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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Fußnoten-Test

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    2. Hier ist einre Fußnote 1, die auch einen Link enthalten kann. ↩︎
    3. Hier ist Fußnote 2, die auch etwas länger sein kann. ↩︎
    4. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. ↩︎
  • Wo die Pappeln wachsen

    Wo die Pappeln wachsen

    Irina Unruh kombiniert in ihrem Bildband Where The Poplars Grow Fotos aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Aus ihrem Plan, ein Buch über Kirgistan zu machen, wurde eine Reise in die eigene Familiengeschichte. Sie handelt von Flucht, Revolution und Repression – und von menschlicher Solidarität unter Fremden. Wir haben mit ihr über die Geschichte ihrer Familie und über ihr Fotoprojekt gesprochen. 

    Auf diesem Passbild bin ich acht oder neun Jahren alt. Mama hat mir Schleifen ins Haar geflochten. Viele Kinder in der Sowjetunion trugen damals diese „Bantiki“ / Foto © Irina Unruh
    Auf diesem Passbild bin ich acht oder neun Jahren alt. Mama hat mir Schleifen ins Haar geflochten. Viele Kinder in der Sowjetunion trugen damals diese „Bantiki“ / Foto © Irina Unruh

     

    dekoder: In einem Fotobuch erzählen Sie von Kirgistan, der Heimat Ihrer Kindheit. Es heißt „Where The Poplars Grow“. Was bedeuten Ihnen die Pappeln? 

    Irina Unruh: In den 20 Jahren, in denen ich nach unserer Migration in Deutschland lebte, hatte ich die Pappeln fast vergessen. Aber als ich 2008 zum ersten Mal wieder nach Kirgistan kam, fiel mir wieder ein, dass ich umgeben von Pappeln aufgewachsen bin. Selbst auf einem der ältesten Familienporträts meiner Mutter sind Pappeln im Hintergrund: auf der Tapete des Fotografen, der das Bild in seinem Studio aufgenommen hat. Viele dieser Bäume wurden von den Deutschen in unserem Dorf gepflanzt – auf Anordnung der Kolchose beim Subbotnik.  

    Wozu? 

    Pappeln wachsen schnell. Sie sollten entlang der Hauptstraße Schatten spenden. Entlang einer anderen Straße wurden Obstbäume gepflanzt. Sie verbindet die beiden deutschen Dörfer Bergtal und Grünfeld. Da kann man heute im Schatten gehen und Äpfel und Mirabellen pflücken.  

    Wie alt waren Sie, als Sie aus Kirgistan nach Deutschland kamen? 

    Ich war neun. 

    Kirgistan ist ein Thema Ihrer Arbeit, seit Sie fotografieren. Aber dieses Projekt ist das Persönlichste, es handelt von Ihrer Kindheit und Ihrer Familie. Wie kam es dazu? 

    Ursprünglich wollte ich gar kein persönliches Buch machen und auch nicht meine eigene Geschichte erzählen. Ich wollte ein Buch über Kirgistan machen und dabei erwähnen, dass dort auch Deutsche leben. Aber irgendwann fand ich es nicht mehr passend, das Land wie von außen zu beschreiben. 

    Wie ist Ihre Familie nach Kirgistan gekommen? Und wie ist sie von dort wieder zurück nach Deutschland gekommen? 

    Häufig stellen mir Leute in Deutschland die Frage: Warum seid ihr nach Deutschland gekommen? Meine Kinder wiederum fragen: Wie seid ihr nach Kirgistan gekommen? Um diese Frage zu beantworten, musste ich tatsächlich erst einmal selbst recherchieren und viele Bücher lesen. Meine Vorfahren waren Mennoniten. Fast jede Generation wurde in einem anderen Land geboren. Die Familie meines Großvaters mütterlicherseits lebte beispielsweise nach einem langen Weg der Migration im Gebiet Orenburg. Nach der Revolution versuchten meine Urgroßeltern, die Sowjetunion zu verlassen. Sie kamen mit ihrer großen Familie 1925 nach Moskau, um eine Ausreiseerlaubnis zu erlangen. Aber dann gab es von heute auf morgen einen Ausreisestopp. Ältere Geschwister meines Urgroßvaters haben es noch geschafft, aber er blieb mit seinen Kindern zurück. Wo sollten sie hin? In Moskau konnten sie nicht bleiben, zurück ins Gebiet Orenburg konnten sie auch nicht; sie fürchteten Repressionen, weil sie ihr Dorf verlassen hatten. Also sind sie nach Kirgistan geflohen, an einen Ort, wo sie keiner kannte. Dort wurde mein Großvater 1927 als jüngstes von 8 Kindern geboren. Die Familie zog aber bereits 1933 weiter in die Region Altai und 1940 erneut zurück ins heutige Kirgistan. So ähnlich war das bei allen meinen vier Großeltern: Sie waren immer auf der Suche nach einem Ort, wo sie unbehelligt leben konnten. Als Mennoniten war ihnen die Religionsfreiheit wichtig und die Befreiung vom Wehrdienst. Und immer, wenn sich die politische Situation änderte, zogen sie weiter. Insbesondere seit den 1920er Jahren sind die Familien meiner Großeltern alle paar Jahre migriert oder geflohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ihnen nicht mehr möglich, da sie als Deutsche bis 1956 in Sondersiedlungen leben mussten. Im Grunde suchten sie seit der Gründung der Sowjetunion und damit einhergehend des Verbotes der Religionsausübung immer wieder nach Wegen, diese zu verlassen. Nach mehreren Generationen war es 1988 dann erstmals möglich.  

    Ursprünglich waren ihre Vorfahren wahrscheinlich der Einladung Katharinas II. nach Russland gefolgt? 

    Teilweise vermutlich ja, doch die meisten sind etwas später ausgewandert. Es gab mehrere Auswanderungswellen. Meine Vorfahren kommen aus Westpreußen. Sie gehörten zu den Siedlern unter Zar Alexander I. Sie haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gesiedelt. Von dort sind sie dann vor den Kämpfen zwischen der Roten Armee und den Truppen des ukrainischen Revolutionärs Nestor Machno geflohen, nachdem ihre Dörfer immer wieder geplündert wurden. Das war kurz vor dem Holodomor. Ich musste mich erst durch die russische Geschichte lesen, um die Geschichte meiner eigenen Familie zu verstehen. Es gab Sätze, die in meiner Kindheit immer wieder gefallen sind, und die ich nie hinterfragt habe. Zum Beispiel der Satz: „Als Oma bei den Kirgisen lebte.“ 

    Warum lebte Ihre Oma bei den Kirgisen? 

    Meine Oma mütterlicherseits war 14, als ihre Mutter 1941 starb. Der Vater zog mit ihr und den jüngeren Geschwistern im Sommer 1941 ebenfalls aus der Region Altai nach Kirgistan. In beiden Regionen gab es zu dieser Zeit mehrere mennonitische Siedlungen. Kurz darauf wurde ihr Vater verhaftet und kam in den Gulag. Meine Oma stand mit 14 Jahren ohne Eltern da. Eine kirgisische Familie hat sie aufgenommen. Das war übrigens keine Seltenheit: Viele deutsche Kinder, deren Eltern verhaftet wurden, haben nur dank der Unterstützung kirgisischer Familien überlebt. Es gab aber auch Fälle, wo Kinder ganz ohne Eltern aufwuchsen. Oft haben sich dann die Dorfgemeinschaften um diese Kinder gekümmert. Und die Kinder wussten die ganze Zeit über nicht, ob ihre Eltern noch am Leben sind. Manchmal kamen sie zehn Jahre später aus dem Gulag zurück. 

    Man kann sich kaum unterschiedlichere Gruppen vorstellen als deutsche Mennoniten und kirgisische Muslime. Woher kam diese Solidarität? 

    Es gab gegenseitiges Verständnis: Beide Gruppen gehörten zu einer unterdrückten Minderheit. Die Kirgisen wurden von der Sowjetmacht zur Sesshaftigkeit gezwungen. Außerdem gab es Vorbilder in der Vergangenheit: Als die ersten deutschen Siedler mit Erlaubnis des Khan ins heutige Kirgistan kamen, da war es schon Herbst und der Winter stand bevor. Sie haben es nicht mehr geschafft, ihre eigenen Häuser zu bauen. Damals haben kirgisische Nomaden sie in ihren Jurten aufgenommen. Es gibt also nicht immer Angst vor Fremden, sondern auch Offenheit. 

    Sie verbinden in Ihrem Buch Bilder aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Was war die Idee dahinter? 

    Ich will zeigen, dass die Vergangenheit ein Teil von uns ist. Wir alle haben ja einen Lebensweg. Die Person, die ich heute bin, bin ich nur, weil ich gewisse Dinge erlebt habe und bestimmte Erfahrung auf meinem Lebensweg gesammelt habe. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich gemerkt, dass in mir auch die Geschichte meiner Vorfahren weiterlebt. Dass meine Kinder heute in einem demokratischen, freien Land aufwachsen, ist nur möglich, weil meine Vorfahren Dinge durchlebt und sie auch überlebt haben. Hätten sie nicht überlebt, gäbe es uns alle nicht.  

    Hätte die kirgisische Familie nicht Ihre Großmutter aufgenommen, gäbe es heute die Familie Unruh in Deutschland nicht… 

    …zum Beispiel. Und wenn mein Großvater den Gulag nicht überlebt hätte, auch nicht. Er war nach sieben Jahren Gefangenschaft kurz vor dem Hungertod, als sie ihn eigentlich zum Sterben freigelassen haben. Mit letzter Kraft hat er es geschafft, nach Kirgistan zu kommen. Da hat meine Oma ihn dann gesundgepflegt. Mein Vater kam erst danach zur Welt. 

    Wurde in Ihrer Familie über solche Erfahrungen gesprochen? 

    Mein Vater hat immer wieder etwas erzählt. Irgendwann habe ich eine WhatsApp-Gruppe gegründet mit meinen Tanten, die haben auch viel erzählt. Es waren überhaupt eher die Frauen, die erzählt haben. Meine Tanten sagten manchmal: „Ui, Irina, du stellst Fragen! Die haben wir leider unseren Eltern selbst nie gestellt“. Vielleicht braucht es manchmal eine Generation Abstand – auch emotionalen Abstand – um solche Fragen stellen zu können. Es war eine traumatisierte Generation und manche Verhaltensweisen sind nur erklärbar, wenn man diese Geschichten kennt. Hunger war zum Beispiel bei uns am Tisch immer wieder Thema. 

    Das wirkt fast so, als wäre aus einem Fotoprojekt über Kirgistan am Ende eine Art Familien-Vermächtnis geworden? 

    Ja, und nein. Zum einen empfinde ich eine gewisse Demut und tiefe Dankbarkeit meinen Vorfahren gegenüber. Meine Familiengeschichte soll zugleich beispielhaft für viele sehr ähnliche Familiengeschichten stehen. Es war mein Wunsch, aus meiner persönlichen Perspektive zu zeigen, wie politische Entscheidungen und geopolitische Entwicklungen weitreichende Folgen und Auswirkungen auf einfache Familien und auch auf Kinder haben. Und dass es manchmal Generationen braucht, um diese Auswirkungen zu verstehen und zu verarbeiten. Neben all der Tragik war es mir auch wichtig, die hoffnungsvollen Momente von Begegnungen, Freundschaften und gegenseitiger Unterstützung zu erzählen; wie die Geschichte, dass eine kirgisische Familie meine Oma bei sich aufnahm. Meine Oma sprach nach diesen zwei Jahren fließend Kirgisisch, und im Dorf gab es auch Kirgisen, die fließend Plautdietsch sprachen. Ich sehe mein Buch auch als eine hoffnungsvolle Geschichte der menschlichen Begegnung.  

     

    Auf der Fensterbank stehen große Gläser mit eingelegten Pflaumen. In diesem Haus im Heimatdorf meiner Kindheit lebten früher Verwandte von mir. Kompott aus unserem Garten half uns über die langen kirgisischen Winter, in denen es selten frisches Obst zu kaufen gab / Foto © Irina Unruh
    Auf der Fensterbank stehen große Gläser mit eingelegten Pflaumen. In diesem Haus im Heimatdorf meiner Kindheit lebten früher Verwandte von mir. Kompott aus unserem Garten half uns über die langen kirgisischen Winter, in denen es selten frisches Obst zu kaufen gab / Foto © Irina Unruh
    Meine Tante geht mit ihren Freundinnen nach einer Hochzeit über die Hauptstraße in Telmann nach Hause in das drei Kilometer entfernt Dorf Rotfront. Die beiden Dörfer waren eng miteinander verbunden und es gehörte zum Alltag, zu Fuß in das jeweils andere Dorf zu gehen / Foto © Irina Unruh
    Meine Tante geht mit ihren Freundinnen nach einer Hochzeit über die Hauptstraße in Telmann nach Hause in das drei Kilometer entfernt Dorf Rotfront. Die beiden Dörfer waren eng miteinander verbunden und es gehörte zum Alltag, zu Fuß in das jeweils andere Dorf zu gehen / Foto © Irina Unruh
    Auf einem ihrer Migrationswege könnte die Familie meiner Oma auch durch diese Steppe im Süden Kirgistans gekommen sein. Oma sprach wenig über ihre kindlichen Fluchterfahrungen. Sie erinnerte sich aber, dass sie über die spätsommerliche Trockenheit in Kirgistan erschrak, als sie mit ihrer Familie aus Südsibirien wegzog. Dort war alles noch grün gewesen / Foto © Irina Unruh
    Auf einem ihrer Migrationswege könnte die Familie meiner Oma auch durch diese Steppe im Süden Kirgistans gekommen sein. Oma sprach wenig über ihre kindlichen Fluchterfahrungen. Sie erinnerte sich aber, dass sie über die spätsommerliche Trockenheit in Kirgistan erschrak, als sie mit ihrer Familie aus Südsibirien wegzog. Dort war alles noch grün gewesen / Foto © Irina Unruh
    Eines der letzten typischen Holztore im Dorf meiner Kindheit. In dem Haus lebte einmal eine deutsche Familie. Das Dorf wurde 1925 von deutschen Mennoniten gegründet und „Grünfeld“ genannt. Wenige Jahre später nannten die Sowjets es um in „Telman“ – nach dem deutschen Kommunisten Ernst Thälmann. Während es in Telman heute nur noch wenige Spuren von deutschen Mennoniten gibt, lebt im Nachbardorf Rotfront noch eine kleine deutsch-mennonitische Minderheit. Auch dieses Dorf wurde 1931 umbenannt - von „Bergtal“ in „Rotfront“. Offiziell heißen die beiden Orte heute noch so. Aber viele Nachfahren sprechen weiter von Grünfeld und Bergtal im Tschüi-Tal / Foto © Irina Unruh
    Eines der letzten typischen Holztore im Dorf meiner Kindheit. In dem Haus lebte einmal eine deutsche Familie. Das Dorf wurde 1925 von deutschen Mennoniten gegründet und „Grünfeld“ genannt. Wenige Jahre später nannten die Sowjets es um in „Telman“ – nach dem deutschen Kommunisten Ernst Thälmann. Während es in Telman heute nur noch wenige Spuren von deutschen Mennoniten gibt, lebt im Nachbardorf Rotfront noch eine kleine deutsch-mennonitische Minderheit. Auch dieses Dorf wurde 1931 umbenannt – von „Bergtal“ in „Rotfront“. Offiziell heißen die beiden Orte heute noch so. Aber viele Nachfahren sprechen weiter von Grünfeld und Bergtal im Tschüi-Tal / Foto © Irina Unruh

     

    Irina Unruh: Where The Poplars Grow 
    118 Seiten
    Shiftbooks
     

    Fotografie: Irina Unruh
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 03.10.2024

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  • Bilder vom Krieg #22

    Bilder vom Krieg #22

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Daniel Rosenthal

    An der Marineakademie in Odessa bereiten sich 800 junge Menschen auf ein neues akademisches Jahr vor. Sie hoffen, nach dem Ende des Krieges und der Aufhebung der Seeblockade im Hafen oder in der Schifffahrt arbeiten können. Der 16-jährige Konstantin Lutsenko probiert schüchtern den Matrosenanzug an, den alle Studenten im Theatersaal der Universität tragen. Als er nach seinen Träumen gefragt wird, leuchten seine Augen. „Ich werde eine Ausbildung zum Skipper auf dem großen Meer machen“, sagt er. „Ich möchte die Welt sehen.“ / Foto © Daniel Rosenthal

     

    Ukrainische Soldaten erhalten eine Laser-Therapie in einem Sanatorium an einem geheimen Ort in der Provinz Charkiw. Sie absolvieren zwei Wochen lang ein spezielles Reha­bili­tat­ions­pro­gramm. Dann sollen sie ausgeruht in den Krieg zurückkehren. / Foto © Daniel Rosenthal 

     

    dekoder: Sie haben zwei Fotos von Ihren Reisen in der Ukraine ausgewählt: Das erste zeigt einen Jugendlichen beim Eintritt in die Marine­akademie in Odessa. Was sieht man auf dem zweiten?  

    Daniel Rosenthal: Das ist eine Szene aus einem Sanatorium. Die ukrainischen Soldaten können sich dort zwei Wochen lang erholen, bevor sie wieder zurück in den Einsatz müssen. Sie bekommen Lasertherapie und Atemtherapie und inhalieren Salz­lösung und Lavendel­duft. Dort traf ich den Bären. Das ist der Mann, der seine Hand ans Gesicht hält. Seinen Codenamen bekam er wegen seiner bärigen Statur. Er ist Maschinen­gewehr­schütze und hat bei Wuhledar gekämpft. Anderthalb Jahre war er fast kontinuierlich an der Front.  

    Und jetzt darf er sich 14 Tage in einem Sanatorium davon erholen? 

    Ich traf den Bären auf einer Bank im Park, als er eine Zigarette rauchte. Er sagte: „Es ist so still hier. Diese Stille!“ Die Stille und das Vogel­gezwitscher, das hat ihn fertig gemacht. Später hat er das erklärt: Es war immer still, bevor die Russen angegriffen haben. Stille bedeutete für ihn immer Gefahr. Und jetzt ist er in diesem Sanatorium, nach anderthalb Jahren hinter dem Maschinengewehr, und muss mit der Stille dort klarkommen. Er erzählte dann noch, dass seine Familie, die er andert­halb Jahre nicht gesehen hat, ihn besuchen kommt. Und man hat gemerkt, dass er sich natürlich einerseits freuen will, aber anderer­seits total am Ende ist und eigentlich gar nicht mehr kann. Dieser Kontrast zwischen dieser Statur und diesem Wesen, das total am Ende war, das fand ich sehr berührend.  

    Wie soll diesen Männern während zwei Wochen in einem Sana­torium geholfen werden?  

    Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Sanatorium atmet einerseits noch den Geist der Sowjetunion, mit Bädern und Anwendungen. Zusätzlich gibt es aber auch Gesprächs­therapie und Yoga zum Beispiel. Das war natürlich ein un­glaub­liches Bild, diesen Bären und seine Kammeraden in der Yoga­stunde zu beobachten. Sie haben sich alle Mühe gegeben, es wirkte fast komisch, wenn die Umstände nicht so tragisch wären. 

    Und nach den zwei Wochen Yoga und Therapie geht es wieder zurück an die Front? 

    Danach geht es wieder in den Einsatz, ja. Das läuft so, dass der Kommandant einer Einheit Leute auswählt, von denen er glaubt, dass die eine Auszeit nötig haben. Ob die von sich aus das Bedürfnis haben, Yoga zu machen, lässt sich schwer sagen. Die leiden alle unter einer schweren post­trauma­tischen Belastungs­störung und wissen selbst gar nicht, was sie eigentlich wollen und brauchen. Wenn man sie fragt, sagen alle, sie wollen sofort zurück zu ihren Kameraden. Das scheint eine typische Reaktion von Menschen in solchen Situationen zu sein: Sie haben ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kameraden im Stich lassen. Von einer Heilung sind die nach zwei Wochen natürlich weit entfernt. 

    Ihr zweites Bild zeigt den Anfang einer Karriere als Soldat. Was ist die Geschichte hinter diesem Foto?  

    Das stammt aus einer Reportage aus der Hafenstadt Odessa. Zu Beginn des Studien­jahres werden 800 junge Kadetten an der Marine­akademie auf­ge­nommen. Die Leiterin der Kleiderkammer gibt Uniformen an die Erst­semester aus. Viele träumen davon, die Meere zu befahren und die weite Welt zu sehen. In der Realität ist das Schwarze Meer weitgehend durch russische Kriegsschiffe blockiert. Diesen Clash zwischen Traum und Wirklichkeit fand ich inte­res­sant.  

    Sie fotografieren seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Wie gehen Sie selbst mit den belastenden Er­lebnissen um?  

    Ich halte meine Aufenthalte an der Front oder in der wirklichen Gefahren­zone relativ kurz. Erst recht, seit ich Kinder habe. Aber natürlich wirken die Ereig­nisse nach. Oft kommen die Gefühle hoch, wenn ich wieder zuhause bin und die Bilder bearbeite und um mich herum geht das normale Alltags­leben weiter. Seit ich Vater bin, kann ich die Ver­zweif­lung der ukrainischen Eltern noch einmal ganz anders nach­empfinden. Ich glaube, das muss dich wirklich fertig machen, wenn du nicht in der Lage bist, dein Kind zu beschützen. 

     

    Fotografie: Daniel Rosenthal 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 27.09.2024 

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  • Presseerklärung: dekoder „unerwünscht“ in Russland

    Presseerklärung: dekoder „unerwünscht“ in Russland

    Erklärung zur Einstufung von dekoder als sogenannte „unerwünschte Organisation“ durch die Behörden der Russischen Föderation

    Mit der Einstufung von dekoder als „unerwünschte ausländische Organisation“ haben die russischen Behörden ein weiteres Mal gezeigt, dass sie keine Informationen dulden, die von der staatlich vorgegebenen Linie abweichen. dekoder gibt deutschen Leserinnen und Lesern einen Einblick in den Diskurs der unabhängigen Journalistinnen und Journalisten aus Russland und Belarus und vernetzt Wissenschaft und Journalismus über die Grenzen hinweg. Russischsprachige Leserinnen und Leser bekommen auf dekoder.org/ru verlässliche Informationen über Deutschland, Europa und Belarus – ohne Zensur der staatsnahen russischen Medien. Berichterstattung, Hintergründe, Debatten und Vernetzung, die nicht unter der Kontrolle des Staates stehen, werden vom Regime in Moskau offensichtlich als Bedrohung wahrgenommen

    Die Liste der „unerwünschten ausländischen Organisationen“, die von der russischen Generalstaatsanwaltschaft geführt wird, umfasst mittlerweile mehr als 160 Namen, darunter renommierte Forschungs-Institutionen wie das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien oder die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Die Listung als „unerwünschte Organisation“ soll die Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten, die sich noch in Russland aufhalten, erschweren.  

    Für die Redaktion von dekoder kommt die Einstufung durch die russische Staatsanwaltschaft nicht unerwartet. Viele Redaktionen, deren Texte dekoder in Übersetzung veröffentlicht, sind inzwischen selbst als „ausländische Agenten“ oder „unerwünschte Organisationen“ eingestuft. Die meisten von ihnen arbeiten seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges auf die Ukraine im Exil. dekoder wird alles in seiner Macht Stehende tun, um Autorinnen, Autoren und Kontaktpersonen, die sich noch in Russland aufhalten, zu schützen.  

    Hintergrund 

    Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hat dekoder am 31. Mai 2024 zu einer sogenannten „unerwünschten Organisation“ erklärt. „Unerwünschten Organisationen“ ist jegliche Arbeit in Russland verboten. Darüber hinaus handeln alle russischen Staatsangehörigen, die mit einer als „unerwünscht“ eingestuften Organisation zusammenarbeiten, nach russischem Gesetz ordnungswidrig. Im Wiederholungsfall greift das Strafrecht, es drohen Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren.  

    Mit der Stigmatisierung gehen die Behörden gegen die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit vor. Das Ziel ist die Einschränkung des Pluralismus, auch in Westeuropa. Die Vermittlung von Fakten- und Hintergrundwissen zu Russland soll auch in Deutschland unterbunden werden. Russland will die unabhängige und wissenschaftlich fundierte Berichterstattung auch unterbinden, um seiner Auslandspropaganda zu mehr Wirkung zu verhelfen. 

    veröffentlicht am 3. Juni 2024 

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  • Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit

    Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit
    Die Ziege ist im Brauchtum der belarussischen Weihnacht das Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung / Illustration © Anna I.

    Werte Leserinnen und Leser!

    Die frohe Botschaft – sprachlich schön verpackt, an der man sich wärmen und aufrichten kann – wird es auch am Ende dieses Textes möglicherweise nicht geben. Für frohe Botschaften, wie sie den Kern des Weihnachtsfestes bilden, sind wir als journalistisches Medium nicht zuständig. Ebenso wenig für Wunder, wie sie zu Weihnachten ja durchaus vorkommen sollen. Wir bilden die Realität ab, so gut es eben geht. Bei dekoder tun wir dies aus Überzeugung, mit Hingabe und Leidenschaft. Unsere Hoffnung besteht darin, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, Sachverhalte besser einordnen und damit die Realität besser verstehen zu können. 

    Die Realität sieht seit geraumer Zeit über die Maßen bedrückend und verstörend aus. Nicht nur in Osteuropa natürlich. Aber es sind eben Russland und Belarus, über die wir als Medium schwerpunktmäßig berichten. Der grausame russische Krieg gegen die Ukraine, die nicht enden wollenden Repressionen in Belarus und auch in Russland, Flucht, Vertreibung, Tod, Terror, Exil – es ist düster und finster und ein Licht der Hoffnung, nach dem sich viele sehnen, scheint nicht in Sicht. Unsere Koordinaten – das, was man wohl gemeinhin Normalität nennt – auch unsere Sprache sind erschüttert, Orientierung und Halt: dringend gesucht. 

    Wir sind Profis im Umgang mit schlechten Nachrichten, aber wir sind eben auch Menschen, die das, über das wir berichten, mitnimmt. Wir alle im Team sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mit der Ukraine, mit Belarus und Russland verbunden. In solch einem Editorial darf man so etwas sagen, etwas Persönliches, Emotionales – etwas, das die fachliche und sachliche Distanz, die wir uns normalerweise zu wahren bemühen, aufhebt. 

    Wir halten auch in diesen Zeiten Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus der Ukraine, aus Belarus und aus Russland, mit unseren Partnermedien, die fliehen mussten, die sich im Exil in Georgien, in Litauen, Polen oder in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen mussten, die trotz aller Schwierigkeiten dafür kämpfen, dass ihre Medien weiterexistieren können. Es ist ein existentieller Kampf, der allen alles abfordert, der übermenschliche Kräfte braucht, um einerseits das eigene Leben neu zu organisieren, andererseits wertvolle Informationen und Beiträge zu liefern.

    Weil unsere Kolleginnen und Kollegen derart reinhauen, können wir bei dekoder Beiträge übersetzen und veröffentlichen. So können wir verstehen, was sich nicht nur in den neuen Exilgemeinden tut, sondern auch innerhalb von Belarus, Russland, auch in der Ukraine oder in den von Russland besetzten Gebieten. In Belarus arbeiten längst keine internationalen Medien mehr. Die belarussischen und russischen Exilmedien arbeiten weiterhin mit Journalisten zusammen, die sich noch im Land befinden und die tagtäglich Gefahr laufen, festgenommen zu werden und drakonische Haftstrafen zu kassieren. Wir bemühen uns, diesen Medien und Kollegen eine Plattform zu geben, damit ihre Beiträge gelesen werden und eine Realität gesehen wird, die ansonsten in den dichten Nebel der Ahnungslosigkeit entrückt. Wenn das geschieht, wenn die Realität nicht mehr gesehen werden kann, dann ist es wohl ganz vorbei mit der Hoffnung. 

    Bleibt wach und stark! 
    Euch allen ein Fest, das Kräfte schafft und Hoffnung stärkt.

    Euer Ingo
    Belarus-Redakteur bei dekoder

    PS: Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, für die immerwährende Unterstützung. Wenn ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht: dekoder kann man auch verschenken.

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    S Kaljadami!

    Weihnachten ohne Grenzen

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  • Bilder vom Krieg #16

    Bilder vom Krieg #16

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Yana Kononova

    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova
    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova

    dekoder: Guten Morgen, Yana, wie geht es Ihnen? Die russische Armee hat In der Nacht wieder Raketen auf Kyjiw geschossen. In den Nachrichten hieß es, dass 50 Menschen verletzt wurden.

    Yana Kononova: Gegen drei Uhr hat mich der Alarm geweckt, aber da waren die Raketen bereits abgefangen. Die Vorwarnzeiten wurden in letzter Zeit immer kürzer. Ich lebe in einer Kleinstadt etwas außerhalb von Kyjiw. Hier steht ein großes Wärmekraftwerk, das wurde 2022 beschossen, aber nicht getroffen. Das Kraftwerk produziert etwa 60 Prozent der Energie für die Region, deshalb rechnen wir jederzeit mit einem neuen Angriff. 

    Zerstörte Industrieanlagen sind auch ein häufiges Motiv in Ihren Arbeiten als Fotografin. Was interessiert Sie daran?

    Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Ansatz ist dokumentarisch-nüchtern. Gleichzeitig möchte ich zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Als ich im Frühjahr 2022 zum ersten Mal Schauplätze des Krieges besuchte, sah ich am Flughafen Hostomel zerstörte Treibstofftanks, die unter der Einwirkungen von Bomben und Hitze zerquetscht und verdreht wurden. Dieser Anblick hat mich erschüttert, und mir schien, dass diese physischen Überreste einen Eindruck geben von den psychischen Traumata, die der Krieg hinterlässt, die aber für das Auge unsichtbar bleiben. 

    Was ist die Geschichte der Bilder, die Sie für unsere Rubrik ausgewählt haben?

    Diese Bilder sind in der Nähe Ochtyrka entstanden, einer Kleinstadt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Um Ochtyrka wurde nach dem 24. Februar 2022 etwa einen Monat lang heftig gekämpft. In der Nähe wird Erdöl gefördert und es gibt ein großes Elektrizitätswerk, das mit Masut betrieben wird. Am 3. März wurde das Elektrizitätswerk von zwei Bomben getroffen. Fünf Arbeiter wurden getötet. Ich hatte mich einer Gruppe internationaler Journalisten angeschlossen, weil ich damals noch keine Akkreditierung vom Verteidigungsministerium hatte, um in die Kriegsgebiete zu reisen. Als ich von dem zerstörten Kraftwerk hörte, wollte ich unbedingt dort hin. Die Journalisten protestierten, sie hatten ihre Reportagen schon fertig und wollten zurück nach Kyjiw. Aber ich überredete den Bürgermeister, dass er uns auf das Gelände lässt. Aber als er dann kam, wollte niemand außer mir sich das zerstörte Kraftwerk ansehen. Immerhin reichte die Zeit, um ein paar Bilder zu machen. Ich fand das sehr beeindruckend. Es müssen einmal sehr moderne Gebäude gewesen sein. 

    Sind die Spuren, die der Krieg an Gebäuden und Industrieanlagen hinterlässt einfach besser zu sehen als die Spuren, die er bei den Menschen hinterlässt?

    Ja, das war meine ursprüngliche Intention. Ich wollte nicht direkt menschliches Leid abbilden. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Menschen zeige. Ich habe auch Menschen fotografiert, aber ich mag diese Bilder nicht besonders. Für mich wird die Unmenschlichkeit des Krieges in diesen zerstörten Landschaften besonders sichtbar, dieser Gewaltexzess, der mit menschlichem Leben nicht vereinbar ist.

    Sie haben sich schon in früheren Arbeiten mit Landschaften beschäftigt. Hat der Krieg ihren Blick verändert?

    Das ist eine schwierige Frage. Ich würde eher sagen, dass mir noch einmal klar geworden ist, wie die Natur Landschaften prägt und wie der Mensch Landschaften prägt, das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse.

    Dieser Krieg ist nicht der erste, den Sie erleben. Als Sie ein Kind waren, musste Ihre Familie vor dem Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg fliehen. Haben Sie Erinnerungen an die Heimat ihrer Kindheit?

    Mein Vater war Ingenieur der sowjetischen U-Boot-Flotte. Er war auf einer Insel im Kaspischen Meer stationiert. Als nach der Auflösung der Sowjetunion der Krieg um Bergkarabach ausbrach, wurde er nach Odessa verlegt. Ich erinnere mich noch gut an die Insel. Dort hatten ursprünglich Anhänger des Zoroastrismus gelebt. Diese von Zarathustra begründeten Religion verehrt das Feuer. Später wurde dort Öl gefunden und der Ort war stark geprägt von der Erdölindustrie. Die Landschaft, in der wir als Kinder aufwachsen, prägt uns fürs Leben. Gut möglich, dass meine Faszination für große Industrieanlagen daher kommt.

    Fotos: Yana Kononova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 19.12.2023

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  • Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.

    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska

    dekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?

    Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.

    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Auf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen? 

    Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.

    Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

    Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Wie unterscheiden sich die Generationen?

    Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.

    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska

    Fotografie: Marysia Myanovska
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 06.12.2023

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  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Drei Jahre nach den historischen Protesten von 2020 hat sich Ernüchterung in der belarussischen Opposition und Gesellschaft breitgemacht. Alexander Lukaschenko hält sich nach wie vor an der Macht, mit Repressionen und Gewalt, zudem hat er sich in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstrickt, Hunderttausende haben das Land verlassen. 

    Zum Jahrestag des Beginns der Proteste beschäftigen sich Journalisten, Politiker und Intellektuelle in Artikeln und Beiträgen mit dem Erbe von 2020, mit den Auswirkungen und mit Fragen der Zukunft. In einer Debattenschau bringen wir eine Auswahl an Stimmen.

    Tichanowskaja/YouTube: Der Beginn eines neuen Belarus

    Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ermutigt die Belarussen, trotz Repressionen, Exil und Leid den Glauben nicht zu verlieren.

    [bilingbox]Ich verstehe: Es ist schwer. Mit jeder neuen Herausforderung wird es schwieriger, den Weg unbeirrt weiterzugehen.

    Doch die Entscheidung liegt ganz bei uns: Wir können das, was in den drei Jahren geleistet wurde, entwerten und von uns selbst und unserer Nation enttäuscht sein. Oder aber wir bewahren all diese wichtigen Momente in unserer Erinnerung und halten diejenigen in Ehren, die wir auf diesem Weg verloren haben. Und gehen weiterhin vorwärts, mit Liebe zu allen, die mit uns gehen, mit Glauben an jene, die nach uns kommen werden …

    Der 9. August 2020 ist kein einfaches Datum für die Belarussen. Ist es nicht so? Dieser Tag hätte der Beginn eines neuen Belarus sein können. Eines Belarus, in dem es niemals politische Häftlinge und Verfolgung Andersdenkender geben wird. Eines Belarus, in dem ein Gespräch auf Belarussisch ein Grund für Begeisterung ist, nicht für Gewalt. Eines Belarus, in das es die Leute zieht, anstatt dass sie es so schnell wie möglich verlassen wollen.~~~Я разумею: гэта цяжка. І з кожным новым выклікам усё складаней захоўваць цвёрдасць крокаў.

    Але гэта толькі наш выбар: абясцэніць зробленае за тры гады, расчаравацца ў сабе і ў сваёй нацыі. Ці захаваць у памяці ўсе важныя моманты, зберагчы ў сэрцы тых, каго мы страцілі на гэтым шляху. І працягнуць ісці наперад з любоўю да тых, хто ідзе побач, і з верай у тых, хто будзе пасля нас…

    9 жніўня 2020 года – ня простая дата для кожнага беларуса. Ці не так? Гэты дзень мог бы стать пачаткам новай Беларусі. Беларусі, у якой ніколі не будзе палітзняволеных і пераследу за іншадумства. Беларусі, дзе размова на роднай мове – нагода для захаплення, а не гвалту. Беларусі, куды імкнуцца патрапіць, а не адкуль спяшаюцца з’ехаць.[/bilingbox]
    erschienen am 9. August 2023, Original

    Plan B.: Die Tragödie des erzwungenen Exils

    In einem Leitartikel weist die Redaktion des Online-Mediums Plan B. auf die dramatischen Folgen der Emigration seit 2020 hin.

    [bilingbox]Alles geht weiter. Belarussen werden in Belarus weiterhin verhaftet, Belarussen werden Belarus weiterhin verlassen. In den Jahren 2021–2022 haben zwischen 143.600 und 170.900 Menschen Belarus in Richtung EU verlassen. Die minimale Zahl entspricht der Bevölkerung des Rajons Orscha, die maximale Zahl der Bevölkerung der Stadt Baranawitschy, der achtgrößten Stadt in Belarus, so steht es in einer Studie des Forschungsinstituts BEROC.

    Das Ausmaß der Tragödie für die Zukunft des Landes hat also die Größe von Baranawitschy. Und das ist noch nicht das Ende. Die Ironie liegt darin, dass dieselbe Regierung, die Belarussen verhaftet und verjagt, den Übrigen etwas vorjammert, dass die Nation der Belarussen aussterben würde und es Zeit sei, Kinder zu gebären. Aber wie soll man gebären, wenn man gleichzeitig von denselben Belarussen bekämpft wird, mit der Anklageschrift in der Hand? Ergebnis: ein Drittel Rückgang [der Geburten] in den letzten sieben Jahren. 

    Ein großer Teil derer, die in die Emigration gezwungen wurden, will ins Land zurückkehren. Niemand von ihnen hat sich diese Zukunft ausgesucht, niemand hatte geplant, sich ein neues Leben in der Emigration aufzubauen, viele leben auch nicht richtig, sondern existieren nur, haben das Leben auf Pause gestellt.~~~Все продолжается. Беларусов в Беларуси продолжают сажать, беларусы из Беларуси продолжают уезжать. За 2021-2022 годы из Беларуси в ЕС переехало от 143,6 тысячи до 170,9 тысячи человек. Нижний предел уехавших сопоставим с населением Оршанского района, а верхний — с количеством жителей города Барановичи, восьмым по величине в Беларуси, говорится в исследовании BEROC «Миграция из Беларуси в страны ЕС в 2021 и 2022 годах».

    Масштаб трагедии для будущего страны – размером с целые Барановичи. И ведь это не предел. Ирония в том, что та самая власть, сажающая и выталкивающая беларусов из страны, сетует оставшимся, что беларусы, как нация, вымирают – пора рожать. Но как рожать, когда против тебя воюют такие же беларусы только с постановлением об обвинении в руках? Итог: минус треть за семь лет.

    Вернуться в страну хотят многие из вынужденно уехавших. Никто из этих людей не выбирал себе такое будущее, никто не планировал строить жизнь в эмиграции, многие так и не живут в ней, а просто существуют, поставив жизнь на долгую паузу.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Gazeta.by: „Die Saat ist aufgegangen“

    Der Journalist Wassil Weras sieht die Proteste als Fortführung der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung, die mit der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik 1918 begonnen hat.

    [bilingbox]In der aktuellen Situation ermöglichen es die Proteste von 2020, eine Trennlinie zwischen Regime und Gesellschaft zu ziehen. Hätte es die Proteste nicht gegeben, würde Belarus heute als vollwertiger Ko-Aggressor wahrgenommen. Mehr noch, de facto als Region Russlands, mit allen sich daraus ergebenden kurz- und langfristigen Folgen. 

    Durch den belarussischen Widerstand betrachten uns nun viele getrennt von der Gruppe, die das Land regiert (bei allen möglichen Vorbehalten). Und das ist der Faktor, der perspektivisch gesehen eine Schlüsselrolle für die Zukunft unserer Heimat spielen kann. 

    Das Jahr 2020 war für Belarus eine logische Fortführung von 1918 und 1991. Die Saat ist aufgegangen. Um die Früchte zu ernten, müssen noch viele Prüfungen bestanden werden. Dieser August und alles, was nach ihm geschieht – das ist der furchtbare, äußerst schmerzhafte, aber wohl unausweichliche und wichtigste Schritt auf dem Weg in die Freiheit.~~~Протесты трехлетней давности в сложившейся ситуации позволили провести разграничительную черту: между режимом и обществом. Не было бы их, Беларусь воспринималась бы как полноценный соагрессор. Более того, как де-факто регион России. Со всеми вытекающими отсюда краткосрочными и долгосрочными последствиями.

    Но благодаря беларусскому Сопротивлению теперь нас многие рассматривают отдельно от правящей страной группировки (при всех возможных оговорках). И это тот фактор, который в перспективе способен сыграть ключевую роль при определении будущего Родины.

    2020-й для Беларуси – логическое продолжение 1918-го и 1991-го. Семена дали всходы. Чтобы собрать урожай, предстоит еще через многое пройти. Тот август и все, что происходит после него – ужасный, крайне болезненный, но, видимо, неизбежный и важнейший этап на пути к свободе.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Radio Svaboda: Es droht eine stärkere Polarisierung

    Der Politologe Waleri Karbalewitsch meint, dass die politische Ausrichtung der Opposition dazu führen wird, dass sich die belarussische Gesellschaft noch tiefer spaltet.

    [bilingbox]Niemals zuvor war das Schicksal von Belarus so stark von äußeren Ereignissen abhängig. Die Eigenständigkeit des Landes im internationalen Kontext hat seit Beginn des Krieges stark abgenommen. Die Isolation wurde auch für den unpolitischen Bürger sichtbar (die Grenze zur EU ist halb geschlossen, Flugzeuge fliegen nicht mehr dorthin, die Sportler nehmen nicht an der Olympiade teil, keine belarussische Künstler beim Eurovision Song Contest usw.). Auch die Stationierung von Atomwaffen in Belarus hat nicht zu größerem politischen Gewicht geführt – eher im Gegenteil. 

    Die Staatsmacht unternimmt massive Versuche, die Herausbildung einer neuen (nichtsowjetischen) belarussischen Identität zu verhindern, indem sie diese als nazistisch bezeichnet. Der neuen Generation, die im unabhängigen Belarus aufgewachsen und sozialisiert ist, zwingen sie die Ideologie des Westrussentums auf. Die Erklärung des Vereinigten Übergangskabinetts, den Kurs in Richtung EU einzuschlagen, bedeutet eine Vertiefung der geopolitischen Spaltung in der belarussischen Gesellschaft.~~~Ніколі раней лёс Беларусі так істотна не залежаў ад вонкавых падзей. Міжнародная суб’ектнасьць краіны з пачаткам вайны моцна зьменшылася. Яе ізаляцыя стала відавочнай для апалітычнага абывацеля (мяжа з Эўропай напаўзачыненая, самалёты туды ня лётаюць, спартоўцы ў Алімпіядзе ня ўдзельнічаюць, беларускія выканаўцы на Эўрабачаньні не сьпяваюць, і інш.). І зьяўленьне ў Беларусі ядзернай зброі не прывяло да росту палітычнай вагі краіны — хутчэй, наадварот.

    Улады робяць масіраваныя спробы спыніць фармаваньне новай (несавецкай) беларускай ідэнтычнасьці, абвяшчаючы яе нацысцкай. Новаму пакаленьню, якое вырасла і сацыялізавалася ў незалежнай Беларусі, навязваюць ідэалёгію заходнерусізму. Абвяшчэньне Аб’яднаным пераходным кабінэтам курсу на эўрапейскі выбар азначае паглыбленьне геапалітычнага расколу беларускага грамадзтва.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original 

    Zerkalo: „Enttäuschung und Angst dominieren“

    Das System Lukaschenko habe immer noch Angst vor dem Widerstand der Belarussen, der 2020 zu den Protesten führte, meint der Soziologe Gennadi Korschunow.

    [bilingbox]Die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft bleibt bestehen. Die Regierung hat nichts unternommen, um diesen Konflikt auf konstruktive Weise zu lösen. Die Machthaber setzten, setzen und werden auch weiterhin nur auf gewaltsame Methoden setzen.

    Michail Bedunkewitsch, stellvertretender Chef des GUBOPiK, sagte kürzlich in einem Interview, dass die Repressionen deshalb fortgesetzt werden, weil ansonsten der Widerstand wieder beginnt und sich die Belarussen wieder etwas ausdenken. Dieser These Bedunkewitschs stimme ich zu. Das Protestpotential ist aktuell erstickt, Enttäuschung und Angst dominieren, es fehlt eine Idee, was getan werden kann. Sobald sich aber eine Gelegenheit ergibt, wird sich die ganze Unzufriedenheit mit dem, was geschieht, entladen.~~~Противостояние государства и общества, которое было, осталось. На системном уровне власти не сделали ничего, чтобы оно разрешилось позитивным путем. Они использовали, используют и будут использовать только насильственные методы.

    Недавно было интервью с [Михаилом] Бедункевичем, заместителем руководителя ГУБОПиК, о том, что репрессии будут продолжаться потому, что если их остановить, то начнется противодействие и белорусы опять что-то задумают. С этим тезисом Бедункевича я согласен. Протестный потенциал сейчас задушен, есть разочарование, страх, отсутствует понимание того, что можно сделать, но как только будет возможность, все недовольство тем, что происходит, будет выплеснуто.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Pozirk: „Tichanowskaja reagierte 2020 zu spät“

    Der Journalist Alexander Klaskowski glaubt, dass die Proteste nicht zum Machtwechsel führten, weil die neue Opposition keinen klaren Plan hatte.

    [bilingbox]Ja, Tichanowskaja ist auf beeindruckende Weise zum Symbol des Kampfes für einen Wandel geworden. Doch weder vor dem 9. August, noch nach den Wahlen, als hunderttausende Belarussen auf die Straßen strömten, hatten die Ehefrau des inhaftierten Bloggers und ihr Team einen klaren Plan, wie man mit der politischen Energie der erwachten Massen einen Machtwechsel herbeiführen könne.

    Dieses Team hinkte auch danach mehrfach dem Lauf der Dinge hinterher und reagierte zu spät. Als beispielsweise im Oktober 2020 in Tichanowskajas Namen den Machthabern ein Ultimatum gestellt wurde, und damit ein landesweiter Streik ausgelöst werden sollte, befahl Lukaschenko, alle darin verwickelten Unternehmen „zurechtzustutzen“. Schon lange im Ausland schien Tichanowskajas Stab in der Illusion zu leben, dass die Proteste reanimiert werden könnten. 

    Hätte im August 2020 ein totaler Streik das Land lahmgelegt, hätte Lukaschenko sich vielleicht nicht halten können.~~~Да, в итоге Тихановская феноменальным образом стала символом борьбы за перемены. Но никакого внятного плана, что делать с политической энергией разбуженных масс, как направить ее на смену власти, ни перед 9 августа, ни после президентских выборов, когда сотни тысяч белорусов вывалили на улицы, у жены посаженного в тюрьму блогера и ее команды не было.

    Эта команда потом еще не раз отставала от хода событий, опаздывала. Например, когда от имени Тихановской в октябре 2020-го властям выдвинули ультиматум, попытались инспирировать общенациональную забастовку, после чего Лукашенко велел "вырезать" засветившийся в ней бизнес. Долгое время уже за рубежом штаб Тихановской жил, кажется, иллюзией, что можно реанимировать протесты.

    Вот если бы в августе 2020-го тотальная стачка парализовала страну, то Лукашенко мог бы и не удержаться.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original


    Übersetzungen: Tina Wünschmann

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  • Krieg und Propaganda entschlüsseln

    Krieg und Propaganda entschlüsseln

    Propaganda tötet – auf diese Formel kann man die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2014 bringen, die den hetzerischen Einfluss des ruandischen Radiosenders RTLM auf die Teilnahme am Völkermord in Ruanda 1994 nachgewiesen hat. Obwohl die Geschichte reich an Beispielen für die Macht der Propaganda ist, war es für Teile der liberal-demokratischen Kreise Russlands lange Zeit üblich, die Propagandasendungen im Staatsfernsehen zu belächeln: Zu absurd seien die Postulate, zu abwegig, dass sie jemand überhaupt für bare Münze nehmen könnte.

    Mit dem 24. Februar 2022 fand ein radikales Umdenken statt: Die jahrzehntelange Propaganda, so heißt es nun oft in unabhängigen russischen Medien, habe den Boden für die russische Aggression gegen die Ukraine bereitet. Propaganda sei der Treibstoff des Krieges, sie bediene Ressentiments, schüre Hass und Angst. 
     
    Nicht nur in Russland und Belarus, auch in Westeuropa gibt es laut Umfragen viele Menschen, bei denen die russische Propaganda verfängt. Warum funktioniert sie überhaupt – im 21. Jahrhundert? Wie funktioniert sie? Und was kann man ihr entgegenhalten? Solchen Fragen widmet sich dieses Dossier. 

    Inhalte

    Leitfäden der Propaganda

    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Wörterbuch des Krieges

    Fake-Satire als Propaganda

    Recht auf Zerstörung

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    Die schwindende Macht der Angst

    Russisches YouTube

    Пропаганда и война: декодирование

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Krieg im Kindergarten

    Shamans Kampf

    Alexej Gromow

    Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Z-Pop

    Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!

    LGBTQ-Verbot: „Ein gigantischer Raum für Willkür“

    Im Netz der Propaganda

    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Sergej Kirijenko

    Konstantin Ernst