дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    „Ich will dieses Regime brechen!” – Nach seiner überraschenden Freilassung gibt sich der belarussische Oppositionspolitiker Siarhej Zichanouski kämpferisch, so auch im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit.  

    Ist der Ehemann von Swjatlana Zichanouskaja, Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung im Exil, in seiner Haltung zu optimistisch? Oder verschafft seine Freilassung der Opposition tatsächlich eine neue Dynamik, vielleicht sogar die Chance auf einen neuen Aufstand in Belarus? Und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU und die USA auf eine Annäherung mit dem Lukaschenko-Regime einlassen, auch um die Befreiung der in Haft verbliebenen über 1200 politischen Gefangenen zu erwirken?  

    Für das Online-Portal von Radio Svaboda hat der Journalist Yury Drakakhrust mit dem Politologen Andrei Kasakewitsch gesprochen.

    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda
    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda

    Svaboda: Sjarhej Zichanouski ist aus dem Gefängnis frei und mit einigen entschlossenen Statements faktisch in die belarussische Politik zurückgekehrt. Was können Sie über die Reaktion der belarussischen Gesellschaft darauf sagen: die Klickzahlen seiner Youtube-Videos, Spendeneinnahmen, wie wurde in den sozialen Netzwerken und in den Medien darüber berichtet, wie reagierte die Staatspropaganda? Und was sagt uns das? 

    Andrei Kasakewitsch: Zichanouskis Auftauchen brachte in alle politischen Prozesse eine neue Dynamik, es veränderte die Kommunikation innerhalb der demokratischen Kräfte. Wir beobachten teils ein großes Interesse an seinen Interviews und Äußerungen. Die Reaktion innerhalb von Belarus lässt sich aber nur schwer erfassen. Wir können das weder an den Reaktionen auf Social Media festmachen noch an anderen Parametern. Allerdings hat er dort durchaus ein Publikum. Andere Aktivitäten, wie die Organisation von Kundgebungen, blieben aber eher erfolglos. Dass das Auftauchen eines Anführers in der belarussischen Gesellschaft etwas Nennenswertes auslöst, ist heute ganz klar beschränkt. Ich würde es eher einen neuen Impuls nennen. Dieser kann in einigen Wochen oder Monaten enden, oder zu einer stabilen Kommunikationsbasis werden. Das ist gerade noch nicht absehbar.  

    Kann eine einzige Person einen neuen gesellschaftlichen Aufstand auslösen? Kann das Auftauchen eines einzelnen Menschen einen neuen Aufstand ankündigen? 

    Das ist nur möglich, wenn diese Person über gewisse Ressourcen verfügt, über belastbare Kommunikationskanäle zur Bevölkerung. Die Zichanouskis hatten 2020 eigene Ressourcen. Wir Analytiker haben das damals nicht erkannt, aber Zichanouski hatte sich durchaus ein gewisses Netzwerk von Mitstreitern aufgebaut. Das Onlineportal Tut.by war damals sehr einflussreich, die unabhängigen Medien verfügten in Belarus über ziemliche Freiheiten. Der Zugang zu diesen Ressourcen erlaubte es, direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Heute ist der Medienbereich sehr stark umgestaltet, die Verbindung zu einem großen Teil des belarussischen Publikums ist verloren gegangen. Ob man sie erneuern kann? Bislang sehen wir das nicht.  

    Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. 

    Ein wichtiger Faktor war auch: Die Menschen spürten damals, dass Veränderungen möglich waren. Sie hatten keine Angst, und vor allem diejenigen, die neu zur Bewegung gestoßen waren, vertrauten darauf, dass der Staat nicht zu brutaler Gewalt greifen würde, dass der Sieg nicht gestohlen werden könne, dass die Massenproteste auf den Straßen automatisch zu Veränderungen führen würden. Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Ich denke, die Mehrheit glaubt nicht daran, dass es in nächster Zeit irgendwelche Veränderungen geben könnte, beziehungsweise, dass dafür irgendwelche Hebel existieren.  

    Was  Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. Ich denke nicht, dass im Moment irgendwelche Aktionsaufrufe bei der belarussischen Gesellschaft auf Resonanz treffen. Doch Zichanouski kann durchaus wieder Einfluss im Informationsbereich erlangen und eine eigene Zuhörerschaft finden. Hier könnte es eine Nische für ihn geben und er könnte durchaus erfolgreicher als Swjatlana Zichanouskaja werden. Allerdings ist die Gesellschaft jetzt größtenteils demobilisiert. In der Soziologie verwendet man diesen Begriff, um den Zustand nach einem gewissen Aufbruch zu beschreiben, nach einer Periode, in der die Menschen bereit waren, Risiken einzugehen und entschlossen zu handeln.  

    Viele Beobachter und Analytiker sprechen eher von Angst, von den Folgen der Einschüchterung, Sie reden über Demobilisierung. 

    Demobilisierung ist nicht einfach nur Angst. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die Bevölkerung nach einer Revolution ermüdet ist. Das passiert sowohl, wenn die Revolution erfolgreich war, als auch im Falle einer Niederlage, egal, ob es Repressionen gibt, oder nicht. Menschen können nicht lange im Zustand der Mobilisierung bleiben, jahre- oder jahrzehntelang. Nach dem Aufstand wenden sie sich schlicht wieder anderen Dingen zu, interessieren sich nicht mehr für Politik und zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist ein unvermeidlicher Prozess und wäre in jedem Fall passiert, auch ohne die einschneidenden Repressionen. 

    Ein Teil der Gesellschaft ist verängstigt, das ist klar. Besonders betrifft das ein Cluster, das wir unabhängige zivilgesellschaftliche Gemeinschaft nennen, sie existierte in Belarus bis 2020. Die Repressionen gegen diese Gruppe waren besonders stark. Es gibt auch Personengruppen, in denen der Repressionsdruck weniger stark wahrgenommen wird, etwa wenn die Menschen nur unregelmäßig unabhängige belarussische Staatsmedien konsumieren. Für die meisten Menschen sind Ereignisse wie die Massenproteste 2020 etwas Außergewöhnliches, so oder so kehren sie nach einiger Zeit zum gewohnten beruflichen und familiären Alltag zurück, und das ist in Belarus im Grunde in den letzten Jahren passiert. 

    Können Zichanouskis Aktivitäten zu verstärkten Reaktionen im Land führen, etwa einer Verschärfung der Repressionen? 

    Was kann da schon noch groß verschärft werden?! Die Gruppen der traditionellen Opposition wurden schon sehr intensiv bearbeitet. Natürlich könnte man dazu übergehen, sich Leute für regierungskritische Äußerungen auch in der Raucherecke zu angeln. Aber das hätte einen negativen Nebeneffekt. Das Ausmaß an Repressionen ist in Belarus schon immer mit der außenpolitischen Situation verbunden, wobei der zentrale Faktor die Beziehung zum Westen ist: Besteht die Notwendigkeit, dieses Verhältnis zu verbessern, könnten die Repressionen entschärft werden. Schlechte Beziehungen zum Westen bringen bedeutende Einbußen – wirtschaftlich wie politisch – für die herrschende Macht und bedrohen auf lange Sicht ihre Stabilität. Der Versuch, diese Beziehungen zu verbessern, ist unvereinbar mit einer Verschärfung der Repressionen. Auf einem gewissen Niveau werden sie aber bestehen bleiben, ich sehe in nächster Zeit keine Optionen, die den Machthabern einen völligen Verzicht auf repressive Praktiken erlauben würden. Das Ausmaß kann aber abnehmen. 

    Ein wichtiges Ereignis in letzter Zeit war Swjatlana Zichanouskajas Interview mit dem Magazin POLITICO, in dem sie Trump rät, Lukaschenka zu bestrafen, statt zu besänftigen. Die Veröffentlichung führte zu einer hitzigen Diskussion innerhalb der demokratischen Kräfte. Kann man Ihrer Meinung nach erreichen, dass nach Aufhebung der Sanktionen und der Freilassung aller politischen Gefangenen neuerliche Verhaftungen in großem Umfang verhindert werden können? 

    Leider gibt es hier nur einen einzigen Mechanismus: die erzwungene Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Einen innenpolitischen Impuls gibt es dafür nicht. Allein die wirtschaftliche Situation und die Notwendigkeit, den Einfluss Russlands auszubalancieren, zwingen dazu. Das ist ein altes Problem aller belarussischen Regierungen, das nie wirklich verschwunden ist. Diese erzwungene Reaktivierung der Beziehung zum Westen kann dazu führen, dass die Regierung die Repressionen auf ein Minimum reduzieren muss. So war es auch in der letzten Periode der normalisierten Beziehungen von 2015 bis 2020. 

    Anders als jemals zuvor ist der Grund für die hauptsächlichen Sanktionen, für den größten Druck nicht in den politischen Repressionen zu suchen, sondern in der Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine und in Entscheidungen, die sich spürbar auf die Sicherheit der angrenzenden Staaten auswirken. Dazu zählen die „Migrationskrise“, das Auftauchen der Wagner-Truppe in Belarus sowie die Stationierung von Atomwaffen sowie der neuen Mittelstreckenwaffe Oreschnik. Belarus ist zu einer Bedrohung für die Sicherheit in der Region geworden. Genauer gesagt, es wird als Bedrohung der regionalen Sicherheit wahrgenommen, nämlich von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine. Dieses Problem ist nicht einfach durch innenpolitische Deeskalation zu beheben. Wenn sich in diesen Fragen nichts bewegt, wird es keine merkliche Reduzierung der Sanktionen geben.  

    An dieser Stelle stecken die Verhandlungen zwischen der belarussischen Führung und dem Westen in einer Sackgasse. Der einzige Faktor, der wirklich gegen die belarussische Führung spielt, ist die Zeit. Denn das Interesse an den belarussischen politischen Häftlingen wird mit der Zeit sinken, und dann sinkt auch ihr Wert als Ressource im politischen Handel mit dem Westen. 

    Im Verlauf des letzten Jahres kamen über dreihundert politische Gefangene frei – ist das ein Ergebnis des politischen Drucks oder der Verhandlungen? 

    Das ist natürlich ein Ergebnis des Drucks, allerdings eher ein Ergebnis des Zeitdrucks. Der hauptsächliche Faktor für die Befreiung der Häftlinge ist, dass ihre Haftzeiten enden. Die Zeit reduziert also die Anzahl der Häftlinge. Ein bedeutender Anteil der Begnadigten wäre wenige Monate später freigekommen. Die Logik ist also: Wir müssen sie ohnehin freilassen, also lasst sie uns früher rauslassen und das dann als Begnadigung verkaufen.  

    Darüber hinaus ist das Interesse an den belarussischen politischen Gefangenen in den westlichen Staaten zwar nicht gesunken, aber es wächst auch nicht sonderlich. Der Westen ist für ihre Freilassung nicht zu großen strategischen Zugeständnissen bereit. Denn es besteht immer noch das Problem des Krieges und der Sicherheit. Diese Probleme sind dem Westen wichtiger als die Frage nach der Befreiung der belarussischen politischen Gefangenen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Man muss auch sagen, dass die Freilassung nicht möglich wäre ohne Verhandlungen, ohne die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der belarussischen Führung und der westlichen Regierungen. Sowohl Druck als auch Verhandlungen haben also ihren Anteil. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Zeit. 

    Es sieht so aus, als entfernten sich USA und EU in ihrem Ansatz gegenüber Belarus immer mehr voneinander. Gibt es Chancen auf eine Annäherung der Positionen? Kann Trump Vilnius überzeugen, den Transit für belarussisches Kali zu ermöglichen? Oder wird Trump, wie Zichanouski hofft, dass ersehnte Wort sprechen und Lukaschenka daraufhin alle politischen Häftlinge entlassen? 

    Ich wiederhole noch einmal – die schmerzhaftesten Sanktionen wurden aufgrund der Beteiligung am Krieg und der Bedrohung der Sicherheitslage erlassen. Diese Probleme bleiben für die europäischen Staaten brennend, in erster Linie für die belarussischen Nachbarn: Polen, Litauen, Lettland, Ukraine. Die USA können davor die Augen verschließen. Trump nimmt sogar den Krieg in der Ukraine nicht als bedeutsam für die Vereinigten Staaten wahr. Deshalb können sie auch leicht Kontakte zur belarussischen Führung herstellen und Verhandlungen zu einem breiten Themenspektrum führen. Dass sich die europäische Position entscheidend verändert, sehe ich allerdings nur dann, wenn es Fortschritte gibt, die den Krieg und der Sicherheit betreffen. Allein die Freilassung aller politischen Gefangenen würde den Europäern nicht genügen.  

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Aber werden sie die wahrnehmen? 

    Für die Europäer ist Belarus ein Nachbarland, von dem sehr konkrete Bedrohungen ausgehen. Vielleicht sind viele dieser Bedrohungen gar nicht real, nur imaginiert, und vielleicht haben die europäischen Eliten sie sich ausgedacht. Aber für sie ist das nun mal die Realität, und es ist die Realität für ihre Wähler. Deshalb können sie hier nicht so einfach Zugeständnisse machen, nur damit alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Jedenfalls in nächster Zeit, solange keine anderen einschneidenden Veränderungen geschehen. Kann Trump sie überzeugen oder zwingen? Überzeugen kann er sie sicher nicht, weil die USA einen Großteil ihrer moralischen Autorität auf dem internationalen Parkett verloren haben. Früher konnten amerikanische Präsidenten auf dieser Grundlage in Europa noch etwas erreichen.  

    Kann Trump sie zwingen? Die Erfahrung zeigt, dass er Druck ausübt, bis er starken Widerstand spürt. Wenn Polen und Litauen eine konsequente Haltung einnehmen, glaube ich nicht, dass die Amerikaner sie wegen dieser belarussischen Frage stark unter Druck setzen werden. Denn für die Amerikaner ist diese Frage völlig nebensächlich. Die Position der europäischen Staaten wird wichtiger sein als jene der USA, weil sie viel stärker motiviert sind und sich von Belarus viel stärker bedroht fühlen als die USA.  

    Bei einer Kundgebung in Warschau erklärte Zichanouski, dass Trump die belarussischen politischen Gefangenen mit einem Wort befreien könne. Zichanouski meint, dass Trump gemeinsam mit Europa Lukaschenka so in die Enge treiben könne, dass letzterer Angst bekommt und alle freilässt. Könnte Trump das wirklich? Im Iran hat er kürzlich gezeigt, dass er auch zu entschiedenen Worten und entschlossenen Taten fähig ist. 

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Ich denke, würden sie all diese Instrumente nutzen, könnten sie erreichen, dass die belarussische Führung alle politischen Gefangenen freilässt, die noch hinter Gittern sind. Allerdings sehe ich bei den Amerikanern keine Motivation, das zu tun. Diese Instrumente einzusetzen, würde für die Vereinigten Staaten nämlich auch Kosten bedeuten. Es kann die Beziehungen zwischen USA und Russland belasten, das Image der USA in der Welt beschädigen. Die Vereinigten Staaten sind wirklich ein riesiges Land mit riesigen Möglichkeiten, auf jedes Land der Welt Druck auszuüben. Aber werden sie es tun? 

    Mir fiel dazu eine Metapher ein: Beim Schach können Dame, Springer, Türme und Läufer einen Bauern am Rande des Spielfelds jederzeit „fressen“ – weil sie viel stärker sind. Aber der Sinn des Spieles besteht nicht darin, irgendeinen Bauern am Brettrand zu schlagen. Und deshalb kann dieser Bauer auch bis zum Ende des Spiels überleben – weil er eben nicht die wichtigste Figur in diesem Spiel ist. 

    Ja, ich stimme völlig zu, das ist eine Fortführung meines Gedankens. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine Gewinn-Verlust-Rechnung die Amerikaner auf die Idee bringt, die ganze Macht der USA einzusetzen, um die belarussischen Gefangenen zu befreien. Belarus ist für die USA, besonders für die Leute, die dort jetzt an die Macht gekommen sind, ein Land der Peripherie. Selbst die EU und Ukraine sind für sie nicht sonderlich bedeutend und freundschaftlich konnotiert. Was soll man da bitte schön über Belarus sagen? 

    Weitere Themen

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Spiel mit der Atomangst

    Der Abgrund ist bodenlos

    Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Die unglaubliche Revolution

    Soll der Westen wieder mit Lukaschenko reden?

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Pressefreiheit im Überlebenskampf

    „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

  • Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund. 

    Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte. 

    Wer spricht in Belarus Belarussisch?

    Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent.  
    Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.    

    Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus

    Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak.
    Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken. 
     

    Yury Drakakhrust (links mit Megaphon) und BNF-Boss Sjanon Pasnjak bei einer Kundgebung in Minsk im Februar 1990 / Foto © privat

    Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte

    Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint. 
    Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben. 
    Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür.
    Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte. 

    Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?

    Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus.
    Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.

    Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte.  
    So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen. 

    „Der belarussische Nationalismus spricht Russisch“

    Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern. 
    Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.   

    „Nation als Schicksalsgemeinschaft“

    Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998. 


    Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt. 


    Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes.
    So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront. 

    Weitere Themen

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Diktatoren unter sich

    „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    Von wegen russische Besatzung