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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Geschäfte und Geopolitik in Afrika

    Seit dem vergangenen Jahr spricht Putin in seinen Reden so häufig wie nie zuvor über Afrika. Woher kommt das gesteigerte Interesse? Der Ökonom Wladislaw Inosemzew beleuchtet auf Riddle die Geschäfte russischer Militärunternehmen, antikoloniale Rhetorik und geopolitische Ambitionen des Kreml auf dem Kontinent.

    Wladimir Putin empfängt im September 2023 seinen südsudanesischen Amtskollegen Salva Kiir Mayardit im Kreml. Russland hatte dessen Armee an einem UN-Embargo vorbei mit Waffen versorgt. / Foto © IMAGO, ITAR-TASS

    Vor 30 Jahren gab Wladimir Shirinowski, ein mittlerweile verstorbener russischer Politiker, der damals große Hoffnungen weckte, ein Buch heraus. Er drängte dort auf ein Ausgreifen Russlands in eine Richtung, die heute als „globaler Süden“ bezeichnet wird. Und schrieb von der Hoffnung, dass russische Soldaten einst ihre Stiefel im Indischen Ozean säubern würden. Seitdem haben die Bestrebungen, im Raum zwischen der Türkei und Indien, zwischen dem Persischen Golf und China einen Krieg zu führen, bei vielen abgenommen. Die Interessen der Großmächte haben sich Richtung Afrika verschoben. Auch Russland wurde in dieser Region aktiv und ist es immer noch, und zwar auf die ihm eigene, spezifische Weise.

    Militärunternehmen mischen sich in die inneren Angelegenheiten der Länder ein

    Präsident Putin hatte sich in den 2000er Jahren noch hauptsächlich mit der Wiederherstellung der Verbindungen zu den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion befasst. Dazu gehörte, dass die Schulden recht erfolgreicher afrikanischer Staaten abgeschrieben wurden (bis 2008 wurden Schulden von über 14,5 Milliarden US-Dollar erlassen, unter anderem die von Libyen und Algerien). Ab 2012 verschoben sich die Akzente jedoch beträchtlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml und seiner Stellvertreter gerieten nun die tyrannischsten Staaten des Kontinents, die von inneren Konflikten zerrissen und reich an wertvollen Bodenschätzen sind: der Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und eine Reihe anderer Staaten. Die RAND Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, hat jüngst in einer Studie 34 Fälle aufgeführt, in denen sich Russland seit 2005 in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingemischt hat. Dieses Vorgehen erfolgte zum Großteil nicht durch offizielle Stellen Russlands, sondern durch private Militärunternehmen und diverse Berater.

    Hier ist anzumerken, dass sich insbesondere nach 2012, nach Putins Rückkehr in den Kreml, dieses gesteigerte Interesse Russlands auf Nord- und Zentralafrika konzentrierte: Russland unterstützte die ihm nahestehenden Kräfte im Bürgerkrieg in Libyen. Und es versuchte, im Sudan Präsident Umar al-Baschir beim Machterhalt zu helfen. Gleichzeitig hat Russland die Armee des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit bewaffnet, wobei das von der UNO verhängte Embargo auf Waffenlieferungen nach Südsudan umgangen wurde. Nachdem der Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik 2016 einigermaßen beendet war, schickte Russland erstmals offiziell Waffen und Militärausbilder in das Land (meist Angehörige privater Militärstrukturen). Zuvor hatten sich die europäischen Staaten und vor allem Frankreich unfähig gezeigt, diesen Konflikt zu schlichten: Sie zogen den größten Teil ihrer Kontingente ab; die letzten französischen Soldaten verließen das Land 2022. Die Gewinne der Wagner-Gruppe in dieser Region beliefen sich bald schon auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar. In Russland kamen Gerüchte auf, dass die Zentralafrikanische Republik quasi als „Tresor“ für Vermögen diene, die die russische politische Elite zusammengeraubt hatte. Die russische Expansion ging aber weiter: 2021 beteiligten sich kremlfreundliche Kräfte am Putschversuch im Tschad, indem sie die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden Libyens trainierten. Dann wurden Wagner-Leute in Mali gesichtet, wo sie auf Seiten der Regierungstruppen kämpften und in massenhafte Repressionen gegen Zivilisten verwickelt waren. Und im vergangenen Jahr wurden in Niger überall russische Flaggen geschwenkt, um Jewgeni Prigoshin zu grüßen, der gerade seine letzten Tage verlebte – zuvor hatten dort Militärs den rechtmäßigen Präsidenten Mohamed Bazoum durch einen Putsch gestürzt.

    Lukrative Geschäfte mit afrikanischen Bodenschätzen

    All diese Jahre machten Angehörige privater russischer Militärfirmen einträgliche Geschäfte: Sie sicherten die Förderung von Edelsteinen und -metallen, die sie wiederum als Bezahlung für ihre Waffen und Dienste erhalten hatten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einnahmen mit Offiziellen in Moskau geteilt wurden, umso mehr, als Putin 2023 selbst einräumte, dass die Wagner-Gruppe aus Haushaltsmitteln finanziert wurde. Die Beseitigung Prigoshins und die anschließende „Wiederherstellung der alleinigen Befehlsgewalt“ in der russischen Armee führten zu Korrekturen in der russischen Politik in Afrika: Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow war allein in den letzten Monaten auf Staatsbesuchen in Sudan, Libyen und Niger. Seither sollte man von neuen „aussichtsreichen“ Plänen sprechen, die der Kreml ausbrütet.

    Je mehr Wagner den russischen Einflussbereich erweiterte, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken

    Afrika wurde bislang von Putin und seiner engsten Umgebung als eine Region betrachtet, in der Russland eine gewisse (wenn auch nicht unbedingt sehr große) Präsenz haben sollte. Das Beispiel China mit seinen gigantischen Investitionen erschien attraktiv, für Russland aber kaum realisierbar. Westliche Experten sprechen heute eher davon, dass Russland sein eigenes autoritär-kleptokratisches Modell und nicht die chinesische Variante von Wirtschaftsentwicklung nach Afrika trägt. Je mehr Wagner mit minimalen Ausgaben (und mit Gewinn für sämtliche Nutznießer) den russischen Einflussbereich erweiterte und dadurch zeigte, wie einfach die ehemalige koloniale Präsenz in der Region zu entwurzeln ist, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken.

    Ein Korridor bis zum Atlantik

    Seit dem Beginn der intensiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan hatte es in der Presse Berichte über eine russische Initiative für einen eigenen Marinestützpunkt am Roten Meer gegeben. Moskau strebte eindeutig nach Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region, wo bislang nur die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen ihr Unwesen treiben. Dieser Plan wurde bislang nicht verwirklicht. Dafür bilden die immer neuen Einflussgebiete Russlands in Afrika allmählich eine Art Korridor, der sich vom Roten Meer in Richtung Atlantik erstreckt, zu dessen Ufern der Kreml sehr gern einen Zugang hätte. Stand heute, nach dem kürzlich erfolgten Umsturz in Burkina Faso, ist es bis zum Ozean nur noch ein kleiner Schritt: In dem Land sind zwar nicht eindeutig prorussische Kräfte an die Macht gekommen (auch wenn der neue Regierungschef als erster auf dem Russland-Afrika-Forum eintraf), aber immerhin antiwestliche.

    Werden die Europäer weiter ihre Positionen aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz aufzuhalten?

    Westliche Experten verweisen in letzter Zeit auf diese Prozesse, auch wenn sie diese noch nicht direkt mit dem Einfluss Moskaus in Verbindung bringen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Artikel von Comfort Ero und Murithi Mutigi in der neuen Ausgabe von Foreign Affairs. Die Autoren stellen dort einen „Coup-Korridor“ fest, der sich von Ost nach West durch die zentralen Regionen des Kontinents zieht. Allerdings sollte man nicht allein auf die Umstürze verweisen, sondern auch deren Folgen berücksichtigen. Im Fall Guinea arbeitet die neue Regierung etwa an einer Rückkehr zu demokratischen Verfahren und fördert Beziehungen zu europäischen Staaten. Die Frage ist jetzt vielfach die: Werden die Europäer ihre Positionen in Westafrika (wo lange Zeit der französische Einfluss groß war) weiter aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz dort aufzuhalten?

    Antikoloniale Rhetorik und bescheidene Wirtschaftshilfen

    Moskau setzt jetzt erkennbar eine in der Region populäre antikoloniale Rhetorik ein. Oft werden jene Politiker und Aktivisten unterstützt, die einen Panafrikanismus verfechten, selbst wenn sie in Europa geboren sind und dort ihre Bildung erhielten. Ein Beispiel ist Kémi Séba, der seine Bewegung schwarzer Suprematisten und Antisemiten begründete, nachdem er seine Bildung in Frankreich und den USA erhalten hatte.

    Anders als Peking investiert Moskau keine Riesensummen in afrikanische Volkswirtschaften. Russland geht in der Region aber viel härter vor und schreckt auch nicht vor politischer Destabilisierung zurück. Für eine Vollendung eines solchen Korridors, der den afrikanischen Kontinent durchschneidet, muss der Kreml die Kontrolle über sämtliche dieser kleineren, aber eng mit Frankreich verbundenen Länder herstellen. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Senegal und Kamerun, wo sich antikoloniale Stimmungen bemerkbar machen. Diese Länder versuchen aber auch, nachhaltige Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten, weil sie auf Hilfe bei der Lösung interner Probleme hoffen. 

    Russland erzeugt eine Vielzahl von Problemen und beteiligt sich bei keinem davon an einer Lösung

    Vor kurzem noch hatten viele westliche Experten zu der Ansicht geneigt, dass „ohne Russland keines der globalen Probleme gelöst werden“ könne. Jetzt aber muss man sich eingestehen, dass Russland eine Vielzahl von Problemen und Konflikten erzeugt, und sich bei keinem von ihnen an einer Lösung beteiligt. Das ist auch in Afrika zu sehen. Ganz gleich, wohin nun die russischen Interessen durchgedrungen sind: Es ist weder ein stabiler Frieden hergestellt noch eine nennenswerte Prosperität erreicht worden. Afrika ist bekanntlich eine der ärmsten Regionen der Welt. Allerdings sind auch hier Unterschiede zu beachten. Bei einem durchschnittlichen afrikanischen BIP pro Kopf von 2150 US-Dollar ist der russische Einfluss in den ärmsten Ländern am deutlichsten spürbar: in Mali (875 USD), im Tschad (703 USD), in Niger (631 USD), in der Zentralafrikanischen Republik (539 USD) und im Südsudan (417 USD). Allerdings sind jetzt auch die wohlhabenderen Länder Senegal (1637 USD), Elfenbeinküste (1668 USD) und Kamerun (2560 USD) in Gefahr. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen „Influencer“ nicht zum Ozean durchkommen und ein „Einflusskorridor“ den Kontinent niemals zweiteilen wird. Damit das nicht geschieht, muss sich allerdings die Haltung in den europäischen Hauptstädten gegenüber den Problemen in Afrika wandeln – von Gleichgültigkeit zu Interesse.

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  • Putins Ökonomie des Todes

    Putins Ökonomie des Todes

    Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.

    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images
    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Unter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

    Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

    Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

    Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

    Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

    Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

    Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

    Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

    Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

    Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

    Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

    Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

    Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

    Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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  • Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

    Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. 
    Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen. 

    „25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.

    „Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.

    […]

    Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.

    […]

    Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.

    Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.

    Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“

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  • 2021 – Jahr des Kampfes

    2021 – Jahr des Kampfes

     „Durchgedrehter Drucker 2.0“ – so haben zahlreiche unabhängige Medien in Russland Ende 2020 die Staatsduma bezeichnet, nachdem sie wieder wie am laufenden Band eine Reihe repressiver Gesetze ausgespuckt hat. Die Bandbreite reicht von weiterer Einschränkung der Versammlungsfreiheit über weitere Restriktionen für NGOs bis hin zur Verschärfung des sogenannten Agentengesetzes

    In diese Atmosphäre platzte am gestrigen Mittwoch, 13. Januar, die Nachricht von Alexej Nawalny: Der Oppositionspolitiker kündigte an, am kommenden Sonntag nach Russland zurückzukehren. Nach einer Nowitschok-Vergiftung befindet sich Nawalny seit Ende August in Deutschland. Nun hat er sich ein Ticket gebucht und fliegt zurück mit der Fluggesellschaft Pobeda, deutsch: Sieg. 

    Solchen metaphorischen Optimismus kann Wladislaw Inosemzew nicht teilen. Für den Wirtschaftswissenschaftler ist die Überführung der mutmaßlichen Gift-Attentäter zwar das Ereignis des Jahres 2020, weil sie dem Kreml einen empfindlichen Schlag verpasst hat. In The Insider argumentiert Inosemzew, dass dies aber nur ein trügerischer Sieg gewesen sei. Und dass 2021 mit einer vernichtenden Niederlage der Opposition enden wird.

    Anfang 2021 stehen die Dinge ziemlich klar. Die russische Gesellschaft gliedert sich in drei Teile: Der erste sind die Dissidenten – Menschen mit einem modernen/europäischen Weltbild, die grundlegende humanistische Werte teilen, Gewalt und Rechtlosigkeit ablehnen und gegen die Einschränkung ihrer politischen Freiräume protestieren. 
    Momentan zeichnen sie sich einerseits durch ihre hohe Gesetzestreue aus (niemand ruft zum gewaltsamen Sturz der Regierung auf, ja nicht einmal zu nicht genehmigten Protestaktionen), andererseits durch ihr Vertrauen in die „virtuellen“ Kampfmittel (Postings, Videos, Likes, Aktivität in den Sozialen Netzwerken). Das verbindet sie mit den Dissidenten der 1970er Jahre. Die hatten von der Sowjetmacht gefordert, sich an die von ihr erlassenen Gesetze zu halten; allerdings ist offenkundig, dass solche Forderungen derzeit gar nicht aktuell sein können, da die gegenwärtige Regierung die Gesetze nach Lust und Laune ändert.

    Der zweite Teil der Gesellschaft, das sind die Machthaber, die übergeschnappt sind vor lauter Befugnissen, Reichtum und Gesetzlosigkeit. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Einzelnen und sein engstes Umfeld. Das Land ist längst von einer großen Gruppe von Personen privatisiert worden, die es als ihr Eigentum betrachtet und nicht beabsichtigt, sich von diesem „Besitz“ zu trennen. Die Regierung stützt sich auf Massen von Menschen, die unfähig sind, etwas zu erschaffen, aber „ihren“ Teil des allgemeinen Reichtums einfordern, dafür, dass sie die Gesellschaft in Schach halten. Ein vergleichbares Ausmaß sehen wir im benachbarten Belarus, in Russland könnte es allerdings noch größer werden, bedenkt man, wie viel Vermögen von dieser mächtigen Gruppe kontrolliert wird.

    Ungeachtet des Spotts der Dissidenten und der Vorhersagen eines baldigen Zusammenbruchs hat die russische Machtriege im vergangenen Jahr viel erreicht: Sie hat die wesentlichen, formalen Hürden beseitigt und sich einen unbegrenzten Machterhalt gesichert, die Bürgerrechte signifikant eingeschränkt (wobei bis dato, so möchte ich Sie erinnern, eine Großzahl der kürzlich und vor längerer Zeit verabschiedeten Gesetze noch nicht einmal zur Anwendung kam), sie hat ihr Kapital in Sicherheit gebracht und musste keine Proteste der Bürger wegen der verschlechterten Wirtschaftssituation erdulden.

    Das einfache Volk: vor allem damit beschäftigt, zu überleben

    „Die Dissidenten“ und „die Macht“ sind zwei widerstreitende soziale Minderheiten. Die dritte Gruppe übersteigt sie in der Zahl beträchtlich – es ist das einfache Volk: Menschen, die vor allem damit beschäftigt sind, zu überleben (wir sprechen hier nicht zwangsläufig von Armut, denn das Überleben stellt in unserem Land nicht bloß für Arbeiter und Rentner eine Herausforderung dar, sondern auch für die meisten Unternehmer: Der angestrebte Lebensstandard kann unterschiedlich hoch sein, aber die Handlungstaktik ist stets dieselbe). 
    Dieser Teil der Gesellschaft nimmt selten am politischen Kampf teil – das war übrigens schon immer und überall so. Mit den wenigen Ausnahmen, wenn es darum ging, sich von einer Regierung zu befreien, die dem Volk im Kern fremd war (wie in den baltischen Staaten, als sie das kommunistische Regime stürzten), oder wenn die Regierung einem schlichten und nachvollziehbaren Ziel grundlegend im Wege stand (wie der Annäherung der Ukraine an Europa). Aber wenn es weder eine von außen oktroyierte Macht noch eine attraktive, greifbare Alternative gibt, ist eine Mobilisierung dieser Gruppe äußerst unwahrscheinlich.

    Zuckerbrot und Peitsche

    Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sich die Machthaber dieser Tatsache bewusster als die Dissidenten. Sie urteilen nach den mickrigen Teilnehmerzahlen bei den Straßenprotesten, während die Dissidenten falsche Vorstellungen entwickeln aufgrund der Klicks auf YouTube, die von einer bequemen Couch oder einem warmen Bett aus gesetzt wurden. Daher wird der Kreml die Bevölkerung wohl in einem bescheidenen Ausmaß unterstützen (er weiß, dass die Ressourcen für viele Jahre ausreichen müssen und man dem Volk einmal zugesicherte Sozialleistungen nicht wieder entziehen kann) – gleichzeitig wird er mit maximaler Härte gegen dissidentische Bestrebungen vorgehen, um sie im Keim zu ersticken. 

    2021 wird in meinen Augen ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht. Und dieser wird leider nicht mit der Flucht entlarvter Staatsbeamter, einem Verbot des FSB, Amtsenthebungen der Silowiki und einer Auslieferung von Putin nach Den Haag enden, sondern mit einer kolossalen Niederlage der Dissidenten – weil die Daumenschrauben angezogen werden, ein wesentlich konservativeres Parlament zusammengesetzt, die Zensur verschärft und die Zahl der Auswanderer rapide zunehmen wird. Es fällt mir nicht leicht, diese Prognose zu machen, aber ich sehe keinen Anlass für eine andere. Durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ist fast ausgeschlossen, dass die Eliten zurückrudern oder es zu einer internen Spaltung kommt. 

    2021 wird ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht

    Die russische Politik steuert seit 1993 geradewegs auf 2021 zu – nun plötzlich eine Wende nach „links“ oder „rechts“ zu erwarten, ist gelinde gesagt naiv. Die Dissidenten wurden ja nicht nur aus den Machtstrukturen verdrängt, sondern in vielen Fällen auch aus dem Land. 

    Offen ist die wichtige Frage, ob die russische Jugend, die in einem Zeitalter der totalen Kommerzialisierung großgeworden ist, die damit einhergehenden Wertvorstellungen auch im philosophischen und nicht nur im finanziellen Sinne teilt. Der Machtblock, seine fehlende Bereitschaft, Fehler einzugestehen, zurückzurudern und die absolute Unmöglichkeit, seine unzähligen Regionalfürsten in eine moderne Gesellschaft zu integrieren – das alles deutet auf einen Krieg hin, bei dem es nicht ums Leben, sondern um den Tod geht. 

    Unter diesen Umständen kann 2021 ein Jahr werden, in dem die Machthaber – nachdem die Gesellschaft die pandemische Erstarrung überwunden hat – über die Unzufriedenen das ganze in den letzten Jahren akkumulierte Arsenal an Maßnahmen schütten. Das Urteil gegen Julia Galjamina, die Nötigung der FBK-Aktivisten zum Wehrdienst auf Nowaja Semlja, die Geldstrafen und tagelangen Haftstrafen wirken dagegen geradezu niedlich. Zum Einsatz kommen dann das Gesetz gegen ausländische Agenten, Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Haftstrafen wegen Verleumdung und Beleidigung staatlicher Amtsträger und vieles mehr. Bedenkt man, wie viele rechtswidrige Urteile in den letzten Jahren gesprochen wurden, ohne dass eine Welle des öffentlichen Protests folgte, wird schnell klar, wie einfach es für die Regierung sein wird, den Druck auf die Dissidenten zu erhöhen.

    Keine Revolutionen

    Große Veränderungen fanden in Russland im 20. Jahrhundert nur in zwei Situationen statt. 

    Einmal begannen sie, als innerhalb der Machtelite ein Bewusstsein dafür entstanden war, dass Veränderungen notwendig waren, woraufhin sich eine legale Opposition herausbildete. Zur Februarrevolution von 1917 war es gekommen nach den ersten Duma-Wahlen, nach Einführung der Pressefreiheit und der Bildung verschiedener politischer Parteien. Zum Sommer von 1991 führte die Verkündung von Perestroika und Glasnost, die Durchführung demokratischer Wahlen 1989 und die Entstehung verschiedener „Plattformen“ innerhalb der KPdSU. Es lief stets unterschiedlich ab – doch die großen politischen Veränderungen waren stets „Revolutionen von oben“ und nichts anderes. Heute lässt sich „oben“ nichts Vergleichbares beobachten, im Gegenteil: Menschen, die einmal an die Macht gekommen sind, rücken trotz ziemlich unterschiedlicher Ansichten immer näher um den Herrscher zusammen.

    Außerdem gibt es die bekannte bolschewistische Praxis des „Widerstandsrechts“, doch diese ist heute aus zweierlei Gründen nicht anwendbar: Zum einen war die zweite Revolution von 1917 die Fortführung der „Wirren“ von 1905 bis 1907, und in der jüngsten Geschichte Russlands ist nichts Vergleichbares zu beobachten. Zum anderen – und das ist sogar wichtiger – hat sich beim Volk im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Ablehnung von Massengewalt herausgebildet, deswegen ist es sinnlos, die Mittelschicht in den Großstädten auf die Barrikaden zu rufen. 
    Außerdem muss uns sehr bewusst sein, dass die Menschen heute über ein nie dagewesenes Ausmaß an Freiheit jenseits der Politik verfügen (man kann den Fernseher ausschalten, sich nur noch mit Gleichgesinnten treffen, Geld verdienen und notfalls sogar das Land verlassen), deswegen wird der politische Druck nicht als wesentlich empfunden und zieht keine Massenproteste nach sich. 

    Leere Portemonnaies trennen die Leute

    Relevant ist auch die spezifische Wirtschaftssituation. Manchmal stoße ich in Zeitungen oder Blogs auf die These, die wirtschaftlichen Probleme würden das Fass zum Überlaufen bringen (dort wird dann an die leeren Regale in der Sowjetzeit erinnert, die den endgültigen Zusammenbruch des Systems herbeigeführt haben, und man glaubt, heute würde die Armut dasselbe bewirken). Das ist illusorisch. Sowohl Anfang 1917 als auch Ende der 1990er waren die Geschäfte leer – und das war ein Beweis für den Bankrott des Systems. Doch 2020 bersten die Geschäfte vor Waren, und die Unfähigkeit, diese zu erwerben, beweist nichts als die Zahlungsunfähigkeit des Einzelnen. Leere Geschäfte verbinden die Menschen untereinander, leere Portemonnaies trennen sie. Aus genau diesem Grund gab es die letzten Proteste mit linken Losungen im postsowjetischen Raum in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. 

    Keine Chance, die herrschende Clique loszuwerden

    Ich kann verstehen, wenn meine Position viele aufrichtige und mutige Menschen ärgert, die nicht schweigen, sondern für die Freiheit der Russen kämpfen, dafür, dass sich Russland in eine demokratische, europäische Richtung entwickelt. 
    Ich kann verstehen, dass sie in jedem diskreditierenden Fehltritt der Regierung, in jeder Entlarvung Putins, in jedem Sanktionspaket gegen seine Mittäter die Funken für Veränderungen sehen wollen. 
    Und doch bleibe ich bei meinem Standpunkt, den ich vor fünf, und auch schon vor zehn Jahren hatte, nämlich, dass es keinerlei Chancen gibt, die herrschende Clique loszuwerden – weder 2021 noch in den darauffolgenden Jahren. 
    Was immer wir hinter bestimmten Ereignissen zu sehen glaubten, die letzten zwanzig Jahre standen unmissverständlich im Zeichen eines Abrutschens in den Autoritarismus. Das Licht am Ende des Tunnels, das kurz in der Bloßstellung Putins durch Nawalny aufleuchtete, kann auch die Sonne von Austerlitz gewesen sein, die nach einem weiteren Sieg des kleinwüchsigen Diktators bald wieder über dem Schlachtfeld erstrahlt. 

    Vor sechs Jahren schrieb ich, dass die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Probleme das Regime nicht zerstören werden, dass dieses erst abgelöst wird, wenn es für die Mächtigen nicht mehr profitabel genug ist, Russland zu beherrschen. Leider ist unser Land immer noch zu reich, um dies in naher Zukunft zu erwarten …

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  • „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    „Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

    Anfang März haben sich die 13 Staaten des Ölkartells OPEC mit Russland und anderen Erdöl exportierenden Ländern in Wien an einen Tisch gesetzt. Um der weltweit sinkenden Nachfrage nach Öl- und Ölprodukten zu begegnen, wollten sie gemeinsam die Fördermenge drosseln und damit das Angebot verknappen. Das Vorhaben scheiterte: Vor allem der russische Unterhändler Alexander Nowak hatte sich gegen eine Verknappung gestemmt.

    Seitdem sprudeln weltweit die Ölquellen, und die Preise purzeln: Ein Barrel Brent ist derzeit für unter 30 US-Dollar zu haben, die für Russland wichtigste Rohölsorte Urals kostet ohne Rabatte weniger als 25 US-Dollar – bei Förderkosten, die manche ausländischen Experten auf rund 42 US-Dollar taxieren.

    Dumping würden aber vor allem „die anderen“ betreiben, sagte kürzlich Rosneft-Chef Igor Setschin, und verwies vor allem auf Saudi-Arabien. Dabei betragen die Förderkosten für saudisches Öl laut derselben Schätzung rund 17 US-Dollar. Aus diesem Grund kann sich das Land offenbar auch leisten, derzeit großzügige Rabatte auf den Marktpreis zu gewähren – auch für Abnehmer in Europa und China, die traditionell Russlands Kunden sind. Die Folge ist ein Preiskrieg, bei dem Russland zunehmend vom Markt verdrängt wird.

    War dieser Preiskrieg gewollt, als Russland in Wien ausscherte? Haben sich Setschin und Nowak dabei verkalkuliert? War ihnen nicht klar, dass der Rubelkurs eng am Ölpreis hängt? Die Novaya Gazeta hat den Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew in einem Interview dazu befragt.

    Irina Tumakowa: Inwieweit ist das Coronavirus schuld daran, dass der Rubelkurs derart gefallen ist? Und inwieweit hat es andere Gründe?

    Wladislaw Inosemzew: Das Coronavirus ist gewissermaßen ein Trigger. In letzter Zeit sind die Ölpreise weltweit zurückgegangen. Weil die Nachfrage sehr langsam stieg und zu spüren war, dass sie sich weiter verlangsamt. Die OPEC hat im November 2019 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie prognostiziert, dass die Wachstumsraten bei der Ölnachfrage in den kommenden 20 Jahren bei einem Drittel dessen liegen werden, was wir aus den vergangenen 20 Jahren kennen. 
    Die Abmachung der OPEC von 2016 sollte die Ölpreise ansteigen lassen. Es hat aber keinen Anstieg gegeben. Im Gegenteil: Sie gingen mit jedem Jahr zurück. Als dann das Coronavirus kam, war die erste Welle des Preisverfalls eine absolut natürliche Reaktion auf die Epidemie und die Maßnahmen der Regierungen in den verschiedenen Ländern. Wenn die OPEC-Abmachung bis zum April gehalten hätte, wären Preise von 45 bis 50 Dollar, wie wir sie noch bis Anfang März hatten, weiterhin möglich gewesen.

    Genau das wollten die OPEC-Länder bei ihrem Treffen Anfang Dezember 2019  in Wien auch erreichen, so wie ich das verstehe.

    Saudi-Arabien und andere Länder wollten die Produktion noch weiter drosseln, aber Russland war nicht bereit dazu, und die Abmachung platzte. Die letzten Preisrückgänge waren unmittelbar darauf zurückzuführen, dass Saudi-Arabien seinen Kunden riesige Preisnachlässe versprochen und erklärt hatte, dass es bereit sei, um einzelne Märkte einen Krieg zu beginnen – insbesondere um den europäischen Markt, und dazu das Förder- und Absatzvolumen zu erhöhen.

    Das heißt, die staatlichen Fernsehsender haben Recht? Ist Saudi-Arabien tatsächlich an allem Schuld, nicht wir?

    Russland hat das Abkommen abgelehnt und seine primäre Verantwortung für den Rückgang der Ölpreise liegt auf der Hand. Doch schauen wir uns einmal die Preis-Charts von Freitag, dem 6. März an, und die Erklärung aus Wien, dass das Abkommen geplatzt ist: Von einem Scheitern des Abkommens war bereits am 4. März die Rede, als Nowak nach Moskau abgereist war. Der Ölpreis fiel um fünf bis sechs Prozent. Am Freitag, 6. März, nachdem er zurückgekehrt war und wieder keine Einigung zustande kam, fiel der Ölpreis um weitere vier Prozent und stabilisierte sich bei rund 44 Dollar pro Barrel. Weiter dann, am Wochenende, erklärten die Saudis, dass sie den Europäern und Amerikanern einen Rabatt von 7 bis 8 Dollar auf den aktuellen Preis geben. Sie haben also gesagt: Wir werden nicht für 45, sondern für 37 Dollar verkaufen.

    Die Saudis sind gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin immun

    Riad war wegen der Position Moskaus empört. Und Mohammed bin Salman ist eben nicht irgendein Schröder, der davon träumt, an die Tränke von Rosneft zu gelangen.

    Gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin herrscht hier Immunität. So war also letztendlich das Handeln Saudi-Arabiens der Grund, dass die Ölpreise derart stark nachließen. Übrigens nicht aus Versehen, sondern vollkommen bewusst.

    Eine solche Reaktion Saudi-Arabiens hätte man wohl voraussehen können. War der Nutzen durch den Ausstieg aus dem OPEC-Abkommen für Russland größer als der Schaden durch mögliche Folgen? Inwieweit ist dieser Abzug im Interesse Russlands?

    Er ist überhaupt nicht im Interesse Russlands. Man hätte ihn aber voraussehen können.

    Der Chef von Rosneft verkündet, die Förderung anzukurbeln und die Produzenten von Schieferöl in den Ruin zu treiben. Experten haben aber vielfach gesagt, dass Russland die Förderung bei niedrigen Preisen nicht wird steigern können; die meisten Vorkommen sind nur schwer zu fördern, verbunden mit hohen Kosten. Wo liegt da für Rosneft der Sinn?

    Das müssten Sie Setschin fragen; ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Das Problem ist auch, dass man die US-amerikanischen Schieferölproduzenten nicht kaputtmachen kann.

    Das haben die Amerikaner schon mehrfach bewiesen.

    Ja, das haben sie, das ist das eine. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt: Vor einigen Tagen hat die Bank of England den Schlüsselzinssatz gesenkt, vergangene Woche auch die Fed. Selbst wenn eine amerikanische Ölfirma auf Null arbeiten muss, würde es sie nichts kosten, Überbrückungskredite aufzunehmen – und mit dem Ausblick auf steigende Preise weiterzumachen. Selbst wenn irgendeine verrückte Bank versuchen würde, die Firma in den Ruin zu treiben, kann man Insolvenz beantragen und viele Jahre unter dem Schutz des berühmten Chapter 11 des US-amerikanischen Insolvenzrechts tätig sein, während die Umstrukturierung läuft. Dieser Zeitraum kann sich zwei bis drei Jahre hinziehen. In dieser Zeit würde Russland schlichtweg pleitegehen. Und die amerikanischen Firmen würden weiter Öl pumpen, weil sie zumindest für die Löhne und zur Kostendeckung Einnahmen brauchen.

    Und für Rosneft gibt es keine Möglichkeit für Überbrückungskredite zu niedrigen Zinssätzen, es fällt ja unter die Sanktionen, in Europa und den USA wird man keine Kredite geben.

    Russland hat viele Reserven, mit denen Ölfirmen unterstützt werden können. Anstelle von Krediten wären da Steuererleichterungen, der Fonds für nationalen Wohlstand [FNB], auf den Setschin seit langem schimpft, und so weiter. Ich meine einfach, dass die ganze Logik, mit der Rosneft die amerikanischen Unternehmen kaputt machen will, sehr lächerlich wirkt.

    War das denn wirklich die Logik dahinter? Vielleicht hat Herr Setschin ja auch ganz andere Motive?

    Na, ich weiß nicht. Vielleicht will er die Preise ruinieren, damit sich der Börsenwert von Lukoil halbiert, und er dann mit Hilfe eines Strafverfahrens gegen Alekperow das Unternehmen kaufen kann. Wie das mit Baschneft der Fall war. Warum auch nicht? Wir wissen nicht, was Setschin im Sinn hat. Wie dem auch sei, auf der Sitzung bei Putin war niemand außer Setschin dafür, den Deal platzen zu lassen. 

    Also steht der Staat vor der Alternative: Entweder er unterstützt Rosneft, das gegen die Amerikaner Krieg führt, oder der Staat erfüllt seine sozialen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung?

    Das würde ich so nicht sagen. Der Staat verfügt wirklich über sehr große Reserven. Der Haushalt des vergangenen Jahres ist nicht vollkommen ausgeschöpft worden. Der FNB beläuft sich jetzt auf 124 Milliarden Dollar. Unter Berücksichtigung der Abwertung sind das rund zehn Prozent des BIP. Der Staatshaushalt macht etwa 18 Prozent des BIP aus. Selbst wenn dort eine Lücke von drei Prozent entsteht, dann können bei den heutigen Reserven alle festgeschriebenen sozialen Verpflichtungen zwei, drei, ja sogar vier Jahre lang ohne große Probleme erfüllt werden. Außerdem ist der Haushalt nicht die ganze Wirtschaft, es gibt noch den privaten Sektor. Der Dollar steigt, die Einkommen sinken. Die Bevölkerung überlegt, ob man nicht etwas für schlechte Zeiten zurücklegen sollte, schließlich ist es ja beunruhigend. Die Leute gehen nicht mehr in Cafés, fahren nicht mehr in Urlaub und kaufen keine teuren Sachen.

    Das haben wir 2015 gesehen, als der Rubel gegenüber dem Dollar einbrach. Übrigens ebenfalls durch das Vorgehen von Rosneft und dessen Chef.

    Ja. Außerdem fällt der Rubel – die Zentralbank ist gezwungen, mit einer Erhöhung der Zinssätze zu antworten. Kredite werden teurer, die Käufe von Wohnraum auf Hypothek und Autos auf Kredit gehen zurück. Das heißt, die Realwirtschaft wird sich abschwächen, selbst wenn der Haushalt wie ein Uhrwerk funktioniert. In Russland ist somit ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich.

    Und das alles nur deshalb, weil allein Igor Iwanowitsch Setschin aus dem Deal mit der OPEC aussteigen wollte?

    Wir haben hier die Effekte sowohl durch das Coronavirus als auch durch Setschin, und dadurch, dass unsere Wirtschaft zu stark reguliert ist, um angemessen auf Herausforderungen zu reagieren.

    In Russland ist ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich

    Doch der Setschin-Effekt ist nicht zu vernachlässigen. Offenbar ist Setschin einer der größten Newsmaker in der russischen Wirtschaft, wir konnten das auch schon früher sehen, auch beim Deal mit Baschneft und in anderen Situationen. Sein Einfluss sollte nicht unterschätzt werden.

    Wie geht es weiter mit dem Rubel?

    Ich glaube nicht, dass morgen schon etwas Katastrophales passiert. Ich hatte in diesen Tagen einen sehr viel stärkeren Rückgang erwartet. Ich denke, die Regierung wird den Rubel erst einmal stützen. Für die Menschen in Russland ist der Devisenkurs ein wichtiges symbolisches Moment. Wir erinnern uns an die Situation im Januar 2016, als der Ölpreis innerhalb weniger Tage auf 29 Dollar pro Barrel zurückging und der Dollar auf 85 Rubel hochschnellte. Jetzt gibt es diese Panik nicht. Und das ist gut: Die Zentralbank und das Finanzministerium verfolgen eine sehr viel angemessenere Politik, und die Wirtschaft reagiert nicht so empfindlich auf die Ereignisse. Deswegen schließe ich mich nicht der „100 Rubel für 1 Dollar“-Prognose an. Der neue Korridor wird bei 72 bis 75 Rubeln liegen in den nächsten paar Monaten. Der Kreml wird nicht erklären, wie schön das ist – wie Putin das mal gesagt hat –, wenn man für einen Dollar mehr Rubel kaufen kann. Das Regime spürt jetzt: Seine Popularität ist längst nicht so groß, dass man die Geduld der Bevölkerung auf die Probe stellen könnte.

    Ein allzu drastischer Kursrückgang wird nicht begrüßt, doch im Weiteren wird dann alles davon abhängen, was die Saudis machen: Wie stark sie tatsächlich die Ölförderung ankurbeln und in welchem Maße sie den Markt mit ihren Preisnachlässen erobern. Der Rubel ist jetzt von Mohammad bin Salmans Willen abhängig – möge Allah ihn behüten!

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  • Putin, der geheimnisumwobenste Reiche auf der Welt

    Putin, der geheimnisumwobenste Reiche auf der Welt

    Ende Februar hat das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten den sogenannten Vladimir Putin Transparency Act beschlossen. Die Aufgabe des Gesetzes H. R. 1404 besteht darin, mutmaßliche korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Als Antwort auf russische Einmischung in US-Wahlen werden damit die Nachrichtendienste beauftragt, Vermögenswerte von Wladimir Putin zu durchleuchten, die er sich laut Verdacht gesetzeswidrig aneignete.
    In Russland wird schon seit Jahren gemunkelt, dass Putin sich seit dem Amtsantritt im Jahr 2000 märchenhafte Reichtümer angehäuft habe. Einige meinen, dass er sogar der reichste Mensch der Welt sei. Beweise für solche Thesen gibt es nicht. Dass die US-Nachrichtendienste sie nun durch das Gesetz H. R. 1404 erbringen werden, ist aber zweifelhaft. Das meint der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew. Auf The Insider argumentiert er, warum der Transparency Act aber dennoch durchschlagend sein wird.

    Putin ist äußerst wohlhabend – daran zweifelt keiner, weder in Russland noch sonstwo auf der Welt. Und die finanziellen Mittel, die er nach Lust und Laune in Bewegung setzen kann, stehen in keinerlei Beziehung zu seinen offiziellen Einkünften. Die Schätzungen über Putins Privatvermögen liegen in den letzten Jahren zwischen 40 und mehr als 200 Milliarden US-Dollar. Doch keiner von denen, die diese Schätzungen abgaben, lieferte Informationen zur Methode oder nannte konkrete Vermögensgegenstände und zuständige Gerichtsstände. (Genau deshalb weigert sich die Zeitschrift Forbes konsequent, Putin in ihre Listen der reichsten Menschen der Welt aufzunehmen.) Wobei sogar offizielle Vertreter westlicher Regierungen offen gesagt haben, sie wüssten, dass Putin korrupt sei und würden diesen Umstand in ihrer Arbeit als gegeben sehen und berücksichtigen. Gleichzeitig bezweifle ich stark, dass die nun begonnene Untersuchung etwas Konkretes zutage bringen wird – vor allem angesichts der Fragestellung.  

    Putins Privatvermögen liegt Schätzungen zufolge zwischen 40 und mehr als  200 Milliarden US-Dollar

    In dem kürzlich erlassenen Gesetz des US-amerikanischen Kongresses heißt es, dass laut Meinung „externer Experten“ Putins Vermögen „im Milliardenbereich“ liege und maßgeblich von den offiziellen Zahlen über seine Einkünfte abweiche. Diese Behauptung wirkt schwach, denn sie ist nicht mehr als eine Hypothese. Die Suche und namentliche Auflistung „rechtmäßig oder widerrechtlich erworbenen Vermögens“, das „Putin und seinen Familienmitgliedern gehört“, ist, wenn man es wörtlich nimmt, nicht machbar.  
     
    Russlands Beamte haben in den vergangenen Jahren das letzte Bisschen an Vorsicht abgelegt – das unterstreicht auch ihre [dutzendfache – dek] Präsens in den sogenannten Panama Papers. Allerdings betrifft das nicht den Präsidenten Russlands. Seine angeborene Wachsamkeit hat sich wahrscheinlich nur noch verstärkt durch die Ermittlungen, die noch in den 1990ern in Russland gegen ihn liefen: Seinerzeit ging es um mutmaßliche Verbindungen zu kriminellen Strukturen sowie um eine enorme Zahl ihm persönlich ergebener Personen, die er in politische Ämter brachte und zu Superreichen machte. All das gibt Anlass zu der Annahme, dass Putins Vermögenswerte auf Privatpersonen und Firmen ausgestellt sind, die sich urkundlich nicht mit ihm oder seinen Verwandten in Verbindung bringen lassen. 

    Im Unterschied zu einem gewöhnlichen korrupten Beamten in Russland, der seine „blutig erkämpften Verdienste“ vor allem vor den russischen Silowiki zu verstecken sucht, geht es dem russischen Präsidenten in erster Linie um die Sicherheit seines Vermögens vor äußeren Mächten. Putin ist sich gewiss im Klaren darüber, welche Aufmerksamkeit seine Person erregt und wie angreifbar das westliche „Bankgeheimnis“ ist, wenn es um die Machenschaften eines korrupten Politikers seines Ranges geht. Was die Haltung ihm gegenüber in den Hauptstädten der Welt betrifft, hegt er, erst recht seit 2014, keine Illusionen. Putins Geld auf westlichen Banken zu finden, würde daher niemandem gelingen.

     Putin kann nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein

    Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass besonders diejenigen Politiker ihr Vermögen gern im Ausland ansparen, die sich Sorgen um den Fortbestand des eigenen Regimes machen und gleichzeitig keinen Zweifel an der Möglichkeit haben, selbst relativ sicher ins Ausland flüchten zu können (so war es etwa bei Mobutu, Ben Ali, Marcos und Reza Pahlavi). Das kann man im Fall von Putin nicht behaupten – in den letzten Jahren hat er in der Außenpolitik etliche abenteuerliche Schritte unternommen und kann daher nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein.  

    Das Gesetz H. R. 1404 lässt sehr viel Interpretationsspielraum, indem es US-amerikanische Amtspersonen anweist, Vermögensgegenstände zu untersuchen, die „unter W. Putins Kontrolle stehen, auf die er Zugriff hat oder die in seinem Interesse verwendet werden können“. Das und nur das kann in meinen Augen Gegenstand tatsächlicher Ermittlungen sein. Bestenfalls gelingt es also, nicht die Höhe des Vermögens zu messen, das dem russischen Präsidenten persönlich gehört, sondern das Ausmaß seines „wirtschaftlichen Einflusses“, der eine unbestrittene Tatsache ist. 

    Das Ausmaß von Putins wirtschaftlichem Einfluss

    Wird der Kongressbeschluss vom staatlichen Geheimdienst, dem Finanz- und dem Außenministerium ausgeführt, kann ein breites Bild davon entstehen, wie sich Russlands Präsident alle Staatskonzerne unterworfen hat. Binnen zweier Jahrzehnte hat er seinen Freunden und Vertrauensleuten Eigentum im Wert von zig Milliarden US-Dollar in die Hände gespielt, das früher dem Staat gehörte; er hat ein gewieftes System zur Verteilung staatlicher Mittel zugunsten seiner Vertrauensleute geschaffen, den Beschluss und die Anwendung von Gesetzen bewilligt, die „ihm nützlichen Personen“ eine grenzenlose Bereicherung ermöglichten; er hat Mittel aus der Staatskasse zu persönlichen Zwecken verwendet und um seinen Verwandten Annehmlichkeiten zu verschaffen, und er tut das weiterhin. Die Systematisierung dieser Informationen wird für Amerika keinen besonderen Aufwand bedeuten, das Ergebnis wird der naheliegende Schluss sein: Putin hat aus Russland ein Werkzeug gemacht, mit dem er für sich und die Seinen ein Leben im Wohlstand sicherstellt. Jedoch werden zwei grundlegende Probleme dadurch nicht von der Tagesordnung gestrichen.  

    Russland als Werkzeug zur Wohlstandssicherung 

    Einerseits hat in Russland das Thema Korruption meiner Meinung nach längst seine Aktualität eingebüßt. Kaum jemand bezweifelt, dass Putin einer der reichsten Menschen im Land ist – als etwas Unerhörtes wird das nicht wahrgenommen. Putins Kontrolle über gigantische Finanzströme werden die Russen immer mit den Besonderheiten der Verwaltung ihres Landes rechtfertigen. Und selbst wenn jemand beweist, dass der Präsident über Mittelsmänner zum Beispiel eine Kontrollmehrheit über den geheimnisvollen Konzern Surgutneftegas innehat, so wird dieses Aktiv als „Airbag“ für das Land als Ganzes angenommen. 

    Meiner Einschätzung nach werden Informationen aus dem Ausland über die Reichtümer des russischen Präsidenten in keiner Weise seine Legitimität innerhalb Russlands beeinträchtigen. 

    Das westliche Establishment wird die Wichtigkeit der Beziehungen zum Kreml zusätzlich begründen müssen

    Andererseits kann der Westen auf weitere Beweise für Putins Korruptheit stoßen – obwohl diese auch jetzt nicht bezweifelt wird. Und trotzdem wird weiterhin Kontakt zum russischen Staatschef gehalten und das wird mit der wichtigen Rolle erklärt, die Russland in der internationalen Politik spiele. Ich kann mir schwer vorstellen, dass sich nach der Analyse des vom Nachrichtendienst gesammelten Materials der Umgangston westlicher Politiker mit Putin ändern wird. Eher umgekehrt: Wenn die Erstellung dieses vom Kongress geforderten Berichts jemandem das Leben schwer macht, dann dem Establishment Amerikas und Europas, das die Wichtigkeit ihrer Beziehungen zum Kreml zusätzlich wird begründen müssen. Und es wird sie begründen, da bin ich persönlich ganz sicher.  

    Ich komme also zu dem Schluss, dass das Ergebnis dieser Untersuchung Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen wird und darauf, wohin die daraus erzielten Gewinne fließen und/oder wohin sie konvertiert werden. Es werden massenhaft mit Geldwäsche betraute Mittelsmänner auftauchen (in letzter Zeit spricht man auch ohne spezielle Untersuchung von ihnen, wie im Fall von Troika Dialog), und es werden die nominellen Halter von milliardenhohen Summen festgestellt werden, deren Herkunft auf die eine oder andere Art Russland zu verdanken ist. Aber mehr werden die Amerikaner nicht erreichen. Putin ist und bleibt der geheimnisumwobenste unter den reichsten Menschen des Planeten … 

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  • Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Am Mittwoch hat Wladimir Putin seine alljährliche Botschaft an die Föderationsversammlung verkündet. Neben Kritik am Westen galt der Fokus diesmal vor allem der Innenpolitik. Die Schlüsselaufgabe dabei, so der Präsident, sei sbereshenije naroda – das Behüten, Bewahren des Volkes. Die Formel geht auf den Schriftsteller Alexander Solschenizyn zurück, der darin das Potential für eine neue „nationale Idee“ sah. Die Politik habe demnach eine Fürsorgepflicht, müsse sich um das Volk kümmern.

    Putin, der diese Definition der „nationalen Idee“ befürwortet, startete schon 2005 das Programm der (prioritären) nationalen Projekte. Spätestens seitdem betont der Präsident immer wieder, wie wichtig Armutsbekämpfung sei, Familienförderung und effektive Gesundheitspolitik. Auch in seiner Rede am 20. Februar 2019 sprach er ausführlich über diese Themen, außerdem betonte er, dass auch Umwelt- und Verkehrspolitik wichtige Teile der nationalen Projekte seien.

    Im Vorfeld wurde vielfach darüber spekuliert, worüber der Präsident wohl sprechen würde. Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew liegt bereits zwei Tage zuvor mit seinen Vermutungen ganz richtig:  Auf Spektr schaut Inosemzew sich die alten Versprechen der nationalen Projekte an und fragt: „Und was sind die Ergebnisse?“

    Mitte Februar hat die Regierung die finanziellen Kennzahlen für verschiedene prioritäre nationale Projekte bekanntgegeben. In den Jahren [seit 2008 – dek] wurde besondere Aufmerksamkeit auf die Gesundheitsfürsorge, das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Infrastruktur gerichtet. 

    Und was sind die Ergebnisse?

    Im Jahr 2007 gab es in Russland 400.000 HIV-Infizierte, jetzt sind es geschätzt mindestens 970.000, wahrscheinlich jedoch rund 1,3 Millionen. Die Zahl der Krebskranken ist von 2,4 auf 3,5 Millionen gestiegen. 
    Laut Regierungsangaben ist die Lebenserwartung phantastisch hoch: Lag sie 2006 noch bei 67,4 Jahren, waren es 2018 schon 73,2 Jahre. Dabei ist die Einwohnerzahl im Land allerdings aus irgendeinem Grund kaum gewachsen (von 143,2 auf 144,3 Millionen Menschen ohne Berücksichtigung des „Zuwachses durch die Krim“), und 2018 kam es neuerlich zu einem natürlichen Abfall, was Anlass zu der Annahme gibt, dass die verlautbarten  Zahlen nichts weiter als ein statistischer Trick sind. 

    Die Fernstraße von Moskau nach Sankt Petersburg wurde innerhalb der letzten zehn Jahre nicht fertiggestellt, der Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse Moskau – Kasan nicht einmal begonnen. Alle Großprojekte (von Wladiwostok über Sotschi bis hin zur Krim-Brücke) waren Augenwischerei an den äußersten Rändern des riesigen russischen Territoriums und änderten nichts an der Situation im zentralen Teil des Landes.

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist heute im Grunde genau ein nationales Projekt: das Errichten eines Systems, durch das die persönlichen Interessen einer diebischen Beamtenschaft bedient werden. Es ist kein Zufall, dass mehr als zwei Drittel der zu bewilligenden Mittel aus dem Staatshaushalt kommen: Dem Staat beliebt es, über Steuern Geld aus der Wirtschaft und von den Menschen abzuziehen und es anschließend in die Hände der Bürokraten zu übergeben, die standardmäßig besser wissen, wie damit umzugehen ist. 

    Die Brieftasche der Beamten

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist eine schöne Bezeichnung für die Brieftasche der Beamtenklasse. Die füllt der Kreml fürsorglich mit Geld, das über die Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung des Rentenalters eingenommen wurde. Das ist de facto der Preis, den die Bürokratie aufruft, also derjenige Teil der Haushaltsausgaben, der on top kommt bei der Förderung der einen oder anderen Branche. Wenn irgendetwas [von diesen nationalen Projekten – dek] gelingt – wunderbar, wenn sich all das dafür vorgesehene Geld „auflöst“ – dann ist es auch keine Tragödie. Für die Machthaber, versteht sich, nicht für die Bevölkerung.

    Die Bevölkerung gewöhnt sich daran, immer mehr der steigenden Kosten aus der eigenen Tasche zu bezahlen, wobei diese zweifellos vom Staat getragen werden müssten, auch ohne jegliche nationalen Projekte. Bezeichnend für diese herrliche Technik sind zum Beispiel die vermehrten Finanz- und Sammelaktionen in Krankenhäusern und Schulen. Praktisch am selben Tag, als im Weißen Haus Gelder für die prioritären Bereiche verteilt wurden, gab es in der Duma den Vorschlag, Eltern angesichts dessen, dass Stipendien keineswegs mehr zum Leben reichen, zum Unterhalt von Schulkindern und Studenten zu verpflichten. 

    Das ist im Grunde alles, was man über die nationalen Projekte wissen muss: Geld in den Händen von Beamten – das heißt bei uns „national“, und Geld in der Tasche der einfachen russischen Bürger – das ist etwas für die russische Staatlichkeit Fremdes und Abstoßendes.

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    Schlimmer gehts nimmer

    Wenn das Realeinkommen fünf Jahre hintereinander fällt, dann sollte man den Chef der Statistikbehörde feuern – so höhnten einige russische Wirtschaftsexperten nach der Kündigung des Rosstat-Leiters Ende Dezember 2018. 

    Die Wirtschaft schwächelt; wegen Rentenreform, Inflation und Steuererhöhungen bleibt am Ende weniger in der Tasche. Und genau das trieb viele Menschen unlängst auf die Straße.

    Doch Reformen seien derzeit nicht zu erwarten, meint der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, da viel zu viele Amtsträger in den Sicherheitsstrukturen vom derzeitigen System profitieren würden. Wie ist der Wirtschaftsmisere also beizukommen? Oder, anders gefragt: Worauf hofft Putin noch? Diese Frage stellt The New Times mehreren Experten, unter anderem dem Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Worauf ist der Rückgang der Umfragewerte von Wladimir Putin wie auch der Regierungspartei Einiges Russland zurückzuführen? Auf den alles andere als glänzenden Zustand der heimischen Wirtschaft, die Anhebung des Rentenalters und die ständig steigenden Steuern und Preise. Das hat unter Experten erneut zum Nachdenken darüber geführt, worauf der Präsident eigentlich hofft, welche seine nächsten Schritte sein werden und was Russland „nach Putin“ erwartet.

    Die letzten Regierungsmaßnahmen unterscheiden sich deutlich von dem, was wir während der Krisen 2008/09 und 2011/12 beobachten konnten, so unterschiedlich diese Krisen auch gewesen sein mögen. 
    Bei der ersten Krise wurde aus Angst vor einem bevorstehenden wirtschaftlichen Kollaps mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt als je zuvor in postsowjetischer Zeit. Dadurch wurden die Einkommen der Bevölkerung auf einem Vorkrisenniveau gehalten und sogar ein wenig angehoben, was in keinem der westlichen Länder gelang. Bei der zweiten Krise setzte der Kreml auf eine Reform des Wahlsystems und führte die Gouverneurswahlen wieder ein. Das war ein Versuch, die politische Situation unter Kontrolle zu behalten, was zugegebenermaßen auch durchaus gelang.

    Heute sehen wir ein entgegengesetztes Bild: Weder in der Wirtschaft noch in der Politik sind Zugeständnisse, ganz zu schweigen von einem Kurswechsel, abzusehen: Die Steuern werden weiter steigen (selbst bei Haushaltsüberschüssen), und unpopuläre Kandidaten werden auf einflussreiche Posten gehievt (obwohl oppositionelle Kandidaten nicht weniger verhandlungsbereit sind).

    Die harte Variante

    Warum wird dieses Mal auf eine harte Variante gesetzt? Hierfür gibt es meiner Ansicht nach eine Reihe von Gründen.
    Zum einen hat Putin zwar nicht direkt seinen Realitätssinn eingebüßt, ist aber meiner Meinung nach endgültig der Überzeugung, dass er kein Volk regiert, sondern eine amorphe Masse, die schon längst aufgehört hat, sich als Subjekt zu fühlen. Und da liegt er richtig, wenn man die Proteste gegen die Rentenreform mit den Ereignissen 1995 in Frankreich vergleicht, und die Reaktion auf die steigenden Preise und Steuern ebenfalls mit Frankreich, und zwar mit dem von heute. Widerstand gegen seine Politik hat er nicht zu erwarten, und Umfragewerte bedeuten nichts in einer Gesellschaft, in der es zwar Wahlen, aber keine Opposition gibt.

    Zweitens hofft der Präsident angesichts der sich verschärfenden Sanktionen, der instabilen Ölpreise und der stagnierenden Wirtschaft wahrscheinlich auf ein Wunder, wie es im Laufe seiner Regierungszeit nicht wenige gegeben hat. Er selbst und seine nähere Umgebung sind endgültig zu Ikonomen geworden in jenem Sinne, wie in folgendem bekannten Witz: „Was, denken Sie, sollen wir gegen die sinkenden Löhne tun?“, fragt ein Russe einen Amerikaner. Der antwortet: „Improve the investment climate – it’s only about economy. Just economy!“ „Oh, danke! Gut, mit Ikonen also!“. Daher ist der nächste Besuch des Präsidenten bei seinem Seelsorger alles, was wir als Antwort auf die  wirtschaftlichen Probleme erwarten können.

    Drittens muss berücksichtigt werden, dass der politische Kurs im Land heute von einer Sekte sogenannter Methodologen bestimmt wird, mit Sergej Kirijenko an der Spitze. Das Grundprinzip besteht, wie bei Rollenspielen,  darin, dass der Auftraggeber zunächst in eine immer kritischere Lage gebracht wird und dann einen Ausweg finden soll. 

    Derzeit befinden wir uns in der ersten Phase eines solchen Prozesses, in der alles hinreichend kontrollierbar erscheint. Bis zur eigentlichen Krise ist es noch weit.

    Viertens hat sich der Druck von Seiten der Außenwelt erschöpft – auf den viele in Russland als Beschleuniger eines Wandels gehofft hatten: Der Westen sieht keine Gründe, seine Interessen nur dafür zu opfern, um die Stabilität eines Regimes zu untergraben, gegen das die eigene Bevölkerung nur höchst unwillig aufsteht. Radikale Maßnahmen wie der Ausschluss Russlands von den internationalen Clearingsystemen für Finanzoperationen oder ein Embargo auf russische Energieimporte erscheinen da unrealistisch.

    Es wird schlechter, eine Revolution bleibt aber aus

    All das führt mich zu der Auffassung, dass sich die Situation in nächster Zeit weiter verschlechtern wird, wobei Putin wahrscheinlich noch nicht alle „Trümpfe“ aus dem Ärmel gezogen hat (so bleibt etwa eine Verfassungsreform, die ihm lebenslang die Macht sichern würde, weiter auf der Agenda).

    Allerdings sehe ich bislang keine Gründe, warum eine solche Verschlechterung irgendwelche revolutionären Änderungen hervorrufen sollte: Wenn wir uns die Geschichte sämtlicher postsowjetischer Länder anschauen, und seien es die schwierigsten dieser Momente und die ärmsten dieser Länder, so werden wir kein einziges Beispiel einer ernsten Destabilisierung finden, die durch rein wirtschaftliche Probleme ausgelöst worden wären. Selbst bei solchen, die alle Bürger betreffen – wie die Anhebung des Rentenalters, die Inflation oder die Steuererhöhung.

    Daher denke ich nicht, dass es der Präsident nötig haben wird, zur Aufbesserung seiner Umfragewerte Belarus zu besetzen oder irgendwo in Afrika einen Krieg anzufangen. Die größte Gefahr kommt für ihn derzeit nicht von seinen Untertanen, sondern von der Bürokratie: Denn der Anstieg der Aufwendungen für Bürokraten – eine Art Lohn für Loyalität – macht den Effekt jedweder Steuererhöhung zunichte. Die wachsenden Ausgaben für sie decken bereits einige Jahre schon nicht mehr die von ihnen produzierten öffentlichen Güter. Und dahingehend wird sich die Lage nur verschlechtern. Doch ob in genau diesem Bereich Änderungen erreicht werden können, davon wird letztendlich das Überleben des Putinismus abhängen. Eines Putinismus, für den die Bevölkerung immer unwichtiger wird.

    Das System bleibt bestehen

    Wird das derzeit in Russland bestehende System in nächster Zukunft auseinanderbrechen? Nein, und das aus zwei Gründen.

    Einerseits hat sich die Wirtschaft als erheblich stabiler erwiesen, als von vielen erwartet, und das sogar unter sehr schwierigen Bedingungen. Es wird noch lange eine Nachfrage nach Öl geben, und die Manipulierung des Rubelkurses bei stagnierendem Wachstum und geringer Inflation ermöglicht es, noch geraume Zeit die Finanzierung der Staatsausgaben zu gewährleisten. 

    Andererseits leben wir in einem Staat, der von einer Mafia gekapert wurde, für die es keinen Weg zurück zur Normalität gibt. Die russischen Gesetze, die im Interesse dieser Elite verabschiedet wurden, werden heutzutage erbarmungslos gebrochen. So wird die Mehrheit jener, die sich heute als Herren über das Leben vorkommen, einen Zusammenbruch des Regimes nicht unter Beibehaltung ihres gegenwärtigen Status überleben (wenn sich nicht ihre Bedeutung ändert, so doch zumindest ihr Vermögen). Ich bin daher überzeugt, dass die unterschiedlichsten Gruppierungen in der Elite einen Weg finden werden, sich zusammenzuschließen; und dass sie sogar bereit sein werden, ihre gegenseitigen Ansprüche auf die Reichtümer zu begrenzen, die sie dem Volk abgenommen haben. Schlichtweg, um die Gefahr einer politischen Explosion zu minimieren.

    Wovor sollte man sich heute noch fürchten? 

    Russland hat sich viele Male unter der Macht (und mitunter im Grunde auch im Besitz) kleiner Elitengruppen befunden. Doch ist es bisher kaum vorgekommen, dass die Gruppe, die über das Land verfügt, derart kriminell ist, und derart ungeeignet, die Aufgaben bei der Entwicklung des Landes zu bewältigen. Innerhalb von 20 Jahren hat sie die Gesellschaft von der Zukunft in die Vergangenheit umkehren lassen. Sie hat sämtliche Prinzipien sozialer Gerechtigkeit mit Füßen getreten und Russland an den Rand der internationalen Bühne manövriert.

    Das Regime ist heute imstande, diese Lage der Dinge für recht lange Zeit zu konservieren. Die nachfolgende Gruppe wird das aber wohl kaum fortführen können. Experten, die damit schrecken, dass Russland „nach Putin“ noch aggressiver, verschlossener und oligarchischer werde, übersehen eine Gesetzmäßigkeit, die sich konsequent in der russischen Geschichte zeigt: Nach einer Phase übergroßer Anspannung folgt eine Zeit der Lockerung, nach zunehmender Konfrontation mit der Außenwelt folgt die Suche nach Wegen der Zusammenarbeit.

    Wovor sollte man sich heute fürchten? Dass sich der Anteil des geraubten Gemeinguts erhöht? Das kann man sich nur schwerlich vorstellen. Dass noch weniger professionelle Führungskräfte ans Ruder gelangen? Wo sollen die nach zwei Jahrzehnten negativer Auslese noch herkommen? Dass sich Tschetschenien ein weiteres Mal von Russland loslöst? Ein solcher Schritt wäre meiner Ansicht nach nur zu begrüßen. Dass gegenüber dem Westen radikale Zugeständnisse gemacht werden? Angesichts der Liebedienerei gegenüber China wäre hier jede Konzession in höchstem Maße akzeptabel. 
    Je mehr ich mir die bestehende Situation genau anschaue, desto fester bin ich überzeugt: schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Ganz wie vom Nordpol jeder Weg nach Süden führt, so wird jede Variante eines Zusammenbruches des bestehenden Regimes einen Wandel zum Besseren bedeuten.

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  • Warum alles bleibt, wie es ist

    Warum alles bleibt, wie es ist

    Russlands Wirtschaft setzt auf Gas – und sonst? Kritiker mahnen schon lange Reformen an. Der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew begründet auf Sobesednik, warum es in absehbarer Zeit keine geben wird.

    Liberale Reformen sind in Russland nicht möglich. Denn der Anteil derjenigen Menschen, die bewusst gegen die Einführung solcher Reformen sind, ist zu groß. Wobei sich sowohl deren Anzahl als auch ihre Stellung in den 2000er und in den Folgejahren stark verändert hat.

    Werfen wir zuerst einen Blick auf die Beamten. Ihre Zahl hat sich von 1999 bis 2017 beinahe verdoppelt, und zwar von 780.000 auf 1,37 Millionen. Der zunehmende Wohlstand in der Bevölkerung sowie die verbesserten Haushaltsmöglichkeiten – dank gestiegener Weltmarktpreise für russische Rohstoffprodukte – ließen den Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe sprunghaft ansteigen.
    Rechnet man noch die Freunde und Verwandten dieser Glücklichen hinzu, so kann mit Sicherheit gesagt werden, dass mindestens drei Millionen Menschen von der heutigen Ordnung profitieren und keine Veränderungen wünschen.

    Millionen Menschen wünschen keine Veränderungen

    Neben der Masse von Beamten gibt es noch die Silowiki. Nicht nur, dass diese Gruppe der russischen Bevölkerung zum größten Teil nicht zur wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung des Landes beiträgt, sie stört diese sogar. Um ihre Existenz aufrecht zu erhalten, führen sie immer neue Beschränkungen ein. Deren Überwachung sichert ihren Lohn, die Sanktionierungen bei Nichteinhaltung garantieren korrupten Gewinn
    Die Zahl derer, die in diesen Strukturen beschäftigt sind, übersteigt die in Industrieländern bei weitem: Der FBI und das CIA verfügen nur über ein Drittel der Beschäftigten wie der FSB. Auch der Zustrom an Leuten ist in diesem Bereich so groß wie nie. In der Folge wollen nicht weniger als vier Millionen Menschen, die dieser Gruppe angehören (inklusive Militär), und ebenso viele Familienmitglieder überhaupt keine Veränderungen.

    Diese Zahlen mögen vielleicht nicht ganz genau sein, aber in der letzten Zeit gibt es einen sehr interessanten neuen indirekten Indikator: Gemäß eines neuen Programms sind eigene  russische Betriebssysteme für Smartphones in Zukunft obligatorisch für 7,9 Millionen Mitarbeitende staatlicher Organe, staatlich finanzierter Einrichtungen und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung. 
    Anders ausgedrückt: Geht man in Russland von 72,4 Millionen Beschäftigten aus, so beträgt der Anteil an „verantwortungsvollen Staatsdienern“ mehr als elf Prozent. Rechnet man noch die Familienmitglieder dieser Personengruppe hinzu, so kommt man auf 17 bis 18 Prozent der aktiven Bevölkerung. 
    Zum Vergleich: In den USA beträgt die Zahl der Angestellten aller staatlichen Einrichtungen, inklusive Personal des nationalen Sicherheitsdienstes und des FBI, 1,86 Millionen Menschen, was 1,21 Prozent der Gesamtbeschäftigten entspricht.

    Hunderttausende stünden auf der Straße

    Im Zuge von Reformen – sollten denn welche in Angriff genommen werden – würden diese Leute ihre Stelle verlieren und müssten in die Wirtschaft eingegliedert werden, wo die Mehrheit von ihnen unter normalen Umständen nicht gebraucht wird. So wurden beispielsweise in Georgien, als Saakaschwili die Reformen eingeleitet hatte, praktisch alle Angestellten der Polizei entlassen. In den baltischen Staaten betrug der Stellenabbau im Zuge der Reformen zwischen 65 und 80 Prozent. In Russland würden sich also in einer gleichen Situation 700.000 bis 900.000 Leute auf der Straße wiederfinden. Was würden wir mit ihnen anfangen, und welche Auswirkungen hätte das auf die Bevölkerung? Und eine noch wichtigere Frage: Wie will man die Hälfte oder ein Drittel der bisher Beschäftigten bei einer Umstrukturierung des Innenministeriums denn bitteschön ersetzen? 

    Gerade in dieser unglaublich aufgeblasenen Schicht von „Verwaltungsbeamten“ und „Sicherheitsspezialisten“ liegt der eigentliche Grund, warum Reformen in Russland nicht durchgeführt werden können. Dieses bösartige Geschwür, entstanden durch ein energiegeladenes Karzinogen der 2000er Jahre, ist inoperabel. Man kann sein Wachstum mit Maßnahmen analog zu Bestrahlung oder Chemotherapie bremsen. Das Geschwür zu entfernen hätte jedoch den Tod des Patienten zur Folge.

    Im postsowjetischen Raum können heute zwei Entwicklungswege beobachtet werden: Der erste ist relativ revolutionär und dort möglich, wo Sicherheits- und bürokratische Strukturen nicht nur schwach sind, sondern auch keinen kritischen sozialen Einfluss haben. 
    Warum, beispielsweise, glückten in Georgien oder Armenien ziemlich radikale Umsturzversuche der bisherigen Systeme? Hauptsächlich deshalb, weil die Bürokratie einerseits schwach war (wie in Georgien) oder andererseits die Wirtschaft nicht grundlegend kontrolliert hat (wie in Armenien, wo das russische Kapital eine außerordentlich starke Stellung hatte). Außerdem waren die Sicherheitsstrukturen verhältnismäßig schwach (am Vorabend der April-Proteste in Jerewan betrug die Anzahl armenischer Polizisten ungefähr 10.000 Leute). In solchen Situationen kann es zu einem Machtwechsel kommen, können die (unter den früheren Hausherren) verantwortlichen Staatsbeamten sowie die Sicherheitsleute davongejagt und recht problemlos neue Staatsorgane mit qualifizierterem Personal aufgebaut werden, was recht gute Perspektiven schafft.

    Übles „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki

    Der zweite, konservativere Weg ist charakteristisch für Gesellschaften mit einer völligen Verflechtung von Wirtschaft und Staat (wie Russland oder die Ukraine), wo auch wesentliche Erschütterungen zu keiner bedeutenden Säuberung der Bürokratie- und Machtsphäre führen. Nach einer relativ kurzen Normalisierungsphase wie in der Ukraine nach der Revolution der Würde oder einer längeren Phase wie in Russland in den 1990er Jahren gelangt in solchen Ländern das üble und nutzlose „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki zu seiner alten Größe zurück. Und diese Tendenz kann nicht abgewendet werden.

    Während der vergangenen 20 Jahre hat sich in Russland ein System herausgebildet, von dem anzunehmen ist, dass die, die an die Macht kommen oder in Sicherheitsstrukturen tätig sind, nur von materiellem Eigennutz getrieben sind (der Alltag lässt zumindest auf nichts anderes schließen). Ernsthafte Reformen hätten also die Entlassung von drei bis vier Millionen Menschen aus den entsprechenden Strukturen zur Folge, die durch mindestens zwei Millionen ersetzt werden müssten, die vorher noch nie etwas mit Bürokratie zu tun hatten.

    Ein solches „Manöver“ ist technisch unmöglich, und daher erweisen sich Reformen im heutigen Russland als unrealistisch. Schaut man auf die Zerschlagung des zaristischen russischen Staatsapparates durch die Bolschewiki zurück, so mag man sich an den gezahlten Preis erinnern: Eine Elite von nicht weniger als drei Millionen Menschen wurde ausgelöscht (physisch und aus dem Land vertrieben), und über einen Zeitraum von nicht weniger als 20 Jahren hat sich eine neue Verwaltungsschicht herausgebildet. Ein solches Experiment kann Russland heute nicht wiederholen. Und das bedeutet, dass Hoffnungen auf baldige und radikale Umwälzungen eine Illusion bleiben. 

    Mit freundlicher Genehmigung von Sobesednik

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  • Warum der Rubel schwach bleibt

    Warum der Rubel schwach bleibt

    Üblicherweise rollt der Rubel nur in eine Richtung – dem Ölpreis nach: Steigt dieser, dann gewinnt auch der Rubel gegenüber dem US-Dollar an Wert und umgekehrt. Seit über einem halben Jahr ist diese Gesetzmäßigkeit gestört: Unabhängig vom derzeit relativ hohen Ölpreis bleibt der Rubelkurs unten. Warum ist das so?


    Quelle: wallstreet-online / OFX

    Die meisten Experten erklären das Phänomen mit äußeren Faktoren: Die Sanktionen würden dem Rubel zusetzen, außerdem sei die russische Währung Geisel einer globalen Entwicklung, die derzeit die Kurse von vielen Schwellenländern runterzieht. Während die meisten dieser Länder aber Stützungsmaßnahmen ergreifen, tut weder die russische Politik noch die Zentralbank etwas.  
    Heißt das, dass der Rubelkurs für den Kreml keine Rolle spielt? Im Gegenteil, meint Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew: Das Ziel bestehe allerdings nicht in der Stabilisierung, sondern in einer kontrollierten Senkung. 
    Da man diese These so sonst noch nirgends gehört hat, haben wir uns entschieden, den Text, der auf Riddle erschienen ist, hier in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

    Warum nimmt die russische Regierung Kurs auf Schwächung des Rubels? Drei entscheidende Gründe, sortiert nach Wichtigkeit:

    Autarkie ist Trumpf

    Erstens: Alles deutet darauf hin, dass die russische Regierung heute auf wirtschaftliche Autarkie setzt. Erfolge bei den Importsubstitutionen sind quasi zum Effektivitätskriterium geworden. Ohne Zweifel fördert die gezielte Abwertung des Rubels diese Art der Wirtschaftsentwicklung. Experten, die darauf hinweisen, dass diese Maßnahme nur eine geringe Wirkung auf die Förderung der russischen Exporte habe, liegen völlig richtig: Der Anteil der industriellen Endprodukte am Export ist gering. 

    Gleichzeitig sichert die stetige Verteuerung der Importe den russischen Produzenten ihre Dominanz auf dem inländischen Markt, und die Wirtschaftsindikatoren bleiben dadurch stabil. Ein Land, dessen Wirtschaft sich in vollem Umfang auf Ausgabenerhöhungen stützt, macht eine Korrektur durch Währungsabwertung zur periodischen Notwendigkeit. Je sanfter und kalkulierter diese Anpassung ausfällt, desto geringer ist die Schockwirkung für Produzenten und Bevölkerung. 

    Sanfte Kursabwertung erzeugt Gefühl von Wachstum

    Ohne schrittweise Abwertung der nationalen Währung kann in der russischen Wirtschaft kein Gefühl von Wachstum aufkommen, ungeachtet dessen, dass eine solche Abwertung keine zusätzlichen Exporteinnahmen bringt. Für einen solchen Doping-Effekt müsste das Abwertungstempo gesichert über den Inflationsindikatoren liegen, da ansonsten der Effekt schlichtweg verpufft. Es sei darauf hingewiesen, dass dies nur unter Bedingungen einer eingeschränkten oder gar stagnierenden Endnachfrage möglich ist. Darin findet sich auch die Antwort auf die Frage, warum sich die russische Regierung gegenüber einer Nachfragestimulation apathisch verhält, obwohl in den letzten zehn Jahren eine solche Maßnahme in den meisten Industriestaaten die Antwort auf die Wirtschaftskrise war.

    Währungsabwertung füllt sehr wirksam die Staatskasse 

    Zweitens: Der Kreml hat einen noch wichtigeren Grund, eine Rubelschwäche anzustreben. Der russische Haushalt weist nämlich vor allem folgende Besonderheit auf: seine große Abhängigkeit von Import- und Exportzöllen sowie von Steuern auf die Gewinnung von Bodenschätzen. Was haben denn die Einfuhrzölle für Autos und der Steuersatz auf Erdölgewinnung miteinander zu tun? Beiden ist gemeinsam, dass sie in Euro (Importzölle) oder in Dollar (die Förderabgabe, die an den Erdölpreis auf dem Weltmarkt gebunden ist oder Exportzölle) errechnet werden. So erhält die Regierung im Grunde genommen einen Teil der Erträge in Fremdwährungen, erklärt aber den Rubel zum alleinigen Zahlungsmittel im Land. 2017 beispielsweise beliefen sich diese Abgaben an den Staatshaushalt insgesamt auf 5,97 Billionen Rubel [etwa 77 Mrd. Euro – dek] bei einem durchschnittlichen Kurs von 58,35 Rubel pro Dollar. 2018 betrug der durchschnittliche Kurs der ersten acht Monate bereits 62,66 Rubel pro Dollar. Bei unverändertem Import- und Exportvolumen vermehrten sich dadurch die Einnahmen der Staatskasse um nicht weniger als 400 Milliarden Rubel [etwa 5 Mrd. Euro – dek]. Auf das ganze Jahr wird mit über 900 Milliarden [etwa 11 Mrd. Euro – dek] gerechnet. 

    Über den rückläufigen Erdölpreis kann lange diskutiert werden. Jüngst aber überstieg der Barrel-Preis in Rubel, und gerade das ist wichtig für den Haushalt, die 5000er-Marke. Im Mai 2008 – und das waren historische Höchststände – lag er bei nur bei 3600 Rubel pro Barrel. Ich möchte hinzufügen: All diese Einnahmeposten werden ausschließlich dem Staatshaushalt gutgeschrieben, aus dem die für den Kreml so hohen Sozialausgaben finanziert werden (in Rubel, selbstverständlich). Diese, wie auch die Renten und Sozialhilfen, sind nicht an den Dollarkurs, sondern an die offizielle Inflation gekoppelt. Anders ausgedrückt ist die Währungsabwertung ein sehr wirksames und wenig konfliktreiches Instrument, um die Staatskasse zu füllen.

    Psychologischer Gewinn, wenn Volkseinkommen nominal hoch

    Drittens hat die Abwertung der nationalen Währung eine extrem wichtige psychologische Funktion. Nehmen wir die berühmte Rentenerhöhung von 1000 Rubel [etwa 13 Euro – dek] – das bedeutet für die kommenden Jahre ein jährliches Wachstum von 7 Prozent (wenn wir von der heutigen durchschnittlichen Monatsrente von 14.000 Rubel [etwa 180 Euro – dek] ausgehen), wobei dieses Wachstum bei steigendem Nominalbetrag abflaut. Die Einkommen der russischen Bevölkerung gerechnet in Dollar (er dient für den internationalen Vergleich sowie als Berechnungsgrundlage für die reale Konsumnachfrage der Bürger) – haben von Anfang 2017 bis August 2018 um 8,5 Prozent abgenommen, und diese Entwicklung denkt gar nicht daran zu stoppen. 

     

     

    Der Big-Mac-Index vergleicht die Kaufkraft von verschiedenen Währungen anhand der Preise (in US-Dollar) für einen Big Mac. Demnach ist der Rubel stark unterbewertet. 

     

    Jedoch ermöglicht die Abwertung des Rubels der Regierung, von wachsenden Nominalinvestitionen in Rubel zu berichten, von einem höheren Volkseinkommen und steigenden Renten. De facto plündert sie dabei Haushaltsposten aus, die bei einer stagnierenden Wirtschaft den korruptionsintensivsten Spielraum bieten. 

    Propaganda schlägt Vorteile aus Entdollarisierung der Wirtschaft

    Wenn in den ersten zwei Amtszeiten von Putin beteuert wurde, Portugal werde rasant eingeholt, das BIP und die Einkommen würden in Dollar berechnet wachsen, so geriet diese Ankündigung in den letzten Jahren völlig in Vergessenheit. Die Propaganda schlägt alle möglichen Vorteile aus einer völlig illusorischen Entdollarisierung der Wirtschaft. Was leider nur sichtbar ist, wenn man von unten nach oben schaut und nicht von oben nach unten. 

    Meiner Meinung nach besteht heute kein Zweifel darüber, dass eine fortschreitende Abwertung die ideale „symmetrische Antwort“ ist auf die westlichen Sanktionen, die Verschlechterung des Investitionsklimas und den unausweichlichen Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung. Sie garantiert „Stabilität“ im Inneren, lässt nicht zu, dass alle russischen Produkte zu Ladenhütern werden, erlaubt höhere Einnahmen im Haushalt, der bei einem Vor-Krim-Kurs von 32,50 Rubel pro Dollar nun mit nicht weniger als 2 Billionen Rubel [etwa 25 Mrd. Euro – dek] defizitär wäre. Und beruhigt die Bürger, die sich bereits über die wenigen Rubel Einkommenssteigerung freuen, in einem Land, das sich schrittweise von der Außenwelt abkapselt. 

    Das alles bedeutet, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um einen Kursanstieg zu verhindern, selbst wenn unsere „geopolitischen Feinde“ morgen alle gegen Moskau verhängten Sanktionen aufheben würden.

     

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