Dieses Dossier sollte ursprünglich „Krieg und Strafe“ heißen. Die Strafe ist noch in weiter Ferne, der Krieg behält die Oberhand, manchmal scheint es gar, dass er sich zu einem Flächenbrand ausweitet. Schon seit Jahrzehnten sagen wir „nie wieder“, die Friedensappelle verhallen aber. Was sind die Ursachen von Gewalt? Was sind ihre Logiken? Wie kann man sie überhaupt fassen? Solchen Fragen widmet sich dieses Dossier.
Unsere Chefredakteurin Tamina Kutscher verlässt dekoder zum 1. Februar 2023. Hier verabschiedet sie sich von euch Leserinnen und Lesern – und wir danken ihr für sieben gemeinsame Power-Jahre.
Liebe dekoder-Leserinnen und -Leser,
zum 1. Februar werde ich nicht mehr Teil von dekoder sein. Dies zu schreiben fällt mir nicht leicht. dekoder war nie nur ein Job für mich. Seit dekoder-Gründer Martin Krohs mich Anfang 2016 als Chefredakteurin ins damals drei Monate junge Projekt geholt hat, war dekoder eine Aufgabe, die mich voll gefordert und erfüllt hat.
Was heißt es, Russland zu entschlüsseln? Das wurde ich sehr oft gefragt in den letzten sieben Jahren. Auf dekoder heißt es, genau hinzuhören – auf den unabhängigen Diskurs, den wir ins Deutsche bringen. Und gleichzeitig, zu hinterfragen, zu kontextualisieren und einzuordnen – mittels Fakten und Expertise aus der Wissenschaft. Mit allzu einfachen Antworten geben wir uns auf dekoder nicht zufrieden, auch unsere Leserinnen und Leser nicht. In sieben Jahren ging es auch darum diesen dekoder-Geist, den Martin Krohs dem Projekt eingehaucht hat, weiterzutragen: Es sind zahlreiche neue Formate entstanden, ein Buch (und ein zweites ist auf dem Weg), wir haben einen russischsprachigen Europa-dekoder und einen Belarus-dekoder aus der Taufe gehoben, ein ganzes dekoder-lab und viele unterschiedliche Specials. Zwei Grimme Online Awards und der Friedrich-Wilhelm-Fricke-Preis waren uns dabei wichtige Anerkennung und Ansporn.
Der nahe und gleichzeitig analytische Blick, den dekoder bietet, auf Russland, auf Belarus und auf Europa, ist mit Sicherheit jetzt besonders wichtig, da Russland in der Ukraine einen schrecklichen Krieg führt. Wir merken es an den vielen Anfragen, die dekoder gerade seit dem 24. Februar 2022 erreichen, und auch an den deutlich gestiegenen Zugriffen auf unsere Seite.
Und doch: Für mich ist es nun Zeit zu gehen. Nach sieben ereignis- und erfolgreichen Jahren in einem großartigen Team gilt es, Neues zu wagen. Im Moment blicke ich erwartungsfroh auf noch Unbekanntes, als Journalistin werde ich mich auf jeden Fall weiterhin mit Gesellschaft und Medien in Russland/Osteuropa beschäftigen.
dekoder weiß ich dabei in Händen eines wunderbaren Teams, unterstützt von euch allen, interessierten, im besten Sinne kritischen und treuen Leserinnen und Lesern. Und ich weiß auch: Wohin mich der Weg auch führen mag, ich bleibe dekoderщik im Herzen.
Und wir alle wissen: Man sieht sich im Leben immer zweimal. Wann und wo auch immer – ich freue mich schon darauf!
Danke für alles.
Tamina
Liebe Tamina,
dieser Abschied fällt auch uns als Redaktion nicht leicht. In sieben Jahren haben wir gemeinsam ein Medium aufgebaut, haben angesichts von Krieg und immer neuen Repressionen Wut und Entsetzen geteilt, sind ausgerastet vor Freude, als wir diverse Preise erhalten haben, haben gemeinsam geflucht über „Bleiwüsten“ und „Textriemen“ (bzw. „RIEMEN“ in deiner Schreibweise), haben mit unseren tollen Übersetzerinnen und Lesern (leider viel zu selten!) Klubabende bis in die Nacht gefeiert, haben über das dekoder-lab weitere Brücken in die Wissenschaft errichtet, …
All das wäre niemals möglich gewesen ohne dich, liebe Tamina, ohne deinen unermüdlichen Einsatz als Chefredakteurin. Mit deiner fachlichen Kompetenz, deiner journalistischen Feinfühligkeit und Erfahrung hast du dekoder federführend zu einem professionellen Medium mit starken Partnern gemacht – ein Medium, das heute gefragter ist denn je.
Auf die intensiven Jahre und das gemeinsam Erreichte können wir voll Dankbarkeit zurückblicken. Und genau deswegen können wir auch trotz Abschiedsschmerz mit Zuversicht auf das Kommende blicken – sowohl bei dekoder als auch für deine Zukunft. Вперед!
Deine dekoderщiki
Alena, Anton, Bianca, Daniel, Ingo, Mandy, Leonid, Rike und Martin
Oh, darf ich (Martin) noch ein PS?
Liebe Tamina! Lass mich nur drei Sätze noch ergänzen – persönliche. Nach innen wie nach außen hast du dekoder verkörpert, wie es sich kein Gründer besser wünschen kann. Was für ein Glück, dass du bereit warst, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht nur als hochprofessionelle Fachperson – das steht sowieso außer Zweifel –, sondern auch als leuchtende Persönlichkeit, deren Integrität, Format, frische Gelassenheit und natürliche Souveränität uns alle um dich herum immer wieder beeindruckt und berührt.
Du wirst diesem Projekt sehr fehlen, publizistisch wie menschlich. Diese sieben Jahre hast du geformt, ja: geprägt. Sie werden weiter glänzen. Das Allerbeste dir. Hab größten Dank!
Mit nur einem Post auf Instagram löste sie ein kleines Erdbeben aus: Alla Pugatschowa, die Grande Dame der sowjetisch-russischen Popmusik, verurteilt darin erstmals öffentlich den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und bittet das Justizministerium, sie in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen – aus Solidarität mit ihrem Ehemann, dem berühmten Comedian Maxim Galkin, der seit Freitag in dem Register geführt wird. Galkin hatte sich schon früher gegen den Krieg geäußert und daraufhin seine Sendung im staatlichen Ersten Kanal verloren. Nun beschuldigt ihn das Justizministerium, angeblich von der Ukraine finanziert zu werden.
„Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren“, schreibt Pugatschowa über ihren Mann. Der Post wurde hunderttausendfach gelikt und geteilt.
In russischen Staatsmedien wurde meist nur der vordere Teil zitiert – und die Distanzierung vom Krieg ignoriert. In den Sozialen Medien und unter den Kommentatoren unabhängiger Medien erhielt Pugatschowa dagegen viel Beifall mit ihrer öffentlichen Positionierung. dekoder zeigt ausgewählte Reaktionen.
Kirill Martynow: „Der Selensky für das patriarchale Russland“
Pugatschowa wird in breiten Teilen der Gesellschaft geschätzt – für Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, wäre sie daher eine geeignete Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl:
[bilingbox]Die Präsidentschaftskampagne „Pugatschowa 2024” mit dem Symbol der roten Rose und dem Slogan „Eine Million rote Rosen für den Frieden” ist so einfach, dass Sie sich nichts anderes mehr ausdenken müssen. Alla Borissowna, Sie sind der Selensky für das patriarchale Russland.~~~Президентская кампания Пугачевой-2024 с символикой алой розы и слоганом „миллион алых роз за мир“ это так просто, что даже придумывать ничего не нужно. Алла Борисовна, вы Зеленский патриархальной России.[/bilingbox]
The New Times: Putin ist eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Pugatschowa
Alla Pugatschowa ist unbezweifelt eine Autorität von epochaler Bedeutsamkeit. Dazu gibt es sogar einen Witz aus Sowjetzeiten, an den Andrej Kolesnikow in seiner Kolumne für The New Times erinnert:
[bilingbox]Einer der bekanntesten Witze aus der Zeit der Stagnation: „Frage: Wer ist Leonid Iljitsch Breshnew?“ Antwort: „Eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa.“ Alla Borissowna hat als Frau der Epoche sowohl Breshnew als auch Andropow, als auch Tschernenko überlebt. […] Und nun gibt es einen Neuzugang in der Truppe der unbedeutenden politischen Figuren aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa – diesen hohen Status hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin verdient.~~~Один из самых известных анекдотов времен застоя: «Вопрос: Кто такой Леонид Ильич Брежнев. Ответ: Мелкий политический деятель эпохи Аллы Борисовны Пугачевой». Алла Борисовна в статусе женщины-эпохи пережила и Брежнева, и Андропова, и Черненко, […] И вот отряду мелких политических деятелей эпохи А.Б. Пугачевой прибыло — этого высокого статуса удостоился Путин В.В.[/bilingbox]
Sergej Medwedew: Warum kann sie nicht die Ukraine nennen?
Bei aller Zustimmung ist der Politologe Sergej Medwedew über den Wortlaut gestolpert – und glaubt, dass sich Pugatschowa hätte noch mehr erlauben können:
[bilingbox]Wie alle freue ich mich über die Geste der Primadonna, doch wundere ich mich über ihre Motivation. Besteht das Problem etwa im „Tod unserer Jungs” und in der „Erschwerung des Lebens der russischen Bürger”? Sie kann sich ja alles Mögliche erlauben, auch den Gebrauch der Wörter „Krieg” und „Ukraine”. Tja, wahrscheinlich reicht das für das Publikum. Politisch ist das eine wichtige Äußerung, staatsbürgerlich eine wahrhafte Tat, und menschlich bin ich nicht ihr Richter und Redakteur, es stieß mir bloß auf. ~~~Я, как и все, рад жесту примадонны, но ее мотивация меня удивляет. Разве проблема в „гибели наших ребят“ и в „утяжелении жизни российских граждан“? Уж она-то может позволить себе, что угодно, включая слова „война“ и „Украина“. Впрочем, наверное, для аудитории хватит и этого. Политически это важное высказывание, граждански это поступок, а человечески я ей не судья и не редактор, просто резануло слух.[/bilingbox]
Ekaterina Schulmann: Wer nicht alles für die Ukraine arbeitet …
Die nach Deutschland emigrierte Politologin Ekaterina Schulmann witzelt auf Telegram über den Vorwurf des Justizministeriums, dass Pugatschowas Mann Galkin und andere „ausländische Agenten“ angeblich von der Ukraine finanziert werden:
[bilingbox]Wo hat die Ukraine denn das Geld her, um all diese Einzelpersonen zu finanzieren, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden? Das ist ja kein Land, das ist ein Eldorado. Gordejewa arbeitet für sie, Galkin, Morgenshtern, Chodorkowski, Tschitschwarkin, Makarewitsch, Simin und sogar Belonika – die alle werden von der Ukraine bezahlt. Und das auch noch in Kriegszeiten, wo es ja noch so viele andere Ausgaben gibt. Wäre jetzt Frieden, dann könnte die Ukraine da wohl den ganzen Kreml aufkaufen.~~~Слушайте, а откуда у Украины денег столько на финансирование всех этих физлиц-иностранных агентов? Не страна, а какое-то Эльдорадо. И Гордеева на них работает, и Галкин, и Моргенштерн, и Ходорковского с Чичваркиным, и Макаревича, и Зимина и целую Белонику – всех Украина содержит. И это в военное-то время, когда других расходов полно. В мирное, наверное, вообще Кремль целиком скупит. [/bilingbox]
Alexander Baunow: „Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros“
„Heimat ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss“, rief Rocklegende Juri Schewtschuk bei einem Konzert im Mai. Alexander Baunow, ehemals Chefredakteur von Carnegie.ru, beschreibt auf seiner Facebook-Seite, was für ihn Heimat bedeutet:
[bilingbox]In den 1980er Jahren stellte ich mir nicht die Frage, was Heimat war: Pugatschowa, Grebenschtschikow, Makarewitsch, Zoi oder die Mitglieder des Politbüros? Warum sollte es jetzt eine Frage sein? Verwundert sehe ich, wie bei einigen, darunter ganz jungen Menschen, diese Frage aufkommt. Quält euch nicht, die Antwort ist längst da, obwohl man sie natürlich noch einmal geben kann, wenn man sich nicht das Vergnügen nehmen lassen will, die Frage selbst zu beantworten. Die Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros.~~~В 80-е у меня же не было вопроса родина – это Пугачева, Гребенщиков, Макаревич, Цой, или это члены политбюро? А сейчас почему он должен быть? С удивлением вижу, как у некоторых, в том числе младше годом рождения, этот вопрос возникает. Не надо мучиться, ответ давно дан, хотя можно дать его еще раз, не отказывая себе в удовольствии отвечать на этот вопрос самостоятельно. Родина это не члены политбюро.[/bilingbox]
Am 30. August 2022 ist Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren in Moskau verstorben. In diesem Dossier sammelt dekoder die wichtigsten Texte über den letzten sowjetischen Staatschef und Friedensnobelpreisträger, der mit Perestroika und Glasnost das Ende des Kalten Krieges eingeleitet hatte.
In diesem Dossier sammeln wir Texte aus unserer Reihe Platforma, in der wir russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten bitten, für uns zu schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen zu liefern.
Die Texte werden mitunter von Journalistinnen und Journalisten verfasst, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
Das Projekt Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder lädt Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil ein, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
Russland führt den Krieg in der Ukraine auch als Informationskrieg: Die eskalierende Aggression nach außen geht einher mit immer stärkerer Repression nach innen. Unabhängige Medien und Journalisten in Russland sind in Gefahr.
Am 4. März 2022 hat Wladimir Putin eine Gesetzesänderung unterzeichnet, wonach das Verbreiten von „Falschinformation“ mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann. Fast alle unabhängige Medien und Journalisten haben das Land verlassen und arbeiten zum Teil nun aus dem Exil weiter.
In Russland ist es verboten, den Krieg als Krieg zu benennen, über die „militärische Spezialoperation“, ihre zivilen Opfer und Verluste in den eigenen Reihen darf nur entsprechend offizieller russischer Quellen berichtet werden. Bei Zuwiderhandlung drohen hohe Geldstrafen, die Sperrung von Seiten, die Schließung des Mediums – neben der offenen Frage, wie das neue Gesetz auf Journalisten angewendet wird.
Viele der unabhängigen russischen Medien sind mittlerweile nur noch über VPN-Zugänge zu erreichen, weil sie nach Anweisung von Medienaufsicht und Generalstaatsanwaltschaft gesperrt wurden, darunter Republic, Meduza, istories und Mediazona, außerdem zahlreiche ukrainische Medien sowie das belarussische unabhängige Portal Zerkalo.io.
Der Fernsehsender Doshd hatte den Sendebetrieb zunächst eingestellt, berichtet seit Mitte Juli 2022 wieder aus dem Exil. Echo Moskwy wurde abgeschaltet (siehe ausführlich in unseren Medienporträts). Andere hatten angekündigt, sich selbst zu zensieren, darunter die Novaya Gazeta, die schließlich ebenfalls die Arbeit einstellte – im Exil wurde die Novaya Gazeta Europe neu gegründet.
Am 21. März 2022 hat ein Moskauer Gericht außerdem die Dachorganisation Meta für „extremistisch“ erklärt und die dazu gehörenden Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram verboten, die in Russland schon zuvor blockiert wurden. Das Verbot hatte der Inlandsgeheimdienst FSB beantragt, mit der Begründung, die Aktivitäten von Meta richteten sich gegen Russland und seine Streitkräfte. Der Messengerdienst WhatsApp dagegen, der ebenfalls zu Meta gehört, bleibt weiterhin erlaubt.
In diesem Dossier führt dekoder ausgewählte Porträts derjenigen Medien, aus denen wir seit Jahren übersetzen und die nun von Zensur- und Strafmaßnahmen betroffen sind oder die Arbeit in Russland wegen des zunehmenden Drucks einstellen mussten und ins Exil gingen.
Niemand weiß derzeit, wann und wie der russische Krieg gegen die Ukraine endet. In jedem Fall wird die Welt danach nicht mehr so ausschauen wie zuvor, wir stehen an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide.
Die außenpolitische Aggression hängt eng mit innenpolitischer Repression zusammen. Mehr denn je verstoßen das russische und das belarussische Regime gegen Menschenrechte. Tausende Medienschaffende, Wissenschaftler und Oppositionelle sind geflohen. Den Gebliebenen drohen drakonische Haftstrafen, in Belarus sogar die Todesstrafe.
Mit dem Dossier GegenDruck begleiten wir die Entwicklung, wir informieren deutsch- wie russischsprachige Leser, bieten Einordnung und liefern Hintergründe.