Anfang August trafen sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher demokratischer Organisationen zu einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um zwei Tage lang über Perspektiven für ein demokratisches Belarus zu sprechen. In einem Vortrag stellte Leonid Sudalenko von der Menschenrechts-Organisation Wjasna Zahlen über das Ausmaß politischer Repressionen seit Beginn des Wahlkampfes im Jahr 2020 vor. Als Reaktion auf die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko hatten Wellen des Protests das ganze Land erfasst. Mit großer Brutalität gelang es dem Regime schließlich, den Protest niederzuschlagen. Viele zentrale Figuren der Demokratiebewegung flohen ins Ausland. Andere verschwanden in Gefängnissen und Lagern.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in Sudalenkos Ausführungen zusammengefasst.
Den Beobachtungen von Wjasna zufolge wurden seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes mehr als 50.000 Menschen aus politischen Motiven festgenommen.
Im selben Zeitraum wurden mehr als 3.380 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.
Davon kamen fast 2.000 Menschen wieder frei, sind also jetzt ehemalige politische Häftlinge.
Von diesen 2.000 Menschen haben etwa 1.134 ihre Strafe vollständig verbüßt und wurden entlassen (der Rest befand sich in Untersuchungshaft und/oder verließ das Land ohne die Strafe zu verbüßen.)
Leonid Sudalenko berichtete weiterhin, dass die Menschenrechtsaktivisten von Wjasna zum jetzigen Zeitpunkt von mindestens 5.472 Personen wissen, die in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt wurden.
„Dabei handelt es sich sowohl um politische Häftlinge als auch um Personen, die sich bis zum Gerichtsverfahren nicht in Hafteinrichtungen befanden oder eine Strafe erhielten, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war“, sagte der Menschenrechtler.
Sudalenko nannte auch die Anzahl politischer Urteile in Strafverfahren in Belarus aufgeteilt nach Jahren:
2020: 900 Personen
2021: 1.225 Personen
2022: 1.242 Personen
2023: 1.603 Personen
„Wie man sieht, steigt die Zahl derer, die aus aus politischen Gründen verurteilt werden, in den letzten drei Jahren an“, schloss Sudalenko: „Die Repressionen lassen nicht nach, und es spricht auch nichts dafür, dass sie in nächster Zeit aufhören könnten.“
Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten haben belarussische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mindestens 125 Personen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, festgenommen. Einige wurden direkt an der Grenze abgeführt, andere wurden später verhaftet. Warum kehren die Menschen zurück, wenn der Machtapparat Lukaschenkos nach wie vor mit scharfen Repressionen gegen die eigenen Bürger vorgeht und es auch immer wieder zu regelrechten Massenverhaftungen kommt? Die Gründe sind vielfältig: Möglicherweise findet man keine Arbeit im Ausland, kann so sein Leben nicht sichern, vielleicht sind die Eltern krank, man will die eigene Wohnung verkaufen oder man muss dringende Amtsgeschäfte erledigen. Schließlich können belarussische Staatsbürger seit vergangenem Jahr keine neuen Ausweisdokumente an den Botschaften ihrer Heimat mehr beantragen.
Das Online-Portal Zerkalo hat eine Belarussin und einen Belarussen getroffen, die die Reise trotz allen Risikos gewagt haben. Aber wie plant man solch eine Reise, wie stellt man sicher, dass die Sicherheitskräfte nicht doch auf einen aufmerksam werden, wenn eigentlich vor allem ein Faktor über Gelingen oder Scheitern einer solchen Unternehmung entscheidet: die Willkür.
Die Namen der Befragten wurden zur Sicherheit anonymisiert.
Hier beschreiben sie Reiserouten und Vorsichtsmaßnahmen, die sie selbst gewählt und ergriffen haben. Wir empfehlen jedoch nicht, ihre Wege und Erfahrungen als Anleitung zu ähnlichen Reisen zu verstehen und ein Risiko einzugehen, wenn Sie davon ausgehen, in Belarus von einer Festnahme bedroht zu sein.
Schlimmstenfalls kommen die Maskierten direkt zum Notar
Seit zweieinhalb Jahren lebt Viktoria mit ihrem Mann im Ausland. 2020 nahmen sie an den Protesten teil, ein paarmal wurden sie festgenommen, aber sie hatten Glück, sagt Viktoria: „Mal war kein Platz, mal haben sie uns vergessen, wir kamen immer wieder frei.“ Doch auch mehrere Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahme ihrer technischen Geräte musste das Paar über sich ergehen lassen. Die letzte Durchsuchung war so brutal, dass sie beschlossen, lieber doch das Land zu verlassen. Später kam der Entschluss dazu, ihre Eigentumswohnung in Minsk zu verkaufen. Allerdings gibt es ein neues Gesetz, laut dem man dazu entweder persönlich anwesend sein oder jemandem eine Generalvollmacht ausstellen muss, die man jedoch auch nur in Belarus bekommt. Viktoria und ihr Mann beschlossen also, dass einer von ihnen fahren müsse und die Reise für Viktoria weniger riskant sei.
„Wir hatten uns schon gefreut, alle Verbindungen zu kappen, hatten sogar einen Käufer gefunden und wollten in Polen zum Notar gehen, um die Vollmachten aufzusetzen, da kam auf einmal dieser Erlass und machte uns einen Strich durch die Rechnung. Das soll uns alles nur das Leben erschweren. Die Regierung ist schlau, aber wir sind schlauer“, scherzt unsere Gesprächspartnerin. „Immerhin steht viel auf dem Spiel – ich rechne damit, dass sie die Ausgewanderten früher oder später überhaupt enteignen werden. Wir alle wollten nur für ein, zwei Jahre weggehen, aber dann wird einem klar, dass man sich im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat und hier alles findet, was man zum Leben braucht.
Einen Monat lang haben wir überlegt, dann fiel die Entscheidung. Wir planten jeden Schritt gründlich. Bekannte von uns sind schon seit einem halben Jahr in Polen, und jedes Mal, wenn sie nach Belarus fahren, fragt man ihnen an der Grenze Löcher in den Bauch – wieso sie schon so lange im Ausland leben und wieso sie jetzt zurückkommen würden. Daher wollte ich alle direkten Kontakte vermeiden, zumal ich ein humanitäres Visum habe.“
Im Dezember 2023 flog die Belarussin nach Hause. Über Georgien und Russland in die nächstgelegene belarussische Großstadt – sie entschied sich für Orscha. Diese Reise für ein einziges Dokument kostete sie hin und zurück insgesamt eine Woche.
„Den Flug zu buchen war ein Hindernislauf, die ersten Tickets stornierten wir wieder. Einerseits aus Vorsicht, denn wenn man ein Ticket für eine russische Fluglinie kauft, taucht man sofort im System auf. Sie sehen, dass man fliegen will. Also stornierten wir und kauften andere Tickets. Vielleicht wäre dieser Aufwand gar nicht nötig gewesen, aber wir wollten alles tun, damit die Reise möglichst ungefährlich ist. Ich nahm keine belarussische SIM-Karte mit, aber dann stellte sich heraus, dass man in Russland seine Seele verkaufen muss, um sich mit dem WLAN zu verbinden!“, lacht Viktoria.
Sie erzählt, dass auf dem Moskauer Flughafen eine Belarussin mit einem kleinen Kind so lange verhört wurde, dass sie ihren Anschlussflug verpasste. Viktoria traf sie erst auf der Heimreise wieder.
„Am meisten Misstrauen kommt von russischer Seite. Da werden die Pässe gescannt und Fragen gestellt – zehn bis fünfzehn waren es bei mir: Wohin ich fahre, zu welchem Zweck, wie es danach weitergeht, wieso ich kein Visum habe (weil ich einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Polen habe). Wobei viele dieser Fragen ziemlich seltsam waren: Wie viele Passagiere an Bord waren, welche Farbe die Flugzeugtriebwerke hatten, wie hoch die Lufttemperatur in Georgien war, wie viel Gepäck ich dabei hatte. Keine Ahnung, was sie mit all diesen Infos wollten.“
Als dieses Stück geschafft war und Russland keine weiteren Fragen mehr hatte, erwartete Viktoria eine nicht minder schwierige Etappe: Sie musste in das Land einreisen, dessen Silowiki sie im Visier hatten, und so schnell wie möglich die Dokumente holen. Sie reiste noch am selben Tag wieder aus.
„Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, der dich sicher durch Belarus bringt. Wir wurden von den Marschrutka-Fahrern gut instruiert, was wir sagen sollten, um keine Fragen zu provozieren. Ab da ging es leicht. Wir hatten im Voraus einen Notar in Orscha gebucht, einen privaten, den uns Bekannte empfohlen hatten. Der Termin war am Abend, weil man sehr schnell in den Datenbanken auftaucht und es jetzt Listen gibt. Ich wusste, wenn ich auf einer Liste stehe, kann mir mindestens die Ausstellung einer Vollmacht verweigert werden. Na, und schlimmstenfalls kommt die Maskenshow direkt zum Notar, egal, in welcher Stadt – angeblich sind die blitzschnell da. Davor haben uns die Immobilienmakler gewarnt. Aber wir haben uns abgesichert und kamen extra am Ende des Arbeitstages, damit ich am nächsten Morgen, wenn meine Daten im System auftauchen, schon außer Landes bin.“
Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich hab’ mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!
Ihre Heimatstadt Minsk besuchte Viktoria nicht. Erst im letzten Moment, bevor sie wieder über die Grenze nach Russland reiste, gab sie ihren betagten Eltern und engsten Freunden Bescheid, die nach Orscha kamen, um sie zu sehen. Sie traf ihre Nächsten zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren.
„Meine Eltern sagten später, dass sei alles so hektisch gewesen. Aber so herzlich! Wenn du deine Angehörigen umarmst und sagst: ‚Du hast dich gar nicht verändert.‘ Da muss man schon eine Träne verdrücken. Das war das Wertvollste an der ganzen Reise!“, meint Viktoria. „Aber dass ich gespürt hätte, dass ich mein Heimatland furchtbar vermisse, das kann ich nicht behaupten. Alles war grau, in Russland und Belarus fiel dichter Schnee und es stürmte, daher sah ich nicht viel von draußen, von der Stadt. Heimat, das sind für mich heute die Menschen, die mich dort umgaben. Alles, was ich dort hatte, lasse ich gern hinter mir, nur nicht die Menschen.“
Obwohl alles schnell und problemlos vonstatten ging, erzählt Viktoria von einem Ansturm verschiedenster Emotionen, darunter natürlich die Sorge, die Angst, dass etwas schiefgeht und sie den Silowiki in die Hände fällt, wie so viele Belarussen vor ihr:
„Der Gipfel der Angst ist die Grenze, wenn dir ein Uniformierter in die Augen schaut, deinen ganzen Pass abfotografiert, anfängt zu notieren, zu telefonieren, weiterzuleiten. Und als würde dir nicht sowieso schon das Herz in die Hose rutschen, führen sie auch noch vor deinen Augen jemanden zum Verhör ab. Und du denkst, das kann dir genauso passieren. Ich wurde Gott sei Dank verschont, aber die Etappe in Russland war emotional am schlimmsten. Obwohl wir auf dem Rückweg nicht einmal im Stau standen und unsere Pässe gar nicht kontrolliert wurden. Wenn wir auf irgendwelchen ‚Terroristenlisten‘ gestanden hätten, wäre ich wohl nicht so einfach durchgekommen. Vielleicht half uns auch, dass in unserem Auto lauter Frauen saßen. Na, und als ich in die EU einreiste, auch auf Umwegen, machte ich mir dann Sorgen wegen meines russischen Stempels im Pass. Wir hatten alles durchgeplant – theoretisch hätte nichts passieren dürfen, aber trotzdem stand ich unter Stress. Am Ende bin ich sogar am Schnellsten durchgekommen.“
Nach der letzten Passkontrolle auf EU-Territorium konnte sich die Belarussin wieder entspannen, sie besuchte noch Freunde und fuhr dann nach Hause nach Polen. Aber was sie da eigentlich erlebt hatte, wurde ihr erst später bewusst, räumt sie ein.
„Die Emotionen holten mich erst ein, als ich schon zwei oder drei Tage zu Hause war – ich brach körperlich zusammen, meine Psyche forderte Ruhe, ich musste das alles verarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber mittendrin war ich konzentriert, dachte kritisch, machte alles, was nötig war. Während ich unterwegs war, waren alle nervös, aber die größten Sorgen machten sich meine Eltern. Sie sagten: ‚Der liebe Gott hat dich beschützt.‘ Ich dachte: ‚Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich habe mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!‘ (Sie lacht.) Mein Mann war am ersten Tag extrem kühl. Er begrüßte mich natürlich, umarmte und küsste mich, das schon, aber er war reserviert. Als mir dann am zweiten Tag zu dämmern begann, dass alles gut ausgegangen war, dass ich wieder da war, in meinem Bett schlief und nicht Gott weiß wo, da wurde auch er emotional – er hatte sich ja auch Sorgen gemacht, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. So zeigt ein Mann seinen Stolz, dass wir Frauen so zähe Geschöpfe sind! (lacht) Wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt, dann akkumuliert man plötzlich seine ganze Kraft. Meine Tat eröffnet uns hier andere Horizonte. Es war ein nobles Risiko. Oder ein kaufmännisches, ich weiß nicht.
Ich erinnere mich, wie wir in Orscha an einer Ampel standen und neben uns ein Polizeiauto hielt – und wie ich zusammenzuckte. Überhaupt frage ich mich, wie Leute, die irgendeine Vorgeschichte haben, einfach über die belarussische Grenze fahren. Ich bin eine Woche lang mit Bussen und Marschrutkas herumgegondelt, putzte mir die Zähne bei McDonald’s, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Ja, ich war erfolgreich, aber vielleicht war es einfach Glück? Ich will diese Vorgangsweise niemandem empfehlen. Ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich diesen Trip wiederhole – das war physisch und psychisch sehr anstrengend“, sagt Viktoria.
Alle sagten, ich sei leichtsinnig … aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen
Igor kommt ebenfalls aus Minsk, im Winter 2023 waren es knapp drei Jahre, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Ende November fuhr er für zehn Tage nach Belarus – so lange dauert es, einen neuen Pass zu bekommen. „Mein Risiko war dasselbe wie für alle Belarussen – man weiß nie, was passiert. Ich war auf allen Demos, habe an Protestveranstaltungen in Hinterhöfen teilgenommen, ungefähr bis Februar“, erklärt er. „Aber ich dachte, lieber gleich fahren, weil die Repressionen später nur noch stärker werden. Die Gefahr, festgenommen zu werden, würde nur steigen. Trotzdem versuchten alle, mir das auszureden, sagten, ich sei leichtsinnig. Fand ich ja auch, aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen. Als es ein paar Wochen vor meinem Flug hieß, dass Leute bei der Zwischenlandung in Moskau auf einmal mit einem Ausreiseverbot konfrontiert wurden – manche hatten das Glück, das schon vor dem Flug zu erfahren –, da bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
Igor wollte sich ebenfalls absichern und flog über die russische Hauptstadt. Dort setzte er sich in den Zug nach Smolensk, wo ihn Freunde aus Minsk mit dem Auto abholten.
„Bei der Passkontrolle auf dem Flughafen bekamen Staatsbürger Tadschikistans und der RF nur ein paar Fragen gestellt und wurden schnell durchgelassen. Als Belarusse musste ich deutlich mehr beantworten: Wohin, wozu, warum, wo ich arbeite, wann ich das Land verlassen habe, warum ich über Moskau fliege, warum ich ein litauisches Visum habe und was ich dort gemacht habe“, erzählt Igor. „Einer meiner Bekannten sagte irgendwas Dummes, da nahmen sie ihn sofort beiseite, holten ihren Vorgesetzten und verhörten ihn regelrecht. Aber sie verzichteten darauf, sein Handy zu durchsuchen, und ließen ihn nach zehn Minuten wieder laufen. Ich hatte Angst, ich könnte, ohne es zu wissen, in irgendwelchen Datenbanken auftauchen und festgenommen werden. Aber das war der einzige Moment, in dem ich mit einer Festnahme rechnete.“
Den Pass beantragte Igor in Minsk, wo er sicherheitshalber weder an seiner Meldeadresse noch bei Verwandten übernachtete. Er war darauf gefasst, auf dem Meldeamt gefragt zu werden, warum er schon so lange im Ausland lebe, doch keiner interessierte sich für ihn, und nach sieben Tagen bekam er im Schnellverfahren seinen Pass.
„Ich hatte Freunde gebeten, mir eine neue SIM-Karte zu besorgen, und benutzte sie mit einem fremden Handy, mein eigenes ließ ich ausgeschaltet. Ich entspannte mich: Niemand fragte nach mir, niemand suchte mich. Vielleicht täuschte das Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren kann. Ich wunderte mich jedenfalls, dass ich während der ganzen Zeit fast keine Polizei auf der Straße sah, dabei hatte ich Flashbacks von 2020 befürchtet, von diesen Kleinbussen mit Uniformierten.“
Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen!
Abgesehen davon registrierte unser Gesprächspartner eine andere Stimmung bei den Leuten auf der Straße. Er habe sich gefreut, vorübergehend zurück zu sein und seine Nächsten zu sehen, erzählt er, aber er habe gespürt, dass sich seine Beziehung zu Minsk verändert hätte:
„Ich traf Freunde und Verwandte, wobei ich maximal darauf achtete, nicht aufzufallen und mich abzusichern, wo es ging. Ich aß, was ich am meisten vermisst hatte, spazierte durch die Stadt. Es war kalt, daher war ich immer ganz eingemummt in Jacke und Schal. Keine Ahnung, vielleicht war es ein Placebo-Effekt, und sie hätten mich auch so gefunden, wenn sie gewollt hätten.
Insgesamt hat mir die Reise gut getan – endlich ließ das Heimweh nach, das mich in der Emigration so geplagt hatte. Da glaubt man, zu Hause ist das Gras grüner und alles ist schöner. Aber nach dem sonnigen Georgien sah ich diese ganze Düsternis hier, die unglücklichen, freudlosen Gesichter, die nie lächeln. Die Resignation, als wüssten alle, dass sie in einem Konzentrationslager leben und keine Perspektive haben. Diese Hoffnungslosigkeit, die in der Luft hängt …
Danach ging es mir besser, ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht: dass ich weggegangen war und nicht mehr heim fuhr. Ich werde wohl die nächsten Jahre nicht mehr nach Belarus fahren. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass mir alles fremd geworden ist. Nicht mehr das, was ich früher geliebt hatte – das ist alles zerstört. Wobei, wisst ihr, zuerst sah es aus, als hätten sie alles zerstört, als wäre alles verschwunden. Aber dann rief ich ein Taxi zum Meldeamt, und der Fahrer hörte Brutto. Leise, aber dennoch. Da dachte ich: Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen! Ja, sie haben Angst, aber auch Hoffnung.”
Zurück reiste unser Gesprächspartner ebenfalls über Smolensk und Moskau. Die Grenzpolizei auf dem Flughafen stellte kaum Fragen, und die Zone der internationalen Abflüge war halbleer.
„Als ich nach Georgien zurückkam, war ich sehr erleichtert und froh, ich fühlte mich sicher, obwohl ich auch in Minsk nicht wirklich Angst gehabt hatte. Ich begriff, dass ich mich hier schon mehr zu Hause fühle als in Belarus“, berichtet er. „Ich war froh, in mein gewohntes Leben zurückzukehren. Aber ich träume davon, am Tag des großen Staus (wenn die Repressionen vorbei sind und es eine neue Regierung gibt – Anm. Zerkalo) nach Belarus zurückzugehen. Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird und Minsk wieder aufblühen kann.“
Außerdem ist Igor froh, dass seine Reise glimpflich verlaufen ist und er jetzt einen neuen Pass in Händen hält, der zehn Jahre lang gültig ist. Aber er würde niemandem empfehlen, so vorzugehen wie er, sagt er.
„Objektiv betrachtet war das belarussisches Roulette. Jetzt, wo alles gut gegangen ist, kann ich natürlich sagen: Toll, das war es wert! Mit meinem neuen Pass kann ich beruhigt weiterleben und mich sicher fühlen“, sagt er. „Aber wenn es anders ausgegangen wäre, dann wären die Konsequenzen tragisch. Rein rational war es falsch und unvernünftig, was ich gemacht habe. Und das Schlimmste ist, dass meine Freunde und Bekannten, die Verwaltungsstrafen haben und unter Beobachtung stehen, von meiner Reise inspiriert ebenfalls nach Belarus fahren wollen. Es kostet mich enorm viel Mühe, ihnen klarzumachen, dass das gefährlich ist und sie es bleiben lassen sollen. Ich mache mir große Sorgen, jemand könnte meinem Beispiel folgen und in die Falle tappen. Es kommt oft vor, dass Leute fahren und nicht wissen, dass sie in der Datenbank erfasst sind, und dann werden sie festgenommen.”
Die belarussische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erhebt immer wieder ihre Stimme, wenn es um politische Themen und die Verteidigung demokratischer Grundrechte geht. Auch deswegen musste sie ihre Heimat verlassen, wo die Machthaber nach den Protesten von 2020 bis heute mit harten Repressionen gegen jegliche Form des Andersdenkens vorgehen.
In einem längeren Interview für das belarussische Online-Medium Zerkalo spricht Alexijewitsch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, über die Frage einer Schuld der Belarussen an diesem Krieg, über die vielen politischen Gefangenen in ihrer Heimat und über die Auswirkungen der post-sowjetischen Ära auf die aktuelle Lage in Osteuropa.
Zerkalo: Was machen Sie in letzter Zeit?
Swetlana Alexijewitsch: Ich lebe in Berlin, habe Heimweh, schreibe ein Buch und reise viel. Im Grunde ist mein Leben wie immer, nur eben nicht zuhause. Belarus vermisse ich sehr. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder hinfahren kann. Das macht mich traurig.
Sie wurden in der Ukraine geboren, in Iwano-Frankiwsk. Ihre Mutter ist Ukrainerin, Ihr Vater Belarusse. Wie erleben Sie das, was derzeit passiert?
Ich fiebere mit der Ukraine, ich wünsche mir sehr, dass sie siegt. Das würde das Machtgefüge unserer gesamten Region verändern. Sonst bleiben wir weiterhin außen vor. Die Ukraine ruft in mir nichts als Begeisterung hervor. Wie sich die Ukrainer vom ersten Tag an behauptet und gezeigt haben, dass sie ihre Heimat nicht hergeben, das kann nur begeistern.
Haben Sie erwartet, dass die Ukrainer sich so verhalten?
Wissen Sie, ich habe lange genug in der Ukraine gelebt. Ich habe damit gerechnet, ja, ich wusste, dass sie die Ukraine nicht hergeben werden. Sie haben schon mehrere Maidane hinter sich. Sie sind auf ein europäisches Leben eingestellt und wollen nichts anderes mehr. Ich war dort an vielen Universitäten eingeladen, habe diese Jugend mit ihren leuchtenden Augen gesehen, die sich ein neues Land aufbauen will. Ich fürchte nur, sie sind jetzt alle tot.
Tragen die Belarussen Schuld an diesem Krieg und werden wir danach Reparationen an die Ukraine zahlen müssen?
Ob wir müssen werden, weiß ich nicht, aber ich denke, wir werden helfen. Wir sind ja Geiseln unseres Regimes. In Belarus tragen nur wenige Menschen Schuld, und wenn, dann sind es Russen, die Russland unterstützen. Ich habe hier viele Belarussen getroffen, keiner hat schlecht über die Ukraine gesprochen, niemand will kämpfen und Ukrainer töten. Ich habe zwei Cousins in der Ukraine und will mir gar nicht vorstellen, wie das möglich wäre – dass wir einander umbringen.
Das sind nicht meine Worte, aber man hört oft: Dieser Krieg ist ein Krieg der alten Männer, der alten Überzeugungen und Vorstellungen, ein Krieg von Leuten , die diese alte Weltordnung beibehalten wollen. Schade um die ukrainische Jugend, auch um die russische, die gern anders leben würde. Ich habe hier viele Menschen gesehen, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Sie könnten in den Schützengräben sitzen, aber sie wollen nicht sterben oder Ukrainer töten. Sie verstehen nicht, warum sie Menschen töten sollten, die einfach ihr Leben leben. Es ist also ein Krieg der Alten. Sie wollen die Zeit besiegen, aber das geht nicht. Also werden sie verlieren. Die Frage ist nur – wann?
Sprechen wir über die politischen Gefangenen in Belarus. Halten Sie es für angebracht, wenn es einem peinlich ist, dass sie im Gefängnis sitzen?
Ich weiß gar nicht, ob man das peinlich nennen kann. Peinlichkeit ist ein oberflächliches Gefühl, hier geht es um etwas viel Tieferes. Man begreift, dass man an ihrer Stelle sein könnte. Bei meiner Gesundheit würden mir zwei-drei Tage Gefängnis wohl reichen, aber trotzdem könnte ich an ihrer Stelle sein, bin es aber nicht. Ich bin nicht einmal im Land.
Was ist das also für ein Gefühl? Vielleicht ist es Scham oder Peinlichkeit, auch wenn die sehr an der Oberfläche liegen. Diese Gefühle gehen tiefer. Denn ich kenne Katja Andrejewa (eine Journalistin des Fernsehsenders Belsat, die zu 8 Jahren und 3 Monaten verurteilt wurde, Anm. d. Red.) und Maria Kolesnikowa, diese schöne Powerfrau, die eine Leitfigur im neuen Belarus hätte sein können. Wahrscheinlich ist es nicht Peinlichkeit, sondern Verzweiflung. So würde ich es nennen.
Ich denke ständig an Mascha Kolesnikowa, die ich sehr toll finde, an Polina Scharendo-Panasjuk, an Katja Andrejewa – so wunderbare Frauen! Ich will mir nicht vorstellen, was man ihnen dort antut, wie krank sie davon zurückkehren werden. Unsere Hilflosigkeit desillusioniert mich, dass wir nichts für sie tun können. Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich kenne viele, die im Gefängnis sitzen, sehr starke und interessante Frauen. Und auch Männer, wie Maxim Znak zum Beispiel.
Sollte der Westen Zugeständnisse machen, um die politischen Gefangenen zu befreien? Beispielsweise Belarus von Sanktionen befreien oder Lukaschenko als Präsidenten anerkennen?
Ich weiß nicht. Früher war ich überzeugt, dass man alles tun sollte, um Menschen zu retten. Ich dachte das, als Nord-Ost passierte (eine Geiselnahme in Moskau im Oktober 2002, Anm. d. Red.) und als der Tschetschenienkrieg begann. Und auch jetzt denke ich, dass es unsere oberste Priorität sein sollte, Menschen zu retten. Andererseits wird die Regierung sich kaum auf Zugeständnisse einlassen. Sie halten die Häftlinge nicht nur als Tauschware im Gefängnis, sondern auch aus Rache. Sie sehen ja, die Maschine läuft, sie bleibt nicht einfach stehen, jeden Tag gibt es neue Verhaftungen. Und vor allem so brutale.
Ich werde nie vergessen, wie eine Frau – ich glaube, es war Nikolaj Awtuchowitschs Mutter – während der Wohnungsdurchsuchung gezwungen wurde, die ganze Zeit zu knien. Vielleicht war es auch jemand anders, aber das hat sich mir eingeprägt. Letztlich hat ja nicht Lukaschenko befohlen, dass sie knien muss, das war deren Wunsch. Das bedeutet, ein Teil der Leute hasst uns, hasst uns dermaßen, dass sie eine alte Mutter vier Stunden lang knien lassen.
Das ist alles ziemlich gefährlich. Ich hatte immer Angst vor einem Bürgerkrieg. Wir balancieren ständig auf einem schmalen Grat. Je länger es dauert, desto tiefer geraten wir hinein.
Menschenrechtsaktivisten sprechen von 1500 politischen Gefangenen allein in den Untersuchungshaftanstalten und Straflagern, zudem gibt es Menschen, die ohne unser Wissen aus politischen Gründen sitzen, enorm viele haben Verhaftung, Schläge, Prozesse, Strafen, Durchsuchungen und Emigration hinter sich. Wie wird sich diese Erfahrung in unserer Bevölkerung niederschlagen?
Es ist ein schweres historisches Trauma. Eine Demütigung. Einerseits werden wir, wenn es gut ausgeht, sagen können, dass wir standgehalten haben. Andererseits geht das nicht spurlos an einer Nation vorbei.
Es hängt alles davon ab, wie sich unser weiteres Leben entwickelt. Ob wir in Belarus bleiben können, wo wir nun einmal in einer geopolitischen Lage sind, in der Russland auch ohne Lukaschenko und mit einem anderen Präsidenten immer irgendwie präsent sein wird. Es ist also sehr kompliziert. Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, dass die Bewährungsprobe für unsere Nation noch nicht zu Ende ist. Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor.
Die aktuelle Emigrationswelle aus Belarus ist nicht die erste, aber wohl die umfangreichste in der Geschichte des Landes. Haben Sie versucht, den Erfahrungen nachzuspüren, die die Menschen machen, die das Land verlassen und alles aufgegeben haben?
Ja, ich treffe mich viel mit solchen Leuten und möchte ein Buch über sie schreiben. Noch vor einem Jahr hatten diese jungen Menschen leuchtende Augen und dachten, sie würden sehr bald zurückkehren. Jetzt ist dieses Strahlen erloschen. Bei Weitem nicht alle wollen hierbleiben (ich auch nicht), sie wollen nach Hause, wissen aber nicht wie.
Gelingt es Ihnen, Kontakt mit Belarussen zu halten, die noch im Land sind? Wissen Sie, wie es denen geht?
Es gelingt mir nur wenig, da ich weiß, dass ich abgehört werde, dafür habe ich Beweise. Ich möchte niemanden gefährden. Aber wenn wir uns treffen, dann frage ich sie aus. Ich möchte in meinem neuen Buch über sie schreiben.
Und dieser Streit zwischen Emigrierten und Gebliebenen … Den finde ich ungerechtfertigt. Denn auch, wer ins Ausland geht, hat es schwer. Ich kannte 50-jährige Frauen, die am Bahnhof Lasten schleppten, um zu überleben. Später fanden sie eine andere Arbeit, aber am Anfang mussten sie da durch. Ich möchte nicht, dass die Menschen in Belarus glauben, uns gehe es hier so gut. Einerseits das Heimweh, andererseits wollen bei Weitem nicht alle bleiben. Ja, viele werden hierbleiben, das ist klar, weil sie Kinder haben, die zur Schule gehen, sie werden in einem normalen Land aufwachsen.
Polen zum Beispiel ist sehr froh über die belarussischen Immigranten. Ich war in Wrocław, dort gibt es Fabriken, die schon geschlossen waren und nun wieder produzieren können. Für die Wirtschaft ist das sehr gut. Und die Menschen haben alles, was sie zum Leben brauchen. Aber keiner von uns weiß, wann es das neue Belarus geben wird, wer dahin zurückkehren wird. Ich denke, es werden viele sein.
Wenn Sie jetzt zurückblicken, drei Jahre nach den Wahlen, würden Sie dann wieder genauso handeln – dem Koordinationsrat beitreten und Ihre Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken?
Ja, natürlich, damals ging es gar nicht anders. Das war eine solche Bewegung, solche Gesichter! Mein Gott, wie viele wunderschöne Frauen in weißen Kleidern da auf den Straßen waren. Sie schenkten den OMON-Spezialeinheiten Blumen, worauf diese ziemlich verwirrt reagierten, bis sie ihr Kommando empfingen. Es wäre seltsam, wenn ich mit Asarjonok in dieser Rückkehrerkommission säße, während Mascha Kolesnikowa im Gefängnis ist. Nein, das ist unvorstellbar.
Halten Sie es für richtig, dass der Protest friedlich geblieben ist? Oder hätten die Protestierenden doch entschlossener handeln sollen?
Diese Frage wird mir tatsächlich häufig gestellt. Ich war immer für friedlichen Protest, und nun schreibt man mir sogar Briefe, in denen man mir das vorwirft: „Sind Sie glücklich mit Ihren Luftballons und Blümchen?“ Verstehen Sie, wir haben der ganzen Welt gezeigt, dass Protest anders sein kann, dass völlig andere Menschen auf die Straße gehen können. Im Nachhinein haben wir dafür bezahlt. Aber ich reise viel, und die ganze Welt erinnert sich daran, wie schön und würdevoll alles war. Es müssen keine Reifen brennen.
Erstens waren die Menschen nicht bereit zum gewaltsamen Protest. Der Protest war, wie er war, weil seit dem letzten Krieg so viele Jahre vergangen und die Menschen an Frieden gewöhnt sind. Sofort eine Waffe oder einen Pflasterstein zu greifen, das ist nicht so leicht. Ich habe bei den Märschen niemanden gesehen, der dazu bereit gewesen wäre. Wenn die Situation irgendwie gekippt wäre, vielleicht wäre es dann möglich gewesen.
Wir hätten länger auf der Straße bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen
Diese Hofgemeinschaften, die entstanden sind, das war ein völlig anderes, friedliches und modernes Belarus. Das hat die Menschen im Westen sehr beeindruckt, weil sie eher brennende Reifen kennen. Aber sehen Sie, wenn Reifen brennen wie auf dem Maidan, dann gewinnt das Land, aber wenn die Menschen in weißen Kleidern und mit Blumen auf die Straße gehen, dann bezahlen sie hinterher dafür.
Aber ich bin Künstlerin, ich kann mich nicht über Blutvergießen freuen oder behaupten, es sei notwendig. Auch wenn russische Schriftsteller immer sagen, dass beständig sei, wofür Blut geflossen ist. Nein, das war nie meine Überzeugung und ist es auch heute nicht.
Ein anderes Thema ist, dass wir länger auf der Straße hätten bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen. An diesem einen Tag, an dem wir so viele waren wie noch nie und Lukaschenko mit dem Maschinengewehr herumlief, kehrten wir vom Marsch zurück, und da war ein alter Mann, der weinte und sagte: „Wohin geht ihr, warum geht ihr weg?“ Verstehen Sie, er sprach aus Erfahrung.
Wir dachten, dass wir nach Hause gehen, um am nächsten Tag wiederzukommen. Mascha Kolesnikowa stand ebenfalls da und wollte die Leute nicht gehen lassen, sie sagte: „Bleibt hier!“ Ich weiß nicht, vielleicht wird die Geschichte sagen, dass wir im Unrecht waren, aber das war so schön. Was danach kam, war schrecklich – die Gefängnisse und all das. Für diese Schönheit müssen wir nun die Konsequenzen tragen.
Ihr neues Buch sollte ursprünglich von der Liebe handeln, nun habe ich gehört, Sie schreiben über die Proteste?
Mein Buch Secondhand-Zeit trägt im Original den Untertitel Das Ende des roten Menschen. Wie sich nun herausstellt, war das noch nicht sein Ende. Er lebt weiter, er hatte sich nur versteckt. Also muss diese Geschichte weitergeschrieben werden, und das tue ich. Über den roten Menschen, was er verkörpert, wer seine Kinder sind, die nach dem Zerfall der UdSSR aufwuchsen. Ein sehr großes und ernstes Thema.
Ich würde gern Bücher über andere Themen schreiben, die mich interessieren, über die Liebe und das Altern. Dank der Medizin sind uns 20-30 Jahre zusätzliche Lebenszeit vergönnt. Mich interessiert, was die Menschen darüber denken, wie sie leben, wie sie diese Zeit nutzen. Aber sehen Sie, es gelingt mir nicht, die Barrikaden zu verlassen.
Nach dem Zerfall der UdSSR entstand ein furchtbarer Hybrid aus Kapitalismus und sowjetischem Fundament, es wurden Staaten gegründet, die nur vorgeben, Demokratien zu sein. Sie organisieren Wahlen und errichten eine Marktwirtschaft, aber in Wirklichkeit sind sie ganz normale Diktaturen, ohne klare Ideologie und mit dem einzigen Ziel, die Macht ihrer Führung zu sichern und auszuweiten. Welches der beiden Systeme ist in Ihren Augen schlimmer – das sowjetische oder das postsowjetische?
Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, Michail Gorbatschow zu treffen. Viel haben wir nicht gesprochen, aber er sagte wiederholt, er sei Sozialdemokrat. Ich denke auch, dass man Gorbatschows Wunsch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen – auch wenn Russland so riesig ist und die Sowjetunion so riesig und mächtig war – als moderne Sozialdemokratie bezeichnen kann. Das ist mir sehr nah. Ich glaube, Russland hätte einen anderen Weg eingeschlagen, wenn er an der Macht geblieben wäre. Er war wohl nicht die Art Mensch, die Krieg mit der Ukraine führt. Nein, er war anders, aus einer anderen Zeit.
Ich erinnere mich an seine Dialoge mit dem Dalai-Lama (dem geistigen Führer Tibets, Anm. d. Red.). Die beiden formulierten sehr schöne Träume. Es gibt ein Buch darüber, aber meines Wissens nicht auf Russisch. Es soll sehr interessant sein – zwei Menschen dieses Denkens unterhalten sich über die Zukunft. Aber sehen Sie, es ist nichts daraus geworden, alles hat eine andere Richtung genommen.
Die Menschen hatten viele Jahre im Lager gelebt, und plötzlich ließ man sie frei. Sie traten vor die Tore, kannten nichts außer dem Lagerleben. Was sollten sie also aufbauen? Wieder ein Lager. Sie erinnern sich wieder daran, dass wir Menschen des Krieges sind, dass wir entweder kämpfen oder uns auf einen Krieg vorbereiten oder uns an einen erinnern – das ist unser Zustand. Ich habe viele Jahre lang unsere Geschichte aufgeschrieben, und ich würde sagen, die Erfahrung des Krieges und der Stalinzeit, das waren die zentralen Erfahrungen des sowjetischen Menschen.
Man hätte das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern
Ich erinnere mich an eine Reise nach Russland, irgendwo in die Provinz, bei Irkutsk, glaube ich. Hinterher erzählte ich meinen Freunden in Moskau: „Ihr wisst gar nicht, was die Menschen denken, die dort leben. Alles, was wir hier über Demokratie und Freiheit reden, betrifft nur unseren kleinen Kreis. Fahrt nur ein Stückchen weiter, schon weiß keiner mehr, was Freiheit ist“. Früh am Morgen hielten wir an einem Laden, vor dem schon ein Mann stand, und er sagte zu mir: „Was für eine Freiheit? Es gibt den Wodka, den du willst, es gibt sogar Bananen. Welche Freiheit? Wovon redest du?“
Man hätte also das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern, sondern auch mit ihm über die Freiheit sprechen. Über das neue Leben. Aber niemand hatte Erfahrung damit, weder die Schriftsteller noch die Ökonomen, noch die Politiker. Also ist ein neues Lager entstanden, das noch schrecklicher ist als das davor. Das Einzige, was mir trotz allem gut gefällt, sind die jungen Leute. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen zu sprechen, die gerade das Studium beenden. Sie gefielen mir sehr. Wir haben damals vom Kosmos geträumt, von geologischen Expeditionen, wir waren Romantiker. Diese jungen Leute heute träumen konkret: Wirtschaft studieren, Manager werden, oder etwas in der Art. Sie haben so eine Selbstachtung.
Ich erinnere mich an eine Schülerin, die bei der Abschlussfeier des Gymnasiums für einen Lehrer eingetreten ist, der im Okrestina inhaftiert war. Ich weiß nicht, wo dieses mutige Mädchen jetzt ist, sie wurde ebenfalls verhaftet. Und dieser „Studenten-Fall“! Damit beschäftige ich mich gerade. Ja, sie wurden unter Druck gesetzt, manche vielleicht auch gebrochen, aber sie haben Großartiges geleistet, und die anderen jungen Leute werden sich daran erinnern.
Wissen Sie, alles was heute vor sich geht, will begriffen werden. Nicht nur Lukaschenko oder die Opposition. Man muss diese ganze Aura erfassen, die es im Land gibt, in dem um die 1000 Organisationen liquidiert wurden. Selbst ein Verein zum Schutz der Wildvögel. (Gemeint ist die Liquidation der NGO Achowa ptuschak bazkauschtschyny, Anm. d. Red.).
Können Sie sich vorstellen, was für ein Land da geschaffen werden soll? Und doch, trotz allem können sie uns nicht aus dem globalen Kontext werfen. Es gibt Computer, einen gemeinsamen Raum im Netz. Ich wiederhole deshalb: Diese Leute kämpfen gegen die Zeit, doch die Zeit ist unbesiegbar.
Das heißt, die roten Menschen werden abtreten? Wie kann man die Menschen charakterisieren, die den roten Menschen ablösen werden?
Unter diesem roten Menschen haben wir gelebt wie in einem Aquarium. Jetzt kommen Leute nach, die dem Rest der Welt gleichen. Ob es die Diktatoren wollen oder nicht, Russland und Belarus öffnen sich..
Man kann heute nicht mehr in einem abgegrenzten Ghetto leben. In der heutigen Zeit sind Ghettos nicht mehr möglich. Und wenn, dann nur für kurze Zeit. Schade natürlich, dass das Leben so kurz ist, aber was will man machen?
Wie kann man ein Land charakterisieren, in dem die Werke der einzigen Literaturnobelpreisträgerin auf Extremismus überprüft werden?
Ja, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, im Gebiet Hrodna hat man sogar Bücher von mir, von Uladsimir Arlou und Alhierd Bacharevič gesammelt, in eine Grube geworfen und angezündet. (Anm. d. Red.: Wir konnten keine Bestätigung für diese Information in öffentlich zugänglichen Ressourcen finden.) Die Phantasie unserer Sklaverei ist erstaunlich. Sergej Dowlatow antwortete einmal auf die Behauptung, Stalin sei an allem schuld: „Ja, Stalin. Aber wer hat die vier Millionen Denunziationen geschrieben?“ Etwas Ähnliches passiert auch bei uns. Ich habe mich mit der Stalinzeit beschäftigt und bin erschüttert, wie sehr sich alles wiederholt, wie das alles in den Hirnen festsitzt. Wieder Denunziationen, wieder lässt sich die Macht an Menschen aus, die anders denken. Es ist erschreckend. Es ist noch nicht 1937, aber es erinnert bereits daran. Besonders das Verhalten der Menschen in solchen kritischen Situationen.
Im Laufe des Jahres 2023 haben die belarussischen Machthaber alle oppositionellen Parteien liquidiert. Es ist Teil der Radikalisierung des politischen Systems von Alexander Lukaschenko, das sich mit der Niederschlagung der Proteste von 2020 zusehends in Richtung Totalitarismus entwickelt, manche sagen, sich sowjetischen Zuständen annähert.
Auch die Partyja BNF wurde im August verboten; die national-konservative Partei hat in Belarus Geschichte geschrieben. Hervorgegangen aus der Belarussischen Volksfront, die in der zweiten Hälfte der 1980er entstand, wurde die BNF zu einem wichtigen Akteur im Übergang von Belarus in die Unabhängigkeit, wie auch BNF-Mitgründer Yury Drakakhrust in seiner Analyse für dekoder schreibt.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo erzählt die Geschichte ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs, die auch eine Geschichte darüber ist, wie der einst demokratisch gewählte Lukaschenko in den 1990er Jahren sein autoritäres Machtsystem etablieren konnte.
Die Gründungsversammlung der Belarussischen Volksfront „Wiedergeburt“ (Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, BNF), die damals formal noch keine Partei, sondern eine Bewegung war, fand am 24. und 25. Juni 1989 in Vilnius statt, da die Minsker Behörden eine Durchführung in der Hauptstadt der BSSR nicht genehmigt hatten. Die Entstehung der BNF hatte bereits früher begonnen, begünstigt durch eine Reihe von Ereignissen.
Vier Jahre zuvor war Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen und hatte die Perestroika begonnen. Dies bedeutete unter anderem eine gewisse Liberalisierung des Lebens in der Sowjetunion und eine Politik der Glasnost mit einer größeren Medienfreiheit. Davon machte der Kunstwissenschaftler und Archäologe Sjanon Pasnjak Gebrauch: Am 3. Juni 1988 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Ingenieur Jauhen Schmyhaljou (russ. Jewgeni Schmygaljow) in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) den Artikel Kurapaty – Weg des Todes.
Der Text berichtete von den Massenerschießungen, die während der Stalin-Zeit im Wald von Kurapaty am heutigen Stadtrand von Minsk stattgefunden hatten. Alexander Feduta schreibt in seinem Buch Lukaschenko. Eine politische Biografie aphoristisch, damals [Ende der 1980er] sei Belarus aufgewacht. Geweckt hätten es Ales Adamowitsch mit der Wahrheit über Tschernobyl und Sjanon Pasnjak mit der Wahrheit über Kurapaty.
Die Veröffentlichung des Artikels erregte bald Aufmerksamkeit über die Grenzen der Republik hinaus, er wurde in zentralen sowjetischen und ausländischen Medien abgedruckt. Die Behörden kamen daher nicht umhin, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. An den archäologischen Grabungen nahm Pasnjak selbst teil. Die Ermittlungen ergaben, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden, und zwar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Die BNF konnte sich auf Vorbilder stützen, die es damals bereits in den baltischen Ländern gab. Diese „Volksfronten“ waren keine Parteien, sondern möglichst breit aufgestellte Bewegungen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, aber ähnlichen Zielen versammelten. Auch die Belarussische Volksfront begann als solche Bewegung.
So lässt sich teilweise erklären, warum in unserem Land seitdem jegliche Regierungskritiker häufig unter dem Begriff „BNFler“ zusammengefasst werden. Andere oppositionelle Bewegungen gab es damals nicht, daher unterstützte der überwiegende Teil der demokratisch eingestellten Belarussen die BNF. Einen entscheidenden Einfluss hatte auch die Propaganda im belarussischen Fernsehen und in der staatlichen Presse seit Anbruch der Lukaschenko-Ära. Erstens verteufelte diese gerade die BNF stärker als alles andere. Zweitens sollten unter den neuen Bedingungen andere politische Parteien daran gehindert werden, sich zu entwickeln und zur Regierungsmacht aufzuschließen. Dadurch wurde im Bewusstsein der Massen die BNF zur wichtigsten Oppositionsbewegung.
Kehren wir zurück in die letzten Jahre der Sowjetunion. Im Februar 1989 versammelte die BNF im Minsker Dynamo-Stadion 40.000 Menschen. Das war die erste behördlich genehmigte oppositionelle Massenveranstaltung in Belarus. Dass die Menschen, wie das Portal Tut.by schrieb, neben weiß-rot-weißen Flaggen auch Flaggen der BSSR, der UdSSR sowie russische und litauische Fahnen trugen.
Wie bereits erwähnt, hatten die belarussischen Behörden die Gründungsversammlung der BNF in Minsk verboten, und die Delegierten mussten nach Vilnius ausweichen. Erwartungsgemäß wurde Pasnjak zum Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend erhielt die Organisation den Namenszusatz Für die Perestroika, der erst zwei Jahre später abgelegt wurde. Das Programm enthielt auch Verweise auf kommunistische Grundsätze. Konkret hieß es darin, die BNF „tritt ein für den Umbau der Gesellschaft gemäß den Prinzipien von Demokratie, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit, für die Errichtung eines Rechtsstaates, für die Wiedergeburt der leninistischen Grundsätze der Politik der Völker, für die tatsächliche Souveränität von Belarus, wie in der Verfassung der BSSR verankert“.
1990 sollten die ersten alternativen Wahlen zum Obersten Sowjet stattfinden, dem Parlament der BSSR. Am 25. Februar organisierte die BNF vor dem Haus der Regierung eine riesige Wahlkundgebung. Sjarhej Nawumtschyk nennt in seinem Buch die Teilnehmerzahl von 100.000: „Zum ersten Mal sah Minsk eine solche Massenversammlung, zum ersten Mal fand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen BNF und der (Führung der) Kommunistischen Partei von Belarus [KPB – dek] statt, genauer gesagt, zwischen dem Vorsitzenden der BNF, Sjanon Pasnjak, und dem Generalsekretär des ZK [Zentralkomitee – dek] der KPB, Jefrem Sokolow. Letzterer begann seinen Auftritt begleitet von Zurufen ,Nimm deine Mütze ab! Du sprichst vor dem Volk!‘, und beendete ihn vor einer Menge, die ,Tritt ab!‘ skandierte.“ Nach der Kundgebung zogen die Menschen zum Gebäude des Staatsfernsehens und forderten Sendezeit für die BNF-Führung. Infolgedessen konnte Pasnjak im Fernsehen auftreten und die Front wurde zu einer Kraft, mit der die Machthaber immer stärker rechnen mussten.
Die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet fanden wenige Wochen später statt, am 4. März. Für die noch ganz junge Bewegung wurden sie ein Erfolg – die BNF konnte 30 Abgeordnete in das gesetzgebende Organ entsenden. Insgesamt gab es 360 Abgeordnete, sodass die Front weniger als zehn Prozent des Gremiums ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der Sitze im Ovalen Saal nahm immer noch die kommunistische Nomenklatura ein, die Reformen blockierte. Vergleicht man das Ergebnis mit den Parlamentswahlen anderer Sowjetrepubliken im selben Jahr, so schnitten die demokratischen Bewegungen dort häufig viel besser ab: In Georgien waren es etwa 70 Prozent, in Litauen 67 Prozent, in Lettland 65 Prozent und in der Ukraine 22 Prozent. Doch auch mit ihren geringen Ressourcen gelang es der BNF, Bahnbrechendes für unser Land zu erreichen.
Die Erklärung der Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahlen
Schon bald nach den Wahlen 1990 erarbeitete die Belarussische Volksfront den Gesetzesentwurf Unabhängigkeitserklärung der BSSR, der Vorrang der belarussischen Gesetzgebung vor der sowjetischen gebot, doch das Dokument fand vorerst keine Unterstützung. Das änderte sich, als im Juni 1990 Russland seine Unabhängigkeit erklärte. Damals stand Boris Jelzin, Gorbatschows stärkster Konkurrent, dem Obersten Sowjet der RSFSR vor. Um ihm das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bedeutung des Dokuments zu schmälern, beschloss man in Moskau, gleichlautende Deklarationen in allen Sowjetrepubliken zu verabschieden.
Nun machte sich die Vorarbeit der BNF bezahlt. Der damalige BNF-Abgeordnete Valentin Golubew erinnert sich: „Auf Bitte von Sjanon Pasnjak schrieb ich in einer Nacht den ersten Entwurf der Präambel (der Deklaration), wir diskutierten ihn im berühmten Raum 306 der Opposition und verteilten ihn an die Abgeordneten. Dann wurde der damalige Parlamentspräsident, Mikalaj Dsemjanzej (russ. Nikolaj Dementej) nach Moskau zu Gorbatschow bestellt. Als er zurückkam, erzählte er lebhaft: Wie gut, dass ich dieses Projekt mithatte, er [Gorbatschow – dek] sagte, in Belarus geht es wohl auch voran!“
Am 18. Juni, sechs Tage nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung der RSFSR, wurde eine parlamentarische Kommission gegründet, um einen analogen Entwurf für Belarus vorzubereiten, der schließlich bei der Sitzung am 27. Juli 1990 angenommen wurde. Ohne die Vorbereitung der BNF hätte es dieses Dokument nicht gegeben, und bei der Formulierung der finalen Fassung wurden die Einwände der Front berücksichtigt.
Im März 1991 gab die BNF auf dem Zweiten Parteitag ein neues Programm bekannt. Darin wurde nun ganz offen das wichtigste Ziel der Bewegung formuliert: durch die Umsetzung der Souveränitätserklärung die vollständige Unabhängigkeit von Belarus zu erreichen. Zudem plante die Organisation den Aufbau einer belarussischen Armee, die Einführung der belarussischen Staatsbürgerschaft und die Durchführung eines Allbelarussischen Gründungskongresses, der das zukünftige Staatssystem festlegen sollte. Ein weiteres Ziel der BNF war die Einführung des Privateigentums. Damals erschienen diese Ziele fantastisch. Doch schon im April 1991 wurde in Belarus massenhaft gestreikt. Die Arbeiter (unter den Mitgliedern der Streikkomitees waren auch Vertreter der BNF) forderten Lohnerhöhungen. Später kamen auch politische Forderungen hinzu: Rückzug der Vertreter der KPdSU aus den Betrieben, Auflösung des kommunistischen Obersten Sowjets, neue Parlamentswahlen, Nationalisierung des kommunistischen Eigentums, keine Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags, und andere.
Zu diesem Zeitpunkt verlief der Streik ergebnislos. Doch die Erinnerung daran beeinflusste vielleicht die Vorgangsweise der prokommunistischen Mehrheit im Parlament im August 1991, als zwischen den Mitgliedsstaaten der Sowjetunion ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte. Michail Gorbatschows Idee war ein neuer Staatenbund anstelle der alten UdSSR, wenngleich mit derselben Abkürzung: die Union der Souveränen Sowjetrepubliken. Der sowjetische Geheimdienst und eine Reihe hoher Parteifunktionäre verstanden den neuen Vertrag als einen Schritt Richtung Zerfall des Landes und versuchten am 19. August, einen Staatsstreich zu verüben. In Minsk gingen nur Wenige gegen das von den Putschisten proklamierte Staatskomitee für den Ausnahmezustand auf die Straße, darunter die BNF. Die Volksfront, aber auch Vertreter anderer politischer Parteien, nannten den Putsch umgehend „einen Versuch der Machtergreifung“, das Staatskomitee eine „Junta“. Die kommunistische Mehrheit im belarussischen Parlament nahm eine Wartehaltung ein. Erst am 22. August, als die Niederschlagung des Putsches in Moskau offensichtlich war, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets, eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.
In kürzester Zeit erarbeitete eine Gruppe von Abgeordneten der BNF ein Gesetzespaket und stellte es bei der Sitzung am 24. August vor. Die folgenden Tage wurden zum Triumph für die Front und für Sjanon Pasnjak persönlich. Ihr Nachdruck und eine wohlgewählte Taktik (zum Beispiel jagten sie den letzten Vorsitzenden der KP der BSSR, den allmächtigen Anatoli Malofejew, von der Tribüne, ein Schock für die Nomenklatura) trugen Früchte. Am 25. August erlangte die ein Jahr zuvor beschlossene Souveränität der BSSR den Status eines Verfassungsgesetzes, und Belarus wurde de jure unabhängig.
In den 20 Tagen bis zur nächsten Sitzung erarbeitete die BNF-Fraktion noch 31 weitere Gesetzesentwürfe, unter anderem zur Staatsbürgerschaft, zum Aufbau einer Armee, zu Grenzschutz, Zoll, Militärgerichtsbarkeit, zur Anerkennung von privatem Grundbesitz und zur Aufhebung des Unionsvertrags von 1922. Alle diese Punkte (mit Ausnahme des privaten Grundbesitzes) konnten später umgesetzt werden. In dieser Septembersitzung wurden auch das Wappen Pahonja und die weiß-rot-weiße Flagge zu den offiziellen Staatssymbolen. Der Demokrat Stanislau Schuschkewitsch wurde zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Dezember 1991 unterzeichnete er die Belowesher Verträge, die das Ende der UdSSR besiegelten und nach deren Ratifizierung Belarus auch de facto unabhängig war.
Das verweigerte Referendum und die ersten Präsidentschaftswahlen
Die BNF hatte ihr wichtigstes Ziel, das sie kaum ein Jahr zuvor formuliert hatte, erreicht: Belarus war ein unabhängiger Staat geworden. Doch in diese neue Epoche trat das Land mit der alten Nomenklatura im Obersten Sowjet, die keine politischen und wirtschaftlichen Reformen wollte. In Fragen der Bildung und Kultur mischte sie sich weniger ein, weshalb in diesen Bereichen die größten Erfolge verzeichnet werden konnten. In der BNF hatte man die berechtigte Vermutung, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht dem tatsächlichen politischen Meinungsbild und den Wählersympathien entsprach. Letztlich war es noch zu Sowjetzeiten gewählt worden, unter maßgeblichem Druck des kommunistischen Systems. Daher initiierte die Front unter der Führung von Pasnjak ein Referendum über vorgezogene Wahlen zum Obersten Sowjet. Um diese Initiative durchzubringen, mussten mindestens 350.000 Unterschriften gesammelt werden. Die BNF übertraf diese Vorgabe und reichte im April 1992 sogar 442.000 Unterschriften im Zentralen Wahlkomitee ein, von denen die Mehrzahl als gültig anerkannt wurde.
Dem Gesetz nach war das Parlament nun verpflichtet, ein Datum für das Referendum festzusetzen. Die Belarussen sollten gefragt werden, ob sie einer vorzeitigen Auflösung des aktuellen Parlaments und Parlamentswahlen nach neuem Gesetz zustimmen. Vorgezogene Wahlen hätten 1992 die Chance eröffnet, die Geschichte zu verändern, Reformen und einen demokratischen Wandel einzuleiten. Doch vermutlich fürchtete die Mehrheit der Abgeordneten, im Fall einer Neuwahl ihr Mandat und damit viele Privilegien zu verlieren, die den Volksvertretern zustanden. Daher widersetzten sich die Parlamentarier dem Gesetz und führten kein Referendum durch. Rückwirkend betrachtet ist dieses verweigerte Referendum einer der Points of no Return: Ab diesem Moment fuhr die Lokomotive der belarussischen Geschichte in Richtung Präsidialsystem, und dann weiter bis zu Lukaschenkos Diktatur. Die Verweigerung des Referendums war ein Rückschlag für die BNF. Doch sie trug keine Schuld daran – es waren ihre politischen Gegner, die gesetzeswidrig gehandelt hatten. Im Folgejahr 1993 registrierte die BNF endlich eine Partei unter gleichem Namen. Ihr Vorsitzender – und auch der Vorsitzende der Bewegung Belarussische Volksfront „Wiedergeburt“ – blieb Sjanon Pasnjak.
Allmählich trat in Politik und Gesellschaft eine neue Frage in den Fokus: Welches System soll die Republik in Zukunft haben – ein parlamentarisches oder ein präsidiales? Die Ausarbeitung der belarussischen Verfassung dauerte bereits seit Sommer 1990 an. Die Opposition um die BNF sprach sich für die erste Variante aus. „Die Front begründete ihre Position damit, dass sich ein Präsidialsystem unter den Bedingungen fehlender demokratischer Traditionen, eines kaum entwickelten Parteiensystems und eines der Exekutive unterstellten Parlaments durch die Machtkonzentration unausweichlich zu einer Diktatur entwickeln würde“, schreibt Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Vierundneunzig [Dsewjanosta tschazwerty].
Die parlamentarische Mehrheit, die auf der Seite der Regierung stand, unterstützte das präsidiale System und sah an der Staatsspitze den damaligen Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, einen ehemaligen Kommunisten und sogenannten „roten Direktor“. Die Verfassung wurde eigentlich ihm auf den Leib geschrieben, und er konnte letztendlich – wiederum gesetzeswidrig – die ihm passende Version durchdrücken. Nachdem er die Einführung des Präsidentenamts nicht hatte verhindern können, sah sich Pasnjak gezwungen, selbst um diesen Posten zu kämpfen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen standen sechs Namen auf den Wahlzetteln, doch reale Chancen auf einen Sieg hatten nur vier Personen: Kebitsch, Schuschkewitsch, Lukaschenko und Pasnjak.
Die beiden Ersteren wurden im Volk als Vertreter der Regierung wahrgenommen. Mit ihnen verband man die Folgen der Wirtschaftskrise und den rapiden Niedergang des Lebensstandards in den letzten Jahren. Lukaschenko und Pasnjak hatten keine Funktionen inne und konnten deshalb die Staatsmacht kritisieren. Doch die Ideen der nationalen Wiedergeburt und der Marktwirtschaft, für die der Vorsitzende der BNF eintrat, fanden bei den Wählern keine Zustimmung. Lukaschenko dagegen appellierte an das sowjetische Erbe, was in der Bevölkerung Unterstützung fand. Dem offiziellen Endergebnis des ersten Wahlgangs zufolge hatte Lukaschenko etwa 45 Prozent erreicht und ging damit gemeinsam mit Kebitsch (17,3 Prozent) in die zweite Runde, die er dann auch gewann. Den dritten Platz holte Pasnjak ein, für den 12,8 Prozent der Wähler gestimmt hatten, mehr als 757.000 Menschen.
Der Hungerstreik, der „Minsker Frühling“ und Pasnjaks Emigration
Die Präsidentschaftswahlen – die einzigen in der Geschichte des Landes, an deren Ergebnis kein ernsthafter Zweifel besteht – hatten die Popularität der BNF in einem maßgeblichen Teil der belarussischen Bevölkerung gezeigt. Von einer Mehrheit konnte man zwar noch nicht reden, in jedem anderen demokratischen Land hätte eine solche Partei jedoch eine wichtige Fraktion im Parlament gebildet und damit Chancen gehabt, den Kurs der Regierung zu beeinflussen und die eigene Wählerschaft auszubauen.
Alexander Lukaschenko begann jedoch gleich nach der Wahl, sein persönliches Machtsystem zu implementieren, wie zum Beispiel eine Geschichte um den BNF-Abgeordneten Sergej Antontschik zeigte. Im Dezember 1994 präsentierte dieser vor dem Parlament einen Bericht über Korruption in Lukaschenkos Umfeld. Ein Jahr zuvor hatte der zukünftige Präsident dieses Thema von derselben Tribüne aus auf die Agenda gebracht. Lukaschenkos Vortrag war in der Presse abgedruckt und im Radio ausgestrahlt worden, er wurde sein Sprungbrett zur Macht. Antontschiks Rede aber wurde nicht im Radio gesendet und auch die Veröffentlichung in der Zeitung wurde verboten. Die führenden Tageszeitungen des Landes, darunter Sowjetskaja Belorussija (SB) und Narodnaja Gaseta(NG), erschienen zum Ausdruck des Protests mit weißen Flächen auf der Titelseite. Daraufhin setzte Lukaschenko den Chefredakteur der SB, Igor Ossinski, ab (später den Chef der NG, Iossif Sereditsch) und begann damit, die Presse unter Druck zu setzen. Am Ende hatte Antontschiks Rede keinerlei Folgen für Lukaschenko. Die wichtigsten Informationskanäle der Bevölkerung waren blockiert worden.
Dass es diese Rede überhaupt gab, zeigt deutlich, dass die BNF zu diesem Zeitpunkt Lukaschenkos wichtigste Gegnerin war. Das war dem Politiker auch bewusst, und er wollte sich offenbar rächen. In der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge der BNF der Status der belarussischen Sprache als einzige Amtssprache (der noch 1990 vom kommunistischen Obersten Sowjet beschlossen worden war) und die Einführung der historischen Staatssymbole, des historischen Wappens Pahonja und der weiß-rot-weißen Flagge (diese Änderung wurde 1991 erreicht). Daher setzte Lukaschenko ein Referendum an, in dem die Bevölkerung über eine Änderung der Staatssymbolik und die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen sollte. Das Gesetz über Volksbefragungen von 1991 verbot es, Fragen zu stellen, „die das unverbrüchliche Recht des belarussischen Volkes auf eine souveräne nationale Staatlichkeit und die staatliche Garantie der belarussischen nationalen Kultur und Sprache beeinträchtigen“, daher war dieses Referendum gesetzeswidrig. Doch das kümmerte Lukaschenko nicht.
Die parlamentarische Abstimmung über die Aufnahme der einzelnen Fragen ins Referendum war für den 11. April 1995 angesetzt. Die Opposition trat zum Zeichen des Protests gegen den Verfassungsbruch in den Hungerstreik, an dem insgesamt 19 Abgeordnete der BNF, angeführt von Sjanon Pasnjak, und der Belarussischen sozialdemokratischen Partei Hramada unter Führung von Aleh Trussau teilnahmen. Trussau hatte 1988 auch dem Gründungskomitee der Front angehört.
„Jahre später sprachen wir über diese Situation mit den anderen Abgeordneten der BNF-Fraktion und kamen überein, dass wir alle bereit waren zu sterben“, erinnert sich Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Fünfundneunzig [Dsewjanosta pjaty]. „Wenn ein Mensch bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn er sein Lebensende vor Augen hat, dann merkt man ihm das wohl an. Jedenfalls fällt es mir schwer, das, was danach geschah, irgendwie rational zu erklären. Wir saßen den anderen Abgeordneten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir schauten ihnen in die Augen und sie uns.“ Die schockierten Abgeordneten, die bis vor Kurzem Lukaschenko noch uneingeschränkt unterstützt hatten, stimmten nun ganz anders ab, als der Präsident es erwartet hatte. Sie akzeptierten lediglich die Frage über eine Integration mit Russland im Referendum .
Die 19 Abgeordneten blieben auch nach Sitzungsende im Parlamentsgebäude. Nachts kamen der OMON und der Sicherheitsdienst des Präsidenten in den Sitzungssaal, einige hundert Mann. Sie trieben die Hungerstreikenden gewaltsam aus dem Gebäude. Die Abgeordneten wurden brutal geschlagen und dann auf dem heutigen Prospekt der Unabhängigkeit aus den Polizeiwagen geworfen. Noch in der Nacht dokumentierten die Abgeordneten die Misshandlungen und zeigten sie bei der Staatsanwaltschaft an. Das Eindringen von Geheimdiensttruppen ins Parlament hätte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten gereicht, doch die vom brutalen Vorgehen der Silowiki eingeschüchterten Abgeordneten verurteilten den Angriff auf ihre Kollegen nicht einmal, sondern beschlossen nun, alle von Lukaschenko eingebrachten Fragen zum Referendum zuzulassen.
Am 14. Mai 1995 fand nicht nur das Referendum statt, sondern auch der erste Wahlgang für das neue Parlament. Es gibt Gründe, die Ergebnisse dieser Wahl als gefälscht zu bezeichnen. Aus Auftritten der Oppositionskandidaten im Fernsehen sowie aus Flugblättern waren Kritik am Referendum und der Regierung gestrichen worden. Doch vor allem passierte etwas höchst Erstaunliches. Alexander Feduta schreibt im bereits erwähnten Buch: „Die Beteiligung am Referendum entsprach wundersamerweise der Nichtbeteiligung an der Parlamentswahl, obwohl dieselben Menschen wahlberechtigt waren. In 141 von 260 Wahlbezirken konnte aufgrund zu niedriger Wahlbeteiligung (weniger als 50 Prozent) kein Abgeordneter gewinnen, gleichzeitig war die Beteiligung am Referendum aber ausreichend für dessen Gültigkeit.“ Damals sah das Wahlrecht vor, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis ihre Stimme abgeben mussten, damit das Ergebnis gültig war. In vielen Fällen fehlten den Oppositionskandidaten nur wenige Dutzend Stimmen. Ein Abgeordneter der BNF, Valentin Golubew, erreichte zum Beispiel 58 Prozent der Stimmen, doch die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis betrug angeblich nur 49,9 Prozent (und das war kein Einzelfall).
Im Ergebnis wurde kein einziger Abgeordneter der Volksfront in das neue Parlament gewählt. Die neuen Parlamentarier waren zur Kooperation mit Lukaschenko bereit. Dieser setzte nun, ohne Widerstand aus den Eliten zu begegnen, auf die Integration mit Russland. Der russische Präsident Boris Jelzin war krank, und die Chance, die Herrschaft im Kreml zu übernehmen, sah für Lukaschenko greifbar nahe aus.
Die Gerüchte über die Unterzeichnung eines Unionsvertrags und den drohenden Verlust der Unabhängigkeit brachten tausende junge Menschen auf die Straßen, die früher nicht an politischen Aktionen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kundgebungen im Jahr 1996 ging als „Minsker Frühling“ in die Geschichte ein. Organisiert wurden sie von der BNF. Bei der Demonstration gegen die Unterzeichnung des Unionsvertrags zwischen Belarus und Russland gingen am 24. März zwischen 15.000 und 30.000 Menschen auf die Straße. Die Nachricht über die Proteste ging weltweit durch die Medien. Am 26. März teilte Boris Jelzins Sprecher Sergej Medwedew mit, es gehe nicht darum, „einen neuen Staat zu schaffen“, was dann der am 2. April in Moskau unterzeichnete „Vertrag über die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Belarus und Russland“ abbildete. Am selben Tag fand in Minsk eine neuerliche Aktion mit etwa 30.000 Teilnehmenden statt, diesmal ohne Auflösung und Festnahmen. Am 26. April nahmen bereits etwa 50.000 Menschen am Tschernobyl-Gedenkmarsch teil, der brutal aufgelöst wurde.
2011 schrieb der Journalist Andrej Dynko rückblickend in Nasha Niva: „Den Demonstranten in Minsk war es gelungen, die Unionsverträge mit Russland zu stoppen und die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr eines Anschlusses aufmerksam zu machen. Es war Zeit gewonnen und die Initiative gekapert worden. […] Hätten sie einen Monat mehr zur Verfügung gehabt, hätte die Bevölkerung geschwiegen, Belarus hätte zu einem Tatarstan (einer Republik innerhalb der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) werden können.“ Die Erfolge des „Minsker Frühlings“ hatten einen hohen Preis: Sjanon Pasnjak und sein Mitstreiter Sjarhej Nawumtschyk mussten das Land verlassen, da ihr Leben bedroht war. Sie erhielten Asyl in den USA. Die Situation in Belarus geriet augenblicklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit führender amerikanischer Medien. Das führte dazu, dass die USA und die Europäische Union die Ergebnisse des Referendums von 1996 nicht anerkannten. Doch die Zukunft der Front sollte sich dadurch massiv verändern.
Alternative Wahlen und die Spaltung der BNF
Zum direkten Grund für die Spaltung der BNF wurden die alternativen Wahlen. Alexander Lukaschenkos erste fünfjährige Legislatur endete laut Verfassung im Jahr 1999. Doch mit der Verfassungsnovelle von 1996 wurde festgelegt, die Legislaturperiode ab diesem Zeitpunkt neu zu beginnen.
Diesen Umstand wollte ein Teil der Opposition für sich nutzen. Viktor Gontschar, vormals ein Mitstreiter Lukaschenkos, später sein Gegner, schlug vor, 1999 alternative Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Da er 1996 unrechtmäßig als Leiter des Zentralen Wahlkomitees abgesetzt worden war, hatte er formal das Recht, einen solchen Wahlprozess zu organisieren. Mit dutzenden Politikern wurden Gespräche geführt, doch nur zwei Personen wollten bei einer solchen Wahl kandidieren: Der ehemalige Premierminister Michail Tschigir, der seit seinem Rücktritt 1996 in Moskau arbeitete, und Sjanon Pasnjak.
Einen Tag, nachdem seine Kandidatur „registriert“ wurde, wurde Tschigir festgenommen und des Amtsmissbrauchs, der Amtsanmaßung und der Fahrlässigkeit beschuldigt. Kurz nach Beginn des Wahlkampfs zog auch Pasnjak seine Kandidatur zurück und warf den Organisatoren Provokation vor. Damit verloren die Wahlen ihren Sinn: Es gab nur noch einen einzigen Kandidaten, der zudem im Gefängnis saß. Das ganze Vorhaben war zu einer politischen Mobilisierungsaktion der Opposition geworden, die einen widersprüchlichen Eindruck hinterließ. Unter anderem auch bei den Aktivisten der BNF.
Tatsächlich schwelten innerhalb der BNF schon lange vorher Konflikte. Es gab keine Einigkeit bezüglich der Parteistrategie. Pasnjak und seine Gleichgesinnten hielten an der ursprünglichen Linie fest, die in den 1990er Jahren verfolgt worden war: Sie nahmen die Front als führende und eigenständige politische Kraft wahr, an die die anderen Parteien sich „anpassen“ sollten. Ihre Opponenten wiederum waren bereit, sich mit anderen oppositionellen Kräften abzusprechen und für einen Sieg der Demokratie Kompromisse einzugehen. Bereits früher hatten Pasnjaks Mitstreiter ihm Autoritarismus vorgeworfen. „Im Mai [1999] teilte ich dem Rat mit, dass beim Parteitag alle meine Stellvertreter neu gewählt werden würden, dass es diesen Diskussionsklub, wie ich ihn nannte, so nicht mehr geben sollte. Danach begann die Meuterei auf dem Schiff“, räumte Pasnjak ein. Wir ergänzen hier, dass er zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Partei schon seit drei Jahren aus der Emigration geführt hatte, per Fax und Telefon.
Pasnjaks Opponenten stellten als Gegenkandidaten den 38-jährigen Philologen Winzuk Wjatschorka auf, Gründungsmitglied der Bewegung und ebenso Teil des Gründungskomitees der Partei (sein Sohn Franak Wjatschorka ist heute Berater von Swetlana Tichanowskaja). Weder er noch Pasnjak konnten eine Mehrheit erlangen. In der Folge organisierten Pasnjaks Anhänger einen eigenen Parteitag, wählten den Politiker zum Vorsitzenden und benannten die Partei um in Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF). Die Gegner erkannten diese Entscheidungen nicht an, trafen sich ebenfalls und wählten Wjatschorka zum Vorsitzenden, der damit die Partei BNF anführte.
Nach der Spaltung schlugen die Parteien verschiedene Richtungen ein, die sich nie mehr überschneiden sollten. Wjatschorkas BNF setzte auf einen Kurs der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die KChP-BNF trat für den Boykott jeglicher Wahlen ein. In den zwei Jahrzehnten nach der Spaltung gab es nicht den Funken einer Chance auf eine Wiedervereinigung. In jedem Fall aber ist die BNF in die Geschichte eingegangen, als Organisation, die das Schicksal des Landes für immer verändert hat, indem sie die Unabhängigkeitserklärung von Belarus herbeiführte und als Erste den Kampf gegen Alexander Lukaschenko aufnahm, für die Freiheit.
Früher hat Tamara Eidelman Geschichte an der Moskauer Schule № 67 unterrichtet. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem lebt sie in Portugal, gibt aber weiter Geschichtsstunden für ein russischsprachiges Publikum: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert.
Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Zerkalo spricht die russische Historikerin über Themen, die sowohl Belarus als auch Russland betreffen: das Machtverständnis von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, imperialistische Denkweisen, Russlands Blick auf Belarus sowie die Instrumentalisierung von Geschichte in beiden Ländern.
Zerkalo: Manche vergleichen Wladimir Putin mit russischen Zaren oder mit Adolf Hitler. Mit welchen historischen Persönlichkeiten würden Sie ihn vergleichen?
Tamara Eidelman: Wissen Sie, ich möchte diese Frage nicht beantworten. Tut mir leid. Putin kann sich mit jedem vergleichen, mit dem er will, von mir aus mit dem Herrgott. Die Propaganda benutzt Vergleiche, um ihm zu schmeicheln. Wenn er einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut.
Mit Hitler hat er nun nichts gemein, und das sage ich nicht, um Putin zu verteidigen. Natürlich sind beide Diktatoren und haben aggressive Kriege entfesselt, aber bis zur Massenvernichtung reicht es bei Putin Gott sei Dank noch nicht.
Jede historische Persönlichkeit, zumal jeder Diktator, lebt in seiner jeweiligen Epoche und muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Wenn wir jetzt anfangen, darüber zu sprechen, wie viel Ähnlichkeit Russland mit Hitler-Deutschland hat, dann haben wir für unser Verständnis nichts gewonnen. Russland hat eine ganz andere Struktur, es folgt einem anderen historischen Weg und anderen Traditionen, die Zeiten sind andere. Es war nach 1938 praktisch unmöglich nachzuvollziehen, was in Deutschland passiert, heute haben wir unzählige Fakten dazu, was in Russland geschieht. Das ist wichtig, weil es sowohl eine öffentliche Meinung in Russland als auch eine internationale gibt. Und wie man es dreht und wendet, die Machthaber schauen darauf. Wenn es diese öffentliche Meinung nicht gäbe, kein Internet, keine Handys, dann würden zum Beispiel politische Gegner mit Haut und Haaren gefressen und ausgespuckt werden. Niemand wäre mehr am Leben. Ja, sie bekommen riesige Haftstrafen, aber Gott sei Dank leben sie. Das ist wichtig.
Wenn Putin einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verübten die Deutschen schreckliche Dinge in Polen, von denen praktisch niemand wusste, außer denen, die es selbst gesehen haben. Das volle Ausmaß der Gräueltaten wurde erst nach dem Krieg sichtbar, als man ausreichend Material gesammelt hatte. Sie können jetzt sagen, dass man auch heute nicht alles weiß, aber wenn man mit halbwegs ungetrübtem Verstand an die Masse der existierenden Informationen zu dem herangeht, was in diesem Krieg, was in Russland und in Belarus passiert, ändert das viel.
Als nächstes kommt meistens die Frage: „Und womit wird das alles enden?“ Wenn wir davon ausgehen, dass man Russland mit [Deutschland in] den 1930er Jahren vergleichen kann, dann würde als nächstes ein Weltkrieg kommen, der Faschismus würde besiegt werden und so weiter. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es so sein wird. Zum Beispiel, weil es damals keine Atomwaffen gab. Ich mag diese Vergleiche nicht.
War und bleibt Russland für immer ein Problem für seine Nachbarn?
Solange dieses Regime in Russland besteht, natürlich. Ich will anmerken, dass auch das Regime in Belarus so lange bestehen wird wie das Regime in Russland. Russland wollte sich so weit wie möglich ausdehnen, aber das galt für alle starken Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bloß ist Russland an dem Punkt stehen geblieben, der für Großmächte vor 150 bis 200 Jahren normal war. Europa hingegen hat verstanden, dass man sich nicht so verhalten sollte. Daraus schließe ich, dass auch Russland das irgendwann verstehen wird.
Meine Eltern wurden in der UdSSR geboren, lebten eine Zeitlang in Russland und dann in Belarus. An ihrem Denken gibt es nichts Imperialistisches, während unsere Verwandten, die so alt sind wie sie und ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, dahin tendieren. Warum ist das so?
Das spricht wohl einfach für Ihre Eltern. Es gibt ja auch in Belarus Menschen, die das Land als Teil Russlands sehen, eines Imperiums, der UdSSR. Es geht nicht darum, wo man geboren wurde. Diese Haltung macht das Leben leichter, denn wenn du dich als Teil von etwas Großem, Grandiosem begreifst, dann werden all deine Strapazen, dein armseliges Leben, deine Probleme unwichtig. Ja, wir produzieren Raketen, wir sind Teil von diesem großartigen Land. Das flößt uns die Propaganda unermüdlich ein. Dein Privatleben ist weniger wert als das, was dich umgibt.
Politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt
Aber politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt. Das sind alles Märchen. Genau auf diesen Märchen baute die nationalsozialistische Rassenpolitik auf. Das dürfen wir auf keinen Fall schlucken. Es zählt nicht nur der Ort, an dem du lebst, sondern auch die Erziehung, deine Familie, dein sozialer Umgang.
Lukaschenko und Putin schwelgen ständig in der Vergangenheit und ihren Kindheitserinnerungen. Wollen sie, dass wir so leben wie damals, und tun alles dafür?
Ich glaube, im Grunde sind wir ihnen völlig schnuppe. Sie selbst wollen in einem – aus ihrer Sicht – mächtigen Land leben, vor dem alle Angst haben, und in ihrer Macht baden.
Ich glaube, bei solchen Leuten legt sich irgendwann ein Schalter um, und sie beginnen zu denken, dass das, was für sie gut ist, auch für alle anderen gut ist. „Was würdet ihr denn ohne mich machen? Ihr seid kleine Kinder, ihr müsst mir gehorchen. Was ich mir für euch überlege, das wird für euch gut sein.“
Alle erinnern sich gern an ihre Kindheit – ja, Plombir war lecker. Mir scheint das eher ein Propagandatrick. Sie brauchen vor allem Macht.
Und wenn der Diktator stirbt, wird es besser?
Ja. Im Moment versucht man uns schreckliche Angst einzujagen, dass danach alles in Blut und Chaos versinkt. Historisch gesehen ist alles möglich, und natürlich wird es auch auf irgendeine Art Chaos geben. Andererseits wird der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators von Leuten aus seinem Umfeld getan. Sie verstehen, dass sie nicht so werden können wie er und ein neues Leben aufbauen müssen. Sie müssen sich mit der internationalen Gemeinschaft verständigen und für Stabilität sorgen. Das konnte man gut in der Tauwetterperiode beobachten, sowohl in der UdSSR als auch in Spanien [unter Franco] oder Portugal [unter Salazar]. Die ersten Veränderungen werden von Leuten aus dem Inneren des Systems herbeigeführt.
Der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators wird von Leuten aus seinem Umfeld getan
Die spannende Frage ist die, was danach passiert. Das Tauwetter hat in der UdSSR ein bisschen getröpfelt, dann kam wieder der Frost. Das Regime hat sich nicht verändert, alles ist in den Händen der Leute aus demselben System geblieben. In Spanien wurden die Veränderungen zunächst von Menschen aus dem System angestoßen, aber dann von verschiedenen Parteien und Organisationen aufgegriffen, unterschiedliche soziale Schichten haben sich eingeklinkt und Druck ausgeübt, weil das System weicher geworden war. Sie bekamen die Möglichkeit zu handeln und veränderten das Regime.
Das ist ein großes Problem für uns alle: Was werden wir tun, wenn die Regime fallen? Werden wir die Chance nutzen oder ein weiteres Mal alles verschlafen, während wir uns gegenseitig bekriegen und auf Hexenjagd gehen, und das Regime wird sich hinüberretten und alles wieder von vorne beginnen? Auf der zweiten Etappe wird sehr viel von uns abhängen.
Was wussten Sie vor 2020 von Belarus und den Belarussen?
Das spricht nicht gerade für mich. Abgesehen von der Band Pesnjary und ein paar groben Vorstellungen davon, was bei euch während des Kriegs und der Partisanenbewegung passierte, wusste ich kaum etwas. Und das ist falsch. Ich hatte absolut keine Vorstellung von eurer Kultur und Geschichte. Für viele, nicht nur für mich, war 2020 eine Erschütterung, weil wir Belarus als sehr sowjetische Republik wahrgenommen hatten. Aber ich glaube, das war eher Lukaschenkos Propaganda zu verdanken. Er hat dieses Bild erschaffen: Wir halten an den sowjetischen Traditionen fest. Wir dachten, bei euch ist alles noch schlimmer als bei uns. Aber dann kam dieser wundervolle Protest – wir müssen noch einiges von Belarus lernen.
Eine der wichtigsten Epochen in der belarussischen Geschichte ist das Großfürstentum Litauen. Wie wird die Geschichte dieses Staates in Russland gelehrt?
Gar nicht. Vielleicht wird es hier und da erwähnt. Der Geschichtsunterricht geht in den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion auf die sowjetische Tradition zurück, und die sowjetische Tradition auf das russische 19. Jahrhundert. Es wird Staatsgeschichte gelehrt, und alles, was außerhalb des Staates liegt, ist entweder eine Lüge oder völlig uninteressant. Und die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig. Dabei sind das 14. und 15. Jahrhundert sowohl für Russland als auch für die Ukraine, Litauen und Belarus unglaublich interessant. Aber es wird alles nur aus dem Blickwinkel Moskaus präsentiert.
Die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig
Ich würde mir wünschen, dass diese Epochen in der Zukunft nicht als Geschichte des einen oder anderen Staates gelehrt werden, sondern als Geschichte von Völkern. Dann würden wir ein Kaleidoskop von verschiedenen Menschen, Kulturen und Sprachen erhalten und sehen, wie vielfältig alles war.
Die belarussischen Behörden bauen ihre Propaganda und Ideologie auf der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs auf. Warum ist das so, was denken Sie?
Sie handeln im Rahmen des sowjetischen und aktuellen Narrativs. Die Machthaber schlugen seit 1945 Kapital aus dem Krieg, indem sie seine Geschichte verzerrten. Der Philologe Jewgeni Dobrenko hat ein Buch namens Posdni Stalinism (dt. Der Spätstalinismus) geschrieben, das ich gerne zitiere: „Die Geschichte des Kriegs wird zu einer Geschichte des Sieges.“
Nach außen hin gelten alle Worte den Opfern. In der belarussischen Geschichte waren das Chatyn und andere verbrannte Dörfer. Doch das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt. Rollende Panzer, die Operation Bagration, „Da sdrawstwujet towarischtsch Stalin!“ (dt. „Hoch lebe Genosse Stalin!“). Aber in der Geschichte des Krieges ist nicht alles so einfach. Übrigens waren es die belarussischen Historiker, die davon sprachen, dass Themen wie die Partisanenbewegung – und das ist die heilige Kuh – sehr komplex seien.
Das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt
Daher wissen wir, dass das Bild von den Partisanen, die aus dem Wald kommen und von den Dorfbewohnern jubelnd mit den Worten: „Hurra, unsere guten Jungs sind da!“ empfangen werden, falsch ist. Auch die Partisanen waren gefürchtet. Das allein galt als schreckliche Häresie und Lästerung der Heldentaten des sowjetischen Volks.
Wie derzeit über den Krieg gesprochen wird, das gibt den Propagandisten die Möglichkeit zu erklären, es wäre damals nicht um Blut, Dreck und Gräueltaten gegangen, sondern um den Triumph unserer Heerführer, allen voran Genosse Stalin. Das waren die wahren Sieger, nicht die Menschen, die in den Schützengräben verfaulten. Diese Vorstellung kommt sowohl Putin als auch Lukaschenko sehr entgegen. Sie sehen sich als eben solche alle besiegenden Sieger.
Wie wird man Lukaschenko in den Lehrbüchern beschreiben, wenn er nicht mehr an der Macht ist?
Man wird schreiben, was für ein großer Diktator er war, das ist klar. Aber ich glaube, dass es interessanter sein wird, über Lukaschenko zu schreiben als zum Beispiel über Putin. Wie er raffiniert seinen Weg zur Macht geebnet und die Karte der Sowjetnostalgie ausgespielt hat. Natürlich hat Putin dasselbe gemacht, aber Lukaschenko war viel früher. Er hat mit irgendeinem sechsten Sinn gespürt, dass das der Köder ist, mit dem man viele Menschen kriegt. Man wird ihn als interessanten, blutrünstigen und hinterlistigen Diktator erforschen.
Was denken Sie, wäre Lukaschenko bereit, alles Belarussische in Belarus abzuschaffen und sich selbst und die Belarussen Russen zu nennen, wenn es die politische Situation erfordert?
Ich glaube, das tut er schon. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen in fast allen Republiken Leute an die Macht, die nationale Ideen vorbrachten. Lukaschenko schrieb sich stattdessen die prosowjetische Idee auf die Fahne, sein größter Feind war die Nationalpartei. Er ist bereits dabei, alles Belarussische zu unterdrücken: die Sprache, die Kultur. Aber hier sind wir wieder bei der Machtfrage – bis zu welchem Punkt wird er bereit sein, das zu tun? Ist er bereit, zu Russland zu gehören? Sich Putin zu unterwerfen? Über eine Nachfolgerschaft zu verhandeln? Irgendwie scheint mir das keine Option für jemanden, der Geschmack an der Macht gefunden hat.
In Russland gibt es jetzt Schulbücher mit einem Kapitel über die „Spezialoperation“. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um den „Druck der Vereinigten Staaten“, „Geschichtsklitterung“ und das „Wiedererstarken des Nazismus“. Unter anderem wird in diesem Lehrbuch behauptet, die westlichen Länder hätten die fixe Idee einer „Destabilisierung der Lage in Russland“. Im Abschnitt über den Krieg in der Ukraine wird Putin mit der Aussage zitiert, Russland habe den Krieg begonnen, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Ist es ein Verbrechen, so etwas zu lehren?
Ein solches Lehrbuch zu schreiben, ist ein Verbrechen. Unterrichten kann man nach so einem Lehrbuch auf unterschiedliche Art und Weise. Man kann sagen: „Achtet nicht drauf, was da steht.“ Aber es ist und bleibt eine schwierige Herausforderung, mit einem solchen Lehrbuch zu arbeiten.
Etwa 1500 Belarussen sollen im russischen Angriffskrieg auf Seiten der Ukraine kämpfen, 1000 beim Kalinouski-Regiment, das auch bei Bachmut im Einsatz ist. Viele Belarussen haben für das Nachbarland zu den Waffen gegriffen, weil sie die Ukrainer unterstützen wollen, auch weil sie das Schicksal von Belarus in den Händen des Kremls sehen und weil Machthaber Lukaschenko sich tief in den Krieg verstrickt hat.
Einer von diesen Freiwilligen ist Sonja – so zumindest sein etwas seltsamer Kampfname, der übersetzt so viel wie Schlafmütze bedeutet. Er dient als stellvertretender Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit im Kalinouski-Regiment. Mit dem Kämpfer wider Willen, der vor dem Krieg im Kindergarten arbeitete und der in Belarus nie gedient hat, hat das belarussische Online-Medium Zerkalo ein langes Gespräch geführt: über seine Motivation, doch zur Waffe zu greifen, über die Kämpfe an der Front, über seine Pläne und darüber, was der Krieg mit einem macht.
Das Interview beginnt eine halbe Stunde später als geplant: „Sonja“ hat verschlafen. Erst vor ein paar Tagen ist er von seinem zweiten Kampfeinsatz in Bachmut zurückgekehrt. Zwei Monate war er dort. Heute ist sein fünfter Urlaubstag. Sieben liegen noch vor ihm.
„Ich sag’s, wie es ist, ich bin eigentlich Hedonist und habe mit dem Militär überhaupt nichts am Hut. Diese ganzen Entbehrungen machen keinen Spaß, aber wenn’s drauf ankommt, dann verschlafe ich nicht“, erklärt er seine Verspätung eloquent. „Nur damit Sie verstehen: Bei unseren letzten Kampfeinsätzen mussten wir um drei Uhr nachts aufstehen, hatten eine Stunde zum Fertigmachen und waren im Morgengrauen in unseren Stellungen. Als der Kommandeur vor dem Urlaub zu mir sagte: ‚Kannst bis sechs im Bett bleiben‘, dachte ich: ‚Gott, endlich mal ausschlafen.‘ Was meinen Kampfnamen angeht, das nehme ich nicht so ernst. Die anderen Jungs suchen sich Namen wie Warjagow (Wikinger) oder Achilles, aber mir war das ziemlich egal. Beim ersten Frühsport im Trainingslager habe ich verschlafen, da sagten sie: ‚Du bist echt ne Schlafmütze [auf Russisch sonja – dek].‘ Da hatte ich meinen Kampfnamen.
Wenn ich mich vorstelle, lachen die Ukrainer immer – zumal wir in einer Maschinengewehr-Einheit sind, an vorderster Front, wir kundschaften aus, greifen an, wehren Attacken ab – aber dann freunden wir uns an. Da geht’s nicht um den Kampfnamen, sondern darum, wie du kämpfst. Wenn du ein schlechter Kämpfer bist, kannst du dich noch so oft Wikinger nennen, das wird dir auch nicht helfen.”
Sonja ist jung, groß wie ein Basketballspieler und hat ein Babyface. Er spricht Englisch, liest Bücher auf Deutsch und macht sich Sorgen, dass seine Frisur heute nicht sitzt. Von Beruf ist er Jurist, aber im Herzen Romantiker. Er hat in Belarus, Polen und Russland gelebt und als Gerichtsvollzieher, Kellner, Autowäscher, Tischler, Packer, Leiter eines Steinbruchs, Touristen-Guide, Chauffeur und Berater in einem Callcenter gearbeitet. Auf die Frage, warum er so oft den Arbeitsplatz gewechselt hat, sagt er, das sei „sein Charakter“, er habe lange nicht gewusst, wo er hingehöre.
„Aber jetzt habe ich meinen Platz gefunden“, sagt er. „Das ist seltsam, weil ich mich über Armeeleute immer lustig gemacht habe. Ich hielt sie für hohl und hilflos. Aber ich habe das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu machen: Ich rette Menschen, kämpfe für sie. Trotzdem bin ich wahrscheinlich kein echter Soldat. Ich bin im Krieg gelandet, das ist wohl etwas anderes als die normale Armee.“
Sonja war nie bei der Armee, stattdessen hat er in einem Kindergarten gearbeitet. Er ist zufällig dort gelandet, als er eines Tages im Internet nach Jobs suchte – aber nicht nach Branchen, sondern nach Entfernung. Das nächste war der Kindergarten. Also rief er dort an.
2022 hat Sonja Kindern und Erwachsenen Englisch beigebracht und wollte nicht weg aus Belarus. Sein Motto war: „Wenn alle gehen, bleibe ich.“ Aber als im Februar der Krieg begann, änderte er seine Meinung.
„Im Schützengraben werde ich oft gefragt, warum ich jetzt in der Ukraine bin. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Na ja, warum wohl? Hier sterben Menschen, unter anderem auch durch unsere Schuld, und ich soll zu Hause sitzen?“, erklärt er. „Es gibt da diesen Film, Shutter Island. Leonardo Di Caprio spielt darin einen Feldmarschall, der den Verstand verliert. Am Ende sagt er diesen schönen Satz: ‚Was ist besser – als Monster zu leben oder als Mensch zu sterben?‘ Ich habe meine Wahl getroffen. Gleich am 24. Februar. An dem Abend sagte ich zu meinen Eltern, dass ich fahren werde. Wie sie reagiert haben? Wie sollen normale Eltern schon darauf reagieren? Meine Mutter wurde hysterisch, mein Vater sagte: ‚Bist du blöd? Denk doch mal nach!‘ Aber sie wussten, dass sie mich nicht aufhalten können. Ich bin stur wie ein Bock. Doch weil mein Vater krank wurde, musste ich die Abreise verschieben.“
Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache
Im Sommer 2022 verließ Sonja verließ Belarus. Bei der Einreise nach Polen wurde er festgehalten. Fünf Jahre zuvor war er dort in einen Autounfall geraten und hatte seine Strafe nicht bezahlt. Er sagt, er habe seinerzeit beim Gericht angerufen und sich erkundigt, dort habe es geheißen, der Fall sei erledigt. Sonja vermutet, dass nach Beginn des Krieges die Akten von Belarussen wieder hervorgeholt wurden, unter anderem auch seine. Im Endeffekt musste er ins Gefängnis und nach der Freilassung eine elektronische Fessel tragen. Als endlich alles geklärt war, war es schon Winter.
Dann meldete er sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Botschaft in Warschau, wollte in die ukrainische Armee eintreten. Sie lehnten ab, aber gaben ihm die Nummer des Kalinouski-Regiments. In der belarussischen Einheit nahm man ihn zwar auf, aber der Hindernislauf war damit nicht beendet: Kurz vor seiner Abfahrt bekam Sonja Windpocken. Zwei Wochen lang lag er mit Fieber im Bett. Erst dann ging es endlich in die Ukraine, zu den Übungen ins Trainingslager – und dann an die Front.
Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images
„In meiner Familie wurde Sport groß geschrieben, ich musste immer ordentlich trainieren. Ich habe lange gepumpt, wollte den Mädels gefallen, und jetzt zahlt es sich endlich aus – am Maschinengewehr“, grinst Sonja, als er sich erinnert, wie er in seine Einheit kam. „Ich wusste schon im Trainingscamp, dass ich in die MG-Einheit will. Bei den Übungen stellte ich mich gut an. Und nach dem ersten Kampfeinsatz war es irgendwie von selbst klar, was ich machen werde. Es stellte sich obendrein heraus, dass ich mutig bin.“
Woran haben Sie das gemerkt?
„Erst wurde ich dem Bataillon Volat zugeteilt, aber als ich Senat kennenlernte (den stellvertretenden Kommandeur des Bataillon Litwin – Anm. d. Red.), habe ich mich ummelden lassen, damit ich unter seine Führung komme. Zum ersten Kampfeinsatz nahm er mich mit in die Oblast Charkiw. Bevor wir losfuhren, ging ich zu ihm und den anderen Jungs und hab gesagt: ‚Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache.‘ Ich dachte, es ist besser, wenn ich sage, dass ich ein Feigling bin. Wenn ich dann keiner sein sollte, umso besser, und wenn doch, dann hab´ ich sie wenigstens vorgewarnt. Ich wollte jedenfalls nicht den Macker spielen.
Als wir ankamen und aus dem Auto stiegen, ging sofort der Beschuss los. Ein Panzer hatte uns im Visier. Wir liefen in irgendeinen Keller. Wir waren zu viert: ich, Senat und noch zwei andere großartige Männer – Weras und Helm. Sie hatten alle Erfahrung, nur ich war ganz neu. Und plötzlich, mitten in diesem Beschuss, wurde mir klar, dass ich keine Angst habe. In diesem Keller saßen wir vier Tage. Nachts gingen wir ins Feld, gruben Schützengräben und deckten Helm, damit er als Scharfschütze ein paar von denen umnieten konnte. Nach den vier Tagen sagte Senat: ‚Du bleibst hier vorne, du hast keine Angst.‘ Wie er das gemerkt hat? Weil ich eingeschlafen bin. Ganz in der Nähe schossen Panzer und die Artillerie, der Putz rieselte von der Decke, und ich sagte: ‚Hört mal, wir sitzen hier noch ne Weile, ich werd mal ne Runde pennen.‘ Ich zog die Weste aus, den Helm, kroch in den Schlafsack und war weg. Senat hat danach gesagt: ‚Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so wenig Angst hatte.‘ Und ich: ‚Vielleicht hast du noch nie jemanden gesehen, der so dumm ist. Das geht meist Hand in Hand.‘“
Außerdem müssen Sie ziemlich stark sein. Wie viel wiegt so ein Maschinengewehr?
„Ich habe ein Minimi 5,56, das wiegt zwölf Kilo, und ein CZ-Gewehr. Aber das Maschinengewehr kommt selbst für einen Kämpfer mit meiner Spezialisierung erst an zehnter Stelle. Spaten, Schlafsack, Besteck, mit dem du dein Dosenfleisch löffelst, und Wasser – das sind deine Hauptwaffen. Geballer kommt selbst auf dem Schlachtfeld gar nicht so oft vor, und wenn, dann nicht gezielt. Meistens kommt es aus Panzern, Minenwerfern und Flugzeugen, und wenn du dich retten willst, musst du dich schnell und tief eingraben können. Einmal gaben wir buchstäblich 200 Meter von den feindlichen Positionen entfernt den ukrainischen Artilleristen die Koordinaten durch. Sie zielten und schossen daneben, direkt auf uns. Ich hatte buchstäblich 30 Sekunden zwischen zwei Einschlägen, um mir ein Loch zu buddeln und wie ein Strauß meinen Kopf reinzustecken. Wenn dich ein Geschoss am Arsch oder am Bein erwischt, ist es halb so wild. Aber wenn’s dein Kopf ist, bist du tot.
Ich bin ein religiöser Mensch und glaube an Schicksal, deshalb seh’ ich die Beschüsse gelassen. Ich vertraue darauf, dass es mich nicht erwischt, weil ich meine Mission noch nicht erfüllt habe.“
Welche ist das?
„Dieses Land zu verteidigen und zu meiner Familie zurückzukehren, zu meinem Haus, das ich selbst gebaut habe, meinem Garten, den ich selbst angelegt habe.“
Nach seinem ersten Kampfeinsatz kehrte Sonja für drei Tage zurück nach Kyjiw, um sich zum Rettungsassistenten ausbilden zu lassen. Da erfuhr er, dass seine Kampfgenossen bei Bachmut sind, und bat seine Kommandantur, ihn auch dorthin zu schicken. Sie sagten: „Warte, bis wir ein Auto gefunden haben.“ Lange warten musste er nicht.
„Da waren unsere Kämpfer, die brauchten Hilfe, da mussten wir hin“, erklärt er seine Entscheidung, von heute auf morgen an einen der gefährlichsten Hotspots dieses Kriegs zu fahren. „Was, Sorgen? So was hatte ich gar nicht. Nach Charkiw wusste ich ganz genau, was ich kann, ich wollte geradezu in die Schlacht. Einer meiner Kameraden wurde kürzlich verletzt. Das Auto, in dem er saß, wurde aus einem Granatwerfer beschossen. Es hat ihm das Trommelfell zerrissen. Seitdem redet er jeden Tag nur noch davon, wann sein Urlaub endlich vorbei ist und er wieder in den Krieg ziehen kann.“
Ist das schon eine Art Abhängigkeit? Hängt man nach Bachmut quasi „an der Nadel“?
„Ich gebe zu, das hat was von Abhängigkeit. Wenn man mal in einer richtigen Schlacht war, mittendrin, dann kommt einem alles andere fade vor. Das normale Leben wird langweilig. Aber die Hauptmotivation ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Pflicht. Du siehst Menschen, die für dich Risiken eingehen, und kannst sie nicht einfach im Stich lassen.”
Sie haben gesagt, Sie haben an vorderster Front gekämpft. Wie ist das so?
„Während der Einsätze arbeitet man schichtweise: vier Tage im Schützengraben, dann genauso lange auf dem Stützpunkt [an einem anderen Ort], wo wir ordentlich essen und uns ausschlafen. An der Front kämpfen wir auf den Wiesen und in den Wäldern rund um Bachmut, ganz nah an den *** [den Russen – Anm. d. Ü]. Wenn wir mit schweren Maschinengewehren schießen, dann bauen wir sie normalerweise auf einem Hügel oder einem befestigten Bunker auf und halten vier Tage die Stellung. Außerdem können wir Drohnen steigen lassen und Ziele erwischen, die hinter den Hügeln in mehreren Kilometern Entfernung liegen.
Meistens sind sechs bis acht Mann in Stellung. Zwei haben Dienst (sehen bei Tageslicht durch die Fernrohre, bei Nacht in die Nachtsichtgeräte), die anderen ruhen. Die Dienste wechseln alle zwei, drei Stunden, weil dann die Konzentration abnimmt. Aber das sind Normen, die nur auf dem Papier existieren, in der Praxis zieht man manchmal auch sechs oder acht Stunden durch.
Ah, und man muss wissen, ich habe eine Eigenart. Sagen wir mal so, ich bin ein bisschen crazy. Ich kann nicht stillsitzen, weil, wie mein Vater immer sagte, der Wolf beißt in die Beine. Wenn wir auf den Posten kommen, dann nehm ich immer einen Batzen Zigaretten mit, gehe zu den ukrainischen Partnern, stelle mich vor, informiere mich über die Lage an der Front und mache mich nützlich, wo ich kann: Die einen brauchen Infos, die anderen Hilfe beim Angriff. Einen Maschinengewehrschützen kann man immer gebrauchen. Und ich hab einen Kurs zum Rettungssanitäter gemacht. Dieses Wissen hab’ ich allerdings nur einmal angewendet, konnte den Mann aber nicht retten. Gross hieß er, war ein Ukrainer. Wurde von einem Hubschrauber aus beschossen und die Lunge getroffen. Ich war in dem Moment ganz in der Nähe. Die Ukrainer hatten keine Evakuierung vorbereitet, also trug ich ihn zusammen mit einem Kameraden eineinhalb Kilometer von der Front weg. Er starb in unseren Armen. Seine Verletzungen waren schwer, es ist uns nicht gelungen, ihn zu stabilisieren. Als wir ihn den Ärzten übergaben, bedankten sie sich, aber ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Gross hat eine Frau und eine kleine Tochter hinterlassen.”
Was haben Sie dann den Rest des Tages gemacht? Geweint?
„Gar nichts. Hab dagesessen, geraucht, geweint.”
Weinen Männer im Krieg oft?
„Natürlich, wir sind ja Menschen und nicht aus Stein.”
In seiner Zeit in Bachmut hat Sonja fünf Kilo abgenommen. Im Unterschied zu seinem Kurzurlaub nach dem ersten Kampfeinsatz hat er diesmal „bei Senat ganze zwölf Tage herausgeschlagen“. Weil er weiß: sein Organismus braucht Erholung.
„Der Großteil des Lebens im Schützengraben sind nicht Angriff und Verteidigung, sondern reines Überleben. Suche nach Essbarem, nach Wärme, nach Möglichkeiten, zu Hause anzurufen oder Tee zu kochen. Das ist alles nicht so schön wie in den Videos, in denen irgendwelche Typen mit MGs auf Sturm gehen und alle niederknallen. Nein. Das ist Dreck, Schmerz, Kälte und Mäuse. Letztere sind unsere größte Plage. Die laufen nachts, wenn man schläft, einfach über einen drüber. Über den Bauch, übers Gesicht. Wir haben versucht, sie zu bekämpfen, aber wenn eine tot ist, kommen drei andere. Das ist Sisyphos-Arbeit. Sie werden von Tag zu Tag größer und fressen unser ganzes Proviant auf, das wir jetzt in Metall- oder Holzkisten aufbewahren müssen. Alles, was in Rucksäcken oder Plastiktaschen ist, erwischen sie, auch wenn das Zeug aufgehängt ist. Einmal hat mich ne Maus sogar vollngekackt, krass, oder? Wer macht denn so was?”
Vergeht die Zeit im Kampf in einem anderen Tempo?
„Es ist alles durcheinander, weil man nicht regelmäßig isst und schläft. Man hat zum Beispiel drei Stunden lang Dienst, dann hat man genauso lang Pause. In diesen drei Stunden muss man es schaffen, zum Bunker zu gehen, zu essen und zu schlafen. Bis man eingeschlafen ist, bleibt nur noch eine Stunde. Bestenfalls, wenn man nicht von einem Geschoss geweckt wird. Dann muss man erst wieder einschlafen. So geht das vier Tage lang. Das Problem ist nicht, dass man nicht schläft, sondern dass man nicht am Stück schläft. Können Sie sich vorstellen, was mit dem Organismus passiert? Dazu kommt noch die unregelmäßige Ernährung und tonnenweise Zigaretten. Am Ende eines solchen viertägigen Einsatzes steht man schon ziemlich neben den Schuhen.
Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis
Um es an der Front halbwegs auszuhalten, versuchen wir, viel zu lachen. Ein Schuss, alle gehen in Deckung, und einer schreit: „Wer hat mir in die Hosen gep…?“ Ohne Humor geht es gar nicht. Wenn du glaubst, du musst das alles bierernst nehmen, drehst du schon nach ein paar Stunden durch.”
Sie kamen im April nach Bachmut, da war es noch recht kalt. Wie ist es denn, unter solchen Bedingungen im Schützengraben oder im Bunker zu sitzen, vor allem nachts?
„Du schläfst in Thermowäsche und komplett angezogen. Über der Kleidung ziehst du die Schutzweste an, und so schlüpfst du in deinen Schlafsack. Nur dass Sie es wissen: Auch jetzt sind die Nächte kalt. Bei meinem letzten Einsatz hatten wir Ukrainer dabei. Deren Kommandeur hatte einen lustigen Kampfnamen: Tomate. Also, Sonja ist noch nicht das Schlimmste. Wobei Tomate ein zwei Meter großer, hartgesottener Frontkämpfer mit grimmiger Miene ist. Ich meinte noch zum Spaß, komm, lass mal klotzen statt kleckern, nennen wir dich gleich Señor Pomidor. Na, und der hatte keinen Schlafsack, also hab ich mich in der Nacht mit ihm in meinen gekuschelt. Blöde Kommentare über Schwule kann man sich sparen. Man muss sich eben irgendwie wärmen, sonst erfriert man.”
Wie würden Sie die Russen als Gegner beschreiben?
„Die Russen sind gut. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis. Am Anfang vielleicht nicht so, aber jetzt haben sie den Dreh raus. Wenn ich gefragt werde, wieso wir sie nicht plattmachen, dann sage ich: ,Komm doch selber und mach sie platt.‘
Während meines Einsatzes sind wir in einem Monat zwei Kilometer vorangekommen. Rechnen Sie sich mal aus, wie lang wir da bis zur Krim brauchen? Hören sie nicht auf diese ***, die behaupten, dass die Russen nichts anderes können, als Kanonenfleisch zu verpulvern. Ich sehe es ja mit eigenen Augen: Sie können kämpfen, sie können mit Drohnen umgehen, und ihre Stellungen halten können sie auch. Genug Waffen und Munition haben sie auch, also hört auf, auf einen schnellen Sieg zu hoffen.”
Reden wir mal von etwas Positivem: Sie sind jetzt im Urlaub, wie ist es denn, nach zweieinhalb Monaten in Bachmut ein relativ friedliches Leben zu führen?
„Am ersten Tag hab’ ich mich in der Parfümerie verirrt. Ich brauchte eine stoßfeste Hülle für mein Tablet. Und neben dem Haus, in dem ich für die paar Tage eine Wohnung gemietet habe, gibt es ein großes Einkaufszentrum. Eine Freundin und ich gingen rein, und da waren lauter Spiegel, alles glänzte – ich war komplett verloren. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, hatte ja vor 20 Stunden gerade noch im Schützengraben gehockt. Ich laufe, so bilde ich mir ein, durch den Elektronikladen und finde nirgendwo eine Hülle. Irgendwann stupst mich meine Freundin an und fragt: ,Brauchst du irgendwas von hier?‘ – ,Was meinst du?‘, frage ich verwirrt, seh mich um und checke, dass ich zwischen Lippenstiften und Wimperntusche eine Tablethülle suche. Ich hab´ irgendeinen Spruch gerissen, und wir sind raus. Aber insgeheim dachte ich, wie sehr ich doch neben der Spur sein muss, wenn ich Parfümerie mit Elektronik verwechsle. Das macht mir schon Angst.”
Was werden Sie nach dem Krieg als Erstes tun?
„Wenn ich überlebe? Ich gehe zurück nach Belarus. Ich hab’ mir dort ein Haus gebaut, mit Grundstück und Garten. Ich pflanze noch ein paar Bäume und hisse eine Flagge, nein zwei – eine belarussische und eine ukrainische. Das steht mir zu, ich hab´ ja gekämpft. Und dort lebe ich dann. Ich möchte Jäger werden, die Tiere schützen, das hat mir mein Vater beigebracht. Und mir eine Frau suchen, eine junge, hübsche. Wissen Sie, eine, wo sich die anderen Männer umdrehen, wenn ich mit ihr die Straße langgehe. Und Kinder will ich haben. Das sind natürlich lauter Fantasien, aber träumen schadet ja nicht?”
Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft.
Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“
Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“
Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.
Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“
Das Projekt über die Freiheit
Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik.
Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“
Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria.
Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam
In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen.
„2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.
In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“
Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.
Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte.
Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“
Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.
Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.
Wahlkampf für Tichanowskaja
Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu.
Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen.
Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten.
Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“.
Ich habe Angst, dass es nie enden wird
„Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo.
Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000.
Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“
[…]
Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.
Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass
Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag.
„Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie.
Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen.
Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“
Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw.
Kolesnikowa zerriss ihren Pass
Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren.
„Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“
Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen.
Gefängnisalltag
In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen.
Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]
Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen.
In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“
Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf.
[…]
Krankheit und Operation
Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide.
Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter.
Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch.
Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent).
Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen
Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig.
Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt.
„Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023.
Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.
„Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“
Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen.
Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.
Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?
Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.
Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?
Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.
Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre“ (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.
Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?
Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz.
Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?
Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.
Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben
Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.
Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.
Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?
Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt.
Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?
Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen.
Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?
Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist.
Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet.
Wofür machen Sie das alles?
Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben.
Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.
Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?
Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten.
Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt
Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?
Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.
Letzte Frage: Wird alles gut?
Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!