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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    Wie sprechen die Menschen in Russland über den Krieg? Was denken sie wirklich? Wie sehen sie ihr Leben, ihre Rolle im militarisierten Getriebe der Putinschen Kreml-Diktatur?  

    Einwandfreie, wissenschaftlich saubere, freie und offene Meinungsstudien sind in einem Land wie dem heutigen Russland schon seit mehr als zehn Jahren unmöglich. Informationskanäle sind beschränkt, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beschnitten und Regimekritiker werden verfolgt, verhaftet, verurteilt und gefangen gehalten. 

    In den ersten zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es Versuche, die Haltung der „normalen“ russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen: zum Beispiel vom Meinungsforschungszentrum Lewada oder auch von dem russischen Exil-Medium Meduza. Die Frage nach Schuld und Mitverantwortung spaltet selbst oppositionelle Kreise bis heute. 

    Um trotz allem wenigstens einen Eindruck von der Stimmung im Land im vierten Kriegsjahr zu bekommen, hat das Onlinemagazin Ljudi Baikala einen unabhängigen Sozialpsychologen (aus Sicherheitsgründen anonym) mit einer Umfrage beauftragt. Der Wissenschaftler sollte herausfinden, was sich die Leute von einem irgendwann vielleicht möglichen Ende der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ („SWO“) erwarteten und wünschten.  

    Aufgrund der repressiven Kremlpolitik gestaltete sich die Teilnehmersuche schwierig: Der Autor befragte zehn Personen aus verschiedenen Regionen Russlands sowie eine Fokusgruppe aus acht Personen in der Region Irkutsk. Die Interviewpartner konnte er nur „über Bekannte von Bekannten“ finden. „Man merkt, dass es nicht okay ist, einfach so von einer fremden Nummer anzurufen und dann zu sagen: ‚Wissen Sie, wir machen da so eine Recherche …‘ Die Leute sind sehr angespannt“, so der Forscher gegenüber Ljudi Baikala. Trotzdem konnte er Gesprächspartner:innen für seine Studie gewinnen: „Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach Alter, sozialem Status und beruflicher Stellung, um Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen. Ich habe versucht, die Positionierung einer Person zur ‚SWO‘ zu berücksichtigen. Nicht im Sinne von positiv oder negativ, sondern danach, ob er oder sie Verwandte hat, die vielleicht tot oder verschollen sind.“ 

    Der Wissenschaftler legte den Befragten keine vorgefertigten Antwortmöglichkeiten vor, wie in der quantitativen Forschung üblich. Stattdessen sollten die Teilnehmenden möglichst ausführlich auf offene Fragen antworten. Daher liefert die Studie keine Prozentzahlen zu bestimmten Standpunkten, aber einen Einblick in die Weltsicht der Antwortenden. 

    Ljudi Baikala fasst Antworten einzelner Befragter und Fokusgruppenteilnehmenden zusammen. Deutlich wird: Eine überwiegende Mehrheit verbindet „positive Veränderungen“ mit einem Kriegsende, aber eine konkretere Vorstellung von der Zukunft hat niemand. 

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Wie stellen Sie sich Ihr eigenes und das Leben Ihrer Familie in fünf bis sieben Jahren vor? 

    Diese Frage war für die Befragten offensichtlich die schwierigste. Es fiel ihnen schwer, ihr Leben auch nur ein Jahr im Voraus zu planen – selbst denjenigen, deren Arbeit von effektiver Planung abhängig ist, zum Beispiel Unternehmer. 

    Die Hälfte der Befragten antwortete verallgemeinernd: „Ich glaube, alles wird gut“, „Ich hoffe, dass alle gesund und glücklich werden.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich denke, es wird besser werden, irgendwann muss der Krieg ja zu Ende gehen und sich alles normalisieren. Also … insgesamt wird es in unserem Land einen positiven Trend geben. Auch in der Familie wird es bergauf gehen.“ 

    Die andere Hälfte hielt Zukunftsplanung für grundsätzlich unmöglich. Die Menschen fühlten sich, so fasst es der Forscher zusammen, „abhängig von äußeren Umständen“. Sie müssten „sich von heute auf morgen überlegen, wie sie unter den sich verändernden Umständen leben sollen, anstatt einem Plan zu folgen“. 

    Mitarbeiter einer NGO, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Der Planungshorizont in unserem Land ist generell sehr kurz. Über eine Zeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu sprechen, ist reinste Spielerei. Es wäre eine glatte Lüge zu sagen, dass wir für die nächsten zehn Jahre etwas genau vorhersagen könnten. Für das nächste Jahr ist das schon schwierig. Buchstäblich vor drei Wochen lebten wir in der einen Realität, und dann kommen – zackbumm – plötzlich irgendwelche Firmen nach Russland zurück. Was bedeutet das? Dass sich das Schicksal tausender Menschen verändert. Heute arbeiten sie in einer Branche ohne Konkurrenz, morgen haben sie plötzlich Konkurrenz usw. Ich wünsche mir sehr, dass alles gut wird, aber wie es tatsächlich wird, kann ich nicht sagen. Das kann nur die Zeit zeigen.“  

    „ZU VIEL STERBEN“ 

    Frage: Was denken Sie, wie sich ein Ende der „Spezialoperation“ auf Ihr Leben auswirken wird? 

    Die Mehrheit der Befragten erwartet von einem Ende des Krieges, dass ihre Ängste und Sorgen abnehmen. 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Nachrichten drücken natürlich auf die Stimmung. Also, der Krieg an sich, meine ich. Wenn das alles vorbei ist, gibt es sicher mehr Positives. Rein emotional wird alles leichter, glaube ich.“ 

    Nachfrage: „Was empfinden Sie gerade als emotional schwierig?“ 

    „Das ständige Sterben in den Nachrichten. Der Tod ist überall … Die Nachrichtenkanäle sind voll von Videos davon, überall Mord und Totschlag. Egal ob es ‚unsere‘ Toten sind oder ‚deren‘ Tote. Es gibt einfach zu viel Sterben.“ 

    Drei der Befragten sagten, dass sich ihr Leben gar nicht verändern würde. Vier glaubten, dass nach dem Krieg eine neue Krise im Land ausbrechen könnte. Sie befürchteten, dass Medikamente knapp werden, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Kriegsrückkehrer zunehmen und der Staatshaushalt nur noch in den Aufbau der zerstörten Regionen fließen könnte. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Mein Leben hängt nicht so sehr von dem Beginn oder Ende der ‘Spezialoperation’ ab. Ich habe zum Beispiel monatsweise auf einer Baustelle gearbeitet. Als das im Februar 2022 losging, saßen wir ganz entspannt irgendwo hinter Magistralny (Dorf in der Oblast Irkutsk – Anm. d. Red.), bauten ein Wohnheim für Gasarbeiter, und da ging’s los. Unsere Arbeit ging weiter und weiter, und wir hatten das Gefühl, in einer Art Kapsel zu sein. Als wir vom Bau wiederkamen, so im Mai, hatte sich in der Stadt nichts verändert.“ 

    „Ich habe davon gehört bzw. eine Sendung im Fernsehen gesehen, dass die Kriminalität explodieren wird, der Alkoholismus, Schlägereien, Morde. ‚Ich war da [an der Front – dek], und du nicht‘ – diese Art von Konflikten. Vor der wachsenden Kriminalität habe ich Angst. Wie gefährlich wird das Leben dann sein? Außerdem macht mir die ganze Atmosphäre Angst. Also, ich meine, die Frauen gehen regelrecht auf die Jagd nach ‚SWO‘-Teilnehmern: Sie bringen ein Kind zur Welt, er stirbt, sie bekommt Geld. Das ist die Tendenz, ich sehe das, weil ich in solchen Chatgruppen sein muss. Das ist keine gesunde Situation, alle sind Konkurrentinnen. Männer gab es sowieso nicht viele, und die, die jetzt da sind, werden Folgen davontragen, Verletzungen, Komplikationen, Behinderungen. Vor den Invaliden habe ich Angst.“ 

     

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Was denken Sie, wie sich Ihre Stadt bzw. Ihr Land nach dem Ende der „Spezialoperation“ verändert wird? 

    Der Sozialpsychologe hat während der Gespräche bemerkt: „Es ist einfacher, über die Veränderungen im Land zu sinnieren, weil man darüber was in den Nachrichten gehört hat, oder man schöpft aus seinem Geschichtswissen. Aber wenn es um die eigene Stadt geht, gibt es keine vorgegebenen Antworten, du musst selbst überlegen, was sich hier verändert. Du musst also deine eigene Wahrnehmung einschalten, über den Tellerrand schauen, nicht nur: ‚Was habe ich im Kühlschrank, wie sieht mein Kontostand aus?‘, sondern: ‚Was passiert in meiner Stadt? Ich lebe hier ja nicht alleine.‘ Wenn die Leute über lokale Veränderungen nachdenken, wird es kompliziert, das sieht man auch bei anderen Befragungen.“ 

    Etwa ein Drittel der Befragten äußerte dann auch die Einschätzung, dass sich ein Ende der „Spezialoperation“ gar nicht auf das Leben in ihrer Stadt auswirken würde. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Wenn der Krieg zu Ende geht, fangen sicher irgendwelche Steuerrepressionen an. Unseren Staat kann man nicht verkohlen. Ich glaube, die Wirtschaft ist etwas gereift, gesünder, also wird es die Möglichkeit geben, sich etwas zu entspannen, aber insgesamt die Veränderungen in der Stadt … ehrlich gesagt, haben wir uns abgewöhnt, an die ganzen Versprechungen zu glauben. Sie machen irgendwas zum Schein, aber nicht wirklich.“ 

    Ein Drittel der Befragten erwarteten negative Veränderungen wie sinkende Löhne und einen Anstieg der Kriminalität: „Das Geld wird immer knapper werden“, „Wir werden nachts nicht mehr auf die Straße gehen können, nicht in Clubs oder Restaurants“.  

    Aber ebenso viele hofften auf Besserung: „Es wird mehr Arbeitskräfte geben“, „Das Budget der Stadt wird wachsen“, „Es wird wieder mehr gebaut“. 

    Nach den Veränderungen im ganzen Land gefragt, stellen die Befragten ebenfalls genauso viele positive wie negative Prognosen auf. Zu den positiven zählten sie auch eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den USA. Außerdem, dass dann mit dem Wiederaufbau der „neuen Gebiete“ begonnen wird, dass das Leben insgesamt positiver und die Menschen ruhiger werden, dass es finanziell leichter werden könnte, eventuell sogar durch Steuererleichterungen durch den Staat. 

    Die Negativprognosen indes lauten: Das Land wird ärmer werden; das Land wird geächtet; der technische Rückstand wird sich drastisch bemerkbar machen; jeder wird in den Staatsapparat streben, um sein Stück vom Kuchen abzukriegen; die Kriminalität wird zunehmen. 

    Dabei lässt sich nicht beziffern, wie viele der Befragten positiv und wie viele negativ gestimmt sind, weil ein und dieselbe Person zuweilen beide Meinungen äußert. So versuchten die Menschen, die Situation objektiv zu bewerten, meint der Forscher. 

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk: 

    „Vielleicht werden die Menschen ruhiger, die nicht wollen, dass ihre Angehörigen bei der ‚Spezialoperation‘ landen oder dass die überhaupt stattfindet. Aber sonst, nein, ich denke nicht, dass sich groß was ändert. Vielleicht wird es sogar schwieriger … Schwieriger, weil eine große Masse von Menschen Gewalterfahrungen gemacht hat. Weil man, wenn man jemanden getötet hat, wahrscheinlich nicht mehr so leben und denken kann wie vorher. Wenn da plötzlich so viele solche Menschen sind, ist das nicht gut. Es wird nicht leichter. Irgendwann wird sich natürlich wieder alles zum Besseren wenden, aber das braucht Zeit.“ 

    „WAHRSCHEINLICH KOMMT DAS MILITÄR AN DIE MACHT“ 

    Frage: Welche Schwierigkeiten sehen Sie für eine Zukunft nach der „Spezialoperation“? Was muss der Staat nach deren Ende sicherstellen? 

    Bei diesen Fragen kommen die Teilnehmenden häufig auf die Kriegsrückkehrer zu sprechen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Wahrscheinlich wird das Militär an die Macht kommen. Die kehren aus dem Krieg zurück und fangen an, die Korruption zu bekämpfen, aber richtig. Beseitigen alle Diebe, die jetzt die Staatskassen leerräumen. Weil sie als Helden zurückkommen und vor nichts mehr Angst haben … Ich glaube, wenn das Militär an die Macht kommt, werden sie den Präsidenten unterstützen, aber sie werden viel strenger sein. Weil sie jetzt an das Gesetz der Zeit gewöhnt sind – erschießen und fertig. Das wird dem ganzen Land guttun.“ 

    Andererseits werden mit den Veteranen der „Spezialoperation“ auch künftige Probleme verbunden. Etwa ein Drittel der Befragten sehe zwar keine Schwierigkeiten, vor denen sie Angst hätten. Doch der Rest fürchte vor allem einen Zuwachs der Kriminalität, eine mögliche Überlastung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste durch die Kriegsrückkehrer. Manche befürchteten auch, dass es zu einer Ungleichheit zwischen den Teilnehmern der „Spezialoperation“ und dem Rest der Bevölkerung kommen könnte und damit zu einem Wertekonflikt zwischen diesen Gruppen. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Bald wird ein Kind, ein normales, gesundes Kind aus einer vollständigen Familie nicht mehr studieren können, wenn die Männer dieser Familie nicht im Krieg waren. Weil es Quoten geben wird, Vorrang für Kinder von Kriegsversehrten, ‚SWO‘-Teilnehmern, Gefallenen und so weiter. Es wird eine Spaltung geben, ein Kastensystem, Benachteiligungen. Wenn einer studieren will, kann er ja nichts dafür, dass keiner aus seiner Familie an der Front war. Aber wenn einer im Gefängnis war und als Soldat gedient hat – dessen Kind wird aufgenommen, auch wenn es schlechte Noten hat. Ist das etwa gerecht?“ 

    „Vor allem, wenn der im Krieg gefallen ist.“ 

    „Und noch etwas, wissen Sie, plötzlich haben Frauen von Häftlingen einen ganz anderen Status. Früher nannte man sie verächtlich Knastweiber. Heute zieht der Mann in den Krieg, wird getötet, die Frau kriegt eine Rente, extra Kindergeld, einen Haufen Geld. Und schon ist sie eine gute Partie.“ 

    Der Studienautor weist darauf hin, dass die Kriegsheimkehrer generell als neue soziale Schicht gelten. Und das, obwohl keiner der Befragten von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen berichtete, weder positiv noch negativ. Die bestehenden Befürchtungen seien wahrscheinlich auf Nachrichten zurückzuführen, die die Leute in den Medien und sozialen Netzwerken sehen.  

    An den Antworten auf die Frage, was der Staat nach Kriegsende gewährleisten müsse, sehe man außerdem: In erster Linie sollten sich die Behörden sich um die Integration der Kriegsheimkehrer kümmern. Gefragt seien vor allem psychologische Unterstützung für Soldaten und ihre Familienmitglieder, ihre Integration in den Arbeitsmarkt und Rehabilitationsangebote.

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „DIE MENSCHEN KÖNNEN DIE REALITÄT, IN DER SIE LEBEN, NICHT AKZEPTIEREN“ 

    Frage: Welche Perspektiven eröffnen sich nach Kriegsende für Sie und Ihre Angehörigen? 

    In der Befragung ging es an keiner Stelle darum, ob der Krieg mit einem Sieg oder einer Niederlage für Russland enden würde oder sollte. Dennoch zeichnete sich ab, dass diejenigen Befragten, die dieses Thema überhaupt in ihren Antworten aufgriffen, ausschließlich von einem Sieg Russlands sprachen. Sie gehen aber auch davon aus, dass ein Sieg Russlands den Hass anderer Länder hervorrufen könne.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Das war ganz richtig formuliert: Wir sagen ‚nach der SWO‘ und meinen damit, dass wir siegen und das alle akzeptieren. Dass die Sanktionen vorbei sind, zumindest die meisten. Und dass wir wieder reisen können, dazu müssen auch etliche Sanktionen weg, sonst kriegen wir kein Schengenvisum, zumindest nicht als normale Staatsbürger. Wenn es in diese Richtung geht, dann ist hoffentlich Aussicht auf Freiheit. Weiß’ nicht, ob es Instagram wieder geben wird, aber YouTube wäre schon gut. Ich will Freiheit.“  

    „Ideal wäre: Wir siegen, und alle freuen sich darüber. Ich weiß ja, dass sich keiner freuen wird. Weil die besiegte Partei sich nicht freuen kann, und das sind leider alle, mit denen wir so gern wieder Friede-Freude-Eierkuchen machen würden. Sie werden zwar aufhören, diese ganzen Sachen über uns zu schreiben, werden die Sanktionen aufheben und wieder unsere Ressourcen nutzen und Handelsbeziehungen aufnehmen, aber verzeihen werden sie uns nicht.“ 

    Obwohl es vor allem um Persönliches ging, kamen die Befragten in ihren Überlegungen immer wieder auf Perspektiven zu Russland und seiner Gesellschaft im Ganzen zu sprechen. Der Sozialpsychologe vermutet dahinter ein Streben nach Gemeinsamkeit. Und obwohl die Frage auf positive Entwicklungen abzielte, sprach rund ein Viertel der Befragten auch über negative Konsequenzen. Offenbar haben diese Menschen Schwierigkeiten damit, die Realität, in der sie leben, zu akzeptieren.

    „In der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstidentifikation“, so der Wissenschaftler.  „Wenn ein Mensch sich nicht mit der Umgebung, mit der Situation um sich herum identifizieren kann, dann sieht er Dinge eher negativ. Das heißt, es geht ihm schlecht, weil er sich in diesem Kontext nicht wiederfindet. Das heißt nicht, dass solche Leute nichts tun oder nicht arbeiten, nein, sie leben ganz normal, haben Arbeit, haben Geld. Das sind keine gescheiterten Existenzen. Aber auf emotionaler Ebene haben sie es schwer.“  

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:  

    „Positive Perspektiven sehe ich überhaupt keine. Na ja, vielleicht lassen die Sanktionen nach. Vielleicht können die Leute doch wieder ein bisschen in die Welt hinaus. Natürlich wünsche ich mir, dass die Grenzen wieder aufgehen, dass man wieder reisen kann, wieder in den Urlaub fahren … einfach in Ruhe leben. Das Leben ist sowieso kurz, und wenn man dann noch lauter Stress hat, bleibt gar nichts mehr davon übrig. Jeder Tag sollte einem Freude machen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach ist nichts Gutes in Sicht.“ 

    BACK TO USSR  

    Frage: Was wird es in der Gesellschaft nach Kriegsende Neues geben, was es vorher nicht gab? 

    Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass es in der Gesellschaft nichts Neues geben wird, rund 20 Prozent befürchten negative Veränderungen. Rund die Hälfte kann sich aber auch positive gesellschaftliche Veränderungen vorstellen. Genannt werden beispielsweise eine neue „patriotische“, „heroische“ Erinnerungskultur, neue Werte abseits von materiellen Zielen und „Raffgier”.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Was Neues – das klingt, als ob es was Gutes sein müsste. Na ja, wahrscheinlich ziehen sie irgendwann die Schrauben an. Sagen darf man nichts, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Irgendwas werden sie sich bestimmt einfallen lassen und uns allen Zügel anlegen, damit wir nicht Reißaus nehmen, sobald die Grenzen aufgehen.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich hoffe, dass die Männer, die von dort [von der Front – dek] zurückkommen, neue Werte mitbringen. Auch was Gutes, nicht nur Negatives. Was hat die heutige Gesellschaft denn für Werte? Immer nur das scheiß Geld. Überall Geld, Geld, Geld. Schön wär’s, wenn es auch andere Werte gäbe, ich weiß nicht … Vielleicht eine Art Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit. Wahrheit, endlich mal.“ 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Was Neues … Ich glaube, in der Kindererziehung wird das Gewissen eine größere Rolle spielen. Unsere Kinder werden mehr auf ihr Gewissen hören. Wir kämpfen ja gegen den Faschismus, nicht? Es wird keine Hakenkreuze mehr geben, auch nicht mehr diese schrecklichen Filme, die müssen einfach aus unserem Leben verschwinden, dann wird alles anders.“ 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Ein Aufschwung des Patriotismus, mehr Zusammenhalt. Weil wir ja wirklich in der Sowjetunion ein Riesenland hatten, wir waren echt tüchtig, die Ersten im Weltall, aber nach dem Zerfall kam erstmal sehr lange nichts. Jetzt kann das, wie es aussieht, wiederkommen, an den Schulen wird schon Patriotismus unterrichtet.“ 

    Bei ihren Überlegungen zu Werten sprechen Teilnehmer verschiedenen Alters über die Sowjetunion wie über ein Land, in dem sie gelebt haben. Sie idealisierten die Sowjetzeit mit ihrer „richtigen Ideologie“ und ihrem „richtigen Umgang mit Menschen“: „Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche so reden“, sagt der Forscher. „Allerdings halte ich das für einen Informationseffekt. Also, das sind Sachen, die viele sagen und die auf Social Media verbreitet werden. Und so hört und liest das alles auch die Jugend und nimmt es auf wie ein Märchen, an das zu glauben schön und beruhigend ist.“ 

    „POTENZIAL FÜR DIE ARBEIT AN DER GESELLSCHAFT“ 

    Frage: Wie müssen sich die Menschen nach dem Krieg verändern? In welche Richtung müssen die Regierung, die Wirtschaft gehen? 

    Auch auf diese Frage hin sprachen die Teilnehmenden von „Wertewandel“, darüber, dass die Menschen kollektive Verbesserungen anstreben müssten und nicht nur persönlichen Reichtum. Sie sollten warmherziger und mitfühlender sein. Laut dem Autor der Studie sei diese Sehnsucht nach Miteinander in der russischen Gesellschaft bereits vor rund zehn Jahren aufgekommen: „Das war natürlich noch ein schwaches Stimmchen, wenn man so will, aber es war schon vor der ‚SWO‘ da. Es kann eben sein, dass die ‚SWO‘ diesem Kollektivdenken, der Zusammengehörigkeit mehr Schwung verliehen hat.“ 

    Unternehmerin, 61, Sankt Petersburg:  

    „Die Menschen müssen zu 100 Prozent freundlicher werden. Humaner, auch zu den besiegten Feinden. Ich finde diesen Tanz auf den Knochen widerlich, dieses ‚Ätsch-bätsch, sie haben verloren!‘, verstehst du? Man kann ja trotzdem nett sein.“ 

    Außerdem sind in den Antworten auf diese Frage zum ersten Mal auch jene Russen erwähnt worden, die das Land verlassen haben.  

    NGO-Mitarbeiter, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Ich finde, es gibt in der Gesellschaft widersprüchliche Signale. Einerseits hält ein Teil der Bevölkerung angesichts des gemeinsamen Problems umso besser zusammen. Da steckt Potenzial für die Arbeit an der Gesellschaft. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Spaltung, da manche das Land verlassen haben. Superbrutale, drakonische Maßnahmen vonseiten des Staates gab es nicht gegen sie. Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einfach einsehen, dass die Menschen eine Wahl haben, für die sie dann auch die Verantwortung tragen.“   

    Um einiges vielfältiger waren die Antworten auf den zweiten Teil der Frage – wie sich die Regierung ändern müsse. Zwei der Befragten sagten, sie könne bleiben wie sie ist, zwei andere bezweifelten das. 

    Hausfrau, 47, Krym:  

    „Oj, ich weiß gar nicht, wie sich die Regierung ändern sollte und ob überhaupt. Ich hab in meinem Leben so viele Machtwechsel erlebt, dass ich heute finde – besser bleibt alles beim Alten.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Regierung muss sich grundlegend ändern, weil sie es war, die diese ‚SWO‘ zugelassen hat. Auf Kosten von Menschenleben wird der Krieg zu Ende gehen, und die Überlebenden müssen Entschädigung fordern. Damit so was nicht wieder passiert.“ 

    Alle anderen Befragten nannten außerdem Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen: Ausbau von psychosozialen Diensten und Landwirtschaft, Aneignung von Territorien, Bekämpfung der Korruption, Milderung von Verboten und Beschränkungen, Verringerung von Kreditzinsen und so weiter.  

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „EINE INNERE KAMPFBEREITSCHAFT HABEN DIE LEUTE DEFINITIV NICHT“ 

    Ziel der Befragung war es auch, Ressourcen und Motivation der Teilnehmenden zur Beteiligung am Wiederaufbau eines Lebens nach Kriegsende zu ermitteln. In Summe ergeben aber die erhaltenen Antworten, dass vor allem staatliche Ressourcen gefordert würden. „Damit sind nicht nur materielle Ressourcen gemeint, sondern auch organisatorische Ressourcen und Informationsstrukturen, auch moralische und emotionale Unterstützung“, sagt der Sozialpsychologe und Leiter der Befragungen. Die Teilnehmenden erwähnen oft psychologische Hilfe, die zur Stabilisierung der Gesellschaft, zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen und für die Arbeit mit Kriegsrückkehrern und ihren Angehörigen notwendig sei.   

    Rund 70 Prozent der Befragten rechnen mit positiven Veränderungen nach Kriegsende: „Sie sagten nicht direkt: ‚Wir haben diesen Krieg satt, wann ist er endlich vorbei‘, aber es war klar, dass alle schon auf den Frieden warten. Eine innere Kampfbereitschaft haben die Leute definitiv nicht.“  

    Oft erwähnten die Befragten gewünschten Werte wie Zusammenhalt, Kollektivdenken, Patriotismus. Die vorherrschende Stimmung sei allerdings ängstliche Besorgnis, weil keiner so recht wisse, wie das Leben nach dem Krieg wirklich aussehen könnte.  

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  • „Die Teppiche stehen für den Traum von einem besseren Leben”

    „Die Teppiche stehen für den Traum von einem besseren Leben”

    Lesia Pcholka gründete 2017 die Initiative VEHA – „als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte”. Denn die sei vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges konstruiert. Seitdem sammelt Pcholka mit Mitstreiterinnen Fotos aus Familienarchiven, um die Alltagsgeschichte der Belarussen visuell aufzuarbeiten.  

    Für das Projekt Najlepšy bok (dt. Die beste Seite) hat die Initiative Fotos von Belarussen in der Provinz zusammengetragen, die sich in den 1920er und 1950er Jahren vor Webteppichen fotografieren ließen. Wir haben mit Lesia Pcholka gesprochen und zeigen eine Bilderauswahl. 

    Die Frau des Fotografen Schura Taranda steht rechts. Privatarchiv Mikola Taranda / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Die Frau des Fotografen Schura Taranda steht rechts. Privatarchiv Mikola Taranda / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

    dekoder: Wie kam es zum Projekt Najlepšy bok
     
    Lesia Pcholka: Najlepšy bok war unsere erste Sammlung und auch das erste Projekt, das vom VEHA-Archiv präsentiert wurde. Wir haben dafür dieses visuelle Thema ausgewählt, das Porträts von Menschen aus Belarus und dem Begriff der Schönheit nachgeht. Im Sammeln von Familienfotos sahen wir eine Möglichkeit, uns mit von allen geteilten Erinnerungen und den non-verbalen Seiten des Alltagslebens zu befassen. Diese Heimatfotografien sind soziale Artefakte, die die Identität, Werte und Ästhetik der Menschen einfangen und aufdecken, wie sie von anderen gesehen und erinnert werden wollen.

    Es ging uns darum, die Menschen durch eine neue künstlerische Herangehensweise aktiv in die Bewahrung des kulturellen Erbes einzubeziehen. Für diese Idee waren die Webteppiche, die auf den Fotos der Sammlung Najlepšy bok als Hintergrund dienen, das perfekte Symbol.   

    Woher stammt die Tradition, Teppiche als Dekoration an die Wand zu hängen, und was verrät das über Belarus in diesen Zeiten?  

    Die Tradition, Teppiche als Wanddekoration aufzuhängen, entstand im ländlichen Belarus, vor allem zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Fotos in unserer Sammlung Najlepšy bok wurden in Dörfern aufgenommen, oft von fahrenden Fotografen, die Webteppiche mit sich führten, um ein einfaches, mobiles Fotoatelier aufzubauen. Sie dienten als Hintergrund für Familienporträts, ähnlich wie die Kulissen in städtischen Ateliers.

    Teppiche und Bettüberwürfe gehörten zu den schönsten Ausstattungsgegenständen in ländlichen Haushalten. Sie wurden von Frauen gefertigt, in Zeiten des Mangels und wirtschaftlicher Probleme. Das Weben war eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Textilien standen für Schönheit, Behaglichkeit und den Traum von einem besseren Leben. Sie wurden als Teil der Aussteuer von Generation zu Generation weitergereicht und rückten so nach und nach ins Zentrum der Inneneinrichtung und der visuellen Kultur. Die Verwendung von Webteppichen als Fotohintergrund ist Ausdruck tief verwurzelter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gegebenheiten und zeugt zugleich von der starken Tradition des Textilhandwerks in der Region und von Praktiken des visuellen Erzählens.   

    Wer waren die „fahrenden Fotografen“?  

    Diese Fotografen reisten von Dorf zu Dorf, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und machten Fotos der dort ansässigen Menschen. Fotoateliers befanden sich in den Städten, und die Dorfbevölkerung hatte oft nicht die Möglichkeit oder das Geld, dort Porträts oder Familienfotos machen zu lassen. Das war nicht gerade billig und der Weg dorthin war beschwerlich. Die fahrenden Fotografen wurden oft in Naturalien bezahlt – mit dem, was es im Dorf gerade gab, etwa Milch, Eier und andere Waren.   

    Existiert die Tradition, Teppiche als Hintergrund für Fotos zu nutzen, heute noch? 

    Die Tradition, Menschen vor Teppichen zu fotografieren, ist nicht verschwunden; sie hat sich verändert. Viele haben noch Fotos von sowjetischen Wohnungen, in denen ein Teppich an der Wand hinter dem Sofa hängt. Non-verbale Alltagspraktiken verschwinden nie völlig, sie entwickeln sich immer weiter. Das ist das Interessanteste an unserer Arbeit. Gewohnheiten und visuelle Codes dienen uns dazu, dass wir uns über die Gegenwart und die Alltagspraktiken verständigen, die uns prägen und von anderen unterscheiden.   

    Wie entstehen Projekte bei VEHA?

    Bevor wir anfangen, Fotomaterial zu sammeln, legen wir ein Thema fest. Bei unserer Recherche in zahlreichen belarussischen Archiven sehen wir, dass bestimmte Stilmerkmale und Szenen immer wieder vorkommen. Aber am wichtigsten ist, dass wir – sobald das Thema steht – erst einmal abwarten, was die Menschen uns schicken und erst dann Schlussfolgerungen ziehen.

    Das betrifft auch die Datierung: Wir analysieren die Objekte, die bei uns eingehen, und dann können wir das Jahr und den Ort der Aufnahme ermitteln. So haben wir festgestellt, dass die Fotos in dieser Sammlung überwiegend in der Zwischenkriegszeit und vor allem im westlichen Teil von Belarus entstanden sind. Wir legen in unseren Texten zu den Projekten immer offen, dass unsere Schlussfolgerungen auf unseren Methoden beruhen und auch andere Herangehensweisen an die Geschichte denkbar sind.

    Unsere Recherche beschränkt sich auf die Gruppe derer, die sich aktiv beteiligen und uns Fotos zusenden. Das sind zwischen 50 und 500 Personen.  

    Wie erfahren die Leute von der Fotosammlung? 

    Wir machen öffentliche Aufrufe, um Fotos zu sammeln: Alle Menschen können uns Bilder aus ihrem Familienarchiv schicken, wenn diese vor 1980 auf dem Gebiet des heutigen Belarus aufgenommen wurden und in eine der fünf bestehenden VEHA-Sammlungen passen.

    Bei den ersten Sammlungen wie Najlepšy bok haben wir auch staatliche Museen und ethnografische Institutionen kontaktiert. Dank der Unterstützung von Medien und dem öffentlichen Interesse konnten wir die Materialien für das Buch innerhalb kurzer Zeit zusammentragen.

    Selbst wenn wir ein Foto nicht in die Sammlung aufnehmen, fördert das Stöbern im Familienarchiv das Bewusstsein für das Familiengedächtnis und trägt dazu bei, dass die Bilder weiter erhalten bleiben. Wir sammeln keine Originale, nur digitale Kopien.

    Aber VEHA ist mehr als nur ein Onlinearchiv. Wir wollen neue Sinnschichten im Alltag freilegen und die visuelle Geschichte von Belarus sichtbar machen. Wir heben die Rolle der einfachen Menschen in der Geschichte hervor und präsentieren Archivmaterial in zeitgemäßen, zugänglichen Formen. 

    Mittlerweile dürfte eine Kooperation mit staatlichen Stellen schwierig sein. 

    Heute kontaktieren wir keine staatlichen Museen mehr – auch deshalb, weil es unter den jetzigen politischen Umständen für sie womöglich nicht sicher ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber wir sind offen für die Kooperation mit europäischen Einrichtungen, die viele Fotos aus Belarus aufbewahren (auch wenn diese schwer auffindbar sind, weil sie oft fälschlicherweise Polen oder dem Russischen Reich zugeordnet werden). Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgen und unterstützen die Menschen unsere Arbeit weiterhin und das VEHA-Archiv ist seit 2017 bis heute aktiv.

    Zurzeit bereiten wir mit der Arsenal-Galerie in Białystok ein neues Buch mit dem Titel Ruinen von Belarus vor. Kürzlich ist unsere Arbeit in einer der umfassendsten Publikationen über belarussische Fotografie gewürdigt worden.1 Die Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft und die Unterstützung durch so seriöse Institutionen wie Arsenal sind für uns ein sehr großer Ansporn.

    Wir sind ja im Grunde immer noch Erinnerungsaktivistinnen, eine kleine Gruppe von Frauen, die ein Onlinemuseum der belarussischen Geschichte aufbauen. 

     

    Links: 1952, Dorf Sarytawa, Ljachawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Nadseja Mazjuschenka mit ihren Töchtern Ljubai und Waljai. Fotograf Petryk Taranda. Privatarchiv Mikola Taranda.  
    Rechts: Dorf Holjawitschy, Baranawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Privatarchiv Aljaxandr Huk. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Um 1950. Privatarchiv  Sjarhei Leskez. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Um 1950. Privatarchiv Sjarhei Leskez. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1955 Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Das Ehepaar Kutschynski. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje.  
    Rechts: 1940, Nawassjolki, Hrodsenski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Familie von Franzischek Martulja. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1950er Jahre, Merkulawitschy, Tschatscherski Rajon, Homelskaja Woblasz. Familie Kuljaschowych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1950er Jahre, Merkulawitschy, Tschatscherski Rajon, Homelskaja Woblasz. Familie Kuljaschowych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Anfang 1950er Jahre, Dorf Sdsitawa, Bjarosauski Rajon, Breszkaja Woblasz. Mikalai Wassileuski. Privatarchiv Anastassija Danilowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Anfang 1950er Jahre, Dorf Sdsitawa, Bjarosauski Rajon, Breszkaja Woblasz. Mikalai Wassileuski. Privatarchiv Anastassija Danilowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1950, Tscherwen, Minskaja Woblasz. Ema Lipen mit Freundin. Privatarchiv Jury Naidowitsch. 
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1952-1953, Dorf Kanjuchi, Pinski Rajon, Breszkaja Woblasz. Valjanzina Marwenjuks Ehemann mit Freunden. Quelle: Belarussisches Oral History Archiv. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Links: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Um 1960, Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Abschied in die Armee. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Um 1960, Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Abschied in die Armee. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: Um 1950. Privatarchiv Sjarhei Leskez.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1930-1940. Familie Paulouskich. Aljaxandr Lutschyna. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1930-1940. Familie Paulouskich. Aljaxandr Lutschyna. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940-1950, Dorf Lapki, Staubzouski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Swjatlana Kukel. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940-1950, Dorf Lapki, Staubzouski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Swjatlana Kukel. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1966, Menewesh, Drahitschynski Rajon, Breszkaja Woblasz. Sofja Dsjamidauna Baryssjuk-Sorka aus Raschyn und Ahrypina Dawydauna Serada-Sorka aus Dseraunaja. Privatarchiv Iryna Sorko.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1940, Dorf Paljaninawitschy, Bychauski Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Lissawych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940, Dorf Paljaninawitschy, Bychauski Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Lissawych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: Um1950, Dorf Aharodniki, Lidski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Priester Boris Shabrouski der Pryabrashenskai Kirche mit seiner Frau. Privatarchiv Vera Tyschkewitsch.   
    Rechts: 1946, Budslau, Mjadselski Rajon, Minskaja Woblasz. Hanna Sadouskaja, Erstkommunion. Privatarchiv Lesia Pcholka. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1945-1947, Dorf Lankau, Bjalynizki Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Trussawych. Privatarchiv Darja Jakubowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1945-1947, Dorf Lankau, Bjalynizki Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Trussawych. Privatarchiv Darja Jakubowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

    1 Siarhiej Hruntoŭ, Photography and the Culture of Memory among Belarusians in the Second Half of the 19th – Early 21st Century, Belarusian Science, 2023.

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  • „Wie kann man zum post-roten Menschentyp durchdringen?”

    „Wie kann man zum post-roten Menschentyp durchdringen?”

    Der „rote Mensch“ ist das Lebensthema von Swetlana Alexijewitsch. Warum hat der homo sovieticus das Ende der Sowjetunion überlebt und sorgt in seiner Untertänigkeit auch für die Stabilität eines Systems Putin? Bei einer Diskussion, die Mitte Juni 2025 in Warschau stattfand, reflektierte die belarussische Literaturnobelpreisträgerin über diese Frage. Das Online-Portal GazetaBY hat Alexijewitschs Antwort veröffentlicht.

    Swetlana Alexijewitsch vor einer Lesung in Stockholm am 24. März 2025. / © Foto Viktoria Bank/ TT/ Imago 

    „Trotz 21. Jahrhundert leben wir immer noch in einer Art neuem Mittelalter“, sagte Swetlana Alexijewitsch bei einer Lesung in Warschau, die von Euroradio übertragen wurde. „Vor 30 Jahren waren wir alle naiv. Wir dachten, der Kommunismus ist tot, diese ‚rote Idee‘ ist tot und auch der ‚rote Mensch‘, der von ihr verschluckt wurde.  

     
    Swetlana Alexijewitsch bei ihrem Auftritt am 16. Juni 2025 in Warschau. 

    Uns war nicht klar, dass ein Mensch des Sozialismus, der Jahrzehnte im Lager verbracht hat, nicht einfach aus dem Lagertor treten und sofort frei sein kann. Diese Mythen sitzen tief in seinem Bewusstsein. Und dieses Unbewusste ist stärker als unsere Worte. Und deswegen ist der Kommunismus noch nicht tot, und diese ‚roten Menschlein‘ ziehen in die Ukraine in den Tod.  

    Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen. 

    Als ich damals in Afghanistan war und mein Buch über jenen Krieg schrieb, hat keine der Mütter, hat keiner der Jungs, mit denen ich dort sprach, den Krieg unterstützt. Sie hassten den Kommunismus. Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen. Das erzählen sie auch so: ‚Wir haben uns alle zusammengesetzt – meine Frau, meine Tochter und ich – und kamen zu dem Schluss, dass wir zu viele Schulden haben. Wir müssen den Kredit abbezahlen, brauchen ein Auto, also muss ich in den Krieg – und ich zog in den Krieg.‘   

    Ein anderer sagte: ‚Ich hasse die chochly.‘ Ich fragte: ‚Warum?‘ – ‚Ich hasse sie einfach.‘ Und ich weiß nicht, wie man zu diesem post-roten Menschentyp durchdringen soll.“  

    Die Schriftstellerin macht sich Sorgen, dass die Ideen des „roten Menschen“ sich immer weiter in der Welt verbreiten.  

    „Ich glaube, die Menschen in Russland sind gekränkt, dass dieser große russische Kuchen ohne sie aufgeteilt wurde: Wenn zum Beispiel ihre Großeltern oder Eltern in irgendeiner Fabrik gearbeitet haben und diese Fabrik dann für ein paar Kopeken an irgendwen verscherbelt wurde, der jetzt Milliarden daran verdient. Und selbst können sie ihren Kindern keine Ausbildung finanzieren. Einer sagte zu mir, er könne seiner Tochter keine ordentliche Hochzeit zahlen. 

    Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe. 

    Ich glaube, etwas Ähnliches passiert in Amerika. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung hat das Gefühl, übergangen zu werden, nichts wert zu sein. Und da kommt Trump, der im Namen dieser Menschen spricht. Ich glaube, so funktioniert das auch in Ungarn, wo ich kürzlich war, und in der Slowakei. Dort habe ich genau solche gekränkten Menschen gesehen. Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe. In Deutschland, wo ich jetzt lebe, wird die AfD genau von solchen Leuten gewählt. Sie bekommt immer mehr Stimmen. Doch vor allem sind wir demgegenüber so hilflos. 

    Von einem russischen Schriftsteller stammt die Metapher, dass wir lange Zeit gegen einen Drachen gekämpft haben, gegen den Kommunismus. Wir gefielen uns in diesem Kampf, er war schaurig, aber schön. Und dann haben wir den Drachen besiegt, und sahen uns um – und da waren ringsum lauter Ratten, doch wir wissen nicht, wie man Ratten bekämpft. Weder unsere Literatur noch unsere Kunst weiß, wie man Ratten bekämpft. Diese Monster sitzen in jedem von uns. Sie steigen in uns auf wie etwas Wildes, wie irgendwelche Instinkte. Und über die wissen wir kaum etwas. Wir haben den Begriff des Kommunismus zu stark vereinfacht.  

    Gefährlich ist die Natur des Menschen als solche. Sie neigt ohnehin nicht zur Vollkommenheit. Wenn man ihr dann noch eine Idee in den Kopf setzt, zum Beispiel die sozialistische, die den Menschen verdirbt, dann wird man diese Version des Menschen sehr schwer wieder los. Weil zwar immer neue Generationen nachkommen, diese aber von denselben Großmüttern, denselben Lehrern erzogen werden. Und dann passiert wieder, was wir in Russland sehen: wieder ein Krieg, wieder Arme und Reiche – alles gerät wieder in die alten Bahnen.        

    Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit.   

    Vor Kurzem noch dachte ich, es ist vorbei, ich habe sogar in einem meiner Bücher den Untertitel: Das Ende des roten Menschen (dt. Titel: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus). Aber es ist noch lange nicht vorbei. Ich schreibe jetzt ein neues Buch darüber, was mit diesem Menschen heute passiert. Warum er so lange überlebt, was ihn hält, auf welchem Nährboden sein Klonen erfolgt und warum das nicht nur ein russisches oder ein sozialistisches Problem ist.  

    Früher sagten Europäer zu meinen Büchern: Das ist bei euch vielleicht so, aber bei uns sind solche Rückschritte nicht möglich. Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit. Woher kommt die Gewalt? Vom Menschen. Wir haben die Vorstellung, dass sie nur an Putin oder Lukaschenko delegiert wurde. In den ersten Jahren versuchte Putin, der Nato beizutreten, und wollte von den europäischen Eliten in ihren Kreis aufgenommen werden. Er konnte nicht verstehen, dass er mit seinem Verständnis, mit der Welt, die er in sich trug, ein Fremder für sie war. Fremdsprachenkenntnisse taten hier nichts zu Sache. Damals war dann plötzlich von einer souveränen Demokratie die Rede, davon, dass es eine Art russische Demokratie gäbe. Das alles geht also von Menschen aus, die in dieser Zeit lebten.  

    Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet. 

    In letzter Zeit mache ich viele Aufnahmen mit Belarussen, die an den Protesten teilgenommen haben. Sie sagen: Ja, wir haben eine Niederlage eingesteckt, aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Es ist eine neue Philosophie entstanden: eine Philosophie der kleinen Schritte. Die Leute sagen, das sei Selbstschutz, es helfe ihnen, sie selbst zu bleiben, ihre Persönlichkeit beizubehalten und trotzdem den einen oder anderen winzigen Schritt zu tun.  

    Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet. Wir müssen Widerstand leisten. Und diese Menschen, die ich in verschiedenen Ländern getroffen habe, suchen nach Formen des Widerstands. Aber es ist enorm wichtig, dabei man selbst zu bleiben. Sich von diesen finsteren Zeiten nicht zertrampeln zu lassen.”  

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  • Eine sibirische Odyssee

    Eine sibirische Odyssee

    An den Ufern des Amur im russischen Fernen Osten leben indigene Gemeinschaften bis heute in enger Verbindung mit der Natur. Nenzen, Ultschen und Nanai ernähren sich traditionell vom Fischfang und von der Jagd, sammeln Beeren und Kräuter. Der Amur ist der Mittelpunkt ihres Lebens. Er dient ihnen nicht nur als Nahrungsquelle, viele ihrer Rituale, Lieder und Erzählungen sind mit dem Fluss verbunden. 

    Die indigenen Völker Sibiriens stehen heute vor der Herausforderung, sich an eine sich ändernde Umwelt anzupassen und gleichzeitig ihre Traditionen zu bewahren. Raubbau an der Natur, Umweltverschmutzung und Klimawandel bedrohen ihren Lebensraum. Junge ziehen in die Städte auf der Suche nach Arbeit, immer weniger sprechen noch ihre Stammessprache, traditionelle Lebensformen verändern sich. Gleichzeitig gibt es Versuche, kulturelle Praktiken zu bewahren oder neu zu beleben, etwa durch Sprachkurse oder Kunstprojekte. 

    Kurz nach der Auflösung der Sowjetunion begab sich die französische Fotografin Claudine Doury erstmals auf eine Reise an den Amur. Für ihr Projekt Peuples de Sibérie (deutsch: Völker Sibiriens) wurde sie 1999 mit dem Prix Leica Oskar Barnack ausgezeichnet. Thema ihrer träumerisch-poetischen Bilder sind Erinnerung, Identität und die Übergangsphasen des Lebens. Dourys Arbeit ist eine Mischung aus Dokumentarfotografie und persönlicher Erzählung – sie geht über reine Reportage hinaus und schafft eine subjektive, fast mythische Sicht.  

    2018 kehrte Doury an den Amur zurück, um zu erkunden, wie sich das Leben der indigenen Gemeinschaften über die Jahrzehnte verändert hat. Die Serie A Siberian Odyssey dokumentiert den Verlust traditioneller Lebensweisen, die Folgen der Modernisierung und die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Projekt ist nicht nur eine visuelle Erkundung Sibiriens, sondern auch eine Reflexion über Erinnerung und Identität. Mit einer weichen, fast malerischen Farbgebung schafft Doury eine träumerische Ästhetik und verweist auf eine tiefere, emotionale Dimension des Lebens in der sibirischen Weite.  

    Die Welle (Siedlung Bulawa im Ultschewski Rajon, Region Chabarowsk) / Foto © Claudine Doury 
    Das Dorf Nergen (Nanaiski Rajon) im Winter / Foto © Claudine Doury
    Der Spiegel (Siedlung Ust-Gur, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Ein blauer Schmetterling (Siedlung Nergen, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Die Brüder Kostja und Daniil zuhause in der Siedlung Ust-Gur (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Das Haus von Anjas Eltern in Nergen (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Dascha in Nergen, einer Siedlung der Nanai / Foto © Claudine Doury 
    Eine Mahlzeit, Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Anjas Hochzeit in Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Marinas Eltern, Nergen / Foto © Claudine Doury
    Kostja, Ust-Gur / Foto © Claudine Doury
    Warten auf Tauwetter, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Der Autofriedhof, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Sommer in Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Margarita, die ehemalige Bürgermeisterin von Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Schmetterling und Libelle / Foto © Claudine Doury 
    Eine junge Tänzerin in der Tracht der Ultschen, im Dorf Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Blick aus dem Fenster des Tragflügelboots in Komsomolsk. Es verbindet die Dörfer an beiden Ufern des Amur-Flusses / Foto © Claudine Doury 
    Hochwasser in Chabarowks / Foto © Claudine Doury 
    Amelia in ihrer Schuluniform, Nergen / Foto © Claudine Doury 

     

    dekoder: Was hat Sie dazu bewegt, nach so vielen Jahren nach Sibirien zurückzukehren? 

    Claudine Doury: 1991 machte ich auf einer Reise entlang des Amur-Flusses – von der Quelle bis zur Mündung – Halt im Dorf Nergen. 1997 kehrte ich dann zurück in die Dörfer, um mehr über das Leben der indigenen Sibirier zu erfahren. Die Zeit verging und ich begann mich zu fragen, was wohl aus den Menschen geworden war, die ich damals getroffen hatte.

    Mit dieser Reise hat sich  ein Kreis geschlossen: Ich bin an die Orte meiner ersten eigenen Arbeit zurückgekehrt, um zu sehen, was die Zeit mit ihnen gemacht hat. Und mit mir. 

    Was hat Sie in den 1990er-Jahren überhaupt nach Sibirien gezogen und dazu gebracht, sich fotografisch mit der Region zu beschäftigen? 

    Auf meiner ersten Reise in den russischen Fernen Osten, nach Chabarowsk im Jahr 1991, traf ich Angehörige des Nanai-Volkes. Ich musste sofort an Edward Curtis denken, den amerikanischen Fotografen, der die nordamerikanischen Ureinwohner porträtierte. 
    Damals wusste ich nicht, dass es indigene Völker in Sibirien gibt – und dass sie mit den amerikanischen Ureinwohnern verwandt sind. Ich beschloss daraufhin, Sibirien zu bereisen, um das Leben dieser Menschen fotografisch zu dokumentieren. 

    Zu welcher ethnischen Gruppe gehören die Menschen, die Sie fotografiert haben? 

    Die meisten gehören dem Volk der Nanai im Dorf Nergen und dem Volk der Ultschen im Dorf Bulawa an. Die Nanai leben auf beiden Seiten des Amur, in Russland und in China. 

    Die Ultschen, die ich in Bulawa traf, leben rund 500 Kilometer weiter nördlich am Fluss, gegenüber der Insel Sachalin

    Was hat sich seit den 1990er-Jahren verändert? 

    Das Leben im Fernen Osten Russlands hat sich in den Städten seit 1990 bis 2017 stark verändert – in den Dörfern, die ich besucht habe, dagegen nur sehr wenig. Nach fast dreißig Jahre hatte Nergen noch immer kein fließendes Wasser, und die Straßen waren weiterhin unbefestigt. Es war, als sei die Zeit dort stehen geblieben. 

    Was hat es mit dem geheimnisvollen Spiegel auf sich, der in einem Ihrer Bilder auftaucht? 

    Ich begegnete einer Familie am Amur-Fluss, die viele Kinder hatte, und blieb eine Weile bei ihnen. Für mich war das ein Ort des Glücks. Alle Kinder waren vom Bruder der Mutter adoptiert worden, weil sie krank war und sich nicht um sie kümmern konnte. Die Kinder halfen bei den täglichen Arbeiten, aber sie spielten auch ausgelassen am Fluss. Bei einem Spiel nahm eines der Kinder einen Spiegel und spielte mit dem Licht. 

    In Ihren Bildern tauchen immer wieder Schmetterlinge auf. Haben sie eine besondere Bedeutung? 

    Vielleicht liegt das daran, dass ich nie dem Amur-Tiger begegnet bin…Da habe ich mich auf die Schmetterlinge konzentriert, die in der Sommerzeit in großer Zahl vorhanden waren. 

    Welche Rolle spielt Erinnerung in Ihrer fotografischen Arbeit? 

    Erinnerung steht im Mittelpunkt dieser Arbeit, die sich über fast dreißig Jahre erstreckt. Es geht um die Wirkung der Zeit – auf das Leben der Menschen, die ich fotografiert habe, und auf mein eigenes. Erinnerung und Identität: Ich betrachte das Hier und Jetzt durch das Prisma der Zeit. Zwischen dem, was im Begriff ist zu verschwinden, und dem, was bleibt. 

    Ihre Bilder aus A Siberian Odyssey wirken oft zeitlos, fast traumartig. Würden Sie dieses Projekt heute – nach dem 24. Februar 2022 – anders angehen?  

    Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, nach Russland zu reisen. Aber ich hoffe sehr, dass ich meine Freunde dort eines Tages wiedersehen werde.  


    Die französische Fotografin Claudine Doury (geb. 1959) arbeitete als Bildredakteurin für die renommierte Nachrichtenagentur Gamma und die Zeitung Libération, bevor sie sich dokumentarischen Langzeitprojekten widmete. 2000 erhielt sie den World Press Photo Award, 2004 wurde sie mit dem Prix Niépce ausgezeichnet, einem der wichtigsten französischen Fotopreise. In Artek, un été en Crimée (2004) und Sasha (2011) widmet sie sich dem Aufwachsen in post-sowjetischen Gesellschaften. Ihre jüngere Serie A Siberian Odyssey (2018–2020) knüpft an ihr früheres Werk in Sibirien an und reflektiert über kulturellen Wandel, Erinnerung und Zugehörigkeit. 

    Fotografie: Claudine Doury  
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 15.07.2025 

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  • Wir waren Wölfe und Fisch

    Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.  

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation. 

    Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.  

    Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.  

    Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr. 

    Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.  

    Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen. 

    Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen. 

    Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten. 

    Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen. 

    Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus. 

    Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.  

    Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.  

    Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden …“ 

    Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.  

    Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es. 

    Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.  

    Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren. 

    Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“. 

    Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen? 

    Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.  

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.  

    Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails Scholochows Stiller Don mit dieser Legende beginnt. 

    Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen. 

    Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben. 

    Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.  

    Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten? 

    Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen. 

    Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.  

    Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen. 

    MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.  

    Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.  

    Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete. 

    Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus. 

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“ 

    Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein. 

    Minsk, April 2025 

     


     

    Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara. 

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION  

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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  • „Die guten Russen“

    „Die guten Russen“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen“ – dieser Vergleich kam in russischen Exil-Kreisen schon wenige Wochen nach Beginn der russischen Vollinvasion auf. Hintergrund war die Annahme, dass alles Russische wegen der Aggression gegen die Ukraine nun pauschal gecancelt würde, genauso wie alles Deutsche während des Zweiten Weltkriegs.  

    Um zu verdeutlichen, dass man nicht alle über einen Kamm scheren könne, haben einige russische Oppositionspolitiker alsbald das Konzept der „guten Russen“ entwickelt: Russen, die gegen den Krieg und gegen Putin sind und deshalb etwa auch einen entsprechenden Pass verdienen sollten, mit dem sie im Exil nicht Opfer von Diskriminierung würden. Die Idee wurde von allen Seiten verrissen, einer der zentralen Vorwürfe: Eine Selbstviktimisierung sei angesichts des ukrainischen Leids zynisch, alle Russländer trügen kollektiv Verantwortung. 

    Das Konzept „gute Russen“ wurde in Folgezeit zu einem beliebten Meme, mancherorts mit ironischen Anklängen an den „guten Deutschen“ während der Hitlerzeit. Und obwohl die Idee damit völlig diskreditiert schien, wird das Label immer noch mit jenen Russländern verknüpft, die Hoffnung auf eine liberal-demokratische Zukunft Russlands hegen. 

    Wenige Tage nach der „Operation Spinnennetz“ gegen mehrere russische Militärflugplätze schreibt der ukrainische, russischsprachige Schriftsteller Boris Chersonski einen Facebook-Beitrag, in dem er dieser Hoffnung widerspricht und dafür plädiert, weniger die „guten Russen“ zur Zielscheibe zu machen und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren.

    Ein brennender russischer Pass, Symbolbild. © Pavlo Bagmut/ Ukrinform/ Imago

    Ein paar Worte über „die guten Russen“. Wir sind in vielem derselben Meinung. Zumindest hätten sie, wäre es nach ihnen gegangen, nie und nimmer einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Deswegen möchte ich nicht, dass diese Menschen, von denen ich viele schon sehr lange persönlich kenne, zur Zielscheibe scharfer und in weiten Teilen unfairer Kritik werden. Antiputinismus, eine Orientierung an europäischen Werten und liberales Denken – ist das, was uns vereint.  

    Ihre wichtigsten Schwachpunkte sind offensichtlich, und vielleicht spricht man deswegen nicht gern über sie, weil irgendwie ja ohnehin alles klar ist.  

    Und das war’s dann wohl auch schon mit den Gemeinsamkeiten zwischen uns und den guten Russen.  

    Sie lieben ihre Heimat. Sie sorgen sich um sie, wollen dahin zurück und wollen weiter eine Rolle in Kultur und Politik spielen.  

    Auch wir lieben unsere Heimat, sorgen uns um sie, wollen dahin zurück und nach Kräften an ihrem kulturellen und (nicht alle!) politischen Leben teilhaben.  

    Ist das eine Gemeinsamkeit? Nein, denn ihre Heimat ist für uns etwas anderes. Ihr Land verstümmelt seit vielen Jahren unser Land, tötet unsere Leute.  

    Unser Land hat gerade erst gezeigt, dass dieses Spiel in beide Richtungen geht. Wir greifen ihr „unantastbares Territorium“ an, zerstören Militär- und Energie-Infrastruktur und ja, bringen Tausende ihrer Soldaten um (genauso wie sie unsere).  

    Und das ist der Punkt: Um unsere Soldaten tut es mir leid. Um ihre – nicht wirklich. Bei ihren Worten naschi maltschiki (dt. unsere Jungs) schüttelt es mich.  

    Gleichzeitig verstehe ich, dass es ihnen um ihre Jungs leidtut, aber um unsere … na ja, anstandshalber. Ich verstehe das. Ja, sie identifizieren sich mit denen, die auf den ukrainischen Schlachtfeldern fallen.  

    Sie machen sich Gedanken, wie es mit ihrer Kultur auf unserem Territorium weitergeht. Dieses Thema beunruhigt mich als vorwiegend russischsprachigen Schriftsteller ebenfalls. Aber natürlich anders als sie: Aus ihrer Sicht müsste ich mich irgendwie mehr dafür einsetzen. Ich finde aber, sie sollten sich fragen, wie sie ihre Kultur auf ihrem Territorium schützen können.  

    Sie sehen die Zukunft ihres Landes als liberale, demokratische Gesellschaft. Was ich NICHT SEHE. Auch nicht, wenn ich näher hinschaue, mir die Augen reibe, eine Brille aufsetze. ICH SEHE DAS NICHT: Sehe ich meine Freunde in eine demokratische Föderation zurückkehren? Nein. Höchstwahrscheinlich werden sie ihr Leben im Exil verbringen. Und Hoffnungen auf Reformen … sind Wunschträume.  

    Und bei alldem – sie sind nicht unsere Feinde. Eher sind sie temporäre Bündnispartner, Wegbegleiter, die trotz aller Gemeinsamkeiten bestimmt irgendwann eine andere Abzweigung nehmen. Lasst uns aufhören, sie zur Zielscheibe zu machen. Wir haben genug andere, die unsere Pfeile verdient haben, wo wir schon den Bogen gespannt haben. 

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    „Millionen Russen leben derzeit ihr bestes Leben“

    Die russische Rüstungsindustrie reißt sich um Mitarbeiter und ködert neues Personal mit üppigen Löhnen: 45.000 Rubel für einen Verladearbeiter in Kowrow, 50.000 für einen Schneiderlehrling in der russischen Stadt Iwanowo, wo Uniformen genäht werden – was nach wenig klingt (ein Euro entspricht derzeit etwa 90 Rubel), übersteigt deutlich das jeweilige regionale Medianeinkommen von 2021, und das für Jobs, die früher im Niedriglohnsektor angesiedelt waren. Vor allem Menschen in der russischen Provinz profitieren von dieser Entwicklung: Hier befinden sich traditionell viele Rüstungshersteller, außerdem waren die Jobchancen bislang schlechter als in den Großstädten. 

    Letzteres ist auch ein Grund, weshalb Rekruten aus den ärmeren Landesteilen stark überproportional in den Invasionstruppen an der Front vertreten sind. Den Sold überweisen sie an ihre Familien, zusammen mit den Kompensationszahlungen für die Gefallenen eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Nimmt man also die Lohnsteigerungen, Transferleistungen und die Kompensationszahlungen zusammen, dann ergibt sich für weite Teile der russischen Provinz ein zynisches Bild: Der Krieg wirkt sich wie ein massives Konjunkturprogramm für strukturschwache Regionen aus.    

    Im Hinblick auf die boomende Kriegswirtschaft kommt der Journalist Maxim Katz zu dem Schluss, dass sich Millionen Menschen in Russland derzeit in Goldenen Zeiten wähnen. Auf YouTube argumentiert er, dass sie als Kriegsgewinnler naturgemäß nicht an einem Ende der Aggression interessiert sind und dass sie auch nach dem Krieg in Nostalgie über diese beste Zeit ihres Lebens schwelgen werden. 

    Hier der YouTube-Beitrag in voller Länge mit englischen Untertiteln 

    Das Lenindenkmal in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien August 2024 © Itar-Tass/ Imago

    Es ist Zeit, dass wir uns einer paradoxen und unangenehmen Realität stellen: Millionen Menschen in Russland leben jetzt in diesem Moment ihr bestes Leben. Und dieses beste Leben steht im Zusammenhang mit dem Krieg. Wir hatten uns alle an eine Realität gewöhnt, in der Krieg eindeutig als Unglück und Problem wahrgenommen wird. Für die vorigen Generationen war das Afghanistan und Tschetschenien. Krieg ist ein Wort, das die finstersten Erinnerungen wachruft, wo ein Student nach vermasselter Abschlussprüfung ans Ende der Welt geschickt wird und im Zinksarg zurückkehrt. 

    Jetzt sehen wir etwas völlig anderes. Millionen Menschen werden sich in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn es keinen Putin samt seinem Regime mehr gibt, an die Kriegszeit als etwas Gutes erinnern, denn in dieser Zeit begann plötzlich das gute Leben. 

    Bislang sieht alles so aus, dass für die russische Provinz, für Regionen, die von der Rüstungsproduktion abhängig sind, der Krieg die gleiche Bedeutung hat wie die 2000er Jahre für Moskau und andere Großstädte. Es war eine Zeit, in der das Leben nicht nur besser wurde, sondern um ein Vielfaches besser. Wenn wir uns über die Zukunft des Landes Gedanken machen, kommen wir an dieser Tatsache nicht vorbei.  

    Die Bewertung der Zeit hängt jeweils davon ab, mit wem Sie sprechen. Wenn Sie über die 1990er Jahre mit einem Unternehmer, einem Journalisten oder einem Vertreter der kreativen Branchen reden, dann werden Sie von einem tollen Russland der Vergangenheit hören, in dem aus Nichts Geld wurde, in dem man schreiben, filmen und zeichnen konnte, was man wollte, und das Wort Zensur als verstaubter Anachronismus anmutete. Doch wenn Sie mit einem Arbeiter des Waggonherstellers Uralwagonsawod sprechen, erzählt der Ihnen von Armut, Zerfall und den um ein halbes Jahr verzögert ausgezahlten Löhnen. Genauso unterschiedlich werden die Assoziationen mit der heutigen Zeit ausfallen. 

    Für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft werden der späte Putinismus und der Krieg im Nachhinein eine Zeit der Angst sein, der Instabilität und eines galoppierenden Staatsidiotismus. Eine Zeit, in der man bei jeder offiziellen Stellungnahme des Präsidenten eine Flugticket-App aufhaben muss.  

    Aber für Millionen Menschen werden der späte Putin und der Krieg eine Zeit sein, in der sie nun endlich, endlich ein gutes Leben hatten, in der die Menschen nicht mehr Sonderangeboten hinterherjagten und penibel prüften, ob sie noch Geld auf der Karte hatten, sondern ins Restaurant gehen, ja ein Auto oder gar eine Wohnung kaufen konnten. Für Millionen Menschen wird der Krieg nicht nur als guter, sondern als höchst wünschenswertester Zustand des russischen Staates in Erinnerung bleiben. Und je länger der Krieg andauert, umso mehr Menschen auf die eine oder andere Art in dessen Fortführung involviert werden, umso größere Verbreitung wird diese Wahrnehmung in der Gesellschaft finden. 

    Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre bestand ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft aus Menschen, die sich aus ganz objektiven Gründen in Sowjetnostalgie ergingen. Alles Gute, was in ihrem Leben geschehen war, alles, was sie hatten, eine eigene Wohnung, einen Sechser-Shiguli, eine 600 Quadratmeter große Parzelle mit Datscha vor der Stadt, das hatten sie zu Sowjetzeiten erhalten, als die Fabriken noch in Betrieb waren und sie dort als Ingenieur arbeiteten und nicht auf ihre karge Rente warteten und sich als Parkplatzwächter etwas dazuverdienen mussten.  

    Wenn dieser Krieg vorbei ist, wenn Putin vorbei ist und etwas Zeit vergangen ist, werden wir Menschen begegnen, für die alles Gute in ihrem Leben – eine Wohnung mit günstigem Kredit, ein chinesischer SUV, Erinnerungen an einen Dubai- oder Türkeiurlaub – all das wird sämtlich aus den 2020er Jahren stammen, als das Land Krieg geführt hat. 

    Das Land wird aufgehört haben zu kämpfen und wieder wird weder die Arbeit einer Näherin in Iwanowo noch die eines Ingenieurs bei Uralwagonsawod gebraucht werden. Offiziell werden die Fabriken zwar existieren, aber dort zu arbeiten, ist ziemlich sinnlos. Die einst blühende Drohnenindustrie wird dann zu einer winzigen Branche geschrumpft sein.  

    Wenn wir über die Zukunft nachdenken, wenn wir diese Zukunft irgendwie gestalten wollen, muss uns eines klar sein: Genau das wird eine der wichtigsten Herausforderungen sein. Das ist Putins wichtigstes Erbe.  

    Wir brauchen keine Angst zu haben, dass der Krieg ewig dauert, dass Putin ihn noch 20 Jahre führen kann. Das kann er aus rein biologischen Gründen nicht. Selbst wenn er Glück hat, werden wir auf jeden Fall sowohl sein eigenes Ende als auch das Ende des von ihm geschaffenen Systems erleben. Doch auch noch zehn Jahre danach, und nochmal 20 oder 30 Jahre später, auf lange Jahrzehnte hinaus, wird es eine bedeutsame und aktive Minderheit geben, die ausreichend ist für eine durchaus beachtliche politische Volksvertretung. Denen wird man überhaupt nichts vorwerfen können. Sie haben den Krieg nicht begonnen. Sie haben niemanden umgebracht, doch für sie wird das politische Programm, das einen ständigen Krieg Russlands gegen den Westen für notwendig erklärt, mit der besten Zeit ihres Lebens assoziiert sein. Für sie ruft das Wort Krieg nicht die Vorstellung von Leichen hervor, sondern davon, dass in einer depressiven Provinzstadt, in der es weder ein normales Leben noch Perspektiven gab, plötzlich das eine wie auch das andere Einzug hielt. Die Menschen werden Krieg und Frieden vergleichen. Und aus ihrer Sicht wird letzterer eindeutig schlechter sein. Das ist nicht zu ändern.  

    Diesen Leuten kann man nichts vorwerfen. Und aus dem politischen Leben kann man sie nicht ausschließen. Es ist schlicht das Erbe, das Putin unweigerlich hinterlassen wird, und damit muss man sich abfinden und irgendwie arbeiten. Es wird unmöglich sein, diesen Bürgern zu erzählen, dass ein friedliches Leben für sie besser ist als Krieg, weil es für sie objektiv nicht stimmt. In gewissem Maße wird das wohl durch jene in der Waage gehalten, die tatsächlich im Krieg waren, für die Krieg bedeutet, dass Kanonenfutter auf Krücken zum Angriff stürmt und nicht darin besteht, in drei Schichten in der örtlichen Fabrik zu ackern.  

    Wenn wir nach Putins Tod mit den Bürgern reden wollen, müssen wir uns im Klaren sein, dass ein Ende seines Regimes und des Krieges für Millionen Menschen nicht eine Erlösung bedeutet, sondern eine Katastrophe, weil das gute Leben, das gerade erst begonnen hatte, wieder im Graben liegt und da nicht mehr herauskommen wird. 

    Wir müssen uns klar machen, dass es im Falle politischer Freiheit eine wahrlich nicht kleine Partei von Neoputinisten geben wird. Deren Programm wird fest auf der Vorstellung gründen, nicht die Sowjetzeit zurückzuholen, sondern eben den späten Putinismus. Diese Realität ist unangenehm, aber sie bedeutet eine wahre Herausforderung. Eine ein Vierteljahrhundert währende Herrschaft verschwindet nicht einfach spurlos. Auch bei uns nicht. 

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  • „Studiert in Belarus!”

    „Studiert in Belarus!”

    Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.  

    Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.  

    Studierende in Belarus sichten ihre Prüfungsergebnisse. / Foto © Tut.by 

    Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London. 

    Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin. 

    Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija. 

    Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind. 

    Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“ 

    Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen. 

    Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule 

    Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin. 

    Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten. 

    Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird 

    Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin. 

    Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“. 

    „Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen. 

    Einfache Rezepte vom Minister 

    Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“ 

    Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander. 

    „Ständige Kontrollen durchführen …“ 

    Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024. 

    „Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen. 

    Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert. 

    Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen. 

    Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen. 

    In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat. 

    Große und kleine Sticheleien 

    2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus. 

    Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021. 

    Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein. 

    2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt. 

    Wie drüben 

    Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie. 

    Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte. 

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  • Warum Russland die Sterbewilligen nicht ausgehen

    Warum Russland die Sterbewilligen nicht ausgehen

    Während die ganze Welt aufmerksam den Personalmangel der ukrainischen Armee und die Schwierigkeiten der Mobilisierung in der Ukraine verfolgt, scheint Russland immer weiter Nachschub für seine Frontstellungen und Angriffe auf die Ukraine rekrutieren zu können. 

    Erklären kann man sich das einerseits durch das repressive Kreml-Regime, das keine Widerworte duldet, andererseits mit verlockend großen Geldsummen für die Kämpfenden und ihre Angehörigen. Der Postpravda-Autor Nikolai Karpizki sucht indes nach einer Erklärung in dem zugrundeliegenden Weltbild und der vorherrschenden Haltung zu Leben und Tod, speziell in entlegeneren und weniger privilegierten Regionen Russlands.  

    Karpizki ist Doktor der Philosophie und Religionswissenschaftler aus Tomsk (Sibirien), lehrte in Kyjiw und Charkiw, war seit 1995 Mitglied der Antikriegsbewegung. 2015 emigrierte er in die Ukraine, aktuell lebt und arbeitet er im ukrainischen Slowjansk (Oblast Donezk), das andauernd Ziel russischer Angriffe ist. Seine Forschungsschwerpunkte und Lebenserfahrungen schlagen sich in dem Meinungsstück zum Thema Krieg als Selbstzweck nieder. 

    Dieser Soldat trägt das Z-Symbol auf seiner Ausrüstung. Foto © SNA/ Imago

    Im Jahr 2022 überwog noch die Erwartung, dass sich die russische Armee zurückziehen würde, wenn sie schweren Schaden erlitte. Das ist nicht passiert.  

    2024 erwartete man dann, dass den Russen wegen riesiger Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Auch das hat sich nicht erfüllt.  

    Nun heißt es: Russland bräuchte nach Beendigung der aktuellen Kampfhandlungen mehrere Jahre, um seine Armee für einen neuen Krieg zu erneuern. Auch das wird nicht der Fall sein. Russland wird bereit sein, Polen oder das Baltikum zu überfallen, sobald seine Streitkräfte in der Ukraine frei werden. Und die NATO hat dem bislang nichts entgegenzusetzen. 

    Das wirft Fragen auf: 

    Wie kann die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten verheizen? 

    Wo findet die russische Armee immer neue Vertragssoldaten, obwohl sie bekanntermaßen oft in selbstmörderische Angriffe geschickt werden? 

    Warum machen Russlands Soldaten keinen Aufstand oder ergeben sich in [ukrainische] Kriegsgefangenschaft? 

    Wieso steht die russische Gesellschaft den enormen militärischen Verlusten scheinbar so gleichgültig gegenüber und unterstützt weiterhin den Krieg?  

    Akzeptanz des sinnlosen Todes 

    Wir haben es hier mit einem einzigartigen historischen Phänomen zu tun: Die russische Gesellschaft unterstützt den Krieg gegen das Nachbarland auf Kosten rücksichtsloser Vernichtung ihrer eigenen Soldaten. Selbst Kranke und Verwundete werden in selbstmörderische Angriffe geschickt. Das ist nur möglich, weil es eine gesellschaftliche Akzeptanz für sinnlosen Tod gibt. So etwas gibt es sonst nirgendwo. Es kommt vor, dass eine Gesellschaft für einen Sieg zu riesigen Opfern bereit ist – doch das setzte die Vorstellung voraus, dass solch ein Tod nicht sinnlos ist.  

    Natürlich kann man das nicht verallgemeinern und alle Russen über einen Kamm scheren. Es gibt in Russland auch Menschen, die gegen den Krieg und für die Ukraine sind. Sie sind jedoch verstreut und bilden keine entscheidende gesellschaftliche Gruppe. Stattdessen bringt ein gesellschaftliches Einverständnis zum sinnlosen Sterben ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft hervor, das eine breite Unterstützung des Kriegs als Selbstzweck möglich macht: Krieg um des Krieges willen.  

    Für diese Akzeptanz gibt es meines Erachtens zwei Ursachen. 

    Der „Todesstaat“ – das soziale Antisystem in Russland 

    Die erste Ursache ist sozial-historischer Natur: Eine sehr treffende Erklärung finden wir bei dem russischen Historiker Dmitri „Sawromat“ Tschernyschewski, der mittlerweile im Exil lebt und in seinem YouTube-Kanal Total War & istorija seine Sicht auf Russland als Militärmacht beziehungsweise als „Imperium des Volksleidens“ darstellt. Um sich als Imperium zu bezeichnen, müsse ein Staat anderen gegenüber überlegen sein, meint Tschernyschewski. Schon das Moskauer Zarenreich sei vor allem in der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Ressourcen überlegen gewesen. Die Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung als Verbrauchsmaterial zog sich durch die gesamte Geschichte Russlands. So konnten Kiegssiege durch Masse errungen werden, ohne dass man Rücksicht auf Verluste nehmen musste. Armut und Rechtlosigkeit sind notwendig, damit ein solches Staatssystem funktioniert. 

    Im heutigen Russland beobachten wir eine Wiedergeburt dieses brutalen Staatssystems, ja sogar die Mutation zu etwas Schlimmerem: einem „Todesstaat“ – oder „Antisystem“, wie Tschernyschewski den Begriff von Lew Gumiljow übernimmt. Dieses Antisystem fresse sich in Russland selbst hinein und führe letztlich zum Tod. Dies zeige sich unter anderem in der Ökonomie des Todes, wo Einnahmen aus Öl und Gas den pekunären Wohlstand für Familienangehörige der gefallenen Soldaten sichern. Dies schaffe eine starke soziale Basis zur Unterstützung des Regimes und seines Repressionsapparates – den so genannten Silowiki – und des Krieges.  

    Diese Unterstützergruppe ist rund zehnmal größer als die derjenigen, die aktiv gegen die Ukraine kämpfen. Auch die arme Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten gehört dazu. Dort fließt durch den Krieg zum ersten Mal Geld. Für sie würde ein Kriegsende ein Ende des Geldflusses bedeuten und außerdem die Rückkehr vieler potenzieller Straftäter von der Front. Gerade diese Schicht garantiert den stetigen Zustrom von freiwilligen Kämpfern, die nicht nur wegen des Geldes einen Vertrag mit der Armee unterschreiben, sondern auch, weil sie darin die einzige Chance sehen, dem sozialen Abgrund zu entkommen. Und so sind keine Proteste in Russland möglich. 

    Laut dem bloggenden Historiker Tschernyschewski galten Soldaten in der Geschichte der russischen Armee stets als ersetzbares Verbrauchsmaterial. Im Antisystem des heutigen Russland kommt jedoch noch etwas hinzu: Die Entsendung von Soldaten in den Tod ist profitabel geworden. Denn Vertragssoldaten kommen mit Geld zum Militär. Man kann sie bestechen und gegen eine gewisse Summe im ungefährlicheren Hinterland einsetzen oder sie stattdessen in den Tod schicken, doch diesen Tod erst später melden und so womöglich selbst Geld kassieren.  

    Je häufiger die Truppen erneuert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, an ihnen zu verdienen. So entsteht ein System, in dem die Armee zunächst ihre eigenen Soldaten und erst danach die Soldaten des Feindes eliminiert. Außerdem gibt es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, das macht die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten. Und für den Staat bedeutet der Tod von Soldaten an der Front niedrigere soziale Kosten. Denn Tote brauchen keine medizinische Versorgung und keine soziale Unterstützung. 

    Im Antisystem tauschen Gut und Böse die Plätze 

    Die zweite Ursache, warum der Krieg als Selbstzweck funktioniert, ist eine besondere Haltung zum Leben und dem Tod. Diese ist existenziell und gründet auf einem Weltbild, in dem alles, was geschieht, durch die Anwesenheit eines Feindes erklärt wird, der das Ur-Böse verkörpere. Für den Kampf gegen diesen Feind werden alle moralischen Beschränkungen aufgehoben. Jede gute Tat zu seinen Gunsten wird als schlecht betrachtet, und jede schlechte Handlung gegen den Feind als gut. So verkehren sich Wertevorstellungen in ihr Gegenteil – Amoralität wird zur Tugend, Gräuel werden zu Heldentaten.  

    Das daraus resultierende Weltbild hatte sich schon früher in zwei Varianten manifestiert, die in zwei unterschiedlichen emotionalen Zuständen ihren Ausdruck fanden: im Manichäismus und im Gnostizismus. Der Manichäismus ging von der Vorstellung aus, dass unsere helle Welt sich mit der Welt des Ur-Bösen vermischt hat und wir daher zum Kampf verdammt sind. Der Gnostizismus dagegen basierte auf der Vorstellung, dass unsere Welt durch einen Fehler oder den Willen eines bösen Gottes (der Demiurg) geschaffen wurde. Letztlich ist dann alles bedeutungslos, es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen.  

    Es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen 

    Auf Grundlage dieser beiden Weltanschauungen entstanden verschiedene Lehrmeinungen und religiöse Überzeugungen, die jedoch vor allem zu destruktiven Stimmungen führten innerhalb bereits bestehender Religionen – des Christentums und des Islam. 

    Im historischen Russland führte die rücksichtslose Haltung der Machthaber gegenüber der eigenen Bevölkerung zum Entstehen einer manichäischen Stimmung in der Orthodoxie. Ein Symptom dieser Stimmung war die Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert aufgrund ritueller Diskrepanzen, die aus Sicht der griechischen Orthodoxie keiner Erwähnung wert waren. Doch in Russland führte die Heftigkeit des Schismas sogar zu kollektiven Selbstverbrennungen. Natürlich ging es dabei nicht nur um rituelle Diskrepanzen, sondern um die Wahrnehmung der Welt ringsum als fremd und feindselig. 

    Als dann die Bolschewiki ihren Kampf gegen die Religion entfachten, integrierten sie in ihre Doktrin des Klassenkampfes eine manichäische Grundhaltung. Sie sahen ihre Mission darin, die Welt von Ausbeutung, also vom Bösen, zu befreien und eine gerechte Gesellschaft zu errichten – das Reich des Guten. Moralische Pflichten galten nur gegenüber den der Arbeiterklasse Nahestehenden. Anderen gegenüber, den Feinden, war alles erlaubt – womit selbst die Stalinschen Massenrepressionen gerechtfertigt wurden.  

    Allerdings hat die kommunistische Ideologie zwei Seiten. Zum einen den rücksichtslosen Klassenkampf gegen Feinde und zum anderen die Utopie einer gerechten Gesellschaft, einer strahlenden Zukunft, der Eroberung des Weltraums, des Fortschritts. Doch mit der Ära des Ölwohlstands verlor der Klassenkampf an Bedeutung. Die Gesellschaft hatte sich in einen utopischen Traum eingelullt, als lebe sie im freiesten und menschenfreundlichsten Land der Welt – bis sie durch den Preissturz auf dem Ölmarkt unsanft aufgeweckt wurde. 

    Auch in Russland denken und fühlen die Menschen natürlich unterschiedlich. An dieser Stelle geht es jedoch um die aktuell vorherrschende Stimmung. Diese bestimmt die Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens und sie entspricht einem gnostischen, nicht einem manichäischen Weltbild: Da alles bedeutungslos scheint, spielt es keine Rolle, ob wir Gutes oder Böses tun. Was bleibt, ist, diese Sinnlosigkeit des Lebens anzuerkennen und zu tun, was man will, und letztlich auch sinnlos zu sterben. Anders als in der Sowjetunion, wo die soziale Nekrophilie auf dem manichäischen Weltbild beruhte, ist sie heute in Russland durch das Gnostische ersetzt. 

    Der gnostische Fatalismus russischer Frontsoldaten 

    Aber wenn alles bedeutungslos ist, warum treten dann Menschen in die Armee ein, um gegen die Ukraine zu kämpfen? Stellen wir uns einen gewöhnlichen Menschen aus einer deprimierenden Gegend vor. Keine oder nur mies bezahlte Arbeit, zu Hause ständig Streit und Sorgen, und für die Gesellschaft ein Niemand, eine Leerstelle. Ein Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Am schwierigsten ist es, wenn man alle Kräfte aufbringen muss, um zu überleben, wenn doch alles sinnlos erscheint. Dann ist es einfacher, sich mit Alkohol oder Drogen zu betäuben. Ein solcher Zustand erstickt den Selbsterhaltungstrieb, der Tod wird nicht mehr als Übel wahrgenommen, denn der Unterschied zwischen Gute und Böse existiert nicht mehr. Je einfacher die Welt ist, desto weniger muss man sich anstrengen. So machen Krieg und Tod die Welt einfacher. Das ist die nekrophile Stimmung, die auf einem gnostischen Weltbild basiert. 

    Und einem solchen Menschen wird vorgeschlagen, in den Krieg in der Ukraine zu ziehen. Er akzeptiert ohne Widerrede die russische Propaganda als Wahrheit, obwohl ihm in Wirklichkeit egal ist, wer schuld ist am Krieg. Ihm geht es um etwas anderes – um die eigene Bedeutung und Straflosigkeit. Ihm wird versprochen, dass ihn alle, wenn er überlebt, als Veteran ehren würden. Einfacher ausgedrückt: Er kann alles tun, was er will. Und alle würden es wertschätzen. Aber um das zu erreichen, muss man bereit sein, zu töten und zu sterben. In der gnostischen Stimmung mit unterdrücktem Selbsterhaltungstrieb, wo es keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, ist es nun leicht, einen solchen Vorschlag anzunehmen. In Russland gibt es Millionen solcher Menschen. Daher wird der Zustrom von Freiwilligen in die russische Armee nicht enden. 

    Auch in der Sowjetunion gab es soziale Nekrophilie, allerdings anderer Art. Damals gingen die Menschen in den Krieg, um für eine Idee [den Sieg über den Faschismus – dek] zu töten und zu sterben. Im heutigen Russland – für die Möglichkeit zu tun, was immer man will. Wenn alles bedeutungslos ist, gibt es schließlich keine moralischen Zwänge mehr, nicht nur gegenüber Fremden, sondern auch den eigenen Leuten.  

    Ein ukrainischer Offizier nannte es „russischen Fatalismus“ 

    Diese gnostische Art der sozialen Nekrophilie ist verknüpft mit einem gnostischen Fatalismus. Ein ukrainischer Offizier, den ich kenne, nannte es „russischen Fatalismus“. Er war zutiefst erschüttert von einem Kriegsvideo, das zwei russische Soldaten zeigte, die sich hinsetzten, um eine Zigarette zu rauchen. In diesem Moment wurde einem von ihnen der Kopf von einem Splitter abgerissen. Der andere zuckte nicht einmal und rauchte ruhig seine Zigarette weiter. 

    Es gibt verschiedene Arten von Fatalismus. Einmal den stoischen Fatalismus, wenn ein Mensch sein Schicksal akzeptiert, aber weiterhin ehrlich gemäß seiner vernünftigen Natur handelt und sich seiner Zugehörigkeit zum Weltgeist oder einem Gott bewusst ist. Nun haben wir es aber mit jenem gnostischen Fatalismus zu tun, bei dem der Mensch keinen Sinn im Leben sieht und sich mit seinem eigenen und dem Tod anderer abfindet. Und so zieht er in ein fremdes Land, um zu töten. Genau dieser Fatalismus führt dazu, dass russische Soldaten in sinnlosen Angriffen in den Tod gehen, anstatt sich gegen ihre Kommandeure aufzulehnen, die von ihrem Tod profitieren. 

    Wie ist die russische Armee aufzuhalten? 

    Die Geschichte wiederholt sich. Wenn Russland in Kriegen gewann, dann durch zahlenmäßige Überlegenheit, und wenn es verlor, dann aufgrund technologischer Rückständigkeit. Weder die Ukraine noch Europa haben und wollen so einen Mobilisierungsmechanismus wie Russland, um Menschen aus ärmeren Gebieten zu rekrutieren. Deswegen wird Russlands Armee zahlenmäßig überlegen bleiben. Natürlich ist die NATO technologisch wie taktisch fortschrittlicher und könnte im Falle eines Krieges enormen Schaden auf der russischen Seite verursachen. Was aber passiert, wenn diese besseren Waffen der NATO aufgebraucht sind und die russische Armee weiter mit neuen Freiwilligen kämpfen kann?  

    Es liegt auf der Hand, dass auf Grundlage der besonderen Art der russischen Kriegsführung neue militärische Strategien entwickelt werden müssen. Ich setze große Hoffnungen in die Entwicklung von Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz – sodass die Soldaten an der Front zunehmend technisch ersetzt werden können. In diesem Fall könnte Russland seinen einzigen Vorteil gegenüber zivilisierten Ländern verlieren. 

    Und bis dahin muss der Ukraine dabei geholfen werden, diese gefährlichste Zeit zu überstehen und Europa vor einer russischen Invasion zu schützen. 

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  • Wo sind all die Kartoffeln hin?

    Wo sind all die Kartoffeln hin?

    Die Kartoffel ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel in Belarus. Viele belarussische Speisen wie draniki (Reibekuchen) basieren auf der Erdknolle, die so auch zum kulturhistorischen Symbol wurde. Die Belarussen bezeichnen sich selbstironisch mitunter auch als bulbaschy (Kartoffelmenschen). Seit Monaten aber ist die Kartoffel Mangelware auf dem belarussischen Markt. Obwohl Belarus bei einer Produktion von bis zu 4.000.000 Tonnen Kartoffeln jährlich und einem Kartoffelverbrauch von durchschnittlich 162,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr einen deutlichen Überschuss produziert. Was steckt dahinter?

    Das Online-Medium Mediazona Belarus hat Gründe für das Verschwinden der Kartoffel in Belarus recherchiert. Das Projekt Belarus. Expertise zeigt anhand des Draniki-Index, wie sich die dadurch verursachten Preissteigerungen auf die Zubereitung des dranik auswirkt. 

    Arbeiter eines landwirtschaftlichen Betriebs im Bezirk Lahoisk machen Kartoffeln bereit für den Transport. / Foto © IMAGO/ ITAR-TASS

    Anfang April haben Journalisten von Zerkalo festgestellt, dass sich die Behörden schon seit Mitte Februar Sorgen um Kartoffeln machten. Das MART (Ministerium für Handel und Wettbewerbsregulierung) hatte ein Treffen mit dem Landwirtschaftsministerium, den Verwaltungen von Minsk-Stadt und Minsk-Oblast einberufen sowie mit Vertretern großer Handelsketten.     

    Auf der Versammlung ging es um Gemüse-Engpässe: Unter anderem ging es darum, dass die Stabilisierungsspeicher, in denen bis zur nächsten Ernte Obst und Gemüse gelagert werden, ihren Abnehmern – den Handelsketten – „minderwertige Waren” liefern. Außerdem sei es wegen der Preisregulierung für Produzenten, die ihre Ernte in diese Stabilisierungsspeicher liefern, lukrativer, ihr Gemüse nicht auf dem Binnenmarkt zu verkaufen, sondern zum Beispiel nach Russland zu exportieren.  

    Bereits im Februar war das Kartoffelthema bis zu Lukaschenko durchgedrungen. „Na sowas, wir haben also keine Kartoffeln. Um wieviel sind Kartoffeln bei uns teurer geworden? Und um wieviel steigen die Preise zwischen den Ernten? Sind wir etwa unfähig, ausreichende Mengen Kartoffeln anzubauen, sie in Kellern zu lagern und sie dann der Bevölkerung zu verkaufen?“, empörte er sich.

    Der Illustrator und Designer Vladimir Tsesler hat das Kartoffeldefizit in Belarus auf seine eigene Weise kommentiert. Skarb ist das belarussische Wort für Schatz. / Bild © Vladimir Tsesler 

    Destabilisierung durch rigide Preiskontrolle 

    Der Staat hat auf mehrere Arten versucht, das Kartoffeldefizit zu beheben. Ende März verlängerte die Regierung die Lizenzierung des Kartoffelexports um drei Monate, um „sich die Kontrolle über Vorräte und Exporte aufgrund der steigenden Nachfrage und der hohen Kartoffelpreise jenseits der belarussischen Grenzen zu sichern“.     

    Im Anschluss wurden im Dekret Nr. 713 zur Preisregulierung zum siebten Mal Änderungen vorgenommen: Ab dem 17. April 2025 wurden für die gängigsten Gemüsesorten die Obergrenzen der Preise für den Großhandel und die Endkunden angehoben: für Kohl (außer Frühkraut), (ungewaschene) Karotten, Speisezwiebeln, frische Gurken und gewaschene Speisekartoffeln.   

    Während noch im März das Kilogramm Kartoffeln für den Endkunden höchstens 76 Kopeken (ca. 0,22 Euro) kosten durfte, darf der Preis jetzt mindestens bis zum 15. Mai bis zu 1 Rubel (ca. 0,28 Euro) betragen. Am 17. April reagierte das MART auf die Kartoffelfrage und verkündete, in Belarus würden Maßnahmen ergriffen, um ausreichende Mengen Kartoffeln sowie anderes Obst und Gemüse in den Läden sicherzustellen. In den darauffolgenden zwei Tagen kontrollierte das Ministerium 20 Gemüselager und fand keinerlei Verstöße.         

    „Kartoffeln gibt es genauso auf dem Markt wie alles andere, was in den Borschtsch gehört. Die Regierung hat effektive Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern die durch Preisdifferenzen entstanden waren, aufgrund derer unsere Produzenten auf den ausländischen Märkten größere Gewinne erzielten”, berichtete Darja Poloskowa, Repräsentantin des Ministeriums. 

    „Das ist von heute auf morgen [eine Preissteigerung um] 30 Prozent. Inflation haben wir ja keine? Wir halten sie unten, solang es geht, und auf einmal, hopp – 30 Prozent“, kommentierte Wirtschaftsanalyst Sergej Tschaly Poloskowas Aussage. Zerkalo berichtete, wie in der Oblast Witebsk über tausend Tonnen Kartoffeln „verlorengegangen“ seien.  Über BelPol hatte das Medium Zugang zu Chats und E-Mails von Beamten bekommen.   

    Außerdem erzählten Journalisten von Zerkalo von einem Brief des MART an das Landwirtschaftsministerium, in dem es vor einem womöglich bevorstehenden „Defizit an frischen Gurken aus den Gewächshausanlagen der Republik auf dem Verbrauchermarkt“ warnte; ebenso erreichten das Ministerium Bitten verschiedener Handelsketten, im April die Versorgung des Marktes mit Gurken zu fördern.  

    „Die Kartoffeln im Laden sind jetzt sehr klein – und so grün wie Hulk.” 

    Eine Woche nach den Kontrollen des MART spricht man in den Gemüsespeichern von Belarus noch immer von Mangel, den Preisen und der schlechten Qualität nicht nur von Kartoffeln, sondern auch zum Beispiel von Zwiebeln und Kohl.  

    „In letzter Zeit ist es plötzlich schwierig geworden, bei Euroopt oder Hit ordentliche Kartoffeln zu finden. Es gibt nur winzige, angeditschte“, erzählte Mediazona eine Befragte aus dem Gebietszentrum. Ein Bewohner einer anderen belarussischen Stadt erzählte, wie er vor ein paar Tagen das ganze Viertel nach Kartoffeln abgesucht hätte. 

    Vor drei Tagen postete eine Belarussin ein Video zu dem Thema auf TikTok: „Das Volk beschwert sich, dass die Kartoffeln im Laden jetzt sehr klein sind – und so grün wie Hulk. Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen. Wenn auch ihr beim Einkaufen schlechte Kartoffeln gesehen habt – schreibt in die Kommentare, was denkt ihr, wer ist daran schuld?“ 

    In einem anderen TikTok erzählt ein Belarusse, er habe in der Vorwoche mit seiner Mutter in Iwanowo vergeblich nach Kohl gesucht. In vier Geschäften seien sie gewesen, doch weder im Dorf noch in der Stadt habe es Kohl gegeben. Auf Instagram ist ein Belarusse der Meinung, das mit den Kartoffeln sei ein Desaster: „Auf den Märkten gibt’s ja noch halbwegs irgendwas, aber im Supermarkt – kannst du vergessen.“ Eine andere Belarussin schreibt: „Kartoffeln sind wieder da, aber wo sind nun die Zwiebeln?“ Die Frage, „wieso die Kartoffeln so sauteuer sind“, stellt sich ein Instagram-User bis heute. 

    Der Draniki-Index verdeutlicht die Teuerungsrate einer der beliebtesten Speisen in Belarus. / Schaubild © Belarus. Expertise
    Der Draniki-Index verdeutlicht die Teuerungsrate einer der beliebtesten Speisen in Belarus. / Schaubild © Belarus. Expertise

    Das Projekt Belarus. Expertise analysiert die ökonomischen Entwicklungen in Belarus, dazu veröffentlicht das Online-Portal regelmäßig den Draniki-Index. Draniki (dt. Reibekuchen/Kartoffelpuffer) sind ein wesentlicher Bestandteil der belarussischen Küche. Der Index wird auf Grundlage von Preisentwicklungen für Produkte berechnet, die zur Zubereitung von Draniki für eine Familie mit drei bis vier Personen nötig sind (siehe Schaubild). „Die Kosten für einen Dranik mit einer teuren Beilage weisen eine hohe Teuerungsrate von 34,9 Prozent auf“, erklären die Wirtschaftsexperten in ihrer Analyse. „Die Kosten für einen Dranik mit einer preiswerten Beilage stiegen im Laufe des Jahres um 9,8 Prozent.  Bei den Zutaten verzeichneten Kartoffeln eine Rekordpreissteigerung von 35,21 Prozent im Laufe eines Jahres. Die Gründe dafür waren die Dürre, die geringere Produktion und die massiven Ausfuhren nach Russland.“ 

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