Im Donbass-Konflikt konnten sich Kiew und Moskau vor Kurzem auf die sogenannte „Steinmeier-Formel“ verständigen. Diese sieht eine weitreichende Autonomie für den Donbass vor, sobald dort freie und faire Wahlen stattfinden. Ein Knackpunkt bleibt jedoch die Frage nach der genauen zeitlichen Abfolge von Wahlen und Übergabe der Grenzkontrolle.
Bevor es Wahlen in den umkämpften Donbass-Gebieten geben kann, muss die Ukraine ihre eigenen Außengrenzen kontrollieren, so die Position des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky. Auf der Pressekonferenz des Normandie-Treffens in Paris am 9. Dezember 2019 erklärt sein russischer Amtskollege Wladimir Putin, warum er das anders sieht.
9. November 1989: Politbüro-Mitglied Günter Schabowski gibt auf Nachfrage versehentlich eine neue Reiseregelung bekannt, mit der die Mauer für DDR-Bürger praktisch durchlässig wird: Jeder, so wird angekündigt, könne ein Visum beantragen. Die Regelung sollte eigentlich noch bis zum nächsten Morgen, den 10. November 1989, 4 Uhr, unter Verschluss bleiben. Doch es kam anders.
Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Es ist ein politisches Erdbeben für die beiden deutschen Staaten und das geteilte Berlin, als den DDR-Grenzern beim Ansturm der Menschen am 9. November 1989 nur die Wahl blieb zwischen Schießen und Nachgeben.
Die Massen bahnen sich ihren Weg an der Bornholmer Brücke, der Invalidenstraße, dem Brandenburger Tor. Die Bilder aus dieser historischen Nacht zeigen, wie die Menschen friedlich die Mauer überwinden – von Ost nach West, von West nach Ost. Die deutsche Wiedervereinigung wurde im Jahr darauf, am 3. Oktober 1990, Realität – aber das ahnt im November 1989 noch keiner. Der Jubel an der geöffneten Grenze 1989 schuf ikonische Bilder im Gedächtnis der deutsch-deutschen Geschichte.
Doch wie wurde dieses Ereignis in der Sowjetunion bekannt? Was haben die Zeitungen an den Folgetagen geschrieben – wie unterschiedlich haben sie berichtet, im Vergleich zu den Medien in der BRD, wie auch zu den Medien in der DDR?
dekoder zeigt Ausschnitte in einer historischen deutsch-deutsch-sowjetischen Presseschau.
In der Bundesrepublik füllen sich die TV-Nachrichten allmählich mit der Neuigkeit – um 20 Uhr die Hauptausgabe der Tagesschau:
#DDR: Privatreisen können beantragt werden
Die Aktuelle Kamera, Hauptnachrichtensendung im DDR-Fernsehen, berichtet von der neuen Reiseregelung, die Politbüro-Mitglied Günter Schabowski überraschend verkündet hat:
#UdSSR: An der Schwelle zum Winter
Die Titelseite der Prawda, des Parteiorgans der KPdSU, bleibt am nächsten Morgen, dem 10. November, unbeeinflusst vom Mauerfall im fernen Berlin – wie auch die anderen Aufschlagseiten der sowjetischen Presse. Aufmacher-Thema der Prawda ist, wie es um die Viehzucht in den Kombinaten vor dem nahenden Winter bestellt ist.
Auch insgesamt spielen die Ereignisse in Berlin eine untergeordnete Rolle und werden wenn, dann auf den Auslands-Seiten behandelt. Die Mauer war in der UdSSR lange ein heikles Thema; hinzu kommt, dass die eigenen wachsenden Probleme täglich die Zeitungen füllen:
#UdSSR: Harter Schnitt mit alten Dogmen
Am 11. November dann greift die Prawda die Grenzöffnung von Berlin in ihrem Auslandsteil, Seite 6, auf und kommentiert:
Deutsch
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Die jetzige Entscheidung der DDR-Regierung ist ein mutiger und weiser politischer Schritt, der einen harten Schnitt mit alten Dogmen bezeugt. Er zeigt, dass sich die heutige DDR selbst den Weg in ein neues politisches Denken weist, ein Denken, das sich durch eine kreative Herangehensweise an die schwierigen Fragen auszeichnet, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander so lange verkompliziert haben.
Das Boulevardblatt Bild am 10. November 1989 mit der Schlagzeile: „Geschafft! Die Mauer ist offen“. Alle Zeitungen in der BRD titeln – analog zur Bild – am 10. November 1989 mit der Nachricht zur Maueröffnung:
#DDR: Wie der Regierungssprecher mitteilte …
In der DDR druckt das SED-Parteiorgan Neues Deutschland (wie die anderen großen Parteiblätter auch) am 10. November allein die nüchterne – über den DDR-Nachrichtendienst ADN verbreitete – Mitteilung zur Reiseregelung im Wortlaut ab:
Deutsch
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Wie der Regierungssprecher mitteilte, hat der Ministerrat der DDR beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung der Volkskammer folgende Bestimmungen für Privatreisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt werden. […]
Neues Deutschland, 10.11.1989, DDR-Regierungssprecher zu neuen Reiseregelungen, Nachrichtenagentur ADN
#UdSSR: Massenflucht schadet nicht nur der DDR
Ausnahme unter den sowjetischen Blättern: Sofort am 10. November berichtet die Izvestia, die damalige Regierungszeitung, auf Seite 4 unter dem Titel Suchen nach Auswegen aus der Krise über die neue DDR-Reiseregelung:
Deutsch
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Am Donnerstagabend haben lokale und westliche Radio- und TV-Sender diese Nachricht gemeldet: Auf Beschluss der DDR-Regierung ist die Grenze zwischen der DDR und Westberlin geöffnet. […] Innerhalb der letzten zwei Tage betrug die Zahl der ständigen Ausreisen aus der DDR in die BRD über die Tschechoslowakei nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa ungefähr 19.000. Mit so einem Andrang hat die BRD, wie es aussieht, nicht gerechnet. […] Die lokale Bevölkerung stöhnt im wahrsten Sinne des Wortes. Man scheint in der BRD und in Westberlin verstanden zu haben, dass die Massenflucht nicht nur der DDR schadet.
Izvestia, 10.11.1989, Poiski wychoda iz krisissa, W. Lapski
Die Nacht des 9.11.1989 in den Nachrichten
#BRD: Vorsicht vor Superlativen – aber nicht heute
Die ersten Bilder: Die Tagesthemen mit Hanns Joachim Friedrichs haben am Abend des 9. November den Fernsehreporter Robin Lautenbach für eine Live-Schalte zum Grenzübergang Invalidenstraße geschickt:
#UdSSR: Zum Mauerfall in Moskau
Wie war es im November 1989, in Moskau vom Mauerfall zu erfahren und die Ereignisse von dort aus zu verfolgen? Elfie Siegl war zum damaligen Zeitpunkt bereits langjährige Korrespondentin für den RIAS Berlin und die Frankfurter Rundschau – so erinnert sie sich:
#DDR: Ein Stück Vertrauen gewonnen
In der DDR sind am 11. November in allen Blättern lange Reportagen und Interviews zu lesen. Ebenso in der Jungen Welt, seinerzeit Zentralorgan des staatlichen Jugendverbandes FDJ und Ende der 1980er Jahre bei einer Auflage von 1,6 Millionen:
Deutsch
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„Einfach toll. Wahnsinn“ – viele können es kaum glauben, sind fassungslos. Wie es weitergeht? Daran denkt hier und heute erst mal keiner. Anja hat heute auch ein Stück Vertrauen gewonnen, sagt sie. „Ihr seid zu viert?“ fragen wir ein Trüppchen, das offensichtlich zusammengehört – Textiltechnik-Studenten. „Ja, wir kommen auch zu viert wieder zurück.“
Junge Welt, Wochenend-Ausgabe 11./12.11.1989, Zu viert gehen wir rüber und zu viert auch zurück – Verlag 8. Mai GmbH/junge Welt
#DDR: Wer weiß, wann wieder Schluss ist
Die Berliner Zeitung sieht einen ähnlichen Trend des Rückkehrens nach dem Besuch im Westen, gibt in einer Meldung aber auch zu bedenken:
Deutsch
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Fast alle DDR-Bürger, die seit der Nacht zu gestern die Grenze zur BRD passiert haben, wollten, wie zu erfahren war, noch am selben Tag oder nach dem Wochenende wieder in ihre Heimat zurückkommen. […] Zu hören war: Heute abend sind wir wieder da. Aber auch: Wer weiß, wann wieder Schluß ist damit. Rund 3250 hätten sich Angaben aus Bonn zufolge als Übersiedler registrieren lassen.
Berliner Zeitung, 11./12. November 1989, Heute abend sind wir wieder da
#BRD: Nur noch ein schüchterner Wasserwerfer
In den bundesdeutschen Blättern finden mit der Nachricht zur Grenzöffnung auch die ersten Reaktionen Eingang in den Druck für den nächsten Tag (10. November), während am 11. November die großen Reportagen folgen – Beispiel taz:
Deutsch
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In einer ersten Reaktion zeigte sich der Regierende Bürgermeister West-Berlins [Walter Momper – dek] ‚sehr froh‘ und appellierte an die Berliner, sich ebenfalls zu freuen, „auch wenn wir wissen, dass daraus viele Lasten auf uns zukommen werden“.
Die Fernsehteams haben die Mauer taghell ausgeleuchtet, ein Wasserwerfer spritzt noch schüchtern von Ost nach West, mehrere Hundert, vielleicht Tausend umlagern die historische Stätte. […] Die Berliner stürmen die Mauer. Kaum einer kommt oben an, ohne zu jauchzen und die Arme hochzureißen. ‚Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!‘ heißt die Parole des Abends. Nur: der Chor ist schon von der Realität überholt.
In der Sowjetunion gibt es Zeitungen und Magazine, die den Mauerfall noch Tage und Wochen später nicht aufgreifen. Die Tageszeitung Trud, Organ des Gewerkschaftskomitees, legt für den 12. November im Korrespondentenbericht aus Berlin allein den Fokus auf die zeitgleich ablaufenden Umbildungen an der DDR-Staatsspitze:
Deutsch
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Gestern hat unsere Zeitung über die Ergebnisse des 10. Plenums des ZK der SED berichtet. Aber davor war es im Land zu etwas nie Dagewesenem gekommen, als innerhalb von nur zwei Tagen als erstes die Regierung und dann das Politbüro des Zentralkomitees der Regierungspartei zurücktraten.
Eine neue Regierung ist noch nicht gewählt. […]
Trud, 12.11.1989, GDR: Dni peremen, W. Nikitin
#UdSSR: Sektkorken ohne Exodus
Ganz anders die Komsomolskaja Prawda, damals Presseorgan der kommunistischen Jugenorganisation Komsomol, die bereits am 11. November eine Reportage bringt – nah dran am deutsch-deutschen Puls der Zeit:
Deutsch
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Bei jedem Schritt knallten Korken der Sektflaschen, brannten Wunderkerzen. „Heute ist in Berlin ein Feiertag“, rief jemand aus der Menge erklärend einem Ausländer zu. […] Wonach sah das aus? Nach allgemeiner Euphorie? Nach Verbrüderung? Ja, wenn man bedenkt, dass sich direkt vor meinen Augen Verwandte trafen, die auf verschiedenen Seiten der Grenze leben. Aber womit es überhaupt keine Ähnlichkeit hatte, war ein Exodus.
Komsomolskaja Prawda, 11.11.1989, Tschelowek prochodit skwos stenu, S. Maslow
Fern der überlaufenen Grenzübergänge in Berlin blickt die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach Leipzig:
Deutsch
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Wie groß das Mißtrauen der Menschen in der DDR gegen die bisher Herrschenden ist, zeigt sich in dieser Donnerstagnacht noch auf andere Weise. Gerade vor wenigen Stunden hat das Politbüromitglied Schabowski auf einer im DDR-Rundfunk direkt übertragenen Pressekonferenz fast beiläufig erwähnt, jeder DDR-Bewohner könne mit sofortiger Wirkung ohne Vorliegen besonderer Voraussetzungen ins Ausland reisen. Doch von Freude, Erleichterung, Genugtuung ist wenig zu spüren auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig – vor der Litfaßsäule werden kaum Worte gewechselt. Von der neuen Reisefreiheit spricht niemand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1989, Nach dem Treffen mit Krenz ist Rau auch ratlos, Albert Schäffer
… und zum Grenzkontrollpunkt Helmstedt zwischen heutigem Sachsen-Anhalt und Niedersachsen:
Deutsch
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Die kühnste Vorstellung wird in Gedanken deshalb Wirklichkeit, weil niemand denkt, dass sie Wirklichkeit werde. Daß die Mauer aufbrechen, die Grenze durchlässig werde, haben in Helmstedt und die Menschen überall am Zonenrand immer gewünscht. Sie wußten zugleich, daß sie ein Stück ihrer Identität verlieren, wenn dies Wirklichkeit werde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1989, Ein Licht nach langer Dunkelheit, Ulrich Schulze
Was bleibt? Was kommt?
#BRD: „Wir bleiben dran“
Die Zeit beleuchtet die Aktivitäten neuer politischer Gruppen, die im SED-Staat immer stärker ein Mitspracherecht einfordern.
Deutsch
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Wir bleiben hier, wir bleiben dran, bleib auch Du in der DDR“ ist in grellen Farben auf den Lack gemalt. An der Antenne wehen grüne Bänder, Zeichen der Hoffnung. Auf der anderen Seite des Autos ist zu lesen, für wen Uwe Jahn wirbt, für die Initiativbewegung Demokratie Jetzt. […] Seine Gruppe trifft sich bei ihm im Büro, gemeinsam überlegen die sechs Männer ihre nächsten Schritte: Unterschriften sammeln für einen Volksentscheid über eine Verfassungsänderung, die der SED den Führungsanspruch nehmen soll, eine Demonstration im Betriebshof in der kommenden Woche.
Die neu gewonnene Reisefreiheit täuscht für die Neue Zeit, Parteiblatt der Ost-CDU, nicht über bestehende Missstände in der DDR hinweg. Sie kommentiert:
Deutsch
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Nach wie vor erfährt die Öffentlichkeit nichts über das, was angemahnt und lautstark von Hunderttausenden auf den Demonstrationen gefordert wurde: Privilegien, Machtmißbrauch. So viele von denen, die Amt und Funktion ausnutzten zur persönlichen Bereicherung, sitzen noch immer in der Volkskammer, in Bezirkstagen und anderen Leitungen. Sie hören die Anwürfe und – schweigen.
Neue Zeit, 20.11.1989, Vom Wasser gepredigt, vom Wein getrunken, Klaus M. Fiedler
#BRD: Meine erste Banane
Zonen-Gaby heißt eigentlich Dagmar, kommt aus Rheinland-Pfalz und stand im Jahr 1989 Modell für den Titel der November-Ausgabe der Satirezeitschrift Titanic. Das Bild wurde Kult und gilt als berühmtester Titanic-Titel, vielfach nachgedruckt und bis heute gern zitiert:
„Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD): Meine erste Banane“
#UdSSR: Süßes Wort „Freiheit“
Die Wochenzeitung Moskowskije Nowosti, damals ein wichtiges Forum für Gorbatschows Perestroika-Politik und auch international in mehreren Sprachen vertrieben, zieht historisch große und vieldeutige Parallelen:
Deutsch
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Als die jungen Deutschen tanzend am Brandenburger Tor über die Fernsehbildschirme liefen, werden im Gedächtnis lange vergangene Schattenbilder wach – die der Pariser, die vor 200 Jahren auf den Ruinen der Bastille tanzten. Selbstverständlich stand die Mauer an Symbolgehalt dem feudalen Kerker in nichts nach. Dieses elende Symbol der Teilung Europas und der Welt, der Konfrontation, des Kalten Krieges und vor allem das Symbol unserer und unserer Verbündeten Angst vor der Bewegungsfreiheit von Menschen, der Zirkulation von Ideen, von Freiheit ganz generell. Es war das Symbol des feudalen Sozialismus. […] Jeder in der DDR, dem das Wort Freiheit süß erscheint, ist froh über die Umwälzungen. Aber unsere Besorgnis werden wir nicht verheimlichen: Ende vergangener Woche hatte die Polizei sowohl von der einen als auch von der anderen Seite Skinheads, jugendliche Neonazis und Randalierer zu verjagen. Im Übrigen: Der Fall der Bastille, wie man weiß, war nicht der Weg zu Frieden und Glückseligkeit auf unserer sündigen Erde. Ungeachtet dessen haben wir dieses Ereignis 200 Jahre später groß gefeiert.
Moskowskije Nowosti, 19.11.1989, Berlinskaja stena: Kto stroil, tot i snossit, Wladimir Ostrogorski
#BRD: Wirtschaften ohne Lehrbuch
Die Mauer ist seit zehn Tagen Geschichte: Der Spiegel macht sich Gedanken darüber, was die Öffnung nach anfänglicher Begeisterung an der Börse wirtschaftlich für beide Seiten, BRD und DDR, bedeutet:
Deutsch
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Den Börsianern und Kleinanlegern, den Managern und den Politikern dämmerte, daß mit der plötzlichen Öffnung der bislang hermetisch verriegelten DDR eine ökonomische Situation eingetreten war, für die es keine historische Parallele gibt; für die sich auch in keinem Lehrbuch der Volkswirtschaft eine Handlungsanweisung finden läßt. Es ist eine Situation voller Risiken. […] Viel Zeit zum Reagieren haben Modrow, Krenz und Genossen nicht. Durch die offene Grenze laufen ihnen, wenn die ökonomische Lage sich nicht bald zum Besseren wendet, die Jungen und die Fähigen davon. Richtung Westen droht zudem, wegen der vertrackten Umtauschverhältnisse, ein Ausverkauf der spärlichen Güter.
Die Wochenzeitung Argumenty i Fakty, lange nur Funktionären zugänglich, in den 1980er Jahren aber zum vielgelesenen Leserforum avanciert, sieht die Maueröffnung als weitreichendes Signal für die gesamte innere Verfasstheit der DDR:
Deutsch
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Es besteht kein Zweifel daran, dass das, was in der DDR im Herbst dieses Jahres geschehen ist, eine Revolution war. […] Der Oktober wurde für die DDR zu einer Zeit, in der unter die gesamte historische Periode des verwaltungsökonomischen, stalinistischen Entwicklungspfades ein Strich gezogen wurde. Ein Pfad, der sich auch hier erschöpft und die Republik weiter in eine Sackgasse geführt hatte. […] An Intensität in der Dynamik und Dramatik übertraf das deutlich unsere Perestroika.
Argumenty i Fakty, 9.12.1989, Oktjabrskaja revoluzija v GDR, S. Rjabikin
Sie ist im Rahmen einer Kooperation von dekoder mit einem Lehrprojekt an der Universität Hamburg (UHH) unter Leitung von Monica Rüthers und Mandy Ganske-Zapf entstanden. Das Projekt wurde vom Lehrlabor des Universitätskolleg der UHH gefördert und ist Teil des Verbundprojektes Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien.
Das fragen wir uns auch! Je weiter wir dekoder entwickeln, desto mehr erinnert uns unser Alltag an die Arbeit eines Labors, das Stichproben macht, Experimente durchführt und neuartige Produkte entwirft. Nicht an einen Konzern, der am Fließband Waren in Tausender-Auflagen produziert, sondern doch eben an ein kleines Labor, dessen Mitarbeiter mit Neugierde die Wissenschaft aus dem Reagenzglas über die Destillierbrücke auf die glühende Platte des Journalismus tropfen lassen.
Vor einiger Zeit schon haben wir bemerkt, dass das alte kleine Gnosen-Labor (WTF sind Gnosen?) allein uns etwas eng geworden ist. Nun haben wir es erweitert und neu ausgerüstet, um innovative Verbindungen auszuprobieren und vor allem, um zu prüfen, ob die Chemie stimmt. Die Chemie zwischen Wissenschaft und Journalismus, die sich zu einem medialen Reinstoff verbinden sollen.
In diesem Jahr sind wir eine Kooperation mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (FSO) eingegangen: Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien heißt das Projekt, das erstmal mit Unterstützung der VolkswagenStiftung auf eineinhalb Jahre angelegt ist. Die Entscheidung für die Kooperation mit der FSO lag quasi auf der Hand: Wenn man durch den Flur der Forschungsstelle Osteuropa geht, kann man praktisch an jeder Tür die Namen unserer Gnosenautoren lesen: Susanne Schattenberg, Heiko Pleines, Jan Matti Dollbaum, Eduard Klein, Manfred Zeller, Manuela Putz … zahlreiche aktive, ehemalige und assoziierte Wissenschaftler der FSO haben bereits für uns geschrieben. Und seit diesem Jahr ist die renommierte Forschungsstelle nicht mehr einfach nur Lieferant der Reagenzien und Freund, sondern ein dekoder-Kollege, mit dem wir die medialen Experimente gemeinsam durchführen. Das erste Experiment war das Multimedia-Dossier Archipel Krim, das nun in allen vier (!) Sprachversionen komplett ist.
Das Experimentelle daran war, dass 30 Wissenschaftler, 13 Redakteure, zwei Programmierer, ein Dutzend Übersetzer, Fotografen, Grafiker und Designer zusammen an einem Medienprodukt gearbeitet haben und dabei richtig Spaß hatten. Nicht nur die FSO, sondern auch das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), das maßgeblich zu Konzeption, Umsetzung und auch Finanzierung des Dossiers beigetragen hat, sowie fünf weitere Medien waren daran beteiligt. Aber das alles ist nur der Anfang eines langen Weges. Eines Weges zu einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus und zum „Content neuen Typs“, der uns vorschwebt.
Aus dem Krim-Projekt haben wir viel gelernt und gehen nun weiter. Das nächste Stück kommt schon nach dem Sommer. Versucht mal anhand des Bildes herauszufinden, worum es da gehen soll (nein, nicht um Erdbeeren):
Wie und warum wir das alles machen? Wie es Leonid in einem Gastbeitrag für das Fachmagazin Wissenschaftskommunikation.de skizziert hat, entwickeln sich die wissenschaftlichen und medialen Diskurse derzeit noch weitgehend in parallelen Welten. Die enorme Expertise, die von Forschungsinstituten kontinuierlich generiert wird, ist nicht ohne Weiteres zugänglich: Es fehlen Räume, in denen sich Wissenschaftler explizit an eine breitere Öffentlichkeit und nicht an die eigene Scientific Community wenden können. Es fehlt an Infrastruktur, die dem mediengerechten Wissenstransfer dient und es mangelt an medialen Formaten, die wissenschaftsbasierten Content rezipierbar machen. Und hier setzt dekoder an.
Wie Ihr seht, wir haben viel vor. Alles hoch zwei.
An: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesminister des Auswärtigen Heiko Maas, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation Rüdiger von Fritsch, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland Dirk Wiese
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesminister des Auswärtigen, sehr geehrter Herr Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation, sehr geehrter Herr Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland,
am vergangenen Donnerstag wurde im Zentrum Moskaus der renommierte russische Journalist Iwan Golunow festgenommen. Angeblich soll Golunow mit Drogen gehandelt oder solche hergestellt haben. Alles spricht für einen gezielten Versuch, Golunows journalistische Tätigkeit zu unterbinden, initiiert aus der Grauzone von Wirtschaftskorruption und Behördengewalt. Ihm droht eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren.
Die Methode, Rauschgiftdelikte unter Mitwirkung der Polizei zu inszenieren, um missliebige Personen aus dem Verkehr zu ziehen („podbros“), wird in Russland tatsächlich immer wieder angewandt. Die Initiative muss nicht unbedingt vom Staat ausgehen. Die staatlichen Stellen hätten aber die Möglichkeit, diese Machenschaften jeweils zu unterbinden.
Wir, das online-Portal dekoder.org, sammeln, übersetzen und verbreiten seit 2015 Texte aus russischen unabhängigen Medien in Deutschland. Wir arbeiten regelmäßig mit Materialien von meduza.io. Iwan Golunow ist daher auch Teil unseres unmittelbaren fachlichen Netzwerks.
Wir protestieren aufs Schärfste gegen die Festnahme Golunows aufgrund fabrizierter Vorwürfe und fordern die Adressaten dieses Briefes dazu auf, ihre Stimme in die Waagschale zu legen.
Iwan Golunow gehört zu den nicht eben zahlreichen Journalisten in Russland, die die Verflechtungen von halblegalen privaten Akteuren und Stellen aus dem Staatsapparat beleuchten. Er ist Korrespondent des Onlinemediums meduza.io, das als Nachfolger des 2014 zerschlagenen führenden Nachrichtenkanals lenta.ru in Riga neugegründet worden ist. Der 36-jährige Golunow wird in der russischen Medien-Community hoch geachtet. Seine Festnahme hat eine massive Protestwelle ausgelöst. Selbst staatsnahe Stimmen wie der TV-Journalismus-Veteran Wladimir Posner haben sie aufs Schärfste verurteilt: Mit dem Vorgehen gegen Golunow werde „allen Journalisten in Russland ins Gesicht gespuckt“.
Golunow hat Untersuchungen publiziert unter anderem zu Korruption und Bereicherung im Bestattungswesen, zur Moskauer Müllmafia und zur Verschleierung von Vermögensverhältnissen von Politikern. Golunow ist immer wieder aufgrund seiner Arbeit bedroht worden. Seine Reputation unter Kollegen ist tadellos, niemand hält eine Verstrickung in Rauschgiftgeschäfte auch nur im Entferntesten für denkbar, auch wurden nach Auskunft seines Anwalts keine Fingerabdrücke Golunows auf den untersuchten Drogenverpackungen gefunden. Golunows Rechte wurden während der Festnahme aufs Massivste missachtet: Er bekam zunächst keine Möglichkeit, durch Gewebeproben seinen Nichtgebrauch von Drogen nachzuweisen, er wurde körperlich misshandelt, ihm wurde medizinische Hilfe vorenthalten.
Am Samstag, den 8. Juni, wurde Golunow nach dramatischen Verhandlungen im Moskauer Nikulinski Bezirksgericht zunächst für zwei Monate unter Hausarrest gestellt. Weiterhin droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu 20 Jahren. Vergleichbare Fälle zeigen, dass derartige Verhandlungen sich als Hinhaltetaktik über Jahre erstrecken können, in denen die betroffene Person nicht ihrer Tätigkeit nachgehen kann und oft schwere persönliche und psychische Konsequenzen erleidet.
dekoder.org versteht sich als Medium, das dem unabhängigen Qualitätsjournalismus aus Russland eine deutsche Stimme gibt. Wir stehen in ständigem engen Kontakt mit unseren russischen Kollegen, für die unsere Arbeit eine Möglichkeit bedeutet, über die Landesgrenzen hinaus gehört zu werden. Wir erfüllen außerdem den Auftrag, die deutschsprachige Öffentlichkeit über russische Aktualitäten und Hintergründe durch Originalstimmen zu informieren, zusätzlich zur etablierten Arbeit der Auslandskorrespondenten.
Wir sind der Ansicht, dass nicht alle internen Vorgänge in der Russischen Föderation der Kommentierung von außen bedürfen. In diesem Fall allerdings erheben wir entschieden unsere Stimme. Die Festnahme Golunows ist nicht nur ein Affront gegen den Anstand im Umgang eines Staates mit seinen Bürgern, er ist auch eine Attacke auf die Möglichkeit der Grenzen übergreifenden, internationalen Berichterstattung, der wir uns als Medienprojekt verschrieben haben und auf die die Leserschaft in Deutschland einen Anspruch hat.
Wir bitten Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, Herrn Außenminister Maas, Herrn Botschafter von Fritsch, Herrn Wiese, Russland-Beauftragter der Bundesregierung, die entsprechenden russischen staatlichen Stellen anzusprechen und entschieden darauf zu dringen, dass dieser offensichtliche Missbrauch von Polizeigewalt unterbunden wird. Die Gesetze müssen geachtet und befolgt werden und Golunow muss seiner Arbeit in einem sicheren Umfeld nachgehen können.
dekoder.org:
Martin Krohs, Gründer Tamina Kutscher, Chefredakteurin Anton Himmelspach, Geschäftsführer und Politikredakteur Leonid A. Klimov, Wissenschaftsredakteur Daniel Marcus, Social Media-Redakteur, IT Friederike Meltendorf, Übersetzungsredakteurin Alena Schwarz, Controlling Jakob Reuster, Studentischer Mitarbeiter Peregrina Walter, Studentische Mitarbeiterin
Update 16:16 Uhr: Wladimir Kolokolzew, Minister des Innern der Russischen Föderation, hat soeben die Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens gegen Iwan Golunow verkündet. Als Begründung nennt er die Nichtnachweisbarkeit einer Straftat im Fall Golunow. Die an der Festnahme beteiligten Polizisten wurden nicht entlassen, jedoch vorübergehend von ihrem Dienst entbunden, wie es aus dem Innenministerium heißt. Das Ermittlungskomitee soll sich nun mit der Sache befassen.
Damit können Mediengemeinde und Zivilgesellschaft sicher einen klaren Erfolg für sich verbuchen, dennoch warten zahlreiche offene Fragen – etwa wie es überhaupt zu dieser Aktion kommen konnte und wie Derartiges in Zukunft verhindert werden soll – auf eine schnellstmögliche Klärung. Zudem ist interessant, welche Deutung der Kreml selbst dem Vorfall geben wird: Für den 20. Juni ist ein Direkter Draht mit Wladimir Putin angekündigt. Wir werden die Sache aufmerksam verfolgen und weiter berichten.
Wir unterstützen diesen Aufruf:
Daniel Schulz, Co-Leiter Reportage & Recherche, taz Martin Aust, Lehrstuhlinhaber Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn Svetlana Dyndykina, Projektleiterin, ROMB
Samowar, Matrjoschka, Chruschtschowka – der russische Alltag ist reich an Begriffen wie diesen. In diesem Dossier trägt dekoder Geschichten und Wissen rund um Spezifika der russischen Alltagskultur zusammen.
Es war die Perestroika Gorbatschows, die vor 30 Jahren den Mauerfall einleitete. Es war eine Zeit des Umbruchs – und zugleich die Chance einer neuen politischen wie zivilgesellschaftlichen Annäherung, die Zeit eines erwartungsfrohen Neustarts in den Beziehungen zwischen Ost und West, die heute erneut in einer schweren Krise stecken.
Wie blickte die Sowjetunion damals auf die Geschehnisse in Berlin und Deutschland – mitten während der Perestroika und unmittelbar vor Zusammenbruch des eigenen Systems? Wie war der Lebensalltag, gerade der jungen Leute, in Ost und West? Wie erinnert man sich heute in Deutschland und Russland an den Mauerfall 1989? Wie bewertet die jeweilige Gesellschaft Schlüsselfiguren der damaligen Zeit, wie etwa Michail Gorbatschow, Andrej Sacharow oder Helmut Kohl? Und wie hat sich die gegenseitige Wahrnehmung in den vergangenen 30 Jahren geändert?
Die Gedenk- und Jahrestage 2019 zu 30 Jahren Friedlicher Revolution nimmt dekoder zum Anlass für ein multimediales Dossier. Es zeigt Umbruch und Aufbruch aus deutscher – und russischer Perspektive. Auf Deutsch – und in Teilen auch auf Russisch.
Am 15. Februar 1989, als der letzte sowjetische Konvoi die sogenannte „Freundschaftsbrücke“ zwischen der UdSSR und Afghanistan überquerte, war der zehnjährige Afghanistan-Krieg zu Ende. Die Folge waren hunderttausende Opfer in der afghanischen Bevölkerung, mehrere Millionen mussten aus dem Land fliehen. Die Sowjetunion verlor circa 15.000 Soldaten, mehr als 54.000 wurden verwundet und die Gesellschaft war dauerhaft traumatisiert.
Zum 30. Jahrestag des Truppenabzugs veröffentlicht dekoder in Kooperation mit dem Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin ein Dossier. Eine Gnose gibt einen Überblick über den Krieg, ein Visual zeigt den Afghanistan-Krieg, wie ihn der russische Zeitungsleser wahrgenommen hat, eine historische internationale Presseschau bildet die breite Palette an Meinungen ab, die der Truppenabzug hervorgerufen hat, und eine Gnose über die Erinnerung an den Krieg thematisiert die Veränderung der offiziellen und nicht offiziellen Diskurse zu diesem Krieg.
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Auf der Frankfurter Buchmesse hat Sergej Lebedew seinen neuesten Roman vorgestellt: Kronos‘ Kinder erzählt die Geschichte des jungen Russen Kirill, der sich auf die Spuren seiner Ahnen macht. Erst als Erwachsener hatte er erfahren, dass sie Deutsche waren.
In großen Teilen ist es auch Lebedews eigene Geschichte und die seiner Vorfahren: 1993, er war schon Anfang 20, da hat Sergej Lebedew von seiner Großmutter erfahren, dass seine Vorfahren Deutsche waren. „Die Nachricht war ein Schock“, erzählt Sergej Lebedew im Gespräch mit dekoder. „Plötzlich wusste ich, es gibt ein Netz an Menschen und Geschichten, die ich alle nicht kenne.“ In seinem Roman heißt es an einer Stelle, der Protagonist Kirill (Lebedews Alter-Ego) war während der Sowjetzeit „geschützt durch das absolute Fehlen einer Biografie“. Wie gefährlich es mitunter war, die falsche Biografie zu haben, das zeichnet Kronos‘ Kinder anhand der Familiengeschichte der Familie Schwedt nach. Lebedew ist dafür nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland gereist. Er fuhr nach Halle und Leipzig, hat in den Archiven nach Dokumenten der eigenen Vorfahren gesucht. Und weil doch viele Leerstellen blieben, ist es ein Roman geworden, keine Dokumentation. Sein Buch, sagt Lebedew, das sei nun auch der Versuch, mit diesem Schock fertig zu werden, plötzlich eine Biografie zu haben.
In seinen beiden vorherigen Romanen Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August (2015) setzt sich Lebedew vor allem mit der Stalinzeit auseinander. Ins Deutsche gebracht wurden die Bücher von Franziska Zwerg, die auch Kronos‘ Kinder übersetzte.
Im Ausschnitt unten beschreibt der Protagonist Kirill eine Szene aus seiner Kindheit, als er von seinen deutschen Vorfahren noch nichts ahnte. Der Ganter Fritz, so auch der Originaltitel des Buches, hatte seinen deutschen Namen vom Dorfbewohner Spieß bekommen. Immer an einem bestimmten Tag im Juli besoff Spieß sich besinnungslos.
Betrunken war Spieß an jenem Julitag, an dem ihm, der damals flach am Boden gekrochen war, ein deutscher Splitter den Hintern aufgeschlitzt hatte. Er trat vors Tor, starrte die Kinder an, und schon verging dem „Lenker“ die Lust, den Lastwagen zu ziehen. Spieß kam auf sie zu, besah sich die Disposition, brummte – Scheißpartisanen –, schaute von einem zu anderen. Er mochte keine Kinder, nannte sie Pest, verfluchtes Elend; aber er rührte sie nie an. Zum ersten Mal bemerkte Kirill, was für riesige Hände Spieß hatte, als seien sie für einen Zweimeterriesen gemacht und Spieß im Hospital angenäht worden; er sah das graue Wolfshaar, das ihm auf den Fingern wuchs, die dicken, gelben Nägel. „Husch, haut ab!“, kommandierte Spieß. Alle Freunde von Kirill verdrückten sich zum Zaun, die Straßengräben entlang; er aber musste in die andere Richtung, zögerte ein wenig, und Spieß hatte sich bereits abgewandt in der Gewissheit, dass seine Worte alles und jeden hinwegfegten. Kirill verzog sich zum Sandhaufen. Spieß ging indes zum Teich, und wieder sah Kirill seine riesigen Hände, die in Taschen wohl kaum Platz gefunden hätten; nicht menschlich waren sie, sondern bullig, bärenhaft. Auf dem Teich schwammen die Gänse der Fedossejewna; Fritz stolzierte am morastigen Ufer entlang, bewachte die das Wasser erforschenden Gänsejungen. Als er Spieß sah, drehte sich der Ganter um und ging ihm entgegen; er zischte, seine Augen waren wütend, er erkannte seinen Beleidiger, Spieß hatte ihn, auch nüchtern, oft geärgert. Man hätte meinen können, Spieß weiche zurück, drehe sich weg, laufe sogar davon, denn ein Betrunkener konnte es mit dem schlauen und wendigen Ganter nicht aufnehmen, und Spieß’ Bosheit war matt, verfault, wie eine Salzgurke vom Vorjahr; der Ganter hingegen voll reiner, triumphierender Wut, als sinne er schon lange auf Revanche. Aber Spieß schien nur auf den Angriff des Ganters gewartet zu haben. Mit einer unmerklichen Bewegung des Arms, der auf einmal allzu lang, teleskopisch geworden war, packte er den Ganter beim Hals, hob ihn hoch, presste die Hand zusammen, sperrte ihm die Luftzufuhr. Der Ganter zappelte, schlug mit den Flügeln, er war an die fünfzehn Kilo schwer – wie konnte man ein solches Gewicht mit ausgestrecktem Arm halten? Aber Spieß hielt ihn, und Kirill begriff, welche Kraft im Körper des Alten wohnte, eine zähe, klammernde Kraft, wie bei einem Schraubstock; das begriff er, als sei er selbst jener Ganter, als fühle er stählerne Finger an seinem Hals. Der Ganter sackte zusammen, die Flügelenden zitterten leicht. Seine Augen, aus denen die Wut des Angriffs gewichen war, wurden sanft, rollten weg; und Spieß strich dem Ganter mit der linken Hand über den Kopf und sprach dabei: „Das war’s nun, Fritz. Reingefallen. Schluss und aus, Fritz, wehr dich nicht. Das macht’s nur schlimmer. Das war’s Fritz, deine Zeit ist um, vorbei.“ Spieß schaute dem Ganter direkt in die Augen, und Kirill wurde klar, dass Spieß gerade keinen Vogel sah, sondern irgendeinen deutschen Gefreiten, einen Militärkoch oder einen jungen Adjutanten, der unglücklicherweise im falschen Moment aus der Deckung getreten war. Still musste dieser kleine Deutsche sterben – er war nutzlos, von niederem Rang –, durfte nicht schreien, nicht aufschluchzen, und deswegen begleitete Spieß den kleinen Deutschen in den Tod, flüsterte seine Worte fast zärtlich, damit dieser sich auf dem Totenweg nicht verirrte, keine Sekunde lang zurückwollte, gehorsam und diszipliniert starb, ohne unnötigen Aufruhr. Kirill wollte hervorspringen, sich an Spieß’ Hand klammern, den Ganter befreien. Aber er fühlte, Spieß würde auch ihn, den Jungen, für jemand anderen halten: in diesem Moment sah Spieß weder Teich noch Gänse oder Dorfhäuser, er war ganz und gar dort, im Krieg, in den Sümpfen am Dnjepr oder in irgendeiner zerschossenen, deutschen Kleinstadt. Es gab keine Möglichkeit, ihn von dort herauszuholen, denn alles in seinem Kopf war verrückt; und wenn er an Kirills Stelle einen Kindersoldaten des Volkssturms sah, dann war das wirklich so; dann sah er ihn nicht unklar wie in einem trügerischen Traum, sondern mit letzter Gewissheit, und seine Erinnerung kleidete Kirill um, veränderte sein Gesicht, drückte ihm eine Panzerfaust in die Hand. Furchtsam war Kirill schon immer gewesen, aber so fürchtete er sich zum ersten Mal. Er merkte, dass er sich eingenässt hatte. Der König aller Ängste war in Gestalt von Spieß gekommen und würgte den Ganter Fritz. Spieß glaubte, er töte einen leibhaftigen Deutschen; und der Schrecken bestand in der Möglichkeit selbst, dass so etwas geschehen konnte, denn das hieß, es gab keine Grundfeste, keine Gesetze zwischen den Menschen. Spieß hatte Fritz mit beiden Händen beim Hals gepackt und zugedrückt. Der Kopf des Ganters begann sich zu drehen. Erst jetzt hörte Kirill, wie der Ganter schrie – nicht zischte, nicht schnatterte, sondern schrie. Der Laut ähnelte der menschlichen Rede, als mühe sich der Ganter zu erklären, er sei kein deutscher Soldat und riefe die Welt als Zeugen an. Aber der Kopf bewegte sich schon unnaürlich, wie Lebendiges sich nicht bewegen kann. Dann knirschte es, das raue Lebensfädchen riss, der Kopf kippte zur Seite; grüner Magensaft tropfte aus dem Schnabel. Spieß legte den Ganter vorsichtig auf der Erde ab, stand da, starrte den verendeten Vogel an. Dann ließ er seinen Blick umherstreifen, erblickte wie von Neuem die anderen Gänse, die sich um den Teich drängten und leise schnatterten. Fritz’ Sohn, dem Alter nach der zweite Ganter der Herde, trieb sie zusammen und stellte sich ein winziges Stück voran, um seine Anführerschaft zu bezeichnen, Spieß dabei aber nicht mit Kühnheit zu reizen. Kirill wollte rufen – fliegt, lauft weg, rettet euch! – aber es hatte ihm die Sprache verschlagen. Und Spieß murmelte mit kaltem Eifer: „Die Fritzen! Uuuh, wie viele ihr seid! Die Fritzen!“ Er ging zu seinem Haus, wiederholte nur „Uuuh! Uuuh!“, nicht wie ein Mensch oder ein kleines Waldtier, sondern als habe sich in ihm ein tiefer, fleischfressender Abgrund von der Größe eines Dinosauriermagens aufgetan, aus dem dieses Uuuh nun drang. Kirill hatte ein wenig gehofft, Spieß würde noch ein Glas trinken gehen, und dann hätte er die Gänse ins Gebüsch, ins Schilf gejagt oder jemanden von den Erwachsenen gerufen. Spieß war im Haus verschwunden; Kirill wollte weglaufen, aber in ihm erwachte gleichsam ein Soldatengespür, das sagte: ruhig, versteck dich. Und richtig – Spieß kam mit seinem Jagdkarabiner auf die Veranda, darauf steckte ein Visier. Er hockte sich an den Zaun, schob den Lauf zwischen die Latten hindurch, schaute durch das Visier. Kirill glaubte, es würde ihm die Gänse näher bringen, Spieß’ Auge schärfen – die Optik, reines Glas konnte ja nicht lügen – und dann käme Spieß zu sich, würde begreifen, gegen wen er kämpfte an diesem heißen Julitag, wer sich am Teich verschanzte, die weißen Hälse reckte. Auf einmal bemerkte Kirill, dass Spieß’ Hosentaschen ausgebeult waren, vollgestopft mit Ersatzpatronen. Der erste Schuss klang wie der Hieb einer Hirtenpeitsche. Die spitz zulaufende Karabinerkugel durchschlug den Ganter; Schuss, Schuss, Schuss, – die Gänse fielen, blutige Federbüschel wirbelten umher; Spieß schoss nicht daneben. Dann verklemmte sich der Karabiner, seine Finger ließen ihn im Stich, gehorchten nach dem Brandwein nicht mehr, luden die Patronen schief. Spieß rüttelte am Magazin und erstarrte – als sei vom Widerstand des störungsfreien Mechanismus auch in ihm etwas verrutscht. Die Fedossejewna kam angelaufen, stürzte zu den Gänsen; die lagen im Gras, eine zuckte mit dem Flügel, Spieß hatte ein wenig danebengeschossen. Das Blut war aus der Ferne nicht zu sehen, aber man merkte, dass sie tot waren. Ein Mensch kann auch im Tod lebendig aussehen, ein Vogel hingegen liegt da wie ein Sack, alles hat ihm die Kugel genommen – die Anmut, den Charakter. Spieß stand auf, drehte sich um – und schaute direkt zu Kirill, der sich hinter dem Sandhaufen versteckte. Kirill wollte sich im Sand vergraben, wusste aber, es war zu spät – Spieß hatte ihn entdeckt, mit jenem Blick entdeckt, der Gänse in Deutsche verwandelte. Kirill fühlte sich wieder als Ganter Fritz, spürte Hände an seinem Hals. Und er wusste, Spieß würde ihn töten, er unterschied nicht zwischen einem Jungen und einer Gans. „Was hast du getan, Herodes! Herodes!“, die Fedossejewna stürzte sich auf Spieß und trommelte gegen seine Brust. „Herodes! Herodes! Herodes!“ Herodes; dieses Wort, das Kirill nicht kannte, versetzte Spieß einen Schlag, drang in seinen trunkenen Kopf. Vielleicht hatte er sich als Kind die Worte des Popen eingeprägt, schließlich hieß das Dorf früher nicht Tschapajewka, sondern Tschassownaja, nach der Kapelle über der Quelle und der Kirche, in der sich nun ein Lagerraum der Kolchose befand. Kirill meinte, Spieß würde die Fedossejewna niederschlagen. Niemand durfte ihn anrühren, und sie hatte ihn am Hemdkragen gepackt. Aber Spieß setzte sich auf die Stämme nieder, schüttelte den Kopf, und dann kippte er zur Seite um. Die Fedossejewna vergaß die Gänse, rannte ins Haus, wobei ihr unreiner Unterrock von den abgetragenen Absätzen hochgeworfen wurde. Sie kam mit einem Eimer wieder und übergoss Spieß schwungvoll mit Brunnenwasser, eiskalt. Er kam zu sich. Die Leute lugten hinter ihren Zäunen hervor, traten aber nicht auf die Straße, wussten, dass die beiden die Sache unter sich ausmachten. Spieß schüttelte angewidert seine nassen Ärmel, schaute sich um, als wisse er nicht, wer und wo er sei. Er sah die Fedossejewna mit dem Eimer und fragte friedlich, nur etwas befremdet: „Bist du übergeschnappt, Alte? Das ist mein Tag heute. Mein Recht zu trinken.“ Spieß war so leise geworden, dass Kirill hinter dem Sandhaufen hervorkam, um ihn besser zu sehen: Wo war der Mörder, der drei Minuten zuvor auf Gänse geschossen hatte? Da saß ein harmloser Alter, trocknete sich in der Sonne, und Kirill meinte, einen schlechten Traum gehabt zu haben, der sich nicht wiederholen würde. Aber dann begriff Kirill: Er würde sich wiederholen. Es käme ein Tag, ebenso klar, nichts Böses verheißend, und Spieß träte heraus, wirr vom Brandwein, und wen er auch träfe – einen Hofhund, ein Milchkalb, einen Elektriker mit Leiter – jeder wäre ein Faschist. Und wieder würde er, Kirill, es nicht schaffen zu fliehen, weil die anderen pfiffiger, schlauer, mutiger waren, er aber jener, der für Spieß’ Gemetzel herhalten musste, dazu verdammt war, der Ganter zu sein. Für dieses Wissen begann Kirill Spieß zu hassen, es würde ihm von nun an keine Ruhe mehr lassen; als sei sein ganzes Leben im Voraus bestimmt. Spieß bemerkte inzwischen die toten Gänse. Er schwieg, dann fragte er die Fedossejewna düster: „War ich das?“ „Du“, antwortete die Fedossejewna und fing auf einmal an zu weinen, nicht so wie sonst, mit faden Tränen, sondern schluchzend, bitter und hilflos. Selbst ein Kleinkind hätte begriffen, dass sie Spieß liebte. Spieß hickste, einmal, zweimal, dreimal, als hätten ihn die großen Dämonen bereits freigegeben, und nun kämen kitzelnde Dämonenjungen aus seinem Mund gekrochen, harmlos, aber zudringlich wie Fliegen; immer noch schluchzend klopfte ihm die Fedossejewna auf den Rücken und greinte: „Nicht du, nicht du warst das! Das ist der verfluchte Krieg, der in dir sitzt!“ Kirill fühlte, dass die Fedossejewna Spieß verziehen hatte, voll und ganz, und dass sie ihm noch Dutzende Male verzeihen würde, selbst wenn er das ganze Dorf in Brand steckte, alles unschuldige Vieh abschlachtete. Und würde Spieß ihn, Kirill, niederschießen, dann würde die Fedossejewna um ihn weinen – aber verzeihen. Spieß’ Schluckauf verging. Er umarmte die Fedossejewna leicht, brachte sie ins Haus, ließ jedoch nicht den Blick von den getöteten Gänsen, als wolle er sagen – meine Schuld, das weiß ich, aber anschuldigen lasse ich mich nicht.
Ausschnitt aus dem Roman Kronos‘ Kinder von Sergej Lebedew, ins Deutsche übersetzt von Franziska Zwerg. Erschienen im S. Fischer Verlag, 2018.
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Ein schneller Überblick über den Wunsch der ukrainisch-orthodoxen Kirche, von Moskau unabhängig zu werden, und über die potentiellen Folgen – in fünf Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.
1. Warum will die ukrainisch-orthodoxe Kirche eigenständig werden? Und was meint „Autokephalie“ überhaupt?
Es ist nicht so eindeutig, wer genau die Autokephalie – also die kirchliche Eigenständigkeit – möchte. Es gibt nicht die eine ukrainisch-orthodoxe Kirche, sondern drei. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) war bis vor wenigen Tagen die einzige, die von der Welt-Orthodoxie anerkannt war. Sie gehört zum Moskauer Patriarchat, hat jedoch offiziell aktuell keine Unabhängigkeit gefordert. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) spaltete sich 1992 von der UOK ab und forderte schon damals die Autokephalie. Die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) gibt es sogar schon seit den 1920er Jahren: Sie ist im Ausland anerkannt („kanonisch“), in der Ukraine jedoch nicht. Die UOK-KP und die UAOK fordern nun gemeinsam mit vielen Gläubigen der UOK (aber eben nicht mit der UOK selbst) und vielen Politikern eine weltweit anerkannte und von Moskau unabhängige, eigenständige Orthodoxe Kirche. Dadurch wollen sie vor allem den ideologischen Einfluss aus Moskau einschränken und auf eine eigenständige Weise das geistliche Erbe der Kiewer Rus und ihre Gesellschaft gestalten.
2. Und was stört das Moskauer Patriarchat daran?
Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) stört das Durchgreifen des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel in der Ukraine. Denn seit dem 17. Jahrhundert wurde die Moskauer Zuständigkeit dort immer respektiert. Nachdem Moskau seit 26 Jahren die Lage der ukrainischen Kirchen faktisch ignoriert hat, ist dieses Durchgreifen aber durchaus nachvollziehbar. Nun droht der ROK großer Bedeutungsverlust: Eine unabhängige Orthodoxe Kirche in der Ukraine macht das gesamte Narrativ der Heiligen Rus fragwürdig. Der Moskauer Anspruch auf die politische, moralische und geistliche Deutungshoheit über die Ukraine (und Belarus) wird mit der Autokephalie haltlos. Das Gewicht des Moskauer Patriarchats innerhalb der Welt-Orthodoxie erklärte sich bislang daraus, dass die ROK die relative Mehrheit aller orthodoxen Gläubigen vereinte. Durch das Wegbrechen der ukrainischen Gläubigen wird auch die Bedeutung der ROK abnehmen.
3. Kritiker werfen der Russischen Orthodoxen Kirche vor, immer mehr zum Werkzeug des russischen Staates zu werden. Stimmt das?
Die Situation in der Ukraine zeigt, dass das Moskauer Patriarchat sich dermaßen eng mit dem russischen Staat verstrickt hat, dass es jetzt nur wenig eigenen Entscheidungsspielraum hat. Über viele Jahre und in vielen Bereichen waren sich die Interessen von Staat und Kirche einfach sehr nah und haben sich zum Teil auch ergänzt: So waren die Umsetzung der sogenannten Machtvertikale und der Stabilisierung auch im Interesse der Kirchenführung. Auch bei Feindbildern, moralischem Konservatismus sowie bei Einschränkung von Pluralität passt kaum ein Blatt zwischen Kirchenleitung und Staat. Die ROK hätte Möglichkeiten gehabt, als Mutterkirche selbst die Autokephalie der ukrainischen Kirche zu gestalten, aber eine unabhängige Kirche als Ausdruck einer unabhängigen Ukraine widerstrebt der politischen und ideologischen Linie Moskaus radikal.
4. Was bedeuten all diese Vorgänge für die Orthodoxe Kirche insgesamt?
Es ist sicher eine große Krise für die Orthodoxie und zeigt, wie sehr ungeklärte technische Zuständigkeitsfragen sowie die Bindung an nationale Grenzen und Identitäten die Einheit der Kirche gefährden. Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus unterstützt das Streben der ukrainischen Gläubigen nach einer eigenständigen Kirche und ebnet kirchenrechtlich den Weg dafür. Deswegen hat das Moskauer Patriarchat nun den Bruch mit Konstantinopel verkündet. Dieser einseitige Bruch ist vor allem für die russischen Gläubigen außerhalb Russlands eine Herausforderung, denn sie dürfen nun nicht mehr in Kirchen des Patriarchats von Konstantinopel an der Eucharistie teilnehmen, und das obwohl es keinen Unterschied in der Glaubenslehre gibt. Sämtliche Dialoge, gemeinsame Gottesdienste und Bischofskonferenzen der orthodoxen Kirchen im Ausland werden ohne Vertreter der ROK stattfinden. Insgesamt bewegt sich die ROK damit in die Isolation. Innerhalb der Orthodoxie ist allerdings nicht absehbar, ob andere Kirchen den Schritten Moskaus folgen werden, und auch das Ökumenische Patriarchat hat die Gemeinschaft mit Moskau nicht beendet.
5. Droht ein Schisma? Was genau bedeutet das, und was wäre daran so schlimm?
Das ist schwer abzusehen, bisher ist die Drohung mit dem Schisma eher eine rhetorische Form des Machtkampfes zwischen Moskau und Konstantinopel. Grundsätzlich erfordert ein Schisma genauso wie ein Anathema (ein Kirchenbann) dogmatische Gründe. Nach wie vor geht es hier aber um technische beziehungsweise kirchenrechtliche Probleme, in der Glaubenslehre gibt es dagegen keinen Dissens. Es ist zu hoffen, dass alle Beteiligten dies im Blick behalten, denn ein Schisma ist vor allem eine Tragödie für die Gläubigen sowie für die Glaubwürdigkeit der Kirche.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Autorin: Regina Elsner Veröffentlicht am: 17.10.2018