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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.

    Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.  

    Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren. 

    Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?

    Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen. 

    Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?

    Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.

    Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie

    Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.

    Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …

    Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.

    W.G.: China ebenfalls.

    M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland. 

    Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht

    Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang  der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?

    Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.

    Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?

    M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert? 

    Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen

    Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.  

    Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?

    M.K.: Sogar mehr.

    Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?

    M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen. 

    Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant

    Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.

    Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘

    Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen. 

    M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.

    Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann. 

    Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat

    Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf  …

    W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.

    Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan

    Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten –  dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür. 

    Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.

    Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …

    W.G.: Wir haben Landwirtschaft …

    Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?

    M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.

    Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet

    W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch. 

    M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten. 

    Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?

    M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘

    Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen

    Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.

    M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.

    W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.

    Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat. 

    M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.

    Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.

    W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer. 

    Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme

    Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
    Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.

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  • „Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“

    „Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“

    Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Hinter den (versuchten) politischen Morden steckt laut Recherchenetzwerk Bellingcat System. Es gebe zahlreiche Hinweise auf die Beteiligung des FSB, die Fäden für die Auftragsmorde führten jedoch ganz nach oben – und nur der erste Mann im Staat zahle den Preis für deren Erfolg oder Misserfolg.

    Zu diesen Erkenntnissen kommt der Investigativjournalist und Recherche-Leiter von Bellingcat Christo Grozev. Er ist der Mann hinter den Untersuchungen zum Abschuss von Flug MH17 und zu den Giftanschlägen auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Dimitri Bykow. Jede Recherche liefert neue Hinweise, legt Verbindungen zu älteren Fällen offen und zeigt Ähnlichkeiten in der Arbeit von FSB und seinem sowjetischen Vorgänger KGB auf.

    Wie ist das System der politischen Morde in Russland aufgebaut? Warum stehen nicht nur oppositionelle Politiker wie Nawalny, sondern auch Schriftsteller wie Bykow auf der Abschussliste? Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Und warum bindet dieses System Wladimir Putin nur noch fester ans Präsidentenamt?

    Auf diese Fragen antwortet Christo Grozev im Interview mit Yevgenia Albats – Chefredakteurin des Online-Mediums The New Times und Kennerin der FSB-Geschichte.

    Jewgenija Albats: Viele kennen Ihren Namen und wissen, dass Sie Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat sind und unmittelbar an der Aufklärung von Morden und Mordversuchen arbeiten, die die Politische Polizei in Russland verübt. Sie untersuchten unter anderem die Anschläge auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa, Dimitri Bykow. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen zu diesem Thema, aber vielleicht erzählen Sie mir zuerst: Wer sind Sie, Christo Grozev? Die russische Propaganda behauptet, dass Sie bei der CIA sind, oder dem britischen Geheimdienst MI-6 oder MI-5, vielleicht auch beim israelischen Mossad … Also, wer sind Sie?

    Christo Grozev: Die Behauptung, ich würde für westliche Geheimdienste arbeiten, gab es schon, bevor ich in Russland als Journalist bekannt wurde. Aber die Antwort ist ziemlich einfach: Ich wurde in Bulgarien geboren, bin gleich nach der Schule für eine Weile nach Europa gegangen – ich wollte Musikradio machen, das war gegen Ende des Kommunismus. Dann bin ich nach Bulgarien zurück, wollte dort den ersten Musiksender gründen. Das war damals noch verboten, also betrieb ich einen Piratensender. Danach habe ich in den USA Journalismus studiert. Gleich nach der Uni bekam ich einen Job: Ich sollte die ersten kommerziellen Rundfunksender in Russland aufbauen. Ein amerikanisches Unternehmen, das seine Erfahrung aus den USA nach Russland und Osteuropa bringen wollte. Dort machte ich Karriere, wurde zunächst Regionaldirektor, dann geschäftsführender Direktor der ganzen Radiogruppe. Dann habe ich in den Niederlanden investiert – das ist alles. Das war ein Selbstläufer, ich musste mich nicht jeden Tag darum kümmern. Und dann begann der Krieg. Der Dritte Weltkrieg, wie ich ihn nenne, der 2014 begann. Und ich fing an, meinen Blog zu führen …

    Heute ist es ein globaler Krieg mit dem Einsatz von Informationen als Waffe

    Sie meinen die Annexion der Krim? Und die Truppen im Donbass?

    Ja, das war der Anfang. Aber danach veränderte sich alles. Heute ist es ein globaler Krieg … Weder ein kalter noch ein bewaffneter, aber dennoch ein Krieg, an dem alle Seiten irgendwie beteiligt sind. Mein Blog widmete sich zunächst dem, was man „weaponization of information“ nennt, also dem Einsatz von Information als Waffe, damals durch Russland, aber nicht nur – zu Beginn des Krieges auch durch die Ukraine. Dann kam MH17, und das wurde mein Hauptthema, dadurch bin ich zu Bellingcat gekommen. Nach ein paar Untersuchungen übernahm ich die Recherche-Leitung.

    Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie mit dem Radiosender viel Geld gemacht.

    Nicht viel nach russischen, also Oligarchen-Maßstäben. Aber für bulgarische Verhältnisse schon. Ich kann gut davon leben und meinem Hobby nachgehen. Ich kann sogar in mein Hobby investieren, was ich seit vier Jahren tue.

    Diese Recherchen bezahle ich

    Bellingcat zahlt Ihnen also kein Gehalt?

    Nein. Ich bestehe immer noch darauf, dass sie mich nicht bezahlen, damit die Frage, woher das Geld für die Recherchen kommt, ganz klar beantwortet werden kann. Bei Bellingcat ist zwar auch alles transparent, aber für mich ist es einfacher zu sagen: „Ich. Ich bezahle diese Recherchen.“ Deshalb garantiere ich mit meinem Namen: Niemand hat für mich diese Recherchen bezahlt, weder die Amerikaner noch die Briten noch sonst wer. Meine Finanzen lassen sich leicht überprüfen: Das sind die Dividenden aus dem kommerziellen Musiksender, mehr gibt es nicht.

    Sie investieren Ihr Geld, Ihre Zeit und Ihre Sicherheit – denn es ist klar, dass diese Arbeit gefährlich ist – in Untersuchungen, die mit Russland und russischen Politikern zu tun haben. Warum ist Ihnen das so wichtig?

    Das ist nichts, was ich vorher geplant hätte. Untersuchungen werden dort gemacht, wo Verbrechen verübt werden. Es gibt einen Krieg, das ist Fakt, und Russland ist eine der Kriegsparteien. Die offensichtlichsten grenzüberschreitenden Verbrechen, hinter denen der Staat steht, sind die russischen Verbrechen. Auch das ist ein Fakt.

    Als wir anfingen, die Katastrophe um den Flug MH17 zu untersuchen, wusste ich nicht, dass Russland für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist. In den ersten Stunden nach dem Vorfall hielt ich es für wahrscheinlicher, dass die Ukraine es versehentlich abgeschossen hatte. Ich hielt die Mitschnitte abgefangener Telefonate, die der SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine – dek] im Internet veröffentlicht hatte, für eine Fälschung. Erst später dann verstand ich, dass sie nicht gefälscht waren. Wissen Sie, wie? Weil sie damals auch die Telefonnummern veröffentlicht haben, von denen diese Mitschnitte stammten. Ich fing an, diese Nummern anzurufen, und hatte tatsächlich Separatisten am Apparat, die mir alles erzählten. 

    Sie haben gezeigt, dass es ein System hinter den Vergiftungen gibt

    Aber nun zu Ihrer jüngsten Untersuchung, bei der mir das Wichtigste zu sein scheint, dass Sie gezeigt haben, dass es ein System gibt: nämlich die Kooperation zwischen der 2. Abteilung des FSB und dem NII 2 [Institut für Kriminalistik des FSB – dek]. Zur 2. Abteilung des FSB gehört der Verfassungsschutz, die sogenannte Dienststelle „S“. Sie ist die Nachfolgerin der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, die gegen Dissidenten und Andersdenkende kämpfte, die Kirche, Profisportler, NGOs und so weiter überwachte. Wir wissen, dass es in der Geschichte der Politischen Polizei in der Sowjetunion immer Abteilungen gab, die für politischen Terror und Morde verantwortlich waren. So war es früher, vor den Verbrechen, die Sie jetzt untersuchen. Woher wissen Sie, dass es tatsächlich eine Kollaboration zwischen der politischen, ideologischen Spionageabwehr und einem Institut gibt, das sich auf Vergiftungen spezialisiert?

    Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wir das nicht objektiv wissen. Das werden wir tun, sobald wir irgendein Dokument finden, das uns zeigt, wie alles organisiert ist. Im Moment können wir lediglich auf analytischem Wege Hypothesen aufstellen. Ich stelle alle Fakten zur Verfügung, die wir haben, und dann können Sie, wenn Sie möchten, eine Gegenhypothese aufstellen. Was wir sehen, ist, dass an jeder Vergiftungsoperation Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind. Wir haben lange gerätselt, aus welchen Abteilungen sie kommen. Wir hatten gedacht, das wären Ad-hoc-Gruppen, Brigaden aus Fachleuten mit unterschiedlichem Background. Aber dann wurde uns klar, dass es offenbar doch eine klare Arbeitsteilung gibt. Und der erste Teil – die Beschattung, während der die Entscheidung vorbereitet wird – wird ausschließlich von Leuten aus der 2. Abteilung des FSB übernommen, die General Sedow untersteht.

    Jede neue Untersuchung liefert uns auch zu älteren Fällen neue Erkenntnisse. Bei dem aktuellen Fall haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Leute, die sowohl Nawalny als auch Bykow und Kara-Mursa beschattet hatten, alle aus Sedows Abteilung kommen. Aus seiner Abteilung kommen auch diejenigen, die im Ausland Menschen erschießen, wie zum Beispiel im Fall Khangoshvili.

    Der erste Teil wird vom FSB ausgeführt. Dann werden Chemiker, Ärzte eingeschaltet

    Das ist ein wichtiger Punkt. Sie sagen also, die Beschattung wird von Mitarbeitern der 2. Abteilung des FSB durchgeführt?

    Ja. Aber das ist keine „einfache“ Beschattung, über die alle Bescheid wissen. Diese Beschattung hat das Ziel, eine Handlung herbeizuführen. Anders als bei einer einfachen Beschattung wird hier nie etwas an die örtlichen Strukturen delegiert. Weder weiß der lokale FSB, dass diese Menschen kommen, noch sprechen sie mit jemandem vor Ort, mit Ausnahme der Region Stawropol und Tschetschenien.

    Der erste Teil des Auftrags wird also ausschließlich von Menschen aus der 2. Abteilung ausgeführt. Und dann, ab einem bestimmten Zeitpunkt, werden Spezialisten aus dem NII 2 eingeschaltet. Das sind dann Chemiker, Ärzte oder Fachleute für Chemiewaffen oder Chromatographie-Spezialisten, es gibt auch Fachleute, die wissen, wie man Spuren verschiedener Chemikalien findet, und so weiter und so fort. Aber die kommen erst in der letzten Phase dazu.

    So wurde uns die Arbeitsteilung klar. Und auch, dass die Beteiligten sich gegenseitig nicht unbedingt gut kennen. Kudrjawzew, zum Beispiel, der „Spurenbeseitiger“ aus dem NII 2, mit dem Nawalny telefoniert hat, kannte die Namen seiner Kollegen nicht … Er wusste zum Beispiel nicht, wie der Kollege aus der 2. Abteilung heißt, mit dem seine direkten Kollegen aus dem NII 2, Ossipow und Alexandrow, zusammen den Anschlag auf Nawalny verübten.

    Wer sind Ossipow und Alexandrow?

    Ossipow und Alexandrow sind zwei Chemiker und Ärzte, zwei Schlüsselfiguren aus dem NII 2. Sie arbeiten seit 2008 in diesem Dienst. Dem Vergiftungsdienst. Nach unserem Kenntnisstand sieht die Rangordnung folgendermaßen aus: Diese Ärzte führen Aufgaben aus, die ihnen die 2. Abteilung überträgt. Die 2. Abteilung wiederum steht in Kontakt zur politischen Führung.

    Das heißt, der Auftrag kommt von oben …

    Man könnte es so formulieren: Die Listen führt die 2. Abteilung des FSB.

    Haben Sie diese Listen jemals gesehen?

    Nein, wir selbst nicht. Ich habe schon vor langer Zeit von der Existenz dieser Listen gehört, schon 2014/2015. Von Menschen, die früher beim FSB oder in den Machtstrukturen tätig waren. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, falls es sie gibt, dann eher im Wirtschaftsbereich, dass jemand [privat] Abschusslisten führt. Aber jetzt weiß ich, dass diese Listen doch über die 2. Abteilung erlassen werden. In der letzten Phase, wenn der Anschlag verübt wird, ist immer jemand aus der 2. Abteilung und ein oder zwei Vertreter der Chemiebrigade aus dem NII 2 involviert.

    Vielleicht wählen sie einen Kriminellen, der tut, was man ihm sagt

    Das heißt, das NII 2 ist eine rein ausführende Instanz.

    Sie sind Dienstleister. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass die Leute aus der 2. Abteilung, die die Operation vorbereiten, sie nicht zwangsläufig mit den Händen des NII 2 zu Ende bringen. Vielleicht wählen sie auch ein anderes Mittel, eine Pistole zum Beispiel und einen Kriminellen, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und tut, was man ihm sagt.

    Das war eine sehr beliebte Methode des KGB.

    Ja. Und einige von unseren zukünftigen Recherchen werden vermutlich zeigen, wie das gemacht wird. Das heißt, durch die 2. Abteilung des FSB, aber mit anderen Händen.

    Der KGB entließ für die Ausführung eines Auftrags gewöhnlich einen Häftling mit lebenslanger Haftstrafe aus dem Lager, oder jemanden, der in den Uranminen seine Strafe verbüßte.

    Etwas Ähnliches konnten wir in der Ukraine beobachten, als ein Oberst der ukrainischen Militäraufklärung eliminiert werden sollte, der offenbar russische Militärinteressen im Osten der Ukraine verletzt hatte. Der Mann, den sie dort hinschickten, reiste mit einem gefälschten Pass ein, einem tadschikischen oder kirgisischen. Aber der Anschlag missglückte, die Autobombe tötete ihn selbst. Wir haben uns daraufhin angeschaut, wer er war, welchen Background er hatte, wir konnten ihn identifizieren. Wie sich zeigte, war er ein ehemaliger Polizist, Ermittler beim Drogendezernat in Moskau. Er war der Erpressung einer sehr großen Bestechungssumme überführt und zu einer hohen Haft- und einer riesigen Geldstrafe verurteilt worden, fast eine Million Dollar. Und vier, fünf Monate nach der Verurteilung tauchte er plötzlich in Kiew auf – offenbar hatte man ihm angeboten, seine Probleme loszuwerden …

    Es gibt eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des Militärnachrichtendienstes

    Warum hat man mit der Beseitigung Litwinenkos in London Lugowoi beauftragt – der doch beim KGB gearbeitet hat, für die Nomenklatura zuständig war, zu Gaidars Personenschutz gehörte und so weiter?

    Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber logisch kann ich es mir so erklären, dass sie jemanden gebraucht haben, dem Litwinenko vertraute und den er treffen würde, obwohl er Angst vor einem Anschlag hatte. Übrigens erinnere ich mich, dass es wohl auch gegen Lugowoi zu jener Zeit oder schon früher ein Strafverfahren gab.

    Ja stimmt, Lugowoi hatte ebenfalls große Probleme mit den russischen Behörden. Und das Attentat auf Skripal und seine Tochter in Salisbury – da gilt es doch als bewiesen, dass die Killer aus dem Militärnachrichtendienst GRU kamen.

    Da gibt es eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des GRU. Nur die Morde an Tschetschenen übernimmt normalerweise der FSB. Das gilt als dessen Territorium, da werden die Grenzen Russlands sozusagen virtuell ausgeweitet. Deshalb war auch die Ermordung Khangoshvilis in Berlin 2019 Sache des FSB. Genau wie der Mord an einigen anderen Islamisten und Terroristen (die sie in deren Augen sind) 2014, 2015 und noch 2016 in der Türkei. Aber der Anschlag in Salisbury war ganz sicher Sache des GRU. Nicht nur, weil es das Ausland war, sondern auch, weil das Opfer ein Kollege war, jemand vom Militärgeheimdienst.

    Nur sehr wenige Leute sind in die politischen Morde eingeweiht

    Das sind also die Ausführenden. Und die Auftraggeber beziehungsweise diejenigen, die den Auftrag für die oberste Führung Russlands ausarbeiten, das sind die 2. Abteilung und der ihm zugehörige Verfassungsschutz. Die 2. Abteilung wird von General Sedow geleitet. Wo genau verorten Sie seine Rolle?

    Wir sehen nur eine Hierarchieebene zwischen General Sedow und dem ranghöchsten Mitarbeiter, der konkret an diesen Attentaten beteiligt war: Roman Mesenzew aus der 2. Abteilung, der Kara-Mursa bis zu dessen Vergiftung beschattet hat. Er steht in der Rangordnung ziemlich weit oben, ist entweder Oberst oder General. Dieser Roman Mesenzew steht in direktem Kontakt zu General Sedow, das heißt, seinem direkten Vorgesetzten. Deshalb glaube ich, dass der Weg vom Chef der 2. Abteilung zu den Todesschwadronen, wie man sie bezeichnen kann, recht kurz ist.
     
    Es ist doch aber erstaunlich, dass ein Oberst oder General die Beschattung übernimmt, da stimmt doch etwas nicht.

    Noch einmal: Das ist keine Beschattung, verstehen Sie? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Nur sehr wenige Leute sind eingeweiht. Dieser Kreis darf nicht erweitert werden, sonst hätten wir das, was wir jetzt wissen, schon vor fünf bis zehn Jahren gewusst. Diese Art von Arbeit ist nicht nur illegal, sondern auch illegitim. Und nur Leute, die das bereits verinnerlicht haben, bleiben weiterhin eingeweiht. Sonst könnte es jemanden geben, auch innerhalb des FSB, der davon erfährt, dass sie politische Gegner beschatten, und der sich dann einfach besäuft, es seiner Frau erzählt und so weiter, und dann würde alles ins Rollen kommen. Deshalb wissen nur sehr wenige von der Existenz dieser Unter-Unter-Unterabteilung der Dienststelle S [Verfassungsschutz – dek]. Und das macht es manchmal erforderlich, dass auch jemand aus der Führungsebene mitarbeitet.

    Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt der erste Mann im Staat

    [Bellingcats Auswertungen von Passagierlisten russischer Linienflüge haben Bewegungsprofile von FSB-Mitarbeitern offengelegt und zahlreiche Hinweise auf Nawalnys Vergifter geliefert. – dek] Wohin ist General Sedow denn geflogen?

    Sedow ist recht viel geflogen, doch eine konkrete Überschneidung sehen wir mit Oberst Eduard Bernezki, der beispielsweise das Attentat auf Khangoshvili in Berlin unmittelbar koordinierte und überwachte. In Russland sind sie mehrmals zusammen geflogen, General Sedow und dieser Eduard Bernezki. Und einige Zeit später koordinierte Bernezki das Attentat auf eine der Zielpersonen. Daher ist Sedow mit Sicherheit eingeweiht, anders kann es nicht sein. Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt nämlich der erste Mann im Staat. Deshalb würde es dieser erste Mann niemals zulassen, dass jemand anderes die Entscheidungen fällt und absegnet.


     
    Ehemalige KGBler sagen Folgendes: Niemand lässt sich auf einen politischen Mord ein, wenn es keine Garantie gibt, dass er am Ende nicht der Dumme ist. Und der Einzige, der deinem Vorgesetzten diese Garantie geben kann, der wiederum dir einen solchen Befehl erteilt, ist der erste Mann im Staate – der Generalsekretär oder der Präsident.

    Aber glauben diese Leute – hier geht es um die Giftmischer und die Leute aus der 2. Abteilung –, glauben die ihrem General Sedow aufs Wort, dass diese Entscheidung auf höchster Ebene getroffen wurde? Ich würde an deren Stelle nicht darauf vertrauen, dass mich jemand im Falle des Falles rettet … 

    Da können wir nur Vermutungen anstellen. Jedoch wissen wir etwas durch die Aussagen von Sudoplatow und dessen Stellvertreter Eitington, die nicht an der Spitze des NKWD, der OGPU, des NKGB et cetera standen, sondern Abteilungsleiter waren. Sie wussten nämlich, dass der Befehl zur Beseitigung eines politischen Widersachers unmittelbar von Stalin oder von Stalin und Molotow kam. Sudoplatows Aufzeichnungen zufolge konnte es anders gar nicht sein.

    Der Fall Bykow: ‚Es gab eine Vergiftung, das haben Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie nicht wussten, womit.‘

    Da ist noch eine wichtige Frage. Beim Fall Nawalny konnten Sie nicht nur aufdecken, dass er von Leuten des NII 2 beschattet wurde, es ist ihnen auch gelungen, einen der „Spurenbeseitiger“ zu kontaktieren: Kudrjawzjew, der in eben diesem NII 2 arbeitet. Wir haben keine Zweifel, wer den Mord mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe in Auftrag gegeben hat. Was aber die Mordversuche an Kara-Mursa und Bykow angeht … Wir sehen, dass in beide Fälle Ossipow vom NII 2 verwickelt war. Woher wissen wir aber, dass Bykow vergiftet wurde? Dmitri Muratow, der seinerzeit unmittelbar Bykows Abtransport aus Ufa organisiert hatte, erzählte mir, dass Bykow sehr hohe Blutzuckerwerte hatte, und er starke Zweifel hat, dass es eine Vergiftung war. Welche Beweise haben Sie?

    Zum einen gab es eine Beschattung, und zwar eine vorbereitende, nach demselben Prinzip, das wir bei Nawalny gesehen haben. Zuerst war es nur die Dienststelle S, dann wurde ein Chemiker und Arzt hinzugeholt, Ossipow. Der verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit im NII 2. Eine Analyse seiner Telefon- und Verbindungsdaten zeigt, dass er ausgerechnet mit Fachleuten für Nowitschok zu tun hat. Das heißt, er steht im Wesentlichen in Kontakt mit Leuten aus dem ehemaligen 33. Institut [33. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek] und mit jenen, die jetzt im Wissenschaftszentrums Signal tätig sind und dort an einer Weiterentwicklung des Nervengifts Nowitschok arbeiten. Das heißt, er ist nicht irgendein beliebiger Beschatter. Er machte sich unter falschem Namen auf, auch das ist wichtig. Denn die Beschattung wird oft unter dem Klarnamen durchgeführt. Wenn sie sich aber entscheiden aktiv zu werden, nehmen sie die zweiten Pässe, um keine Spuren zu hinterlassen (wobei sie damit meiner Ansicht nach nur noch mehr Spuren hinterlassen).

    Deshalb ist Ossipow unter dem Namen Spiridonow ausgerechnet nach Nowosibirsk geflogen, ohne Rückflugticket und mit einer zweiten Person, die am Tag der Vergiftung Nawalnys ebenfalls mit Nawalny in Tomsk war. Ihr Vorgesetzter Sucharew fliegt zur gleichen Zeit nach Sotschi, ebenfalls ohne Rückflugticket. 

    Und in der Nacht, nachdem Bykows Hotelzimmer ungefähr sechs Stunden lang leergestanden hatte (der ideale Zeitpunkt, um dort reinzugehen), da kauften sie sofort Tickets und kehrten am nächsten Tag nach Moskau zurück. Zwei Tage später fällt Bykow ins Koma.

    Es bleibt die Frage, ob das Koma durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Und als Antwort sollte man nicht die Worte oder Versionen von Herrn Muratow übernehmen, der Bykow seinerzeit sehr geholfen hat, der ihm wohl wirklich das Leben gerettet hat. Weil die Ärzte in ihrer Diagnose „Vergiftung durch unbekannte Substanz“ geschrieben hatten. Was von erhöhtem Blutzucker begleitet wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er in einem prädiabetischen Zustand war. Man muss aber wissen: Eine Vergiftung mit organischen Phosphaten wird stets von einem erhöhten Glukosespiegel begleitet.

    Also, es gab eine Vergiftung, das haben die Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie damals nicht wussten, womit. Der Giftmörder war ganz in der Nähe. Welche harmlose Erklärung wollen Sie mir da geben?

    Bykow glaubte aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde

    Es gab den Anschlag auf Wladimir Kara-Mursa, die Gründe sind mehr oder weniger klar. Er ist ein Politiker, der ganz direkt den Magnitsky-Act vorantreibt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern. Es liegt auf der Hand, wer sich warum an ihm rächen will. Bei Alexej Nawalny ist es noch offensichtlicher. Er ist Putins persönlicher Feind. Dann gibt es noch den Fall Pjotr Wersilow, bei dem man in der Charité keine giftigen Substanzen gefunden hat. Allerdings vermuten Angehörige, dass er ebenfalls mit etwas vergiftet wurde.

    Aber nun zurück zu Bykow. Er ist zweifellos sehr talentiert und hat hervorragende Romane geschrieben; einige seiner Vorlesungen sind einfach genial. Ein Dichter! Warum hätte man ihn vergiften wollen?

    Zu den Motiven weiß ich keine Antwort. Und der Umstand, dass es keine offensichtlichen Motive gab, hat mir noch mehr innere Überzeugung abgefordert, dass es sich um einen Vergiftungsanschlag handelte. Denn es ist sehr viel einfacher, den Leser zu überzeugen, dass jemand vergiftet wurde, wenn es ein offensichtliches Motiv gibt. Fehlt das, ist die Unsicherheit viel größer. Deswegen haben wir so lange für diesen Bericht recherchiert.

    Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich habe Bykow einen Tag vor der Veröffentlichung gefragt. Er wusste auch keine Antwort, glaubte aber aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde.

    Sie reden mit Pseudowissenschaftlern. Das ist die Art Berater, die sie haben

    Wir wissen nicht, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie sie denken. Vielleicht haben sie irgendein Labor, in dem sie Risikomodelle erstellen. Ich weiß, dass diese Leute Pseudowissenschaft betreiben. Das sieht man an ihren Telefongesprächen, aus den Verbindungsdaten, den Gesprächen mit diversen Wahrsagern und Hellsehern.

    Sie reden mit Pseudowissenschaftlern … Das ist die Art Berater, die sie haben … Daher ist es durchaus möglich, dass sie irgendein virtuelles Labor haben, in dem ihnen jemand etwas prophezeit, wie in Minority Report, falls sie den Film gesehen haben …

    Könnte es sein, dass sie getestet haben, welche Dosis tödlich ist, welche nicht, bei Menschen mit unterschiedlicher Statur, mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen?

    Das wäre zu grausam, sogar für sie. Kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre zu viel.

    Ich denke, das Risiko, dass eine solche Operation scheitert, wäre zu groß, als dass sie an so zentralen Persönlichkeiten herumprobieren würden. Sie würden das bei irgendwelchen unbekannten Leuten machen.

    Mörder heranzuziehen ist ein besonderer Prozess

    In einem der Videoclips sagen Sie zurecht, dass wir von Fällen wissen, in denen ein Giftanschlag misslungen ist, dass wir aber nicht wissen, wie viele Menschen ermordet wurden. Rätselhafte Todesfälle hat es sowohl in London als auch in Moskau gegeben, und wohl auch an anderen Orten. Sie haben mir in einem der Interviews gesagt, dass es, wenn man all die Daten bei Gericht vorlegen würde, sehr schwierig wäre, sie zu leugnen, dass das Gericht genug Beweise hätte, um ein Verfahren wegen versuchten Mordes oder Mordes zu verhandeln. Was meinen Sie, würde so etwas die russische Staatsführung davon abhalten, mit dieser Praxis fortzufahren oder nicht?

    Ich denke, das würde den Staat nicht aufhalten. Es würde aber sehr viel schwieriger werden, diese Strukturen schnell zu regenerieren, sie überhaupt wiederherzustellen. Mörder heranzuziehen ist nämlich ein besonderer Prozess. Es gibt ein recht großes Kontingent an Leuten, die zu den Sicherheitsdiensten gehen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im weiteren Verlauf sind sie bereit, sich ein recht breites Verständnis, eine weit gefasste Definition von Feind eigen zu machen. In keine dieser Definitionen passt für einen frischgebackenen FSBler aber ein Feind wie Nawalny, ein Feind wie Bykow.

    Am Anfang ist der Feind ein Terrorist, der während des Musicals Nord-Ost oder in einer Schule Geiseln nimmt oder Unschuldige mit einer Bombe umbringt und so weiter. Darauf sind sie vorbereitet, verstehen sogar, dass man einiges jenseits des Gesetzes machen muss, allerdings im Namen einer guten Sache. Aber nach einer Weile entfernen sich die Ziele von diesem Verständnis, es kommen Feinde hinzu, die nicht mehr ganz so offensichtlich Feinde sind – und das geht so weit, dass sie aufhören, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und schließlich zu Geiseln ihrer eigenen Arbeit werden. Dieser Prozess braucht nach unseren Beobachtungen allerdings mindestens fünf, sechs, sieben Jahre.
     
    Das heißt also, die Todesbrigaden bestehen aus auserwählten Menschen, die sich längst nicht alle zu direkten politischen Morden bereiterklären, selbst auf Befehl nicht. Müssen General Sedow und die Führungsriege des NII 2 jetzt, wo viele von diesen Leuten durch Ihre Recherchen im Rampenlicht stehen, intensiv an den Personalressourcen arbeiten, um neue Todesbrigaden aufzubauen?

    Absolut richtig. Umso mehr, als es sehr viel schwieriger sein wird, neue Leute für etwas zu rekrutieren, bei dem es nicht mehr wie früher die Garantie gibt, dass alles auf immer geheim bleibt. Wie es aussieht, haben ein paar nichtsnutzige Journalisten es offenbar geschafft, sie zu enttarnen und ihr Privatleben zu zerstören, weil sie bereits von ihren Nachbarn gehasst werden, verstehen Sie? Und von ihren Verwandten. Ich denke, es wird sehr viel schwieriger werden, neue Leute zu rekrutieren.

    Nach dem, was er getan hat, kann er nicht von dieser Macht zurückzutreten

    Da wäre noch ein Punkt. Wir alle erinnern uns, wie US-Präsident Joe Biden die Frage eines amerikanischen Journalisten bejahte, ob er Putin für einen Mörder halte. Der Sender NBC, der Putin vor dem Treffen der beiden Präsidenten [in Genf] interviewte, fragte ihn ganz direkt: „Sind sie ein Mörder?“ Putin wird zum Gefangenen einer aus seiner Sicht schlecht erledigten Arbeit (aus unserer Sicht: Danke, dass sie nicht mal fähig sind zu morden). Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mich fragen: Was nützen mir Vollstrecker, die nichts sauber hinkriegen und mich in eine so heikle Lage bringen? Umso mehr, wenn dann sogar die Kinder fragen: „Papa, hast du wirklich Morde genehmigt?“ Oder der engste Kreis sagt: Wie können wir einen Präsidenten akzeptieren, von dem die ganze Welt sagt, dass er ein Mörder ist? Da entstehen doch für Putin, was sein Überleben betrifft, ganz erhebliche Risiken, oder nicht?

    Ja. Ich denke, er ist Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Ich sage das nicht als investigativer Journalist. Das ist meine persönliche Analyse. Nach dem, was er getan hat oder aus guter alter Tradition weiterhin tat, obwohl es nicht mehr angebracht war, kann er es sich nicht erlauben, von dieser Macht zurückzutreten. Und garantieren, dass er nicht geht oder zumindest nicht auf normale Weise geht, kann er nur, wenn er diese Strukturen aufrechterhält. Weil sonst niemand weiß, was in ein, zwei Jahren bei den Wahlen passieren wird. Es ist unmöglich, sich auf sanfte Art von solchen Entscheidungen, von einem solchen Arsenal zu lösen.

    Er ist nicht mehr so sehr der Verteidiger und Förderer der Interessen der herrschenden Nomenklatura, sondern stellt für deren Kapital ein gewisses zusätzliches Risiko dar. Ich würde sagen: das ist ein Gefangenendilemma.

    Ich denke aber, was in diesem Dilemma überwiegen wird … Vermutlich wird sich eher die Elite von ihm lossagen als er sich von der Elite. Weil die Elite dann ihr Gesicht wahren kann, und sei es um der eigenen Verwandten und Kinder willen, indem sie erklärt: Ich habe ja nicht gewusst, dass er das getan hat.

    Es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und dem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast

    Umso mehr, als dass niemand in der Elite sicher sein kann, dass er nicht morgen auch auf einer solchen Liste landen könnte, wie unter Genosse Stalin. Meine letzte Frage, Christo. Sie sind wohlhabend, Sie leben in Europa, Sie kommen aus Bulgarien, und nicht aus Russland. Wozu machen Sie das alles?

    Nun, das ist doch alles sehr ungerecht, und ich sehe, dass man es ans Tageslicht befördern und beweisen muss … Haben Sie mal den Film über diesen amerikanischen Chemielehrer gesehen, der zum Drogenhersteller wurde, Breaking Bad? Ich habe diesen Film vor anderthalb, zwei Jahren gesehen und dachte, dass ich diese Motivation zum Teil auch habe. Das heißt, du fängst an, etwas zu tun, was überhaupt nicht deine Aufgabe ist, und plötzlich stellt sich heraus, dass du es besser machst als die Geheimdienste. Und es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und diesem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast … Es ist sehr schwer aufzuhören, wenn du das erstmal erkannt hast.

    Vielen Dank für Ihre Arbeit.

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  • „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Welche Rolle spielt das Fernsehen derzeit in Russland? Ist das Internet immer ein Garant für Informationsfreiheit? Wie hängen Patriotismus, Medien und Politik zusammen? Wie populär ist Putin wirklich, und bei wem? Diese Fragen verfolgen Yevgenia Albats und Iwan Dawydow von The New Times im Interview mit dem profilierten Ökonomen Konstantin Sonin, HSE Moskau und seit September 2015 auch University of Chicago.

    Internet versus Fernsehen

    Bekanntermaßen hängen Demokratisierungsprozesse unmittelbar mit dem Zugang zu Informationen zusammen und damit, ob Menschen die Möglichkeit haben, Alternativen abzuwägen. Eben darum schien mit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Internets in Russland keine ernstzunehmende Rückwärtsbewegung mehr möglich: Solange die Behörden das Netz nicht einfach dichtmachen, würden die Menschen wachgerüttelt und die Aussicht, erneut hinter einem eisernen Vorhang zu landen, ließe sie schaudern. Doch was in unserem geliebten Vaterland geschehen ist, scheint ganz und gar unerklärlich. Zugang zum Internet, zu alternativer Information ist da, doch das Land klebt an den Fernsehgeräten, die Leute schlucken, was vom Bildschirm auf sie einströmt, und unternehmen nicht einmal den Versuch, den Inhalt auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu prüfen. Das Internet ist der Fernsehpropaganda unterlegen. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Gerade das letzte Jahr gibt uns in dieser Hinsicht zu denken, offenbar sind Informationen kein so einfacher Gegenstand, wie es scheint. Die Erfahrung von 2014 hat gezeigt: Die Tatsache, dass Informationen zugänglich sind, bedeutet noch nicht, dass sie in irgendeiner Form genutzt würden. Zum einen hat ein und dieselbe Information für verschiendene Menschen unterschiedliche Bedeutung, je nach dem Weltbild, das in den Köpfen bereits vorhanden ist. Zum anderen bauen die Menschen jede neue Information so in ihr Bild der Gegenwart und der Zukunft ein, wie es ihren Vorlieben entspricht: Die passenden Bausteine nehmen wir uns, den Rest lassen wir liegen.

    Das heißt aber nicht, dass über das Fernsehen jeder beliebige Inhalt lanciert werden könnte. Nehmen wir doch einmal folgendes Szenario, als Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, die Ressourcen, die auf die Propaganda für den Ukrainekrieg und die Annexion der Krim verwendet wurden, wären stattdessen darauf gerichtet gewesen, dass die Oblast Rostow an die Ukraine abgetreten werden soll. Hätten wir die Oblast Rostow dann tatsächlich der Ukraine gegeben? Ich bin überzeugt, dass das nicht geschehen wäre. Das bedeutet, dass die Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt oder auf gewisse zuvor nicht realisierte, aber doch lebendige Vorlieben trifft.

    Die Propaganda funktioniert, wenn sie das innerste Wesen des kollektiven Bewusstseins anspricht. Ich glaube, in jedem Land kann sich ein Politiker, wenn er das will, des aggressiven Wesens des Menschen bedienen. Aber längst nicht alle setzen zur Erhaltung ihrer Macht auf diesen Weg.

    Ich denke, wir müssen einsehen, dass der mögliche Zugang zu Quellen unzensierter Informationen, zur freien Presse nicht so entscheidend ist, wie wir angenommen haben. Wir sehen heute, dass es Dinge gibt, die tiefer liegen. Das hätten wir allerdings auch schon früher begreifen können. Als zum Beispiel in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, ging dies zwar mit Gewalt einher, es existierte aber dennoch eine verhältnismäßig freie Presse. Was die Mehrheit allerdings nicht daran hinderte, dem Irrsinn zu verfallen und mit Hitler zu sympathisieren.

    Die Büchse der Pandora

    Denken Sie an den arabischen Frühling. Die Medien schrieben: Am Anfang war ein Wort, und dieses Wort war ein Tweet.

    Massenkundgebungen und spontane Aufstände gab es lange vor der Erfindung des Internets und sogar vor der Erfindung der Schriftsprache. Twitter hat die Versammlung auf dem Tahrir-Platz leichter gemacht, aber es ist nicht gesagt, dass sich dort nicht auch sonst Massen von Menschen zusammengefunden hätten. Ich würde die Rolle der sozialen Netzwerke auch im Fall der Mobilisierung für den Bolotnaja-Platz und Sacharow-Prospekt nicht überbewerten. Auch ohne die Internet-Aufrufe wären nicht weniger Demonstranten gekommen. Man braucht nur an die riesigen Kundgebungen Ende der 1980er Jahre zu denken: Damals wurde jedes Flugblatt, das mit Durchschlag auf der Schreibmaschine getippt wurde, einzeln in einen Briefkasten gesteckt, und es kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen – wesentlich mehr als heute mit Hilfe des Internets.

    Wir haben die kühne Hypothese aufgestellt, Glasnost hätte nichts mit dem Niedergang des sowjetischen Regimes zu tun. Die Perestroika – ja, das Gesetz über die Kooperativen und die missglückten Wirtschaftsreformen – ja, die wirtschaftliche Stagnation – ja, aber Glasnost – nein.

    Mir kommt es vor, als hätte das Volk Sehnsucht nach Propaganda. Die gigantischen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jubiläum des Tags des Sieges haben eine Explosion der Begeisterung ausgelöst, alle schauten die alten Filme, hörten die alten Lieder. Was hatte die Leute vorher davon abgehalten? Sie hätten sich jederzeit eine DVD oder eine CD kaufen und für sich alleine feiern könen! Aber nein. Im Fernsehen sollte das alles kommen. So ist es auch mit der Propaganda. Unterschwellig entsprach ihre gegenwärtige Thematik den Erwartungen: Keiner mag uns und wir mögen die anderen auch nicht – besonders die Ukrainer und die Amerikaner. Und schuld an allem sind die Juden und die Liberalen. Das passte bestens zu den politischen Zielen der Führung unseres Landes.

    Ich glaube, wenn beispielsweise Alexej Nawalny oder Wladimir Ryshkow freien Zugang zum Fernsehen hätten, würden die mit Äußerungen wie „Jakunin mit seinen Pelzdepots soll verurteilt werden und hinter Gitter kommen“ allgemeine Zustimmung erreichen. Wenn man aber die gesamte Prime-Time darauf verwendet zu begründen, dass wir eine rechtsstaatliche Gesellschaft brauchen, also ein faires und unabhängiges Gericht mit Einhaltung parlamentarischer Verfahren bei der Annahme von Gesetzen und der Gewährleistung freier Konkurrenz auf dem Markt – dann geht all das ins Leere, und da hilft auch keinerlei propagandistische Ressource.

    Überdies hat das heutige Regime mit seiner Hetzpropaganda eine Pandorabüchse so voller Hass geöffnet, dass es auch einer nachfolgenden Regierung kaum gelingen wird, sie wieder zu schließen. Zu dem Thema habe ich mich einmal mit Michail Chodorkowski unterhalten. Ich frage ihn: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen an die Macht und haben sich, sagen wir, den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. Das Volk fordert von Ihnen, alle korrupten Beamten und Politiker hinter Gitter zu bringen. Werden Sie sie hinter Gitter bringen?“ „Nein, das kann ausschließlich ein von mir unabhängiges Gericht“, antwortet Chodorkowski. „Aber das Volk verlangt trotzdem, dass Sie persönlich darüber entscheiden, wer wie lange hinter Gitter kommt“, wende ich ein. „Ihre Argumente für ein Gerichtsverfahren werden als Schwäche aufgefasst: Das Volk will umgehende Bestrafung, und Sie schlagen ein kontradiktorisches Verfahren vor.“ Es ist eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Wer auch immer als nächstes an die Macht kommt, wird gewissermaßen Geisel der heutigen Vorlieben und Erwartungen sein.

    Trügerische Zahlen

    Sehr wichtig ist zu verstehen, dass es nichts bringt darüber zu lamentieren, ob das Volk nun gut oder schlecht ist, aufgeklärt oder ungebildet – man muss an die gebildeten Schichten, an die Elite appellieren. Aber eines ist doch bemerkenswert: Unter den Putinanhängern, den Befürwortern von Krymnasch und dem Krieg in der Ukraine, findet sich eine große Zahl von Leuten, die keine Steuern zahlen und denen ihr Salär einfach im Umschlag ausgehändigt wird. Man sollte meinen: Eine starke Armee erfordert eine Menge Geld, also unterstütze die Macht, welche auch immer, und zahl Steuern. Die Antwort: „Wozu? Die stecken sich doch sowieso alles in die eigene Tasche.“

    Das ist eines dieser mystischen Dinge – die ständig auftauchenden Zahlen zu Putins großer Popularität, und dabei ist es gar nicht so einfach, diese uneigennützigen Fans seiner Politik im wirklichen Leben zu Gesicht zu bekommen. Auch in meinem Umfeld gibt es Leute, die Putin unterstützen, allerdings – für Geld. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass diese Unterstützung eine Scheinunterstützung ist. Wie viele Menschen bekommt Putin denn zusammen für eine Kundgebung, wenn er sie nur über das Fernsehen anspricht, ohne Administrative Ressource, ohne die ganzen Busse, die angeblich seine glühenden Anhänger herankarren! Ich vermute, gerade mal tausend.

    Aber was bezeichnen wir dann als Popularität? Bei uns ist die Popularität des Präsidenten eine sehr spezielle Popularität. Wenn die Soziologen bei uns einen Menschen fragen, ob er für den Präsidenten ist, dann antwortet er: Ja. Ansonsten ist er in den meisten Fällen gar nicht für ihn. Er beklagt sich über sein schweres Los. Schimpft auf die Beamten. Kann die Abgeordneten nicht leiden. Er ist der Ansicht, dass an der Macht sowieso alle stehlen. Kurz, im täglichen Leben sagt er durchweg „nein“, aber bei der Umfrage „ja“.

    Ich möchte aber noch etwas anderes zu bedenken geben. Die sehr wichtige Entscheidung über den Beitritt der Krim wurde ja in engen Kreis getroffen, ohne Beteiligung von Vertretern des Wirtschafts- und Finanzblocks. Das ist ein Merkmal einer Dysfunktion, eines Versagens im System der Staatsverwaltung. Infolge dieses Funktionsversagens befinden wir uns heute in einer äußerst schwierigen Situation mit einer fatalen inneren Entwicklungslogik.

    Wir haben faktisch eine Armee, die Kriegshandlungen durchführt, und dazu haben wir offenkundig noch einen Super-Überbau, der damit beschäftigt ist, diese Armee so aussehen zu lassen, als sei sie keine Armee. Eine gewaltige Menge von Menschen und eine noch gewaltigere Menge an Geld ist involviert in das, was sich im Osten der Ukraine abspielt. Und noch mehr sind mit der Vorbereitung auf irgendeinen fantastischen großen Krieg beschäftigt. Und wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, ist völlig unklar.

    Nutznießer der Verhältnisse

    Es gab also ein Versagen im System der Staatsverwaltung. Warum hat man die Sache danach noch weitergetrieben? Ging es den Profiteuren des Regimes nicht auch ohne Krieg in der Ukraine bestens?

    Kurzfristig ziehen alle Leute, die in der Kriegsindustrie sitzen, Vorteile aus dieser Situation. Heute werden, so weit ich sehe, alle wesentlichen Entscheidungen von einer ganz kleinen Gruppe getroffen, in der die Silowiki und die Militärs absolut überproportional vertreten sind. Das heißt, anstelle eines Gremiums, in dem das größte Gewicht bei den Ministern für Wirtschaft und Finanzen liegt, wird heute alles von den Silowiki entschieden. Aber für einen Hammer sieht alles um ihn herum aus wie ein Nagel. So auch für die Silowiki – ihre Prioritäten bestehen einzig darin, dass der Krieg weiter finanziert wird. Und heute zu erwarten, dass von den Silowiki einer aufsteht und sagt: Nein, Leute, wir können nicht so viel für den Krieg ausgeben und die ganzen Mittel vom Konsum abziehen – das ist naiv.

    Die Militärausgaben führen unvermeidlich zu Abstrichen bei den sozialen Haushaltsposten, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – auch für die, die jetzt Putin applaudieren.

    Wenn wir in dieser Weise über den Haushalt sprechen, haben wir es mit Metaphern zu tun, aber in Wirklichkeit ist der Haushalt zum Teil ein Gummihaushalt, entscheidend sind die Prioritäten. Man kann noch mehr Panzer fabrizieren, noch weniger für Bildung und Gesundheit ausgeben und noch mehr für Propaganda, und die Militärausgaben noch einmal verdoppeln. Das Material wird sich widersetzen, aber es wird Rogosin nicht zwingen, den Weg freizumachen. Rogosin wird Druck machen. Zumal er die Folgen nicht ausbaden muss. So wie zum Beispiel der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow. Er machte Druck und blieb stur, und die Folgen musste das ganze Land ausbaden, das dann in der Folge auch zusammenbrach. Heute kann man unseren Haushalt so straffen, Investitionsprojekte und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung so sehr zusammenkürzen, dass man den Militärhaushalt verdoppeln kann. Verdreifacht man ihn, gehen die Lehrer auf die Straße, und in den Krankenhäusern geht das Licht aus – aber auch das ist möglich. Vervierfachen geht wahrscheinlich nicht. Aber diese Richtung kann man jedenfalls noch lange weiterverfolgen.

    Und dazu braucht man dann auch die Propaganda: der Feind steht vor den Toren.

    Genau. Darum liebe ich das Beispiel von Slobodan Milošević. Während er Präsident von Serbien war, schrumpfte das Land auf die Hälfte zusammen, der Lebensstandard der Serben halbierte sich, krasser als bei uns in den schlimmsten Momenten der 1990er Jahre. Bei seinen letzten Wahlen erhielt er fast 36 Prozent der Stimmen. Die Propaganda hatte ihr Werk getan. Die Ausbeutung nationalistischer Ambitionen kann Menschen dazu bringen, große Probleme zu beschönigen und gravierende Opfer zu rechtfertigen.

    Die Krim-Hysterie hat sich gelegt, das Projekt Noworossija wird offenbar langsam eingestellt …

    Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine Menge Leute, die ein Interesse an der Fortführung des Projekts Noworossija haben. Seine Nutznießer sind die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex, außerdem gibt es Leute, die damit ihre Popularität aufrechterhalten. Es ist ja unverkennbar, dass viele die Fortsetzung des Banketts wollen.

    Und trotzdem muss man nachlegen, damit das patriotische Feuer weiter brennt?

    Ich glaube, Sie überschätzen die Dimension der Absichten. Ich gehe davon aus, dass es innerhalb der Macht keinerlei Gedanken daran gibt, die Bevölkerung zu betrügen. Putin und seine Entourage glauben selbst daran, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die NATO vor den Toren steht. Und nicht nur das, die Leute, die diesen Glauben nicht teilen, werden aus den höheren Machtetagen verdrängt. 

    Dazu kommt, je mehr sie sehen, dass sie von Feinden umgeben sind, desto mehr rechtfertigt dies den eigenen Verbleib an der Macht. Angeblich sitzen wir im Schützengraben, wir kämpfen gegen den Feind, und wenn wir den Schützengraben verlassen, werden die Feinde unser Territorium besetzen. Eben dieses Motiv rechtfertigt auch zehn Jahre Führung durch Staatskorporation. Es wird im großen Stil geplündert, alles ist entsetzlich ineffektiv, aber die Hauptsache ist, ich sitze im Schützengraben. Mit einer derartigen Argumentation kann ich alles rechtfertigen, was mit mir passiert, und hinsichtlich dessen, was ich über mich höre, eine kognitive Dissonanz zulassen. Und wenn ich gehe, bricht überhaupt alles zusammen. Das ist das Modell, das heute in Kraft ist.

    Wie wird das weitere Szenario aussehen?

    Wenn es nicht zu irgendwelchen außerordentlichen politischen Entscheidungen kommt, etwa Mariupol, Charkow und Kiew anzugehen, was vor zwei Jahren ausgeschlossen und heute bloß noch eher unwahrscheinlich erscheint, kann die Wirtschaft im heutigen Zustand noch fünf bis zehn Jahre so weiterbestehen – und zwar ohne besondere Probleme. Aber dann wird es erneut zu einer Krise wie 1991 kommen, d. h. einer Haushaltskrise und einer politischen Krise. Allerdings ein paar Nummern kleiner. Ich sehe keine besonderen Anhaltspunkte für einen Zerfall des Landes oder so etwas. Aber die ganze Sache wird mit Stagnation und dem Verfall des politischen Regimes einhergehen.

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