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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wir schmeißen eine Party!

    Wir schmeißen eine Party!

    Kaum zu glauben, aber wahr: dekoder wird 10! 

    Zehn Jahre voller journalistischer Recherchen, Analysen, Debatten, Reportagen und wissenschaftlich fundierter Hintergründe aus und über Russland, Belarus und die Ukraine. 

    Ein Jahrzehnt, in dem wir euch die Stimmen und Perspektiven unabhängiger Medien und Expert·innen nähergebracht haben – kritisch, verständlich und immer mit dem nötigen Kontext. Das möchten wir nun gemeinsam mit euch feiern!  

    Zehn Jahre, die von Höhen und Tiefen geprägt waren und in denen sich unsere Plattform ständig weiterentwickelt hat. Auch darauf wollen wir mit euch zurückblicken – und sehen, was die Zukunft bringt.

    Hier findet ihr bald schon mehr Infos zur großen Geburtstagssause. 

    So viel aber schon vorweg: 

    Der Termin steht, die Lokation auch:
    Wir sehen uns am 9. Oktober 2025 live im Club der Polnischen Versager in Berlin

    In diesem Sinne:
    Save the Date – wir freuen uns auf euch!

  • Bilder vom Krieg #28

    Bilder vom Krieg #28

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Philippe de Poulpiquet

    Lilia fährt gemeinsam mit ihren Kumpels in den Schacht eines Kohlebergwerks in der Oblast Dnipropetrowsk ein. / Foto © Philippe de Poulpiquet 

    dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten? 

    Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben. 

    Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus? 

    Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will. 

    Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um? 

    Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.  

    Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.  

    Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung? 

    In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend. 

    Was bedeutet ihr dieser Job?  

    Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.  

    Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen. 

     

    Philippe de Poulpiqet (geb. 1972) wurde für seine Reportagen aus Konfliktgebieten wie Afghanistan, Irak, Libyen und der Ukraine mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Grand Prix des quoitidiens nationaux (2011) und der Award of Excellence bei Pictures oft the Year International (2012). Seine Bilder wurden unter anderem beim internationalen Fotojournalismus-Festival Visa pour l’Image in Perpignan ausgestellt. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf arbeitet er als Kameramann für Dokumentarfilme und hat mehrere Bücher veröffentlicht / Foto © Philippe de Poulpiquet 

     

    Foto: Philippe de Poulpiquet, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 01.07.2025 

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    Bilder vom Krieg #27

  • Appell: Ohne Pressefreiheit keine Freiheit in Osteuropa

    Appell: Ohne Pressefreiheit keine Freiheit in Osteuropa

    dekoder liefert Einblicke in innerrussische und -belarussische Diskurse und Wissen zu Russland, Belarus, verstärkt auch zur Ukraine. Das tun wir mit Hilfe der Arbeit von russischen, belarussischen und ukrainischen Medien und Journalisten, die wir übersetzen und kontextualisieren. Die Lage vieler osteuropäischer Medien war immer prekär, aber nun ist sie dramatisch. Ein Aus auf breiter Linie würde nicht nur den Informations- und Diskursraum dieser Länder betreffen. Zusammen mit den Kollegen der niederländischen Plattform RAAM richten wir uns deswegen mit einem Appell an die Öffentlichkeit. 

    English version 

    Unabhängige belarussische und russische Medien, die gezwungen sind, aus dem Exil heraus zu arbeiten, und ukrainische Medien, die einen wesentlichen Beitrag zum Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg und zur Wahrung demokratischer Freiheiten leisten, kämpfen derzeit um ihr Überleben. Viele stehen vor dem Aus.   

    Diese Medien sind grundsätzlich auf Unterstützung angewiesen. Im Exil, unter autokratischen Rahmenbedingungen oder während eines Krieges gibt es kaum Möglichkeiten, Medien auf kommerzieller Basis zu betreiben. Als unabhängige Informationsquellen sind diese Medien aber wichtiger denn je.   

    Die Politik der neuen US-Regierung schränkt die Arbeit dieser Medien zusätzlich ein. Die Entscheidung von Präsident Trump, die US Agency for Global Media und USAID zu liquidieren, bedroht nicht nur die Existenz von Radio Free Europe/Radio Liberty und deren Publikationen und Programme, sondern schwächt auch Dutzende anderer, einflussreicher unabhängiger Medien, die unter anderem von US-Organisationen unterstützt wurden.  

    Diese Medienprojekte und ihre mutigen Journalisten sind treibende Kräfte im Kampf gegen Autoritarismus und für demokratische Freiheiten – nicht nur in ihren Ländern und Regionen, sondern auch bei uns in der EU. Ohne die Berichterstattung, Analysen und Recherchen unabhängiger journalistischer Netzwerke in Russland, Belarus oder der Ukraine könnten wir kaum verstehen, was in diesen Ländern vor sich geht. Wir hätten kaum wirksame Instrumente und Kenntnisse, um der russischen Staatspropaganda und Desinformation entgegenzutreten. 

    Die Zerstörung unabhängiger Medien ist auch generell eine ernsthafte Bedrohung für den Journalismus in diesen Ländern. In Russland und Belarus, wo journalistische Berichterstattung derzeit praktisch verboten ist, sind die Exilmedien oft die einzige Möglichkeit, an journalistisch aufbereitete Informationen zu gelangen. Die Folgen der lawinenartigen US-Politik sind daher umfassend und folglich auch dramatisch.  

    Die einzigen, die von dem drohenden Aussterben vieler unabhängiger Medien profitieren werden, sind die staatlichen Organe, die ihre Propaganda sowohl im eigenen Land als auch weit darüber hinaus in immer weniger gebremster Art und Weise verbreiten können. Die Versorgung der Gesellschaften in Ost und West mit verlässlichen Informationen wird dadurch nachhaltig geschädigt.  

    Diese Zerstörung darf nicht als vollendete Tatsache hingenommen werden! 

    Auf Initiative der Tschechischen Republik und sieben weiteren europäischen Ländern wird in Brüssel die Frage geprüft, ob die EU die Finanzierung von RFE/RL übernehmen kann. Das ist eine begrüßenswerte Initiative, die aber nicht zu Lasten anderer journalistischer Einrichtungen gehen sollte, die ebenfalls von immenser Bedeutung für die sachliche und analytische Berichterstattung über und aus der Ukraine, Belarus, Russland und anderen Ländern Osteuropas sind. 

    Deshalb appellieren wir – Journalisten und Redakteure internationaler Medien, die sich speziell auf die Ukraine, Belarus, Russland, den Kaukasus und andere Regionen in Osteuropa und Zentralasien konzentrieren – an die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und die einzelnen europäischen Staaten, Mittel zur Stärkung des Journalismus in und über diese Länder zu schaffen.  

    Die Unterstützung für diese Form des Journalismus könnte in das Programm „ReArm Europe / Readiness 2030“ aufgenommen werden. Im Zeitalter der hybriden Kriegsführung geht es in der Verteidigungspolitik schließlich um mehr als nur um Waffen und Personal. Angesichts der demokratischen Ordnung, die die EU verteidigen will, ist eine zuverlässige und pluralistische Informationsversorgung auch ein strategisches Interesse Europas. Der Schutz und Erhalt der Diskurs- und Informationsräume für Belarus, Russland und die Ukraine ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie und zur Ermöglichung eines zukünftigen Friedens in Europa.  

    Mit diesem Aufruf wollen wir zur öffentlichen Diskussion und zur Bildung eines Unterstützungsnetzwerkes für die unabhängigen Medien beitragen, die in den kommenden Jahren ums Überleben kämpfen werden. Wenn gewünscht, können wir dabei auch eine beratende und koordinierende Rolle spielen.  

    Aber ohne externe Hilfe sind wir machtlos. Daher unser Appell an die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und die Führungen demokratischer europäischer Staaten: Bitte, helfen Sie den unabhängigen Medien und füllen Sie die durch die Entscheidungen der Trump-Administration entstandenen Lücken! 

     

    Presseanfragen/ Kontakt 

    Platform Raam                                       dekoder 

     

    Wer wir sind  

    Platform Raam ist ein niederländisches Non-Profit-Medienprojekt, das 2016 gegründet wurde. Raam ist eine journalistische Plattform, die öffentliche Veranstaltungen und Vorträge organisiert und eine Website betreibt, um Wissen und Analysen über Russland, die Ukraine, Belarus, Moldawien, den Kaukasus und Zentralasien bereitzustellen. Platform Raam ist Mitbegründer und Juniorpartner der Wissensallianz Russland und Osteuropa (Reka), einem Think-Tank unter der Schirmherrschaft des Instituts Clingendael.  

    dekoder ist ein deutsches Medienprojekt, das 2015 gegründet wurde. dekoder bietet Medien, Expertise und Wissen vor allem zu Russland und Belarus, verstärkt auch zur Ukraine. Das gemeinnützige Projekt bringt russischen und belarussischen Journalismus mit wissenschaftlicher Expertise von europäischen Universitäten auf einer Plattform zusammen. dekoder wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Grimme Online Award. Im Mai 2024 erklärte die russische Generalstaatsanwaltschaft dekoder als erstes deutsches Medium zur „unerwünschten Organisation“

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  • Zwischen den Fronten

    Zwischen den Fronten

    2014 versprach Wassil Werameitschyk seiner Familie, für die Verteidigung der Ukraine zu kämpfen, wenn einmal Panzer Richtung Kyjiw rollen sollten. Als 2022 tatsächlich Panzer Richtung Kyjiw rollten, löste er sein Versprechen ein. Als ausgebildeter Soldat schloss sich der Belarusse dem Widerstandskampf der Ukraine an. Dorthin war er geflohen, weil ihm in Belarus die Festnahme drohte. Während der Massenproteste 2020 war er bereits im Gefängnis gelandet.  

    Heute befindet sich Werameitschyk wieder in belarussischer Haft. Im November 2024 war er in Vietnam verhaftet und den belarussischen Behörden übergeben worden – es ist eine wilde Geschichte mit vielen Fragezeichen, die aber auch zeigt, wie belarussische Freiwillige aus jeglichem Raster herausfallen und zwischen die Fronten geraten können. 

    Seit der Festnahme setzen sich seine Frau und seine Mutter bei der ukrainischen Führung dafür ein, ihn auf die Listen zum Gefangenenaustausch zu setzen. Das belarussische Online-Portal Euroradio hat mit Werameitschyks Frau Jauhenija gesprochen und erzählt die tragische Geschichte ihres Mannes.  

    Mitte März wurde in der Ukraine der Tag des Freiwilligen begangen. Zu diesem Anlass wurde dem Kastus Kalinouski-Regiment, in dessen Reihen sich Wassil Werameitschyk an der Verteidigung der Ukraine beteiligte, die Auszeichnung Für eure und unsere Freiheit verliehen – die größte kollektive Auszeichnung der Ukraine.  

    Fast zeitgleich hielt der Abgeordnete Ihor Hrus eine Rede in der Werchowna Rada. Er wies auf die Notwendigkeit hin, belarussische Kriegsgefangene zu befreien: „Leider gibt es Jungs, die in den ukrainischen Streitkräften gekämpft haben und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befinden. Die müssen wir alle befreien“, sagte Hrus vor dem Parlament.  

    Abgesehen von Werameitschyk weiß man von zwei weiteren belarussischen Freiwilligen, die Kriegsgefangene sind – aber in Russland: Sergej Degtew (Kampfname Kleschtsch – dt. Zecke) und Jan Djurbejko (alias Trombli). Sie stehen zwar in den Austauschlisten, über ihr Schicksal ist jedoch seit mehr als zwei Jahren nichts bekannt. Seit Werameitschyk im November 2024 in Vietnam verhaftet wurde, klappert seine Frau Jauhenija die ukrainischen Instanzen ab, hat aber bisher auf alle ihre Schreiben nur maschinelle Antworten bekommen. Jetzt schöpft sie allerdings Hoffnung: 

    „Erstens signalisiert Lukaschenko seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Bereitschaft, Kontakt zu den USA aufzunehmen. So gab er dem US-amerikanischen Blogger Mario Naufal ein Interview. Offenbar sieht er in Trump ein würdigeres Gegenüber als in Joe Biden. Zweitens haben wir durch Trumps Zutun bereits die Befreiung von mehreren politischen Gefangenen in Belarus gesehen. Das bedeutet, dass Absprachen möglich sind. Natürlich sind politische Häftlinge etwas anderes als Kriegsgefangene, aber es zeigt doch, dass Lukaschenkos Regime gesprächsbereit ist.  

    Zudem tauchen in den Medien jetzt die Namen von Belarussen auf, die auf Seiten Russlands gekämpft haben und mittlerweile in ukrainischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Manche von denen haben sich sogar schon an Lukaschenko gewandt. Und wir können nun den Austausch dieser Leute gegen jene anbieten, die die Ukraine verteidigt haben. Seit Wassilis Entführung im November haben wir verschiedene Strategien verfolgt. Wir hoffen, dass sich in der Ukraine Leute finden, die uns zuhören und gesprächsbereit sind.“  

    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat
    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat

    Werameitschyk hatte auch in der Armee von Belarus gedient 

    Wir sprachen mit Wassil Werameitschyks ehemaligem Kameraden, den er gleich in den ersten Kriegstagen kennenlernte. Wassili kam damals ins Quartier nach Kyjiw, wo die freiwilligen Kämpfer zwischen ihren Einsätzen untergebracht waren. Werameitschyk hatte früher einmal als Vertragssoldat in den belarussischen Streitkräften gedient, aber vor fast zehn Jahren gekündigt und dann in die IT-Branche gewechselt. Als ehemaliger Offizier konnte Werameitschyk professionell agieren. Er war gut im Organisieren von Abläufen und kannte viele nützliche Tipps – im Unterschied zu vielen anderen, die im Februar 2022 erstmals eine Armee von innen sahen. 

    „Ein tougher, selbstsicherer Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Absolut verlässlich, ich hatte nie Zweifel an ihm. Er setzte sich für Disziplin ein, damit keine Machnowschtschina entsteht, sondern eine ordentliche Militärstruktur“, erzählt sein Kamerad. Ein anderer Kamerad von Werameitschyk, Bobr (dt. Biber) genannt, ließ sich von Wassilis Ausdauer inspirieren und erzählt folgende Erinnerung: 

    „Ein Bild ist mir geblieben: Wir saßen im Schützengraben in einem Dorf namens Losowa, es wurde geschossen. Wassili ging mal hierhin, mal dahin, kümmerte sich um die anderen, und wenn Geschosse flogen, zog er nur so ein bisschen den Kopf ein. Und dann war da noch ein ukrainischer Offizier, der gar nicht mehr reagierte. Ich war damals begeistert von ihrer Tapferkeit.“    

    „Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land“ 

    In der Ukraine weiß man, welche Rolle Freiwillige aus Belarus spielen, aber Werameitschyks Fall ist dadurch komplizierter, dass ihm die Rückkehr in die Ukraine verboten wurde. Um der ukrainischen Gesellschaft derart seltsame Umstände zu erklären, brauche es viele Worte und viel Zeit, sagt Jauhenija Werameitschyk.  

    Nach Wassils Auslieferung an Belarus kursierte im Internet das Gerücht, sein Einreiseverbot in der Ukraine gehe von jener Militäreinheit aus, in der er gedient hat. Doch der Kommandeur des Kalinouski-Regiments, Pawel Schurmei, dementiert diese Gerüchte. Werameitschyk hatte, nachdem er die Ukraine verlassen hatte, versucht, in Litauen Fuß zu fassen, doch dort hielt man ihn für eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Vielleicht wegen seiner Vergangenheit als Vertragssoldat der belarussischen Armee, die er bei seinem Antrag auf einen temporären Aufenthaltstitel nicht verheimlicht hatte.  

    Wassil Werameitschyk bei seiner Ankunft am Flughafen Minsk, nachdem er in Vietnam belarussischen Behörden übergeben worden war. / Screenshot Video ONT 

    Wegen seiner Probleme mit dem Aufenthaltsrecht in der Ukraine und Litauen reiste Werameitschyk nach Vietnam, wo er schließlich festgenommen und an Minsk ausgeliefert wurde. Seine Frau sagt dazu: „Wassili wurde entführt.“ Bis zum heutigen Tag wisse keiner, wie die Ukraine einen, der sie verteidigt hat, als unerwünscht betrachten könne. „Die Ukrainer verstehen nicht, wieso sie diese Person austauschen sollten, wo sich doch Tausende ihrer Landsleute in Kriegsgefangenschaft befinden. Wir dachten, die Kommandeure seines Regiments könnten bei der Klärung der Situation behilflich sein, wir konnten aber keinen von ihnen erreichen. Daher würden wir uns mit der Bitte um Wassilis Austausch gern an belarussische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten und an die Führung der ukrainischen Streitkräfte wenden.“ 

    Das sei wichtig, weil die Ukraine mit diesem Schritt für die gesamte belarussische Freiwilligenbewegung ein Zeichen des Respekts setzen würde.  

    „Das wäre nicht nur für die Belarussen eine wichtige Botschaft, sondern für die ganze ukrainische Gesellschaft. Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land. Doch an den Freiwilligen sieht man, dass unsere Völker einander nicht fremd sind und die Ukrainer auch in so einer schwierigen Lage auf die Unterstützung der Belarussen zählen können“, sagt Jauhenija Werameitschyk. 

    Wir sehen, dass er sich nicht unterkriegen lässt 

    Wassils Briefe an seine Frau müssen durch die Zensur – dann ist etliches darin geschwärzt, aber sie kommen immerhin an. „Wir schreiben nicht oft, doch wir schreiben uns. Wir haben natürlich keine Möglichkeit, politische Themen zu besprechen, aber an diesen Briefen sehen wir, dass er sich nicht unterkriegen lässt“, erzählt Jewgenija. 

    Wassils Angehörige hoffen, dass er durchhält, bis die Ukraine sich endlich genauso für ihn einsetzt wie er sich für sie.   

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  • Das zynische Spiel mit der Migration

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk.


    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

  • Bilder vom Krieg #27

    Bilder vom Krieg #27

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Iva Sidash 

    Zuhause: Uliana und Aliona im Garten ihres Hauses in Slatyne, Region Charkiw / Foto © Iva Sidash 

    dekoder: Im Garten ihres Hauses unweit der Front schmiegt sich die 13-jährige Uliana an ihre Mutter Aliona. Wie ist dieses Bild entstanden? 

    Iva Sidash: Ich wollte eine Geschichte über den Krieg aus der Perspektive der Zivilist:innen erzählen. Es wird viel über militärische Operationen berichtet, man sieht Panzer und Drohnen. Aber wie leben die einfachen Menschen in der unmittelbaren Nähe der Front? Über Bekannte hörte ich von Aliona, die mit ihrer Tochter in dem kleinen Ort Slatyne in der Region Charkiw lebt. Als ich sie dort zum ersten Mal besuchte, habe ich meine Kamera gar nicht ausgepackt. Ich möchte immer erst eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, bevor ich anfange zu fotografieren.  

    Abends machten wir ein Feuer im Garten, denn aufgrund der Zerstörungen gibt es im Ort keinen Strom. Wir kochten das Abendessen über dem Feuer. Dann legten wir uns ins Gras und schauten in den Nachthimmel. Es war August und wir sahen viele Sternschnuppen. Gleichzeitig hörten wir aus der Ferne Artilleriefeuer. Im Angesicht des Todes die Schönheit des Moments genießen zu können, das ist für mich eine der Eigenschaften, die den Ukrainerinnen und Ukrainern bis jetzt geholfen hat, durchzuhalten. 

     

    Das Bild strahlt ein Gefühl von Geborgenheit aus. Kann es die im Krieg geben? 

    Gleich nach Beginn des russischen Überfalls war Aliona mit ihrer Tochter zunächst nach Polen geflohen. Aber sie hielten es dort nicht lange aus. Erst zogen sie nach Kyjiw, nach einem Jahr kehrten sie nach Slatyne zurück. Der Ort ist verwüstet, die Schule ist zerstört, die Kirche ist zerstört, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die Front ist nicht weit weg. Trotzdem fühle sie sich dort freier als irgendwo sonst, sagt Aliona.  

    Sie hat dafür eine schöne Metapher gefunden: „Als Flüchtling in einem fremden Land kam ich mir vor wie eine abgeschnittene Blume. Als hätte mich jemand in eine schöne Vase gestellt, aber innerlich fühlte ich mich leer und einsam. Erst hier in meiner Heimat fühle ich wieder meine Wurzeln.“  

     

    Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die Ukrainer nicht auf einen Teil ihres Landes verzichten, damit der Krieg aufhört? 

    So etwas kann nur jemand sagen, der selbst nie seine Heimat verloren hat. Es geht ja nicht um das Territorium, es geht um die Menschen, die dort zuhause sind. Wer nicht fliehen kann, muss unter der Unterdrückung leben. Und wer flieht, ist für immer entwurzelt.  


    Iva Sidash (geb. 1995) stammt aus Lwiw im Westen der Ukraine. 2023-2024 studierte sie am International Center of Photography in New York. Ihre Bilder erschienen unter anderem im Atlantic Magazine, in der Financial Times und im Spiegel und wurden in Ausstellungen in New York, London, Paris und Berlin gezeigt. 

    Foto: Iva Sidash

     

    Fotos: Iva Sidash, aus der Serie: Seeing the Unseen, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans  
    Veröffentlicht am: 18.3.2025 

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    Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

  • Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

    Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

    Immer wieder gab es in den 1097 Tagen dieser drei Kriegsjahre Ereignisse, die einen fassungslos und sprachlos zurückließen. Deshalb zeigt dekoder – eigentlich ein Projekt der Sprache – regelmäßig Arbeiten von international renommierten Fotografinnen und Fotografen aus dem Kriegsgebiet und von anderen Orten, auf die der Krieg sich auswirkt – die Nachbarländer, das Exil. Sie können vermitteln, was sich nur schwer in Worte fassen lässt.  

    Es begann mit dem Fototagebuch aus Kyjiw, in dem Mila Teshaieva im Auftrag von dekoder dokumentierte, wie Gewalt und Zerstörung in ihren Alltag einbrachen. In unserer Serie Bilder vom Krieg nehmen Fotografinnen und Fotografen seitdem immer wieder neue Aspekte in den Fokus: Wie Bomben menschliche Körper zerstören und menschliche Seelen, wie der Beschuss Wohngebäude und Industrieanlagen vernichtet, was der tägliche Kampf mit den Soldaten macht, mit den Kindern und Familien – und auch mit den Politikern. Einige Bilder erzählen aber auch von der Selbstbehauptung einer Nation und von der Kraft der Erneuerung

    Alle Fotostrecken findet ihr hier

    Der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus zeigt vom 28. Februar bis zum 25. Mai 2025 Fotografien von Johanna-Maria Fritz unter dem Titel Zeit der Umbrüche. Eine Aufnahme der Fotografin war vor einem Jahr auch Teil unserer Serie Bilder vom Krieg. Im Interview gestand Johanna damals: „Ich habe fotografiert und dabei geweint.“ 

    Noch bis zum 2. März ist im Stadtmuseum Münster die Ausstellung Blackout des Fotografen Daniel Pilar zu sehen. Pilar berichtet seit fast 25 Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten weltweit und war auch immer wieder in der Ukraine.  

    Zum dritten Jahrestag des Kriegsbeginns haben wir einige Momentaufnahmen dieser beiden Fotograf:innen aus drei Jahren Krieg zusammengestellt. 

    Juni 2022: Ein Truppentransporter bringt ukrainische Soldaten von der Front bei Siwerskodonezk zurück zu ihrem Stützpunkt / Foto: © Johanna-Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie A Grave in the Garden 

    Juni 2023: Ein überschwemmter Vorgarten auf der Insel Korabel in der Region Cherson nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms / Foto: © Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie Die Flut 

    August 2023: Ein Wachposten hat sein Geschütz nahe der Ortschaft Malokateryniwka mit einer Decke getarnt. Von seiner Position aus hat er einen weiten Blick über den ausgetrockneten Kachowka-Stausee / Foto: © Daniel Pilar 
    Januar 2024: Der Bahnhof von Kramatorsk ist für viele ukrainische Soldaten der Ort, an dem sie sich von ihren Angehörigen verabschieden – und an dem sie sie nach der Rückkehr von der Front wieder in die Arme schließen / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: Roman, Kommandeur der 43. Artilleriebrigade der ukrainischen Armee, steht im Sandsturm, den seine Panzerhaubitze 2000 aufgewirbelt hat / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: In einer Kampfpause vertreiben sich Soldaten der 43. Artilleriebrigade die Zeit mit ihren Handys. Ihr Erdloch haben sie mit Holzpaletten und Campingmatten ausgelegt. Es dient als Schlafplatz und als Schutz vor russischen Bomben / Foto: © Daniel Pilar 

     

    Fotos: Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, Daniel Pilar
    Bildredaktion: Andy Heller

     

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  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

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  • Bilder vom Krieg #26

    Bilder vom Krieg #26

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Oksana Nevmerzhitska

    In den Treppenaufgang einer Ruine hat jemand die Parole „Die Ukraine über alles“ gesprüht. Eine Explosion hat die Wand des Hauses rechts weggerissen. Die Fotografin gab der Serie den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“ / Fotos © Oksana Nevmerzhitska 

    dekoder: Man traut sich fast nicht, das zu sagen, aber das sind schöne Bilder. Sie zeigen Krieg und Zerstörung. Gleichzeitig sind sie farbenfroh und haben fast eine friedliche Ausstrahlung: Man fühlt sich eingeladen in diese Wohnungen, der Himmel strahlt blau. Wie sind diese Aufnahmen entstanden? 

    Oksana Nevmerzhitska: Ich hatte eigentlich gar nicht geplant, vom Krieg zerstörte Gebäude zu fotografieren. Ich bin keine Kriegsfotografin und arbeite nicht dokumentarisch. Außerdem sind schon so viele Bilder von Zerstörung und Ruinen aus diesem Krieg um die Welt gegangen. Mir schien, dass zu diesem Thema bereits alles gezeigt wurde und alles gesagt ist. Aber dieses Haus hat mich auf besondere Weise berührt. Es steht etwa 60 Kilometer außerhalb von Kyjiw in Borodjanka. Dort sind in den ersten Wochen des Krieges fürchterliche Dinge geschehen. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, wurde völlig zerstört. Ich kenne das Gebäude gut, weil ich seit 20 Jahren immer wieder daran vorbeifahre, wenn ich meine Eltern besuche. Seit das Haus eine Ruine ist, lässt es mir keine Ruhe. Jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, hat sich mir innerlich alles verkrampft. An einem schönen Sommertag im August 2023 habe ich schließlich meinen Mann gebeten anzuhalten. Meine Familie hat im Auto gewartet und ich bin losgezogen und habe diese Bilder gemacht. 

     

    Die Serie trägt den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“. Was wollten Sie damit ausdrücken? 

    Es sind keine dokumentarischen Bilder, eher eine Reflexion. Mein Ziel war es nicht, dem Publikum ein weiteres zerstörtes Haus zu zeigen, sondern etwas von meinen Gefühlen auszudrücken, von der Angst und der Verunsicherung mit der wir in der Ukraine seit fast drei Jahren leben. Das internationale Publikum ist müde von den Bildern der Zerstörung. Wir alle sind müde. Man möchte sich am liebsten abwenden und das alles nicht mehr sehen. Deswegen wollte ich weg von diesen düsteren Bildern und etwas zeigen, wo man sich nicht so schnell abwenden kann. Da sind frohe Farben, ein strahlender Himmel – und erst auf den zweiten Blick erkennt man die Tragödie. Dieser Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken zwingt zum Nachdenken. 

     

    Sie sprachen davon, dass sie der Anblick dieses Hauses so aufgewühlt hat. Warum? 

    Dieses Haus ist einerseits groß und gleichzeitig wirkt es wie ein Puppenhaus. Eine Explosion hat die Außenwand weggerissen, man blickt in das Intimste, den privaten Lebensraum der Menschen. Das ist für mich die schlimmste Erfahrung in diesem Krieg: 

    Ein Haus bedeutet Schutz. Mein Zuhause war immer auch meine Festung, in die ich mich zurückziehen konnte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Innenwelt, hier kann ich nackt und verletzlich sein. Der Krieg hat diese Gewissheit zerstört. Wir mussten erleben, dass diese Festung fragil ist, und das macht Angst. Ich kann mich nirgends mehr sicher fühlen. Jederzeit kann jemand in meinen intimsten Rückzugsraum eindringen, mit schmutzigen Fingern in meinen Sachen wühlen. Das hat viele Parallelen zu der sexuellen Gewalt, die die russischen Angreifer ja auch häufig ausüben. Dieses Bild verkörpert für mich all diese Gefühle: Etwas, das mir lange unerschütterlich schien, ist plötzlich ganz zerbrechlich. 

     

    Die Möbel stehen noch immer an ihrem Platz. Es wirkt fast so, als könnten die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen…  

    Als ich das Bild aufgenommen habe, stand das Haus bereits seit anderthalb Jahren so da. Und heute, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, sieht es fast noch genauso aus. Die Stühle, die Zeitschriften im Regal. Es hat geregnet, geschneit und gestürmt. Der Krieg dauert an, aber hier wirkt es, als wäre die Zeit angehalten. So habe ich das auch in den ersten anderthalb Jahren nach Kriegsbeginn empfunden: Als wäre das Leben eingefroren, als wäre ich in einem Vakuum gefangen. Du bewältigst deinen Alltag, du lächelst, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.  

     

    Das zweite Bild zeigt das Treppenhaus eines zerstörten Gebäudes in der Nähe. Jemand hat „Ukrajina ponad use!“ an die Wand gesprüht – „Die Ukraine über alles!“ – und daneben das Kürzel der ukrainischen Streitkräfte „WSU“. Ist diese Parole in einer Ruine ironisch zu verstehen? 

    Für mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Graffito erst nach der Zerstörung des Gebäudes entstanden ist. Für mich ist diese Parole wie ein Aufschrei: Ihr werdet uns nicht brechen! Ihr könnt unsere Häuser zerstören, ihr könnt unseren Alltag zur Hölle machen. Aber unseren Selbstbehauptungswillen und unsere Identität werdet ihr uns nicht nehmen. „Die Ukraine über alles“, das heißt, es gibt etwas, das wichtiger ist als materielle Dinge. 

     

    Wie reagieren Ihre Landsleute auf diese Bilder? 

    Sie wecken auch bei Ihnen widersprüchliche Gefühle. Das war ja auch meine Absicht.  Meine Absicht war nicht, den Krieg zu ästhetisieren. Ich wollte ihn so zeigen, dass die Leute hinsehen. Dieses Nebeneinander von Schrecken und Schönem ist Teil unseres Alltags. In unseren Familien erleben wir schreckliche Tragödien, aber wir feiern auch Kindergeburtstage. Nachts fallen die Bomben, aber am nächsten Morgen um 7 habe ich Yoga. Manchmal komme ich aus dem Luftschutzkeller und gehe erstmal auf die Matte, bevor ich mich nochmal hinlege. Das ist unser täglicher Surrealismus: Heute früh um 6 mussten wir in den Luftschutzkeller, weil Raketen im Anflug waren. Ich habe die Kinder geweckt und wir sind losgelaufen. Es war dunkel, es war kalt, auf der Straße lag Schneematsch, und meine Tochter lachte und rief: „Schnee, Schnee!“. Wir laufen in den Luftschutzraum, und meine Tochter freut sich über den ersten Schnee.  

     

    Die Ruinen, die Sonne und auf der Wiese blühen Blumen. Bomben fallen und Kinder freuen sich über den ersten Schnee – das passt alles nicht zusammen. 

    Aber so sieht unsere Realität aus. Du bekommst eine Warnung: Es sind wieder Flugzeuge aufgestiegen, in 20 Minuten werden ihre Raketen in Kyjiw sein. Und während du mit der einen Hand Kaffee kochst, lädst du mit der anderen noch schnell einen Film bei Netflix runter, damit ihr euch die Zeit im Luftschutzraum vertreiben könnt, denn 20 Minuten hast du ja noch. Du hast Angst, und gleichzeitig handelst du routiniert. Zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meinen Landsleuten schätze, gehört der Humor. Wir Ukrainer lachen viel, selbst wenn wir Angst haben müssen. Es kommt vor, dass der Luftalarm versagt. Neulich wurden wir von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Es war keine Zeit mehr, sich anzuziehen, alle sind wie sie waren in den Luftschutzraum gerannt: im Nachthemd, im Schlafanzug, mit zwei unterschiedlichen Hausschuhen. Und als wir da einer nach dem anderen in diesem Aufzug eintrafen, meinte jemand, ob wir denn zu einer Pyjama-Party verabredet waren, und alle lachten. Die emotionale Belastung ist enorm, aber der Humor hilft manchmal, den Druck rauszunehmen und mental zu überleben. 

     

    Wie kann man das jemandem vermitteln, der das nicht selbst erlebt hat? 

    Das ist sehr schwer. Einerseits verstehe ich, dass die Menschen in Europa den Krieg in der Ukraine verdrängen. Das ist eine normale Reaktion. Es gibt so viele gewaltsame Konflikte auf der Welt, wir können uns nicht alles zu Herzen nehmen. Deswegen will ich den Betrachter einfangen, bevor er sich wieder abgewandt hat von so einem schrecklichen Bild. Weil er das schon kennt, weil er es nicht sehen will, weil er nichts tun will und auch nicht will, dass das an ihm nagt. Ich hoffe, dass er schon in dieses einladende Gebäude eingetreten ist, bevor er merkt, dass es hier um Krieg geht. Dass er nicht mehr weglaufen kann. 

     

    Arbeiten der Fotografin Oksana Nevmerzhytska (geb. 1984) wurden unter anderem auf Ausstellungen in Frankreich, Schweden, Israel und den USA gezeigt und bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Ihre Bilder erschienen unter anderem im renommierten British Journal of Photography. Sie lebt mir ihrer Familie in Kyjiw. 

    Foto © Oksana Nevmerzhitska

     

     

     

    Fotos: Oksana Nevmerzhitska, aus der Serie „They will no longer drink tea there“ 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 17.12.2024 

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