie glücklich mit Ihren Luftballons und Blümchen?“ Verstehen Sie, wir haben der ganzen Welt gezeigt, dass Protest anders sein kann, dass völlig andere Menschen auf die Straße gehen können. Im Nachhinein haben wir dafür bezahlt. Aber ich reise viel, und die ganze Welt erinnert sich daran, wie schön und würdevoll alles war. Es müssen keine Reifen brennen. 

    Erstens waren die Menschen nicht bereit zum gewaltsamen Protest. Der Protest war, wie er war, weil seit dem letzten Krieg so viele Jahre vergangen und die Menschen an Frieden gewöhnt sind. Sofort eine Waffe oder einen Pflasterstein zu greifen, das ist nicht so leicht. Ich habe bei den Märschen niemanden gesehen, der dazu bereit gewesen wäre. Wenn die Situation irgendwie gekippt wäre, vielleicht wäre es dann möglich gewesen. 

    Wir hätten länger auf der Straße bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen

    Diese Hofgemeinschaften, die entstanden sind, das war ein völlig anderes, friedliches und modernes Belarus. Das hat die Menschen im Westen sehr beeindruckt, weil sie eher brennende Reifen kennen. Aber sehen Sie, wenn Reifen brennen wie auf dem Maidan, dann gewinnt das Land, aber wenn die Menschen in weißen Kleidern und mit Blumen auf die Straße gehen, dann bezahlen sie hinterher dafür. 

    Aber ich bin Künstlerin, ich kann mich nicht über Blutvergießen freuen oder behaupten, es sei notwendig. Auch wenn russische Schriftsteller immer sagen, dass beständig sei, wofür Blut geflossen ist. Nein, das war nie meine Überzeugung und ist es auch heute nicht. 

    Ein anderes Thema ist, dass wir länger auf der Straße hätten bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen. An diesem einen Tag, an dem wir so viele waren wie noch nie und Lukaschenko mit dem Maschinengewehr herumlief, kehrten wir vom Marsch zurück, und da war ein alter Mann, der weinte und sagte: „Wohin geht ihr, warum geht ihr weg?“ Verstehen Sie, er sprach aus Erfahrung. 

    Wir dachten, dass wir nach Hause gehen, um am nächsten Tag wiederzukommen. Mascha Kolesnikowa stand ebenfalls da und wollte die Leute nicht gehen lassen, sie sagte: „Bleibt hier!“ Ich weiß nicht, vielleicht wird die Geschichte sagen, dass wir im Unrecht waren, aber das war so schön. Was danach kam, war schrecklich – die Gefängnisse und all das. Für diese Schönheit müssen wir nun die Konsequenzen tragen. 

    Ihr neues Buch sollte ursprünglich von der Liebe handeln, nun habe ich gehört, Sie schreiben über die Proteste?

    Mein Buch Secondhand-Zeit trägt im Original den Untertitel Das Ende des roten Menschen. Wie sich nun herausstellt, war das noch nicht sein Ende. Er lebt weiter, er hatte sich nur versteckt. Also muss diese Geschichte weitergeschrieben werden, und das tue ich. Über den roten Menschen, was er verkörpert, wer seine Kinder sind, die nach dem Zerfall der UdSSR aufwuchsen. Ein sehr großes und ernstes Thema. 

    Ich würde gern Bücher über andere Themen schreiben, die mich interessieren, über die Liebe und das Altern. Dank der Medizin sind uns 20-30 Jahre zusätzliche Lebenszeit vergönnt. Mich interessiert, was die Menschen darüber denken, wie sie leben, wie sie diese Zeit nutzen. Aber sehen Sie, es gelingt mir nicht, die Barrikaden zu verlassen. 

    Nach dem Zerfall der UdSSR entstand ein furchtbarer Hybrid aus Kapitalismus und sowjetischem Fundament, es wurden Staaten gegründet, die nur vorgeben, Demokratien zu sein. Sie organisieren Wahlen und errichten eine Marktwirtschaft, aber in Wirklichkeit sind sie ganz normale Diktaturen, ohne klare Ideologie und mit dem einzigen Ziel, die Macht ihrer Führung zu sichern und auszuweiten. Welches der beiden Systeme ist in Ihren Augen schlimmer – das sowjetische oder das postsowjetische?

    Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, Michail Gorbatschow zu treffen. Viel haben wir nicht gesprochen, aber er sagte wiederholt, er sei Sozialdemokrat. Ich denke auch, dass man Gorbatschows Wunsch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen – auch wenn Russland so riesig ist und die Sowjetunion so riesig und mächtig war – als moderne Sozialdemokratie bezeichnen kann. Das ist mir sehr nah. Ich glaube, Russland hätte einen anderen Weg eingeschlagen, wenn er an der Macht geblieben wäre. Er war wohl nicht die Art Mensch, die Krieg mit der Ukraine führt. Nein, er war anders, aus einer anderen Zeit. 

    Ich erinnere mich an seine Dialoge mit dem Dalai-Lama (dem geistigen Führer Tibets, Anm. d. Red.). Die beiden formulierten sehr schöne Träume. Es gibt ein Buch darüber, aber meines Wissens nicht auf Russisch. Es soll sehr interessant sein – zwei Menschen dieses Denkens unterhalten sich über die Zukunft. Aber sehen Sie, es ist nichts daraus geworden, alles hat eine andere Richtung genommen. 

    Die Menschen hatten viele Jahre im Lager gelebt, und plötzlich ließ man sie frei. Sie traten vor die Tore, kannten nichts außer dem Lagerleben. Was sollten sie also aufbauen? Wieder ein Lager. Sie erinnern sich wieder daran, dass wir Menschen des Krieges sind, dass wir entweder kämpfen oder uns auf einen Krieg vorbereiten oder uns an einen erinnern – das ist unser Zustand. Ich habe viele Jahre lang unsere Geschichte aufgeschrieben, und ich würde sagen, die Erfahrung des Krieges und der Stalinzeit, das waren die zentralen Erfahrungen des sowjetischen Menschen. 

    Man hätte das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern

    Ich erinnere mich an eine Reise nach Russland, irgendwo in die Provinz, bei Irkutsk, glaube ich. Hinterher erzählte ich meinen Freunden in Moskau: „Ihr wisst gar nicht, was die Menschen denken, die dort leben. Alles, was wir hier über Demokratie und Freiheit reden, betrifft nur unseren kleinen Kreis. Fahrt nur ein Stückchen weiter, schon weiß keiner mehr, was Freiheit ist“. Früh am Morgen hielten wir an einem Laden, vor dem schon ein Mann stand, und er sagte zu mir: „Was für eine Freiheit? Es gibt den Wodka, den du willst, es gibt sogar Bananen. Welche Freiheit? Wovon redest du?“

    Man hätte also das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern, sondern auch mit ihm über die Freiheit sprechen. Über das neue Leben. Aber niemand hatte Erfahrung damit, weder die Schriftsteller noch die Ökonomen, noch die Politiker. Also ist ein neues Lager entstanden, das noch schrecklicher ist als das davor. Das Einzige, was mir trotz allem gut gefällt, sind die jungen Leute. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen zu sprechen, die gerade das Studium beenden. Sie gefielen mir sehr. Wir haben damals vom Kosmos geträumt, von geologischen Expeditionen, wir waren Romantiker. Diese jungen Leute heute träumen konkret: Wirtschaft studieren, Manager werden, oder etwas in der Art. Sie haben so eine Selbstachtung. 

    Ich erinnere mich an eine Schülerin, die bei der Abschlussfeier des Gymnasiums für einen Lehrer eingetreten ist, der im Okrestina inhaftiert war. Ich weiß nicht, wo dieses mutige Mädchen jetzt ist, sie wurde ebenfalls verhaftet. Und dieser „Studenten-Fall“! Damit beschäftige ich mich gerade. Ja, sie wurden unter Druck gesetzt, manche vielleicht auch gebrochen, aber sie haben Großartiges geleistet, und die anderen jungen Leute werden sich daran erinnern. 

    Wissen Sie, alles was heute vor sich geht, will begriffen werden. Nicht nur Lukaschenko oder die Opposition. Man muss diese ganze Aura erfassen, die es im Land gibt, in dem um die 1000 Organisationen liquidiert wurden. Selbst ein Verein zum Schutz der Wildvögel. (Gemeint ist die Liquidation der NGO Achowa ptuschak bazkauschtschyny, Anm. d. Red.).

    Können Sie sich vorstellen, was für ein Land da geschaffen werden soll? Und doch, trotz allem können sie uns nicht aus dem globalen Kontext werfen. Es gibt Computer, einen gemeinsamen Raum im Netz. Ich wiederhole deshalb: Diese Leute kämpfen gegen die Zeit, doch die Zeit ist unbesiegbar. 

    Das heißt, die roten Menschen werden abtreten? Wie kann man die Menschen charakterisieren, die den roten Menschen ablösen werden?

    Unter diesem roten Menschen haben wir gelebt wie in einem Aquarium. Jetzt kommen Leute nach, die dem Rest der Welt gleichen. Ob es die Diktatoren wollen oder nicht, Russland und Belarus öffnen sich.. 

    Man kann heute nicht mehr in einem abgegrenzten Ghetto leben. In der heutigen Zeit sind Ghettos nicht mehr möglich. Und wenn, dann nur für kurze Zeit. Schade natürlich, dass das Leben so kurz ist, aber was will man machen?

    Wie kann man ein Land charakterisieren, in dem die Werke der einzigen Literaturnobelpreisträgerin auf Extremismus überprüft werden?

    Ja, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, im Gebiet Hrodna hat man sogar Bücher von mir, von Uladsimir Arlou und Alhierd Bacharevič gesammelt, in eine Grube geworfen und angezündet. (Anm. d. Red.: Wir konnten keine Bestätigung für diese Information in öffentlich zugänglichen Ressourcen finden.) Die Phantasie unserer Sklaverei ist erstaunlich. Sergej Dowlatow antwortete einmal auf die Behauptung, Stalin sei an allem schuld: „Ja, Stalin. Aber wer hat die vier Millionen Denunziationen geschrieben?“ Etwas Ähnliches passiert auch bei uns. Ich habe mich mit der Stalinzeit beschäftigt und bin erschüttert, wie sehr sich alles wiederholt, wie das alles in den Hirnen festsitzt. Wieder Denunziationen, wieder lässt sich die Macht an Menschen aus, die anders denken. Es ist erschreckend. Es ist noch nicht 1937, aber es erinnert bereits daran. Besonders das Verhalten der Menschen in solchen kritischen Situationen.

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  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

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  • Karrieren aus dem Nichts

    Karrieren aus dem Nichts

    Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.

    Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert. 

    Einwohner der Region Saporishshja stehen Schlange, um in einem Zentrum für die Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft Dokumente für den Erhalt des russischen Passes zu bekommen / Foto © RIA Novosti/SNA/imago-images

    Vom Putin-Verspötter zum Beamten seiner Besatzung

    Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.

    Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.

    Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.

    Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.

    Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische. 

    Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda

    Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.

    Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol. 

    Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei. 

    Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur

    Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.

    Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.

    Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.

    Flucht vor Strafverfahren

    Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.

    Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.

    Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig. 

    In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte. 

    Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.

    Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.

    Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.

    Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“

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  • Bilder vom Krieg #14

    Bilder vom Krieg #14

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Bartosz Ludwinski

    Diana, acht Jahre alt, vor dem Haus ihrer Großeltern im Donbass. Diana wurde gezwungen, ihr Zuhause im russisch besetzten Gebiet zu verlassen. Als sie an einem vermeintlich sicheren Ort in der Ukraine ankam, begannen die Kinder, sie als „Separatistin“ zu beschimpfen. Sie entgegnete ihnen, dass ihr Vater in Bachmut für das Land kämpfe. Jetzt ist ihr Vater tot. Aufgenommen am 2. August 2023. / Foto © Bartosz Ludwinski

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto gemacht hast?

    Bartosz Ludwinski: Am 2. August 2023 fuhr ich mit zwei anderen Freiwilligen einer NGO, die Evakuierungen und Hilfseinsätze im Donbass durchführt, in die Frontstadt Tschassiw Jar. Ich habe mich der NGO im Sommer 2023 angeschlossen. Vorher, kurz nach Beginn des Krieges, hatte ich mich als Fahrer für Hilfskonvois gemeldet. Für mich ist es wichtig, etwas zurückzugeben, sonst fühle ich mich schnell als Nutznießer. Am Tag zuvor hatten wir also von einer möglichen Zwangsevakuierung der verbliebenen Kinder in der Umgebung erfahren. Zwischen 60 und 70 Kinder waren aber noch vor Ort. Also machten wir uns auf die Suche nach ihnen.

    Was für einen Eindruck hattest du von Tschassiw Jar?

    Während wir durch den Ort fuhren, schlug unweit von uns eine Granate ein. Es müssen etwa 200 Meter gewesen sein. Eine Frau kam uns auf ihrem Fahrrad entgegen und fuhr einfach geradeaus durch eine weiße Rauchwolke. Die Granate hatte sie nur knapp verfehlt, aber sie beeilte sich nicht einmal. Viele der Menschen, die nahe der Front geblieben sind, sind schwer traumatisiert und nehmen die Gefahr um sie herum nicht mehr wahr, es sei denn, sie betrifft ihr direktes Zuhause. In solchen Momenten versuchen wir, die Menschen zur Flucht zu motivieren. 

    Schließlich traft ihr auf das Mädchen auf dem Foto, die achtjährige Diana. Was ist ihre Geschichte?

    Diana war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wir sprachen sie an und erfuhren von ihrer Geschichte. Auch ihre Großeltern kamen heraus und zeigten uns das Haus, das mehrfach von Grad-Raketen getroffen worden war. Diana war zuvor in einen anderen Teil der Ukraine geflohen, der als relativ sicher gilt. Dort wurde sie in der Schule von den anderen Kindern als „Separatistin“ beschimpft. Sie antwortete zwar, dass ihr Vater in Bachmut für die Ukraine kämpfe, aber das interessierte die anderen Kinder nicht. „Du bist eine Separatistin“, sagten sie immer wieder. Als wir sie trafen, war Diana gerade wieder in den Donbass zurückgekehrt. Heute ist ihr Vater tot und mit ihm sein Bruder. Beide sind an der Front gefallen. Diana hat nur noch ihre Großeltern. Die wiederum befinden sich in einem Rechtsstreit mit der eigenen Familie um das Land des verstorbenen Vaters. Das war eine Realität, die mich sehr bewegt hat. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, begleitet mich ein Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit.

    Wie war es für dich, als Fotograf in der Ukraine zu arbeiten?

    Es ist schwierig, zu beschreiben, wie es ist, in einem vom Krieg zerrütteten Land zu leben. Man lernt, seine Gedanken und Ängste zu kontrollieren, einige besser als andere. Während meiner Zeit dort habe ich jedoch vor allem viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren und enge Freundschaften geschlossen. Mir war es wichtig, den Krieg authentisch und ehrlich aus meiner Perspektive zu zeigen, aber natürlich auch aus der Perspektive der Ukrainer. Dafür habe ich Wochen und Monate mit ihnen zusammengelebt und konnte so ihre alltäglichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen besser verstehen. Das erfordert natürlich viel Zeit und ist nicht jedem möglich. 

    Was wünschst du dir hinsichtlich des Fotojournalismus in Kriegsregionen?

    Generell wünsche ich mir mehr Zeit für den Journalismus. Das Bild eines Fotografen, der sich kurz in ein Kriegsgebiet abseilt und dann für immer von dort verschwindet, gefällt mir nicht. Dennoch ist mir klar, dass es oft unvermeidbar ist. 

    Inwiefern haben diese Erfahrungen dich als Fotografen und deine Arbeitsweise beeinflusst? 

    Natürlich beeinflussen all diese Erlebnisse, wie man auf unsere Welt blickt. Gerade der westliche Lebensstil mit all seinem Konsum und seinen Sorgen erscheint einem absurder denn je. Man hinterfragt sich und seine Umwelt nach der Rückkehr. Für kurze Zeit hatte ich das Gefühl, mich innerlich aufzulösen, bevor ich mich wieder an das Leben zu Hause gewöhnen konnte. Durch meine Erfahrungen im Krieg sehe ich aber auch Ereignisse oder Probleme zu Hause viel gelassener. Als Fotograf bin ich natürlich gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Im Grunde hat sich an meiner Arbeitsweise nichts geändert. Aber ich denke, ich bin heute besser in der Lage zu erkennen, wann ich visuell überreizt bin und die Kamera für eine Weile weglegen muss. 

    BARTOSZ LUDWINSKI, geboren 1983 in Stettin, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Münster. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei. In der Ukraine dokumentiert er das Leben der Menschen im Krieg. Seine Werke und Reportagen wurden in verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter etwa der Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung.


    Fotos: Bartosz Ludwinski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 16.10.2023

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  • Für den russischen Pass in den Krieg

    Für den russischen Pass in den Krieg

    Seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar, aber besonders seit der sogenannten „Teilmobilmachung“ im Herbst 2022 ist auffällig, wie sich der Kreml davor drückt, Männer aus den russischen Metropolen wie Moskau und Sankt Petersburg in den Krieg zu schicken. Denn schon im September war zu beobachten, wie schnell Hunderttausende fliehen und so einen harten Brain Drain verursachen. 

    Also mobilisiert man vorrangig in der Provinz, im Norden, in Sibirien, im Fernen Osten und in der Kaukasusregion. Offenbar reicht das jedoch nicht: Seit Frühjahr 2022 gibt es immer wieder Meldungen von Migrantenjagden und Zwangsrekrutierungen von ausländischen Arbeitskräften. Auch in Europa ankommende Geflüchtete berichten vereinzelt von Mobilisierungsversuchen russischer Behörden – womöglich eine weitere Taktik der „verdeckten Mobilmachung“.

    Die Faktenlage dazu ist dünn. Einige Duma-Abgeordnete fordern populistisch, dass doch die sogenannten Gastarbaitery an die Front gehen sollen. Doch nur selten erreichen Videoaufnahmen oder andere Belege die Öffentlichkeit. Novaya Gazeta Europe hat Fakten und Zusammenhänge über die Mobilisierung von Staatsbürgerschaftsanwärtern und die Bedeutung des Passes der Russischen Föderation zusammengetragen. 

    Für manche eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg – der russische Pass / Foto © Andrei Rubtsov/ITAR-TASS/imago-images

    Im August gab es in mehreren Regionen Russlands Razzien gegen Migranten. Unterstützt von der Polizei suchten Beamte der Militärkommissariate auf Märkten und in Gemüselagern nach neuen russischen Staatsbürgern, die noch nicht für den Wehrdienst erfasst waren. Diese bekamen einen Einberufungsbefehl oder wurden gleich auf die nächste Dienststelle mitgenommen.

    Mitte August wurden zum Beispiel rund einhundert neue Bürger vom Sofiskaja-Gemüselager in Sankt Petersburg abgeholt. In einem Obst- und Gemüselager von Nishni Nowgorod wurden über 20 Männer mitgenommen. Auch aus den Oblasten Belgorod, Swerdlowsk, Tscheljabinsk und aus Tschuwaschien wurden solche Razzien gemeldet. 

    Laut Auskunft eines Juristen, der nicht namentlich genannt werden möchte, gibt es Polizeiaktionen dieser Art seit Februar 2023. Unter dem Vorwand, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, organisierten die Behörden Razzien, um Migranten in die Armee zu locken. Allen Aufgegriffenen werde dann nahegelegt, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterschreiben. 

    Vom Amt an die Front

    In der Oblast Kaluga geht man noch weiter und nimmt gar keine Einbürgerungsanträge mehr an, wenn der Antragssteller nicht auch eine Verpflichtung zum Kriegsdienst unterschreibt. Im August 2023 berichtete die Menschenrechtlerin Tatjana Kotljar dem Medium 7×7 von fünf solchen Fällen, wobei es, wie sie sagt, viel mehr Ablehnungen gibt. 

    In einem Fall wollte ein Einwanderer in der Einbürgerungsbehörde von Kaluga seinen Antrag auf Staatsbürgerschaft einreichen und sollte stattdessen erst einen Vertrag mit der Armee abschließen. Aufgrund gesundheitlicher Probleme wurde zwar seine Untauglichkeit für den Militärdienst festgestellt. Doch er bekam keine Bescheinigung und sein Einbürgerungsantrag wurde nicht angenommen. 
    „Nachdem er Beschwerde eingelegt hatte, bekam er Probleme. Er wurde wegen eines Gesetzesverstoßes angezeigt, den er nie begangen hatte. Er sagte: ‚Wir werden hier nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Vieh. Die Staatsbürgerschaft eines solchen Landes will ich gar nicht bekommen. Ich habe schon mein Ticket und fahre nach Hause‘“, so Kotljar. 

    Der Gouverneur der Oblast Kaluga, Wladislaw Schapscha, kommentierte, der Betroffene habe das alles bestimmt wegen mangelnder Russischkenntnisse falsch verstanden. Die Praxis, „angehende Staatsbürger auf die Möglichkeit, als Vertragssoldat für Russland zu kämpfen sowie auf die daraus folgenden Sozialleistungen hinzuweisen“, wertete Schapscha positiv.

    Migranten ohne russischen Pass im Krieg gegen die Ukraine

    Im September 2022 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, wonach Ausländer, die freiwillig in den Krieg gegen die Ukraine ziehen, nach Ablauf eines Jahres in einem vereinfachten Verfahren die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation erhalten können. Gleichzeitig kündigte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin an, im Einwanderungszentrum Sacharowo Schalter einzurichten, an denen sich Ausländer zum Militärdienst melden können. 

    Das allerdings sind dann Söldner, weil diese Leute ja noch nicht über die russische Staatsbürgerschaft verfügten, merkt der Jurist Schuchrat Kudratow an. Mehrere Länder Zentralasiens hätten ihre Staatsbürger bereits zu Beginn der Mobilmachung im Jahr 2022 vor strafrechtlichen Konsequenzen bei einer Teilnahme am Krieg in der Ukraine gewarnt.   

    Wer will heute Russe werden?

    Seit 2022 ist der russische Pass ein toxisches Gut: für manche möglicherweise eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg. Das Innenministerium stellte 2022 sechs Prozent weniger neue Pässe aus als im Jahr zuvor, nämlich 691.045. Fast in allen Ländern, wo früher viele Menschen aktiv die russische Staatsbürgerschaft angestrebt hatten, ist die Nachfrage gesunken. 


    Nicht einmal durch die aktive Aushändigung russischer Pässe in den besetzten Gebieten der Ukraine vor deren „Angliederung“ an Russland konnten die Zahlen von 2021 übertroffen werden. Auch weil die Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk schon seit 2019 im vereinfachten Verfahren russische Pässe erhalten. Von diesem Moment an wurde jede dritte neue russische Staatsbürgerschaft in der Oblast Rostow zuerkannt, die an die besetzten Gebiete der Ukraine grenzt. Über eine Million Ukrainer erhielten so die russische Staatsbürgerschaft − das ist mehr als die Hälfte aller neuen Staatsbürgerschaften seit 2019.

    Im Juli 2022 erließ Präsident Putin dann ein Dekret, wonach alle Ukrainer die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, ohne dass sie einen Wohnsitz in den besetzten Gebieten nachweisen müssen. Die Autoren einer Studie der NGO Grashdanskoje sodeistwije (dt. Zivile Zusammenarbeit) sehen in diesem Dekret auch den Grund für die hohen Zahlen neuer russischer Staatsbürger in der Oblast Cherson im zweiten und dritten Quartal 2022.  

    Nach der Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporishshja im September 2022 wurden deren Bewohner automatisch zu russischen Staatsbürgern. Sie müssen nun kein Einbürgerungsverfahren mehr durchlaufen, sondern bekommen ihren ersten Pass wie alle Menschen in Russland mit 14 Jahren. Berechnungen von Mediazona zufolge wurden im Oktober 2022 rund 40.000 Ukrainer nach dem neuen Schema zu russischen Staatsbürgern. Anfang 2023 stellte das Innenministerium jedoch die detaillierte Statistik über die Zahl der ausgestellten Pässe unter Verschluss. 

    Wegen des veränderten Status der besetzten Gebiete sind die Oblast Rostow und die Krim aus der Einbürgerungsstatistik so gut wie verschwunden. Im ersten Halbjahr 2023 bekamen 20 Prozent der Neubürger ihre Pässe in der Stadt (16.147) und in der Oblast Moskau (24.884). Im Vorjahr deckten diese Regionen nur elf Prozent der im ersten Halbjahr beantragten Staatsbürgerschaften ab. Sechs Prozent der Einbürgerungen gab es in Sankt Petersburg und der Oblast Leningrad (11.574), fünf Prozent in der Oblast Tscheljabinsk (9460). 

    Eine sehr besondere Beziehung

    Das einzige Land, dessen Bewohner sich im Jahr 2023 weiterhin vielfach um die russische Staatsbürgerschaft bemühen, ist Tadschikistan. Im ersten Halbjahr 2023 wurden bereits 86.964 Tadschiken zu russischen Staatsbürgern, das sind um 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

    In der Studie von Grashdanskoje sodeistwije wird als Erklärung für das hohe Interesse am russischen Pass die wirtschaftliche Lage in Tadschikistan angeführt. Tadschikistan ist eines der ärmsten Länder des postsowjetischen Raumes, rund 30 Prozent der Bevölkerung leiden an Unterernährung, 47 Prozent leben von weniger als 1,33 Dollar am Tag. 

    Valentina Tschupik, die ehrenamtlich Rechtsberatung für Migranten anbietet, sieht jedoch auch einen Grund in der in Tadschikistan verbreiteten russischen Propaganda: „Erstens wird rund um die Uhr gratis russisches Fernsehen gesendet. Die eigenen Sender bringen nur Folklorekonzerte und fetzige Reportagen über die schrankenlose Fürsorge von [Präsident] Emomalij Rahmon für das arischste und daher so glückliche Volk, was ja noch schlimmer ist als die russische Propaganda. Zweitens gibt es kaum Zugang zum Internet.“
     
    Tadschikistan ist außerdem das einzige Land, das mit Russland ein Abkommen über eine doppelte Staatsbürgerschaft und eine Vereinbarung hat, dass Personen, die in Tadschikistan Wehrdienst geleistet haben, von der Wehrpflicht in Russland ausgenommen sind und umgekehrt. 
     
    Das betrifft jedoch nur die Wehrpflicht und keine Wehrübungen oder Mobilmachungen. Wenn ein wehrpflichtiger tadschikischer Staatsbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft seinen ständigen Wohnsitz in Russland hat, dann kann er durchaus zur russischen Armee einberufen werden. Im Januar 2023 sagte der Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, dass Ausländer mit russischer Staatsbürgerschaft auch zum Krieg in der Ukraine eingezogen werden sollten. Und als im Mai 2023 das Gesetz über die elektronische Zustellung der Einberufungsbescheide in Kraft trat, tauchten erste Meldungen auf, wonach tadschikischen Staatsbürgern mit russischem Pass die Ausreise verwehrt wurde. Von diesem Ausreiseverbot erfuhren die betroffenen Tadschiken mit doppelter Staatsbürgerschaft, als sie im staatlichen Serviceportal Gosuslugi ihren Einberufungsbescheid erhielten. 

    Je weniger wahrscheinlich eine neue Mobilisierungswelle ist, desto stärker wird der Druck auf Migranten, glaubt Politikwissenschaftler Michail Winogradow. So wurde in der Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass im Fall einer Wehrdienstverweigerung eine bereits erworbene Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden kann. Eine andere Gesetzesinitiative will einen verpflichtenden Armeedienst für Ausländer einführen, bevor sie die Staatsbürgerschaft erhalten. Allerdings birgt dieser Vorschlag den Quellen von Verstka zufolge noch immer „zu hohe Risiken“, weswegen die Staatsmacht es bislang nicht eilig hat, ihn als Gesetz zu verankern.    

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  • BILDER VOM KRIEG #13

    BILDER VOM KRIEG #13

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nazar Furyk

    Ein alter Mann namens Tarassowitsch holt eine Waschmaschine aus einem zerstörten Hochhaus. Das Haus wurde zu Beginn der Invasion von russischer Artillerie getroffen. Tarassowitsch hatte darin gewohnt. Irpin war im vergangenen Jahr intensivem Beschuss ausgesetzt. Unter der heftigsten Zerstörung litten das Stadtviertel Irpinsky Lypky und seine Vororte, denn die befanden sich während der Schlacht um Kyjiw im Epizentrum der Kämpfe. Beide Fotos wurden im Mai 2023 im Stadtviertel Irpinsky Lypky aufgenommen.  / Foto © Nazar Furyk

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du die Fotos gemacht hast?

    Nazar Furyk: An dem Tag war ich zum vierten Mal in dem Stadtteil Irpinsky Lypky. Ich hörte die Ankündigung, dass mehrere Hochhäuser in diesem Gebiet abgerissen werden sollten. Nachdem die Russen diese Gebäude teilweise bombardiert hatten, konnte niemand mehr darin wohnen. Die Abrissarbeiten zogen sich über mehrere Wochen. Jedes Mal, wenn ich dorthin kam, konnte ich sehen, wie das baufällige Haus nach und nach dem Erdboden gleichgemacht wurde. Manchmal standen auch Einheimische neben mir und beobachteten den Abriss. So lernte ich einen Mann kennen, der sich mit dem Namen Tarassowitsch vorstellte. Er ging in das Haus, in dem seine Wohnung gewesen war, um nachzusehen, ob er noch etwas mitnehmen könnte.

    Hast du mehr von der Geschichte dieses Mannes erfahren?

    Tarassowitsch ist während der gesamten Zeit der Besatzung in Irpin geblieben. Überlebt hat er nur durch einen glücklichen Zufall. Seine Wohnung wurde zwar durch den Beschuss beschädigt, aber er ging trotzdem dorthin zurück und versteckte sich. Immer mehr streunende Hunde kamen in das Haus. Einer von ihnen zog bei Tarassowitsch ein, und sie lebten zusammen. So verbrachte der Mann dort einige Tage und beobachtete, wie russische Bomben auf die Wohngebiete der Stadt fielen. Nach einem weiteren Beschuss brannte schließlich fast seine gesamte Wohnung ab – mitsamt dem Hund, der sich unter seinem Bett versteckt hatte. 

    Wie bildest du den Krieg in deinen Arbeiten ab?

    Wenn ich in befreite Gebiete zurückkehre, ist es mir wichtig, die Geschichte der Menschen und ihrer Umgebung aus einer zeitlichen Perspektive heraus zu erzählen. 
    Auf diese Weise ist es mir möglich, unsere Tragödien und unseren Schmerz im individuellen und kollektiven Gedächtnis festzuhalten. Man könnte sagen, dass die meisten meiner Arbeiten ein kontinuierlicher Prozess sind. Es ist ein endloser Zyklus, der mit unserem Gedächtnis und unseren Bildern arbeitet. 

    Aus welchem Motiv heraus fotografierst du die Auswirkungen des Krieges?

    Ich möchte zeigen, wie sich die grausamen und verheerenden Folgen des Krieges in den Menschen und in der Umgebung manifestieren. Und ich denke, dass alles, was Fotografen jetzt dokumentieren oder filmen, nicht nur ein Beweis für die Verbrechen ist, die Russland an der Ukraine und den Ukrainern begangen hat, sondern auch ein Teil des Prozesses der Herstellung von Gerechtigkeit und einer zukünftigen Bestrafung der Russen. Es ist für uns alle eine Möglichkeit zu erkennen, dass dieser grausame Krieg Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zerstört. Auch wenn die Verletzungen nicht immer sichtbar sind, zerstören sie uns sowohl von innen als auch von außen.

    An welchem Projekt arbeitest du aktuell? 

    Seit über einem Jahr arbeite ich an einer großen Fotoserie. Ich fotografiere die Region Kyjiw und ihre Städte und Dörfer. Ich kehre häufig dorthin zurück. In Irpin, dort, wo die Fotos aufgenommen wurden, war ich schon häufiger, ebenso wie in den anderen Städten der Region. Ich beobachte und dokumentiere die Veränderungen der Umgebung, der Menschen dort und ihre Einstellung zu dieser Umgebung. Als der Wiederaufbau der Kyjiwer Region nach der Besetzung begann, wurde mir klar, dass sich die Dinge, die ich jetzt fotografiere, in ein paar Wochen vielleicht schon wieder verändert haben werden. Die Bilder dieser Veränderungen werden dann wahrscheinlich aus unserem Gedächtnis verschwinden. Aber die Bilder aus dieser Zeit und die Erfahrung dieser Transformation – die bleiben erhalten.

    Nazar Furyk, geboren 1995 in Kolomyia im Westen der Ukraine, lebt und arbeitet als unabhängiger Fotograf in Kyjiw. Seine Werke wurden international in renommierten Galerien und Museen ausgestellt und in zahlreichen Magazinen veröffentlicht.

    Bildredaktion: Andy Heller
    Fotos: Nazar Furyk
    Veröffentlicht am 10.10.2023

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  • In den Sümpfen Polesiens

    In den Sümpfen Polesiens

    Polesien, eine zwischen Belarus und der Ukraine gelegene Sumpflandschaft, ist eine Art kulturelle Schatzkammer für Ethnologen. Die Abgeschiedenheit der dortigen Kommunen wird im Frühling durch den schmelzenden Schnee und die dann entstehenden Inseln in der verzweigten Wasserlandschaft verstärkt. Das hat über die Jahrhunderte dazu geführt, dass sich dort vorchristliche Traditionen und archaische Lebensweisen erhalten haben und eine eigene Kultur ausformen konnte. Aber der grenzüberschreitende Raum zwischen Polen, Belarus und der Ukraine habe verhindert, dass sich „eine Monokultur“ entwickelt hat, wie der belarussische Historiker Pawel Tereschkowitsch sagt, „da dort permanente Kulturschwankungen und Fremdeinflüsse bestehen, aus denen sich eine hybride Kultur entwickelt“. Der polnische Ethnologe Józef Obrębski (1905–1967) hielt die Bewohner von Polesien weder für Ukrainer, noch für Belarussen, sondern für ein eigenes Volk. Obrębski gilt bis heute als einer der bedeutenden Erforscher dieser geheimnisvollen Landschaft.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat Fotos von Obrębski ausfindig machen können, die die Bewohner des westlichen Polesien, ihre Häuser und ihren Alltag in den 1930er Jahren zeigen, als die Region zur Zweiten Polnischen Republik gehörte. Wir zeigen eine Auswahl dieser Fotos, die wir durch weitere Fotos aus dem entsprechenden Archiv ergänzt haben. Es ist nach Menschen im Sumpf der zweite Teil einer Reihe mit historischen Fotos aus Belarus.

    Fotos zu finden, die zeigen, wie die Belarussen vor dem Zweiten Weltkrieg lebten, ist schwierig, da sich viele Bilder aus dieser Zeit im Ausland in privaten Sammlungen oder Museen befinden. Wir können eine Sammlung von Fotografien des polnischen Ethnologen Józef Obrębski präsentieren mit Genehmigung des Robert S. Cox American Research Centre for Special Collections and University Archives an der Bibliothek der University of Massachusetts Amherst
    Von April 1934 bis September 1936 führte der Wissenschaftler im Auftrag des Polnischen Instituts für die Erforschung nationaler Probleme und der Kommission für wissenschaftliche Forschungen in den östlichen Ländern eine Forschungsexpedition durch das westliche Polesien durch. Ein bedeutender Teil seines Schaffens, das der Untersuchung der sozialen Struktur des polesischen Dorfes und seines Wandels gewidmet war, bezieht sich auf das Territorium unseres Landes. Schauen Sie sich an, wie dieser Ethnologe das Leben in den belarussischen Dörfern des westlichen Polesiens in den 1930er Jahren festgehalten hat.

     

    Polesierinnen: Mutter und Tochter in festlichen Kleidern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Heu auf einem Reiter, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Molkerei, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Familie: Der Hausherr bei …, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Getreide (auf dem Hof ausgelegte Matten mit Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großes Wohnhaus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ernte (Männer und Frauen ernten Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Getreidespeicher und Lager auf einem großen Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großer Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schaukel im Wald, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Typen: Ältere Männer, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Eingang zum Bauernhof (Schweine werden am Zaun eines Bauernhauses gefüttert), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ein Mann sät Getreide, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Familiensitz – eine Frau steht auf einem Weg neben reetgedeckten Bauernhäusern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Haus einer Baptisten-Familie, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Große Baptisten-Familie – Söhne im Haus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Vortrieb des Viehs zum Wasser (während der Fliegenplage, Vieh trinkt in einem See), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schlägerei auf dem See  auf einem Fischerboot in Ufernähe, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Der Babrowitskaja-See: Fischer holen ihre Netze ein, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Ansicht: Reet-Hütte auf einem Floß, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Gerstenernte, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Schweine am Fluss, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am: 10.10.2023

    Mit freundlicher Genehmigung der Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

     

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    Blick in das Innere von Belarus

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  • Die Unsichtbaren

    Die Unsichtbaren

    Demonstrationen sind nicht mehr möglich. Kritische Äußerungen werden mit jahrelanger Lagerhaft bestraft. Unabhängige Nachrichten sind immer schwerer zu bekommen. Selbst auf der Arbeit und im Freundeskreis müssen die Menschen Denunziationen fürchten. Von März 2022 bis Mai 2023 hat die Soziologin Anna Kuleschowa untersucht, wie sich das Leben von oppositionell eingestellten Russinnen und Russen im Laufe eines Kriegsjahres verändert hat. Dazu hat sie über hundert Personen verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Einkommensgruppen befragt. Allen gemeinsam ist die Angst: vor einem Sieg Russlands, vor immer härteren Repressionen, vor einer immer schlechteren Gesundheitsversorgung und davor, dass sie Verwandte und Freunde, die ins Ausland gegangen sind, lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Das Portal Cherta hat mit Anna Kuleschowa über ihre Forschung gesprochen und veröffentlicht ein erstes Fazit – wobei die Soziologin Wert darauf legt, dass die Ergebnisse noch vorläufig sind und nicht einfach auf das ganze Land übertragen werden können.

    „Die Menschen leben auf dem gleichen Territorium und haben ungefähr die gleichen Ansichten. Haben jedoch alle vor etwas anderem Angst: Die einen fürchten einen Sieg Russlands; sie meinen, wenn der Krieg auf diese Weise endet, dann wird das derzeitige Regime im Land nur stärker werden. Für sie bedeutet es, dass Perspektiven fehlen, dass ihnen und ihren Kindern das Leben geraubt würde. Sie fühlen sich in diesem System nicht zuhause“. So beschreibt die Soziologin Anna Kuleschowa die Stimmung bei oppositionell eingestellten Russen.

    Es gibt bei denen, die den Krieg nicht unterstützen, aber auch die entgegengesetzte Angst, dass nämlich Russland den Krieg verliert. Diese Menschen sind überzeugt, dass das Regime trotzdem überleben, dann aber nach Schuldigen suchen wird. „Sie haben Angst, dass man sie zu Volksfeinden erklärt. Dass das Regime die Verantwortung für die Niederlage von denen, die die Entscheidungen getroffen haben, auf alle anderen abwälzt, und dass es dann Säuberungen geben wird und eine Neuauflage der Stalin-Zeit“ sagt die Soziologin.

    Optimistische Prognosen für die kommenden fünf bis zehn Jahre waren von den Befragten nicht zu hören.

    Für viele war wichtig, dass man ihnen zuhört. „Bei den Menschen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, brachen die Emotionen hervor. Sie erzählten von all ihrem Schmerz; schließlich ist es gewöhnlich so, als existierten sie nicht: Sie sind für ihre Umgebung unsichtbar, weil sie ihre Ansichten verstecken müssen. In der ganzen Welt, so scheint es, gelten alle, die geblieben sind, als Unterstützer des Regimes“, sagt Kuleschowa. Eines der wichtigsten Themen, über die die Respondenten sprachen, war die Angst.

    Einige Respondenten haben Angst vor einem Atomkrieg. Menschen, bei denen Angehörige in den grenznahen Gebieten leben, fürchten, dass der Krieg ihre Verwandten direkt treffen wird. Kuleschowa unterstreicht, dass 2023 eine neue Angst dazugekommen sei: Viele der Befragten haben Angst vor zurückgekehrten Militärangehörigen.

    „Es gibt die Angst, dass kampferprobte Männer mit einem Schaden in die Stadt kommen und hier ihre eigene Ordnung errichten.“

    Die Respondenten berichteten von Ängsten vor den sich verändernden patriarchalen und maskulinen Normen. Solche Befürchtungen seien keine unmittelbare Folge des Krieges, sondern ein Nebeneffekt, meint Kuleschowa. Der Soziologin zufolge haben die Leute Angst, dass die Propaganda von „echtem“ maskulinen Verhalten und Brutalität, mit der neue Kämpfer mobilisiert werden sollen, früher oder später zu einem Anstieg von Gewalt im Alltag und einer schlechteren Lage der Frauen führt. 

    Die Befragten sprachen oft von Repressionen, davon, dass es keine faire Rechtsprechung gibt, von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die sie erleben.
    Viele Gesprächspartner Kuleschowas sagen, dass sie durch die massenhafte Unterstützung für den Krieg alarmiert sind. Hinzu kommt angesichts der vorgeblich allgemeinen Unterstützung für radikale Entscheidungen eine generelle Angst um das Überleben des Landes.

    „In den ersten Tagen [des Krieges] war ich überzeugt, dass ich in meiner Umgebung niemanden treffen würde, der den Krieg unterstützt. Als sich herausstellte, dass es sie dennoch gab, empfand ich neben dem schrecklichen Schock zusätzlich Abscheu, eine Art Ekel.

    Ich denke nicht, dass Unterstützer [des Krieges] schlechter sind als ich. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mehr für Menschen halte, oder dass sie nicht mehr meine Freunde sind. Aber mir wird übel. Nicht ihretwegen, sondern durch die Situation und durch ihre Haltung dazu.“

    Andere hätten Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens, vor einem Mangel an Einweginstrumenten im Krankenhaus und Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten, sagt Kuleschowa. Das betreffe vor allem Menschen, die lebenslang Medikamente einnehmen müssen, meint sie. „Für Medikamente, die früher nicht besonders teuer waren, muss man jetzt viel mehr bezahlen. Die Menschen müssen überlegen: ‚[…] wie kann ich behandelt werden, und wie Medikamente bekommen, Falls, Gott bewahre …‘“, berichtet die Soziologin.

    Eine andere wichtige Angst betrifft die fehlenden Möglichkeiten, sich mit engen Angehörigen zu treffen, die Russland verlassen haben. Vor einem Jahr schien es, dass wir „uns in einem Jahr sicher wiedersehen“. Jetzt ist klar, dass das „vielleicht auch nicht“ eintreten könnte, meinen Respondenten.

    Es gibt eine weitere Angst, die sich nicht direkt auf den Krieg bezieht, sondern auf dessen Folgen, nämlich eine mangelnde Sicherheit des öffentlichen Nahverkehrs. „Sie haben Angst vor Verkehrskatastrophen in der Folge der Sanktionen, dass etwa die U-Bahnwagen nicht mehr intakt sind. Sie wissen nicht, ob es jetzt noch sicher ist, mit dem Flugzeug zu fliegen, und ob die billigen chinesischen Autos sicher sind, die jetzt auf den Straßen fahren“, sagt Kuleschowa.

    Oft wird eine große Sorge um die Zukunft der Kinder geäußert: Ob es sinnvoll ist, dass sie in Russland ihre Bildung erhalten, wie ihre Zukunft aussehen wird, welche Perspektiven sie haben, und ob sie ohne ernste psychische Folgen und Konflikte die Schule abschließen können.
    Auch der „Anstieg der Intoleranz gegenüber Leuten, die in die Ecke gedrängt wurden, was sich zu einem echten Bürgerkrieg entwickeln kann“, macht Angst.

    Sich wegducken, um schwierige Zeiten überstehen

    Die Befragten schätzen den Anteil der Kriegsbefürworter in ihrem Umfeld auf 20 bis 30 Prozent. Viele sagen aber, dass sie nicht einmal annäherungsweise eine Zahl nennen können, da sie versuchen, mit Bekannten keine Gespräche dieser Art anzufangen. Schließlich weiß man ja nicht, was dabei herauskommt oder wer einen dann denunziert. Die Soziologin meint, dass die Menschen jetzt Angst vor Provokationen haben: „Es wurde erzählt, dass im Umkleideraum eines Fitness-Studios blaue Spinde standen. Und am 23. Februar lagen in ihnen dann gelbe Schuhanzieher. Die Leute waren verwirrt: „Wie sollte man darauf reagieren? Ist das eine Art Test?“

    Eine Befragte erzählte, wie sie in einem Geschäft war und von einer Verkäuferin über ihre Haltung zum Krieg ausgefragt wurde. „Wenn du schweigst, werdet ihr [Kriegsgegner] noch weniger“, sagte die Frau. „Aber du weißt nicht, wo das hinführt, du kannst kein Vertrauen haben“. „Der Raum für Vertrauen war für Russen nie groß. Fremden zu vertrauen ist eher atypisch für die Menschen in Russland. Jetzt aber ist dieser Kreis des Vertrauens vollkommen kollabiert“, sagt Kuleschowa.

    Viele Respondenten haben Angst, denunziert zu werden, wobei in Russland heute völlig unklar ist, von welcher Seite die Gefahr droht, meint die Soziologin. „Es sind nicht die Zeiten Stalins, als die Denunziationen nicht selten von Bekannten geschrieben wurden, die ein Motiv hatten; etwa weil jemand einen Posten oder mehr Wohnraum in der Kommunalka ergattern wollte. Jetzt ist es eher so, dass irgendwelche Leute andere denunzieren, die sie persönlich gar nicht kennen.“

    Das Problem der ausgewanderten Angehörigen wird ebenfalls als potenzielle Bedrohung gesehen. Unter denen, die ihre Männer oder Söhne ins Ausland geschickt haben, um sie vor der Mobilmachung zu bewahren, sind viele, die das in Gesprächen mit Fremden verheimlichen. Wenn die Frage nach der Haltung zum Krieg aufkommt, hüten sich die Leute davor, als erste zu antworten. Es ist sicherer, zuerst die Position des anderen zu hören. „Die Menschen beginnen ein Gespräch behutsam und versuchen zu verstehen: ‚Sind wir noch auf der gleichen Seite?‘ Wenn nicht, sollte man innehalten und über dieses Thema nicht mehr sprechen“, erklärt Kuleschowa.

    Die Russen, die von der Soziologin befragt wurden, reden nicht mehr über Politik, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht gut genug kennen. „Smalltalk am Arbeitsplatz über die neuesten Nachrichten gibt es praktisch nicht mehr. Beim Plausch mit Nachbarn wird das Thema lieber beschwiegen. Man ist auf der Hut, nicht in Hörweite des Hausmeisters darüber zu reden. An U-Bahn-Eingängen, wo Polizisten auftauchen können, unterbricht man lieber das Gespräch und geht weiter, damit man sich keine Probleme einhandelt“, ergänzt sie. 

    „Dieses Schweigen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt“, sagt Kuleschowa. „Die Strategie sich wegzuducken, um schwierige Zeiten zu überstehen, war für viele annehmbar, solange es nur um ein Jahr ging. Solange die Leute den 281. Tag zählten, den 282. Tag … Wenn die Zählung aber nicht mehr in Tagen erfolgt, sondern in Jahren, wie lange kannst du dann schweigend dasitzen? Wie wirst du damit leben?“

    In den Städten mit Systemen zur Gesichtserkennung versuchen Andersdenkende – den Umfragen von Kuleschowa zufolge – sich neue „Sicherheitstechniken“ anzueignen, also Methoden, um die Beobachtungskameras zu überlisten, etwa mit Hilfe von Brillenrahmen, Masken, und Augen, die auf Mützen oder Hüte gemalt werden. Populär sind neue Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit Technik: Menschen, die wissen, dass ihre Gespräche abgehört werden können, legen ihr Telefon und ihre Box mit der Sprachsteuerung ins Nachbarzimmer. Andere nehmen während des Gesprächs den Akku heraus oder legen das Handy ins Gefrierfach, um angstfrei sprechen zu können. „Eine Befragte, mit der wir sprachen, hatte meinen Telegram-Kanal abonniert. Sie fragte: ‚Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie oft einen neuen Abonnenten bekommen, der dann wieder verschwindet? Das bin ich; jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Universität durch die Kontrolle gehe und Angst habe, dass sie mich filzen. Für alle Fälle lösche ich alle Kanäle, und melde mich dann wieder an.‘“, berichtet Kuleschowa.

    Seine Leute finden

    Für kriegskritische Ansichten, die man in persönlichen Gesprächen, öffentlich oder in sozialen Netzwerken äußert, kann man ins Gefängnis wandern. Daher suchen die Menschen nach anderen Wegen, um Gleichgesinnte zu finden. Zu Beginn des Krieges dienten als „Hinweis“, dass jemand gegen den Krieg ist, oft die Farben der ukrainischen Flagge an der Kleidung, als Bändchen am Handgelenk oder in den Haaren. Jetzt sei das viel zu gefährlich, sind die Befragten überzeugt.

    Auf der Straße ist niemand mehr mit einer Einkaufstasche zu sehen, auf der „Nein zum Krieg!“ oder andere offene Antikriegs-Parolen stehen. Es werden aber andere, bislang noch nicht verbotene Symbole verwendet: „Einige tragen Buttons mit Antikriegs-Parolen, die aber sehr unauffällig sind, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Einige gehen zu einer doppeldeutigen Sprache über, damit Aussagen nicht direkt ‚gelesen‘ werden können. Andere verwenden Bilder von Friedenstauben oder Zitate von Orwell oder Remarque. Andere wiederum versuchen, anhand des Kleidungsstils oder am Gesicht auszumachen, welche Ansichten ihr Gegenüber hat. Das ist jedoch riskant, man kann da vollkommen falschliegen.“

    „Ich war einige Male bei Führungen von Memorial zum Projekt Die letzte Adresse. Es war keine Überraschung, dass da niemand für den Krieg war. Dort konnte man frei reden.“

    Ein weiterer, relativ sicherer Weg, seine Haltung zum Geschehen zu äußern, sind Veranstaltungen, auf denen man Gleichgesinnte treffen könnte. Manchmal kommen Leute zu Kulturveranstaltungen, weil ihnen die Haltung der Organisatoren oder der Künstler wichtig ist, sagt Kuleschowa: „Zu einem Konzert von Polina Osetinskaya kommen Menschen nicht nur, weil sie eine bemerkenswerte Pianistin ist, sondern auch, weil sie, so die Befragten, gegen den Krieg auftritt. Also könnte man da am ehesten ‚seine Leute‘ treffen. Nach dem gleichen Prinzip besuchen die verbliebenen Kriegskritiker Underground-Ausstellungen von moderner und Antikriegskunst.“

    Wie wird der Krieg mit Angehörigen diskutiert?

    Unter Kuleschowas Gesprächspartnern gab es auch welche, die die politischen Ansichten selbst ihrer nächsten Verwandten nicht kennen (besser gesagt: Sie haben   Angst, sie zu erfahren). „Die Menschen fürchten, ihre Angehörigen könnten ‚mutieren‘, auf ‚die Seite des Bösen‘ überlaufen, wie sie es nennen. Einige hören auf, sich mit ihrem Umfeld wirklich zu unterhalten, und zwar aus Selbstzensur, weil es in ihrer Wahrnehmung immer weniger Gleichgesinnte gibt“, erklärt die Soziologin.

    „Ich weiß das nicht bei allen Freunden und Bekannten. Manchmal erfahre ich es indirekt, über gemeinsame Bekannte. Da ruft beispielsweise eine Freundin meiner Mutter an, eine Ukrainerin, und erzählt mir empört über eine andere Freundin meiner Mutter, eine Moldauerin: ‚Stell dir vor, sie meint, Russland hat nicht recht‘, ‚Stell‘ dir vor‘, antworte ich, ‚das meine ich auch.‘ So erhalte ich politische Informationen.“

    Vor einem Jahr seien unterschiedliche Einstellungen zum Krieg eher ein Grund für eine Spaltung gewesen, meint Kuleschowa. Jetzt versuche man eher, sich damit einzurichten: „Die Menschen haben schon nicht mehr die Illusion, dass man alles abreißen, abbrechen könne, und dabei einen richtigen Schritt macht. ‚Und dann bricht das zweite Kapitel der Beziehung an, wenn der andere auf Knien angekrochen kommt, weil er erkannt hat, dass er nicht recht hatte‘. Die Leute verstehen jetzt, dass man mit denen, mit denen man in einem Boot sitzt, irgendwie bis zum Ende rudern muss und Konflikte und Streitereien sinnlos sind. Vor einem halben Jahr gab es noch Hoffnungen, dass man jemanden umstimmen könnte, jetzt ist klar: Das funktioniert nicht.“

    Der Soziologin zufolge gibt es nur sehr wenige, die früher den Krieg unterstützten und das jetzt nicht mehr tun. Eher passiere das Gegenteil: Jemand in der Familie beginnt der Propaganda zu glauben. „Heute rettet eine Frau ihren Mann vor der Mobilmachung und bleibt selbst mit den Kindern in Russland. Dann kommt er trotz der Gefahr für seine Sicherheit zurück, weil er die Kinder sehen will, aber seine Frau hat den Kindern schon weisgemacht, dass ihr Vater ein Feind ist, alle verlassen hat und abgehauen ist. Die Kinder sind umprogrammiert und denken genauso.“ Jugendliche wiederum, deren Eltern Z-Patrioten sind, können ihre Haltung gegen den Krieg nicht äußern, weil sie schlichtweg finanziell abhängig sind. Sie können nirgendwo hin, nicht woanders leben.

    „Mir scheint, dass man von hier fliehen muss, doch der Rest der Familie sieht keinen Grund für diese Panik.“

    „Es gab unter den Befragten eine Frau, deren Mann ausgewandert ist. Aber ihr Liebhaber, von dem ihr jüngstes Kind stammt, wollte bleiben“, erzählt Kuleschowa. Der Ehemann hat gesagt: ‚Zum Teufel, ich nehm‘ dich zusammen mit dem Liebhaber auf. Kommt zusammen her [ins Ausland], wenn es für dich anders nicht geht.‘ Sie entschied aber mit ihrem Liebhaber, dass sie ‚die eigenen Leute nicht im Stich lassen‘ dürfe, und blieb in Russland. Letztendlich musste das Paar die Kinder aufteilen. In jeder Familie kann sich alles Mögliche ergeben, und selbst nach zwanzig Ehejahren gibt es Überraschungen. Während der Interviews habe ich gemerkt, was für ein großes Glück es für eine Familie sein kann, wenn alle zugleich verrückt werden.“

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    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Im Herbst 2022 − ein halbes Jahr nachdem Russland, teilweise über Belarus, die Ukraine mit einem brutalen Angriffskrieg überzog − zeichnete das Nobelpreiskomitee ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten aus den am Krieg beteiligten Ländern gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis aus: das im eigenen Land mittlerweile verbotene Memorial aus Russland, den in Belarus aus politischen Gründen inhaftierten Ales Bjaljazki und die ukrainische NGO Zentr hromadjanskych swobod (dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). 

    „Die Preisträger repräsentieren die Zivilgesellschaft in ihren Ländern. Seit vielen Jahren stehen sie für das Recht, die Herrschenden zu kritisieren und die Grundrechte der Bürger zu verteidigen. Sie stecken herausragende Bemühungen in die Dokumentation von Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverstößen und Machtmissbrauch. Gemeinsam stehen sie für die Bedeutung der Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie”, begründete die Jury damals ihre Entscheidung. Besonders aus der Ukraine folgte heftige Kritik an der gemeinsamen Auszeichnung, weil sich die Angriffsopfer mit den Aggressoren gleichgestellt fühlten. 

    Im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza berichtet nun die Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Olexandra Matwiitschuk, von ihrer jahrelangen und psychisch belastenden Arbeit, zu der stets auch die Kooperation mit Menschenrechtlern aus Russland gehörte.

    Foto © STR/NurPhoto/imago images
    Foto © STR/NurPhoto/imago images

    Lilija Japparowa, Meduza: Frau Matwiitschuk, Sie beobachten und dokumentieren seit mehr als neun Jahren, wie Russland in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht. Fühlen Sie sich manchmal hilflos? 

    Olexandra Matwiitschuk: Ein Gefühl von Hilflosigkeit ist das, was Russland in uns hervorrufen möchte. Und so ein Gefühl von Hilflosigkeit liegt dem modus operandi der russischen Gesellschaft zugrunde, die den Standpunkt einnimmt: „Was können wir schon tun?“, „Das entscheidet die Regierung, die wissen das besser“, „Wir wissen ja nicht alles“, „Ich bin nur ein kleines Rädchen“. Diese Haltung ist erbärmlich. Die Menschen in Russland können die Verantwortung nicht von sich schieben. Widerstand ist das einzig Richtige. 

    Als die Invasion begann, war Putin ja nicht der Einzige, der dachte, in drei Tagen sei Kyjiw erobert – unsere internationalen Partner glaubten das auch. Keiner glaubte an uns – und der Kampf für die Freiheit war die alleinige Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung. Wie man sieht, sind die Menschen viel stärker, als sie selbst erwartet hätten. Und so kann die Mobilisierung einer großen Zahl gewöhnlicher Leute den Lauf der Geschichte verändern.       

    In Ihrer Kolumne für Ukrajinska Prawda schrieben Sie: „In diesem Jahr ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich mein ganzes Leben der Arbeit für das Recht gewidmet habe, aber es funktioniert überhaupt nicht. Die Antwort ‚Gebt uns Waffen!‘ auf die Frage, wie man der Ukraine helfen könne – ist nicht das, was man von einer Menschenrechtlerin erwartet, aber es ist die Wahrheit. Weil das ganze System der UNO nicht in der Lage ist, die russischen Gräueltaten aufzuhalten.“ Haben Sie seit dem russischen Überfall Ihre Mission als Menschenrechtsaktivistin neu überdacht?

    In dieser meiner Formulierung liegt kein Widerspruch. Denn ein Land, das angegriffen wird, hat das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Der Rahmen, den der Schutz der Menschenrechte vorgibt, ist Gewaltlosigkeit, und den übertrete ich nicht.  

    Letztes Jahr hat der Internationale Gerichtshof der UNO einstweilige Verfügungen erlassen und Russland verpflichtet, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Aber Russland ignoriert das internationale Recht. Ich glaube ja, dass das nur vorübergehend ist und wir − genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg − seine Gültigkeit wiederherstellen werden. Aber bis dahin geht es ums Überleben – und dafür braucht man Waffen. Das ukrainische Volk hat entschieden, für die Freiheit und die Menschenwürde zu kämpfen. Also gebt uns Waffen, damit wir nicht mit bloßen Händen in den Kampf ziehen müssen. 

    Wie wurden Sie überhaupt Expertin für Menschenrechte?

    Als Schülerin lernte ich den ukrainischen Philosophen und Schriftsteller Jewhen Swerstjuk kennen. Er nahm mich unter seine Fittiche, führte mich in ukrainische Dissidentenkreise ein. Diese Menschen hatten im Kampf gegen die totalitäre Sowjetmaschinerie den Mut zu sagen, was sie dachten, und so zu leben, wie sie sagten. Sie inspirierten mich dazu, Jura zu studieren, um mich ebenfalls für die Freiheit und Würde des Menschen einzusetzen.

    2007 hatten die Leiter der Helsinki-Komitees verschiedener Länder die Idee, in Kyjiw eine Organisation zu gründen, die die Rechte und Freiheiten nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in unserer gesamten Region schützen sollte. Damals war die Ukraine in einer Reihe von Nachbarländern eine schillernde Ausnahme: Während in Russland schon damals eine repressive Gesetzgebung installiert wurde, versuchte dagegen die Regierung in der Ukraine nach der Orangenen Revolution, gewisse demokratische Entwicklungen voranzubringen. Man atmete freier, die Arbeit fiel leichter. 

    Wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer

    So entstand das Zentr hromadjanskych swobod (ZHS, dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). Ich wurde seine erste Leiterin – und ich muss sagen, dass sich die Initiatoren unserer Organisation verschätzt hatten: Wenige Jahre später kam Viktor Janukowitsch an die Macht. Er begann damit, eine Machtvertikale zu errichten und Andersdenkende zu unterdrücken. Es ging ganz von selbst, dass sich das ZHS mehr um Menschenrechte und Freiheiten in der Ukraine kümmerte, und nicht, wie ursprünglich geplant, auf internationaler Ebene. 

    In der Ukraine wurden damals 1:1 die Gesetze der Russischen Föderation übernommen. Russische Menschenrechtler nannten ihre Staatsduma einen durchgedrehten Drucker, und wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer, weil die Gesetze, die in Russland beschlossen wurden, nach einer Weile als Gesetzesentwürfe auch bei uns auf dem Tisch lagen. 

    2014 war das ZHS die erste Menschenrechtsorganisation, die mobile Teams auf die Krim und in den Donbas schickte. Was haben Sie dort gesehen?

    Das erste Team dieser Art bildeten wir Ende Februar 2014, als auf der Krim die so genannten „grünen Männchen“ auftauchten – Russland und Putin persönlich dementierten damals, dass das russische Soldaten waren. Wir begriffen noch gar nicht, dass ein Krieg begonnen hatte: Es ging um die Revolution der Würde, wir schliefen nur drei bis vier Stunden täglich, und an unsere gerade erst entstandene Initiative Euromaidan-SOS wandten sich hunderte Menschen, die geprügelt, gefoltert und aufgrund falscher Anklagen vor Gericht gestellt worden waren. Für Reflexion hatten wir weder Zeit noch Energie. 

    Später, im April 2014, als in den Medien der Name Igor Girkin-Strelkow auftauchte, rief mich ein Kollege aus dem mittlerweile in Russland verbotenen Menschenrechtszentrum Memorial an. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: „Sascha, unsere Todeslegionen sind zu euch gekommen.“

    Ich wunderte mich damals sehr über diese Ausdrucksweise, die wie ein Zitat aus einem Roman klang; noch dazu aus dem Mund dieses sonst sehr beherrschten Gesprächpartners, der schon in vielen Kriegen tätig war. Erst als wir es in den von Russland okkupierten Gebieten mit Verschleppungen, Folter und extralegaler Todesstrafe zu tun bekamen, wurde mir klar, was er meinte.    

    Wir dokumentieren menschliches Leid

    Seit dem 24. Februar 2022 haben Sie zur Dokumentation von Kriegsverbrechen des russischen Militärs viele regionale Menschenrechtsorganisationen hinzugezogen. Wie funktioniert das?

    Wir haben uns mit dutzenden, vorwiegend regionalen Organisationen zur Initiative Tribunal dlja Putina (dt. Tribunal für Putin) zusammengeschlossen – und uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, jedes einzelne Verbrechen in jedem noch so kleinen Dorf in jeder Oblast der Ukraine zu dokumentieren. 

    Das betrifft nicht mehr nur vereinzelte illegale Verhaftungen, das Verschwinden von Menschen, Folter oder Tötung von Zivilisten, was wir zuvor schon dokumentierten – jetzt sind noch größer angelegte illegale Deportationen, Erschießungen und der Einsatz verbotener Waffen an dicht besiedelten Orten hinzugekommen. Alle denkbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    In befreiten Gebieten befragen wir Zeugen und Opfer, in besetzten Gebieten richten wir ein Monitoring ein. Und wir verifizieren Daten aus öffentlichen Quellen. In unserer Datenbank haben wir jetzt über 49.000 Fälle von internationalen Verbrechen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.  

    Wie suchen Sie nach Zeugen?

    Da weiß ich von den mobilen Teams, die in den befreiten Oblasten Kyjiw, Charkiw und Cherson tätig waren: Es war für sie noch nie ein Problem, Opfer und Zeugen zu finden. Denn egal, in welches Dorf man kommt – überall ist etwas passiert. In jedem Dorf gibt es eine riesige Menge Schmerz. Wir dokumentieren menschliches Leid.  

    Wie steht es um die Psyche derjenigen, die das Monitoring durchführen?

    Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht vorbereiten kann. Mir fehlen noch immer Worte dafür, wie man so einen vollumfänglichen Angriff miterlebt. Es ist der totale Verlust jeglicher sozialer Netze und Strukturen. Man verliert die Kontrolle über sein Leben, weil man nicht einmal die nächsten paar Stunden planen kann: Es kann jederzeit ein Luftalarm kommen. Aber du musst weiterarbeiten − in dem Wissen, dass es weder für dich noch für deine Angehörigen einen sicheren Ort gibt, um sich vor den russischen Raketen zu schützen. 

    Bestimmte Verbrechen erschüttern ganze Gemeinden

    Jeder hat seine Grenzen. Ich zum Beispiel befrage keine Kinder. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das nicht kann. Ich bin ein sehr empathischer Mensch, und bei Kindern … Aber viele meiner Kollegen befassen sich mit dem Schutz von Kinderrechten, und dank ihrer Arbeit habe ich von der Geschichte eines Jungen erfahren, der mit seiner Mama in Mariupol lebte. Während die russische Armee systematisch die Stadt vernichtete, versteckten sie sich in einem Keller. Der Junge wurde trotzdem verletzt, er kann nicht mehr gehen. Seine ebenfalls verletzte Mutter schaffte es mit letzten Kräften, ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Dann starb sie in seinen Armen. Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann.    

    Wie kann man sexuelle Gewaltverbrechen dokumentieren?

    Sie werden oft „Schamverbrechen“ genannt: Oft sind Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht bereit, den Behörden oder Menschenrechtsaktivisten davon zu erzählen. In erster Linie muss man diesen Menschen helfen, wieder auf die Beine zu kommen – danach können sie selbst entscheiden, ob sie das Erlebte bezeugen und vor Gericht gehen wollen.

    Ich habe beispielsweise Menschen befragt, die zusammen auf besetztem Gebiet festgehalten wurden. Zeugen erzählten mir von regelmäßigen Vergewaltigungen, aber das Opfer erwähnte mit keinem Wort die sexuelle Gewalt. Obwohl die Person mir alle anderen, extrem brutalen Folterungen detailreich schilderte. 

    Ein solches Verbrechen erschüttert die ganze Gemeinde. Das Wirkprinzip ist einfach: Die betroffene Person schämt sich, ihre Angehörigen fühlen sich schuldig, weil sie sie nicht beschützen konnten, und alle anderen haben Angst, dass ihnen dasselbe widerfahren könnte. All das verringert die Chance auf einen gemeinsamen Widerstand.    

    Im März 2022 haben wir auch ein Merkblatt für Menschen erstellt, die solche Gewalt erfahren haben. Da gibt es einen Abschnitt, der die aktuellen Umstände besonders gut darstellt. Wir haben ihn zusammen mit ukrainischen Gynäkologen verfasst – es geht um konkrete Selbsthilfe nach einer Vergewaltigung, wenn man sich auf besetztem Territorium befindet und sich nicht einmal gefahrlos an einen Arzt wenden kann. 

    Was berichten Ihnen Menschen, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren?

    Seit 2014 habe ich hunderte Menschen befragt: Ihnen wurden Nägel ausgerissen, Knie zerschmettert, mit Löffeln die Augen aus den Höhlen gepult, sie wurden in Holzkisten gepfercht, ihnen wurden Tätowierungen aus der Haut geschnitten, Gliedmaßen abgehackt, Stromkabel an den Genitalien befestigt … Alles, was dem russischen Militär und den Geheimdiensten einfiel. Das machen sie mit den Menschen einfach nur, weil sie es können. Rationale Gründe … Für Folter kann es keine rationalen Gründe geben. Aber hier gibt es nicht mal irrationale. 

    Das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten

    Ein Mann erzählte mir, dass er immer noch überall das Geräusch von Klebeband hört, wie es von der Rolle gezogen wird. Weil dort, wo er eingesperrt war, die Menschen mit Klebeband gefesselt wurden – und dann geprügelt. Ein anderer sagte: Noch schlimmer als selbst gefoltert zu werden, sei es, andere leiden zu hören. Zu hören, wie sie darum betteln, umgebracht zu werden, um der Qual und Erniedrigung zu entkommen. Jemand erzählte, wie ein Vater und sein Sohn voreinander gefoltert wurden. Um es noch schmerzhafter zu machen. 

    Der gemeinsame Nenner ist: Die Russen machen das, weil sie es können. 

    Wie können Sie verfolgen, was mit Ukrainern passiert, die in besetzten Gebieten leben oder nach Russland gebracht wurden – in Auffanglager, Kinderheime, Gefängnisse?

    Auf Mechanismen der Rechtstaatlichkeit können wir uns nicht immer verlassen, dafür aber auf die Menschen. Es gibt überall Leute, die jemandem helfen, jemanden retten wollen – auch in den besetzten Gebieten und in der Russischen Föderation. Zudem stehen uns hochentwickelte digitale Werkzeuge zur Verfügung – das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten. Um die Täter zu identifizieren, braucht man manchmal gar nicht vor Ort zu sein. Das wissen die Täter aber nicht.   

    Was haben Sie über die Brutalität der russischen Soldaten gelernt?

    Russland setzt Kriegsverbrechen als Methode der Kriegsführung ein, versetzt die Zivilbevölkerung absichtlich in Angst und Schrecken, um ihren Widerstand zu brechen. Das ist eine Instrumentalisierung menschlichen Leids. Und das ist, wie wir im Studium gelernt haben, normalerweise eine Methode, auf die schwache Armeen zurückgreifen, die sich ihrer Stärke nicht sicher sind.   

    Die russische Armee hat in Tschetschenien, Georgien, Mali, Syrien und Zentralafrika Kriegsverbrechen begangen – und keiner wurde je bestraft. Diese Kultur der Straflosigkeit hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass die Russen glauben, mit den Menschen alles machen zu können, was ihnen einfällt. 

    Dokumentieren Sie auch Kriegsverbrechen der ukrainischen Streitkräfte?

    Wir dokumentieren alle Verbrechen, unabhängig davon, wer sie begangen hat. So lautet unsere Position seit 2014. Wir sind Menschenrechtler, und es wäre seltsam, wenn wir das anders handhaben würden. 

    Seit dem 24. Februar 2022 fließen alle Informationen in einer Datenbank zusammen, und so kann ich zweifellos belegen: Die von uns dokumentierten Verbrechen wurden vorwiegend vom russischen Militär begangen. Aber Menschenrechte können nicht in Prozent gemessen werden: Auch Einzelfälle sind schrecklich. 

    Krieg ist eine enorme Herausforderung für das menschliche Wertesystem, aber die ukrainische Gesellschaft kann immerhin eingreifen: Anklage erheben, an die Medien gehen, Besuche internationaler Organisationen in den Gefängnissen zulassen. Ich will nicht behaupten, dass das alles einfach ist: Wir sind ein Land im Transformationsprozess: Nach dem Fall des autoritären Regimes haben bei uns die Reformen im Strafvollzug und in der Justiz erst begonnen. Aber wir haben immerhin Optionen. Wenn wir hingegen von russischen Kriegsverbrechen sprechen, dann gibt es diese Möglichkeiten nicht.     

    Sie schrieben in derselben Kolumne, es gebe keinen einzigen internationalen Gerichtshof, der Putin für diesen Angriffskrieg zur Verantwortung ziehen könnte. Woran liegt das?

    Gute Frage! Was das Regime in Russland betrifft, ist ja alles klar. Aber die Länder der so genannten progressiven Demokratie haben ebenfalls jahrzehntelang die Augen davor verschlossen, dass in der Russischen Föderation Journalisten verfolgt, Aktivisten inhaftiert und Demonstrationen niedergeschlagen werden. Man hat Putin trotzdem die Hand geschüttelt, Business as usual gemacht, Pipelines gebaut. Doch das unbestrafte Böse wächst. 

    Warum hat zum Beispiel der Internationale Strafgerichtshof keine solche Rechtsprechung, obwohl Russland heute alle Arten von internationalen Verbrechen verübt – sowohl militärische Verbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und diesen Angriffskrieg? Die Vertragsstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs haben eine zu enge Definition des Begriffs „Aggression“ und verbauen sich damit die Möglichkeit einzugreifen. Und das hat nicht einmal etwas mit Putin zu tun – das ist die Verantwortung der Vertragsstaaten.

    Bringt Ihnen der Nobelpreis nun etwas für Ihre Arbeit?

    Der Nobelpreis verschafft uns Aufmerksamkeit. Dem Menschenrechtsaktivismus unserer Region hat nie jemand zugehört, obwohl wir seit Jahrzehnten dasselbe sagen. Seit Jahrzehnten! Wir sagen, dass ein Land, das die Menschenrechte massenhaft verletzt, nicht nur für die eigenen Staatsbürger und die Nachbarländer gefährlich ist, sondern für die ganze Welt.

    Viele Ukrainer haben sich daran gestört, dass in der Liste der Preisträger die ukrainischen Menschenrechtler Seite an Seite mit Vertretern von Ländern stehen, die gegen die Ukraine Krieg führen.

    Wenn man in einer Schlagzeile liest „Russland, Ukraine und Belarus“, dann kommen natürlich sofort Assoziationen mit dem nach Naphthalin stinkenden Sowjetmythos der Brudervölker hoch – und der Eindruck, man wolle uns wieder in dieses Dreierzimmer stecken. Obwohl bereits klar ist, dass es in der UdSSR keine Brudervölker gab – sondern ein Volk dominierte und gab die Sprache und die Kultur vor. Den anderen wurde ein Platz auf Folklorefestivals eingeräumt. 

    Natürlich stößt das während eines Kriegs, in dem Russland und Belarus die Angreifer sind und die Ukraine sich verteidigt, auf Ablehnung. Wir haben unsererseits versucht klarzustellen, dass dieser Preis natürlich nicht an Länder geht, sondern an Menschen — an Menschen, die schon sehr lange zusammenarbeiten. Wir haben sowohl vor 2014 als auch danach eng mit russischen Menschenrechtsaktivisten kooperiert: Wir haben gemeinsame Werte, eine gemeinsame Mission. 

    Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten

    Als wir unser Monitoring auf der Krim und im Donbas begannen, konnten wir die Erfahrungen mobiler Gruppen nutzen, die schon in Tschetschenien aktiv gewesen waren. Ich erinnere mich, wie ich meine russischen Kollegen anrief und sagte: Wenn ihr irgendwelche Anleitungen habt, irgendwelche Fragebögen, schickt sie uns bitte – unsere Leute sind schon unterwegs, wir organisieren uns im Galopp.

    Auch jetzt, in diesen Minuten, sind von uns tausende Zivilisten in russischer Kriegsgefangenschaft – und da, wo wir keinen Zugang haben, agieren wir über russische Organisationen.   

    Was sollten Russen tun, die gegen den Krieg sind?

    Betroffenen helfen, ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, versuchen, dieses militärische Schwungrad zu stoppen – ich bin mir sicher, dass Menschen, die empört sind über das, was passiert, ihre Rolle finden. Mir ist klar, dass die Position „gegen den Krieg“ in Russland strafrechtlich verfolgt wird. Aber Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten.

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    „Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

    Die Tschinowniki, die Beamten, sind eine feste Stütze des Systems von Alexander Lukaschenko. Sie sorgen in den Regionen und ihren Amtsbereichen auf zahlreichen Ebenen dafür, dass Entscheidungen im Sinne der Machthaber umgesetzt werden. Zudem agieren sie als politische Kontrolle und mitunter als Verhinderer von Problemlösungen.

    Rudabelskaja Pakasucha (dt. Rudabelka-Show) auf YouTube hat über 45.000 Abonnenten. Der Kanal geht auf den historischen Namen (Rudabelka) für die kleine Gemeinde Oktjabrski zurück, die in der Oblast Gomel liegt. Von dort stammen Olga Pauk und ihr Ex-Ehemann Andrej. Sie haben den Kanal 2011 gegründet, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass so Einiges in ihrer Gemeinde falsch lief. Also begannen sie, zuständige Beamte in ihrer Sendung mit den Problemen zu konfrontieren, um Öffentlichkeit zu schaffen. Angespornt durch kleine Erfolge und Zuspruch weiteten sie ihr Engagement auf das ganze Land aus. Im Zuge der Repressionen, die infolge der Proteste 2020 begannen, mussten sie ihre Heimat verlassen und flohen nach Litauen. Im Mai 2023 wurde der Kanal von den belarussischen Behörden als „extremistische Vereinigung“ eingestuft.

    Dennoch betreiben sie den Kanal weiter und rufen jede Woche bei den lokalen Behörden an, um zu verstehen, warum sie so handeln, wie sie es eben tun, bzw. nicht handeln. Die Redaktion des Online-Magazins KYKY hat Olga Pauk getroffen und sich mit ihr über ihr Engagement unterhalten. Entstanden ist ein Gespräch, das seltene Einblicke in den berüchtigten, aber sehr verschlossenen Verwaltungsapparat Lukaschenkos ermöglicht.

    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube
    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube

    Irina Michno: Wie wählt ihr die Personen aus, die ihr anruft?

    Olga Pauk: Ich rufe nur Verwaltungsbeamte an – mit Sicherheitsleuten wie den Silowiki oder auch mit Denunzianten kann ich nicht sprechen, dafür sind mein Unverständnis und mein Groll zu groß. Ich habe dafür keine emotionalen Koordinaten, denn wenn ich mit jemandem spreche, der den Krieg und Lukaschenko unterstützt, zerreißt mich das innerlich. Die Verwaltungsbeamten wurden für mich in den letzten drei Jahren  zu einem Monolith: Ich mache keinen Unterschied, was sie jeweils für Menschen sind und auf welcher Stufe der Hierarchie sie stehen.

    Um im Lukaschenko-System zu bestehen, muss man anständig und Arschloch sein – oder dumm genug und ohne moralischen Kompass. 20 Jahre negative Auswahl bleiben nicht ohne Folgen. 

    Stell dir jemanden vor, der Gewalt und Manipulation ablehnt – er würde in jedem beliebigen Gebietsverwaltungsamt verrückt werden, er würde selbst kündigen oder gefeuert werden. Ich bin davon überzeugt, dass nur diejenigen geblieben sind, die das System vollumfänglich unterstützen. 

    Für jeden unserer Anrufe gibt es einen Anlass, zum Beispiel eine Meldung aus den Nachrichten. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten aus den Regionen (und an dieser Stelle möchte ich dem Telegram-Kanal Belarus hinterm Minsker Autobahnring danken, der die Ereignisse hervorragend filtert). Außerdem lese ich ab und zu die Propagandapresse. Und die Menschen aus Belarus schicken uns immer wieder Anfragen, ob wir etwas über Zustände in ihrem Dorf oder ihrer Stadt herausfinden können. Wo ich anrufe, hängt also davon ab, aus welchem Rajon ich Anfragen erhalte. 

    Ich rufe an, um den Sinn bestimmter Ereignisse zu hinterfragen, auch wenn ich weiß, dass ich im Grunde keine Antworten bekommen werde. Es sei denn, die Fragen betreffen Schlaglöcher oder allgemeine Infrastruktur. Alle unsere Beamten sitzen eigentlich in der Wohnungsverwaltung (lacht). Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – das ist alles schon Ideologie, dazu kann man nur rhetorische Fragen stellen. Jetzt werden die Kinder zum Beispiel in patriotische Ferienlager gesteckt, in die Silowiki in voller Montur kommen, inklusive Waffen. Ich rufe also in der Kreisverwaltung an und frage: „Was wollen Sie den Kindern damit sagen? Worauf bereiten Sie sie vor?“


    Die, die für den Regen beten: Olga Pauk von Rudabelskaja Pakasucha nimmt lokale Verwaltungsbeamte in die Zange

    Ich musste bei einem der Videos sehr lachen, in dem du mit einem Beamten sprichst, der für Regen gebetet hat. War das für dich auch der Hammer? Du hast ja sicher auch nicht mit einer sinnvollen Antwort gerechnet. 

    (lacht) Manchmal schreiben mir Leute in den Kommentaren: „Du musst dich besser vorbereiten!“ Aber wie soll man sich auf sowas vorbereiten? Es gab noch einen anderen interessanten Anruf: In Slonim wurde eine „taktische orthodoxe Vorbereitung der Panzersoldaten“ durchgeführt. Die Popen brachten den Panzerfahrern irgendwelche Strategien bei – das ist so hirnlos, dass man darin kaum irgendeine Logik oder einen Sinn finden kann. Und wenn man dann anruft und Fragen stellt, geraten sie ins Stocken. Es sei „von oben“ aufgetragen worden und sie hätten es gemacht, alles wie immer. Aber wenn du dann fragst, „Warum?“, dann wissen sie keine Antwort. Aber mir geht es bei diesen Anrufen nicht um Spaß. Mich interessiert wirklich, wer diese Menschen sind, die da über uns bestimmen.

    Man kann darüber lachen, aber man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass dieser Beamte, der für Regen betet, über das Schicksal eines ganzen Rajons entscheidet. Über seinen Tisch gehen debile Entscheidungen, die Menschen verschiedenen Alters und in verschiedenen Einrichtungen dann umsetzen müssen. 

    Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten 

    Es gibt Beamte, besonders in den weiter von Minsk entfernten Regionen, die ihre Arbeit machen und nicht darüber nachdenken, ob irgendetwas daran vielleicht nicht stimmt – das merkt man deutlich an ihren Antworten. Andere wiederum sind Parasiten, sie wissen, was sie tun und richten bewusst Schaden an. Mir ist es wichtig, diese Typen zu unterscheiden, denn ich werde mich mit aller Kraft für eine Lustration in Belarus einsetzen. Die heutigen „Jabatki“, diese Pro-Lukaschenko Leute, leben großartig mit dem Regime, kaufen ihren Kindern Wohnungen, schicken sie zum Studium ins Ausland – so, wie es die Machtelite im Sowok, den Zeiten der Sowjets, getan hat. Und es gibt unsereins in den Regionen, die wir uns nicht einmal die notwendige medizinische Behandlung, hochwertige Kleidung oder Essen für unsere Kinder leisten können. Von Bildung jenseits der nächsten Großstadt ganz zu schweigen, dafür ist einfach kein Geld da. Deshalb denke ich nicht, dass Lukaschenko der allerschlimmste Menschenfresser im Land ist, und all diese Vorsitzenden der Gebietsverwaltungen nur ganz kleine – in meinem Kopf sind sie alle gleich. Jeder Verwaltungsbeamte ist in seinem Amt ein kleiner Lukaschenko. 

    Das ist ja auch eine spezifische Art Mensch, noch dazu sorgsam ausgewählt. Ich habe sie oft gefragt: „Wie wird man in Belarus Staatsbeamter?“ Ich weiß nicht, warum das so ist, aber sie beantworten diese Frage nicht. Es gibt keine Wahlen, alle Rajonchefs werden ernannt. Und die Ratsmitglieder werden so gewählt, wie die Präsidenten – dort sitzen immer diejenigen, die dort sitzen sollen. Und zwar 20 Jahre lang dieselbe Person, dann wechselt eine Abgeordnete in die Kreisverwaltung und ihre Tochter übernimmt das Ratsmandat. Sie werden wirklich ausgewählt. Und es ist kein Geheimnis, dass es nach dem Prinzip geht, dass unter dir niemand klüger sein darf, als du selbst. Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten. 

    Warum reden die Beamten immer noch mit dir?

    Das ist unterschiedlich. Manche Stellen erreicht man telefonisch überhaupt nicht – vielleicht haben sie eine Mitteilung aus dem Ministerium erhalten, die Gespräche mit uns zu unterbinden. In der Gebietsverwaltung von Gomel ist das zum Beispiel so. Andere erhalten scheinbar sogar Prämien, wenn es ihnen gelingt, uns schlagfertig zu antworten. Im Wirtschaftsministerium gibt es so eine, Tatjana Wiktorowna Branzewitsch, sie begrüßt mich wie eine alte Bekannte. Sie erzählt mir das Blaue vom Himmel, aber es klingt doch immer wie ein vorbereiteter Text. Sie redet wie ein Wasserfall, du kannst sie kaum unterbrechen, und dabei beantwortet sie immer die Fragen. 

    Weißt du, ich habe eigentlich keine hohe Meinung von deren geistigen Fähigkeiten. Es gibt so ein Sprichwort: „Dummheit versteckst du nicht – dafür reicht der Verstand nicht“. 2021 gab es eine interessante Situation, als wir im Verteidigungsministerium angerufen haben, damals habe ich begriffen, dass die größten Feiglinge in Belarus die Leute mit den Schulterklappen sind. Im Ministerium für Katastrophenschutz, im Innenministerium und im Verteidigungsministerium geht jetzt kaum noch jemand ran, doch gleich nach den Ereignissen von 2020 haben sie sich dort gegenseitig den Hörer aus der Hand gerissen, um uns irgendwas zu beweisen. Es war ihnen wichtig zu reden, sie glauben wirklich, im Recht zu sein. 

    Es gab auch Fälle, in denen die Beamten dachten, sie hätten schon aufgelegt, obwohl dem nicht so war. Dadurch haben wir zum ersten Mal gehört, dass es für sie eine große Ehre ist, wenn die Pauk angerufen hat. Nach ihm habe ich angerufen, in der Gebietsverwaltung von Mogiljow, und mich als gewöhnliche Bürgerin ausgegeben. Und als die Beamtin dachte, dass ich sie schon nicht mehr höre, sagte sie: „Wir melden sie dem KGB“, und nannte sogar den Namen eines KGB-Beamten. Dieser Anruf gab uns zu verstehen, wie das System heute arbeitet: Mich, Olga Pauk, wollten sie nicht an den KGB melden, dafür aber die gewöhnliche Belarussin, die über die Hotline eine Beamtin anruft. 

    Die Belarussen brauchen uns, weil uns allen nicht nur bei den Wahlen die Stimme geraubt wurde – den Belarussen wurde auch die physische Stimme genommen. Du kannst nicht den Mund aufmachen und eine Frage stellen, denn wenn du es wagst, melden sie dich dem KGB. Wir bekommen regelmäßig Feedback von den Menschen im Land, sie schreiben oft: „Gott sei Dank drückt ihr sie mit ihrer Schnauze in die Kacke – wir können es nicht, aber wir sehen, dass ihr es tut.“ 

    In deinen Videos sprichst du das „g“ frikativ als „ch“ und hast so eine Art Dienststellenakzent – wenn ich jetzt mit dir spreche, höre ich nichts davon. Sprichst du absichtlich so mit ihnen? Ist das hilfreich?

    Diese reibenden Frikative sind meine natürliche Aussprache. Ich bin im Dorf aufgewachsen und bin in eine belarussischsprachige Schule gegangen. Deshalb ist das „ch“ nicht verschwunden (lacht). Ich weiß noch, als ich in Mosyr studierte, wurde ich wegen meiner Aussprache immer gefragt: „Woher kommst du eigentlich?“

    Ich habe auch Hänseleien erlebt. Als ich klein war, bin ich zur Kinderkur gefahren, aber nicht mit der Klasse, sondern allein. Ich stand nicht auf der Liste der „Tschernobylkinder“, deshalb haben meine Eltern selbst für die Aufenthalte bezahlt. Ich kam also dorthin, und alles war auf Russisch – die Kinder und der Matheunterricht. Ich ging ja in eine belarussische Schule, deshalb war das für mich eine neue Welt. Die anderen Kinder lachten mich aus, und ich verstand nicht, warum – dann stellte sich heraus, dass es an meiner Sprache lag. Die belarussische Sprache ist auch eine Charakterprobe.

    Mit dir spreche ich Russisch – „rasgowariwaju“, aber wenn ich mit meinen Verwandten oder alten Freunden rede, dann auf Belarussisch – „chawaru“. Das ist okay für mich. 

    Und wenn du auch mit mir Trassjanka sprechen würdest – wäre das dann ein Gefühl, wie als Kind im Sanatorium?

    Wenn du willst, dann kann ich das! (Sie spricht die Buchstaben frikativ und die Vokale hart und lacht) Wahrscheinlich geht es mir darum, dass die Leute sich wohlfühlen. Ich will, dass sie den Inhalt hören, und nicht darauf achten, wie ich ihn formuliere. Wenn ich in irgendeinem weit entfernten belarussischen Rajon anrufe, dann weiß ich, dass diese Sprache dort einfach besser passt, weil sie die Leute nicht aus ihrer gewohnten Bahn wirft. Es gab Fälle, da habe ich in irgendeinem Dorf angerufen und „normal“ gesprochen und wurde sofort gefragt: „Als was arbeiten Sie? Das ist etwas verdächtig, solche Leute rufen uns normalerweise nicht an“. Deshalb passe ich mich an die Umgebung an.

    Vielleicht liege ich falsch, aber du wirst seltener abgewimmelt als Andrej – woran liegt das? Ich habe wieder eine Gender-Theorie, dass ein Beamter es sich nicht erlauben kann, eine Frau und Mutter zu beschimpfen. 

    Ich denke, ich bin listiger. Andrej ist eher direkt, außerdem ist er von Anfang an gehässig und sarkastisch. Ich will sie ja aber an die Angel kriegen – fies werden kann ich dann später. Bezüglich der Frauen stimme ich dir zu – in Gesprächen mit Beamten hört man häufig diesen überheblichen, süffisanten Ton. Sie halten sich ja a priori für klüger, und das kommt mir nur gelegen. Da sitzt er in seinem Büro, den Schlips über dem Bauch, und hält sich für einen erfolgreichen, tollen Typen: „Oh, da ruft ein Weib an, da halt ich mal ein kleines Schwätzchen.“

    Ich glaube, dank diesem Prinzip hat es Tichanowskaja auch auf die Wahlzettel geschafft (lacht). Mit wem sind die Gespräche am konfliktreichsten – mit den Silowiki? 

    Psychophysiologen geben die Antwort vor, das Niveau der allgemeinen Entwicklung eines Menschen hat starken Einfluss auf das Aggressionsniveau. Und wen nimmt das Innenministerium? Tendenziell Jungs aus der Provinz, die entweder zur Berufsausbildung an ein Polytechnikum gehen oder nach der Armee ein halbes Jahr zum Innenministerium. Natürlich wählen viele die zweite Option, wo es eine Wohnung und andere Boni gibt. Irgendwo habe ich mal gelesen, und das hat mir sehr zu schaffen gemacht, dass die Silowiki von heute Dorfjungs sind, die die Stadtjungs fertigmachen können und dabei aufrichtige Genugtuung empfinden. Ich dachte immer, wenn man etwas mehr lernen kann, als einen Stock zu schwingen, dann wird man das wahrscheinlich tun. 

    Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist

    Aber ich kann nicht sagen, ob die Silowiki oder jemand anders am konfliktträchtigsten sind. Vieles hängt von der Persönlichkeit ab. Man kann das nicht konkreten Bereichen zuordnen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Maß an Menschlichkeit eher geografisch. Die schlimmsten Gebiete sind Gomel, Mogiljow und Witebsk, die immer unter russischem Einfluss standen. Das furchtbarste Gespräch meines Lebens war mit der Amtsvorsteherin der Gomeler Gebietsverwaltung. Damals hatte gerade der Krieg begonnen, und ich dachte: „Oje, was werden sie mir jetzt sagen, wo doch ihr zentrales ideologisches Narrativ in die Binsen gegangen ist.“ Also fragte ich sie, was sie empfinden, und dachte, dass ich damit wenigstens etwas Menschliches in ihnen finden kann – doch ich fand es nicht. Danach rief ich in Bobrujsk an, die Leute schrieben mir damals die ganze Nacht lang, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht, jemand hatte schon 54 russische Militärflugzeuge gezählt, die gelandet waren. „Sie, als lokale Regierung, welche Position haben Sie dazu? Was soll die lokale Bevölkerung in dieser Situation tun?“ – „Welche Flugzeuge? Wir haben nichts gesehen! Nennen Sie mir den Namen des Piloten.“ Die Antworten wurden immer absurder.

    Im Westteil von Belarus waren die Menschen schon immer offener. In den Gebieten Brest und Grodno haben alle eine Karta Polaka oder sind mit Litauern verbandelt, sie reisen öfter. Auch die Beamten sind dort freundlicher und bescheidener. Sie lassen sich praktisch nie zu Rüpeleien hinreißen, genau wie im wohlerzogensten der Ministerien, dem für Auswärtiges. Dort hat scheinbar sogar die Reinigungskraft Fremdsprachenkenntnisse (lacht). Wer immer auch den Hörer abnimmt, du wirst auf höchstem Niveau bedient. Sie legen auch niemals einfach den Hörer auf, weil sie immerhin gut erzogen sind. 

    Gibt es Videos, die du nicht veröffentlicht hast, weil du dachtest, dass der befragte Beamte aufgrund des Gesprächs Repressalien ausgesetzt werden könnte?

    Das kümmert mich nicht. Es gab einen Fall, da habe ich eine Beamtin angerufen, aus Chojniki oder Narowlja. Andrej sagte danach: „Sie war doch nett, und du stellst ihr solche Fragen. Vielleicht kriegt sie eins auf den Deckel“ – „Okay.“ Sie ist eine Beamtin, und dass sie dafür auf den Deckel kriegen könnte, macht mir nicht viel aus, weil ich nicht denke, dass man jemanden von ihnen in Schutz nehmen muss. Ich bin sehr wütend auf die Menschen, die es sich aktuell leisten können, ein gewöhnliches Leben in Belarus zu führen. Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht (inklusive Tod und jahrelangen Haftstrafen) und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist. Beamter zu sein oder nicht – diese Wahl treffen sie jeden Tag. Und sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidung. 

    Wie viele dieser Verwaltungsbeamten gibt es eigentlich in Belarus? Ich mag vermutlich einfach nicht glauben, dass es in dieser riesigen Menge keine passablen Menschen gibt. 

    Es gibt insgesamt 118 Rajons, jeder hat sein Verwaltungsamt, und das ist ein ganzes Gebäude voller Beamter (2020 wurden in Belarus 37.000 Staatsbedienstete gezählt, Anm. KYKY). Ein Beispiel: Ich weiß genau, dass 2021 alle aus den Schulen und Universitäten entlassen wurden, die Anzeichen kritischen Denkens gezeigt haben, und ich erinnere mich an keinerlei Mitgefühl für diese Menschen seitens der Beamten. Wenn ein Leser oder eine Leserin dieses Textes andere Beispiele kennt, schreibt sie mir bitte. Ich habe keine andere Perspektive kennengelernt, und da spreche ich nicht nur über die Anrufe, ich hatte seit 2015 sehr viel mit Verwaltungsmitarbeitern zu tun. Ich war in ihren Amtszimmern, auch in Ministerien. 

    Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit 

    Vielleicht gab es früher auch Gute unter ihnen. Unser Baranowski (der ehemalige Vorsitzende der Kreisverwaltung Oktjabrski) zeigte am Anfang auch Anzeichen von angemessenem Verhalten. Einmal bot er mir sogar einen Job im sozialen Bereich an. Aber dann beendete ich eine Ausbildung und fand heraus, wie man auf regionaler Ebene mit Europa zusammenarbeiten kann, und begann, mit Präsentationen zur Kreisverwaltung zu gehen: „Ich kann Sie unterstützen, wir führen Solaranlagen ein und sanieren die Kinderstation des Krankenhauses“, woraufhin sie mir mit großen Augen antworteten: „Wir haben alles, wir brauchen nichts“.

    Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du Mitleid mit ihnen hast.

    Manchmal höre ich von Belarussen den Satz: „Das sind doch auch Menschen!“ Und jedes Mal steigt in mir eine Welle der Entrüstung auf. Was seht ihr da in ihnen? Ja, biologisch sind sie Menschen wie wir, aber moralisch? Man kann das auf einer Metaebene diskutieren, im Kontext der Demokratie – aber ich denke konkret an meine eigenen Kinder, die ihre Freunde und ihr gewohntes Umfeld verloren haben. Mein ältester Sohn hat bis heute psychische Probleme durch den Umzug. Ich selbst habe meine Mutter verloren, sie kann uns nicht besuchen kommen und ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehen werde. Ich habe Freunde verloren, einige wurden inhaftiert, weil sie mit mir zu tun hatten. Über was für Menschen reden wir hier also, und warum sollten sie mir leidtun? Selbst diese Schlapakowa (Vorsteherin in der Kreisverwaltung Oktjabrski) würde mich als Erste an der Birke aufhängen. 

    Ich glaube, dass sie keine Angst haben. Sie denken, da kommen diese Liberalen, die können uns nichts tun, sie werden uns vergeben, denn sie sind ja nicht blutrünstig. Solche Ansichten habe ich von Beamten gehört. Ich denke, dass jeder von ihnen vor Gericht kommen sollte, auch wenn das teuer, langwierig und schmerzhaft ist. 

    Ich mag ehrlich gesagt den Gedanken, dass wir nicht solche Menschenfresser sein werden, wie die Leute, die jetzt an der Macht sind. 

    Mir gefällt dieser Gedanke auch (lächelt). Wenn ich einmal sehr, sehr alt bin, kann ich darüber vielleicht ein Buch schreiben, in dem ich Verständnis und Vergebung für alle aufbringe, aber nicht heute. In diesem Moment kann ich die Situation nicht aus philosophischer Sicht betrachten. Ein faires Verfahren ist sicher nicht das, was wir heute von den Lukaschisten bekommen. Wir werden sicher nie so werden wie sie. 
    Meine Erfahrungen sind auch deshalb traumatisch, weil ich nicht in Minsk oder Retschiza oder irgendeiner anderen Stadt mit einem Minimum an Infrastruktur aufgewachsen bin. Bei uns in Oktjabrski gab es nicht einmal Rettungswagen. Ich weiß noch, wie eines Tages ein paar Onkel aus dem Ministerium in unseren Rajon kamen, und die Leute zusammengerufen wurden, um sie zu treffen. Da fragte eine Frau in entschuldigendem Tonfall: „Meine Tochter hat Asthma, wir müssen zwei Mal im Jahr nach Gomel zur Untersuchung fahren, aber wir schaffen es nur ein Mal – das Geld reicht nicht.“ Wenn ich also unglückliche Kinder sehe, deren Eltern trinken, weil es außer im Kolchos keine Arbeit gibt, oder abscheuliche Lehrer, die Kinder mit dem Kopf auf die Schulbank schlagen, weil es nicht mal einen Hauch von Bildung gibt … Man kann auf Menschen schimpfen, aber ich bestehe darauf, dass alles in der Politik begründet liegt. Ob du über Asphalt läufst oder in weißen Strumpfhosen durch Kuhfladen zur Schule gehst, weil es im Agrostädtchen keine Fußwege gibt, ob du 20 Minuten in einem richtigen Rettungswagen zur Geburtsklinik fährst oder zwei Stunden in einem alten sowjetischen Transporter, unter welchen Bedingungen deine Oma an Krebs stirbt – all das ist Politik. Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit. Egal, ob er dumm ist, unselbständig oder unfähig, Gut und Böse zu unterscheiden. Jeder.

    Früher hast du gesagt, dass du „die Evolution des Beamten in einer konkreten Stadt“ beobachtet hast. Wie sah das damals aus, und wie ist es heute?

    Bis 2020 haben sich in unserem Rajon einige Beamte verändert, wenigstens in der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit – und das war nur der Verdienst der Menschen selbst. Unser Baranowski war der einzige im Land, der die tatsächlichen Covid-Zahlen herausgab – weil ich eine Chatgruppe auf Viber erstellt hatte, die innerhalb eines Tages 4500 Menschen abonnierten. Ich bekam Informationen aus dem Gesundheitsdienst und von den Rettungsstellen, und er musste die Wahrheit sagen, weil die Wahrheit einfach schon in meinem Chat stand. 

    Ich habe Albträume von Belarus

    Im Rajon Oktjabrski hat es 2017–2018 zwei erfolgreiche Revolutionen gegeben. Im ersten Fall waren Funktionäre in den einzigen erfolgreichen Kolchos des Rajons gekommen und hatten verkündet: „Wir schicken euren Direktor in Pension, ihr bekommt einen neuen.“ Die Leute waren verärgert, denn sie sahen, wie es in den anderen Kolchosen lief, und wollten das nicht. Also riefen sie uns an: „Kommen Sie her, morgen früh werden wir unseren Wassiljewitsch verteidigen.“ Sie traten in einen Streik, hörten auf, die Tiere zu füttern, die Traktoristen kehrten von den Feldern zurück: „Wir werden erst wieder arbeiten, wenn ihr uns unseren Direktor zurückgebt.“ Die Führungsriege aus dem Rajon und aus dem Gebiet wurde ins Dorf geschickt, doch die Leute hielten stand. Wir informierten die Medien, und eine Funktionärin – sie war in einem weißen Mantel angereist – schrie ins Belsat-Mikrofon: „Filmt mich nicht! Ich bin in Rente!“ Und unsere Frauen antworteten ihr: „Du bist in Rente und arbeitest, aber unseren Chef willst du wegschicken?“ Die Leute streikten 16 Stunden lang, dann bekamen sie den Direktor zurück. Das war eine richtige Bauernrevolution. Später passierte dasselbe auch in einem anderen Dorf, aber dort waren keine 16 Stunden Streik nötig, die Arbeiter sagten einfach: „Ihr könnt uns gar nichts“, – und sie konnten ihnen nichts. 

    Die Verwaltungsbeamten entwickelten sich weiter, weil sich die Gesellschaft in unserem Rajon veränderte, sie erlaubte ihnen nicht mehr, sie so zu behandeln, wie bisher. Soweit ich weiß, wurde es zeitweise als Bestrafung betrachtet, in unserer Kreisverwaltung zu arbeiten: ließ sich ein Beamter etwas zuschulden kommen, dann musste er nach Oktjabrski, wo man ihm zeigte, wie der Hase läuft (lacht). 

    Bis 2020 hatte Reputation in Belarus noch eine gewisse Bedeutung, zwar recht schwach, aber doch funktional – die Beamten mussten ihr Gesicht wahren. Jetzt sind alle Fesseln gefallen, sie machen, was sie wollen. Aber wir wollen nicht, dass sie uns vergessen, dass sie denken, „die haben das Land verlassen, weiter geht’s“ – nein, so geht es nicht. Ich habe Albträume von Belarus, und wenn ich ehrlich bin, dann bin ich nervös, wenn ich dort anrufe. Am Samstagmorgen wache ich vor Sendungsbeginn mit dem Gedanken auf „Mist, es geht wieder los“, und ich muss mich fast übergeben. Aber die Beamten fühlen dasselbe, da bin ich sicher. Vielleicht komme ich ja auch in deren Albträumen vor (lacht). Und das hat nichts Edelmütiges: Wenn ich schon nichts gegen ihre Macht tun kann, ihnen aber zumindest die Stimmung versauen kann – dann tue ich das. Es ist eine Möglichkeit, an ihr Gewissen zu appellieren, auch wenn ich ein solches bislang noch nicht bei ihnen entdeckt habe. 

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