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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Totale Aufarbeitung?

    Totale Aufarbeitung?

    „Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.

    Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. 

    Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.

    Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen. 

    Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.

    Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.

    Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus

    Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.

    Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion

    Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.

    Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.

    Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.

    Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

    Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.

    Das Symbol der Kreml-Religion

    Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.

    Die Überlegenheit der russischen Nation

    Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

    Minderwertigkeit der anderen Nationen

    Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.

    Die Existenz eines natürlichen Feinds

    In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.

    Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.

    Die Ukraine als Heiliger Gral

    In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.

    Das Recht auf Krieg

    Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.

    Die Idee von der Normalität des Krieges

    Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.

    Die Macht der Ideologie 

    Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

    Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.             

    Wie holen wir Russland zurück?

    Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.

    Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann. 

    Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar. 

    Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.

    Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte. 

    Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste

    Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. 
    Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. 
    Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. 
    Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen: 

    Entkirchlichung

    In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren. 

    Entkommunisierung

    Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht. 

    Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben. 

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  • Sprache in Zeiten des Krieges

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.

    Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

    Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen).
    Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.

    Auf Republic kommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“. 

    Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.

    Die Kompassnadel spielt verrückt

    Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.

    In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.

    In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.

    Mindestens seltsam

    Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.

    Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.

    Sprache in Zeiten des Krieges

    Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.

    Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.

    Die breite Masse wird vergrämt

    Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.

    Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte

    Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte. 
    Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.

    Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …

    Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.

    Flucht aus der russischen Sprachzone

    Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.

    Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.

    An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.

    Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.

    Die Wahl der Mittel

    Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.

    Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.

    Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.

    Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.

    Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.

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  • Jenseits von links und rechts

    Jenseits von links und rechts

    Sozialdemokratisch, liberal und konservativ oder schlicht links und rechts – das sind vertraute Zuschreibungen für politische Akteure in (west)europäischen Staaten. Auf das aktuelle politische System in Russland lassen sie sich nicht einfach übertragen, schon gar nicht eins zu eins. Wie aber werden Parteien oder politische Persönlichkeiten stattdessen verortet, insbesondere die außerparlamentarische Opposition? In ihrer Kritik an Präsident Putin erscheint gerade sie auf den ersten Blick wie ein zusammenhängender Block. Was vielen nicht klar ist: Oft genug sind die verschiedenen Gruppen untereinander jedoch völlig zerstritten.

    Woran genau scheiden sich die politischen Geister in Russland? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Politologe Wladimir Pastuchow auf republic. Dabei geht er von einer umstrittenen Diskussion aus, die kürzlich der bekannteste russische Oppositionspolitiker öffentlichkeitswirksam geführt hat: Alexej Nawalny. Weil der sich ausgerechnet den Ex-Separatistenführer Igor Strelkow an den Youtube-TV-Tisch holte, musste er massive Kritik einstecken. Aus den großen Streitfragen, die dabei aufkommen, strickt Pastuchow eine handliche Typologie russischer Sichtweisen auf die Politik.

    Die Diskussion zwischen Nawalny und Strelkow ist ein außergewöhnliches Ereignis, was auch immer darüber geschrieben wurde. Mit Blick auf die vergangenen Jahre war es das eindrucksvollste öffentliche Aufeinanderprallen aller bedeutenden russischen Ideenwelten aus der neueren Geschichte des Landes – bislang hatten sich die Seiten lieber auf Ideenkarate ohne Körperkontakt verlegt.

    Es sei jedoch angemerkt, dass ideologisch gesehen, nicht zwei, sondern drei Seiten an der Diskussion beteiligt waren: Im Studio war auch der Geist der russischen liberalen Opposition anwesend. Und damit ist nicht mal vordergründig der Moderator Michail Sygar gemeint, der mit am Tisch saß, sondern vielmehr der allgemeine mediale und politische Kontext, in den die Diskussion von Beginn an versunken war.

    Die zentrale Frage nach der Staatsmacht

    Die einzige zentrale, in Russland sowohl politisch als auch ökonomisch relevante, Frage war die nach der Staatsmacht. Darauf gaben die Teilnehmer eine ausführliche, wenn auch unbefriedigende Antwort. Zwar wird Nawalny oft vorgeworfen, ihm fehle ein Programm. Doch in Wirklichkeit hat er alles gesagt, was man über seine Ansichten als russischer Politiker wissen muss: Er hat sein Verhältnis zur Staatsmacht deutlich zum Ausdruck gebracht.

    Eine politische Ideologie gibt es in Russland nicht und es kann auch keine geben, weil Russland nach wie vor eine vorpolitische Gesellschaft ist. Sie ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo sich die Staatsgewalt vom Eigentum löst und ein „politisches Feld“ erschafft. Deswegen ist es völlig sinnlos, russische Politiker danach zu befragen, ob sie rechts oder links stehen. Die Matrix von rechts und links ist auf Russland überhaupt nicht anwendbar. Denn sie leitet sich aus dem Verhältnis zum Privateigentum ab, das es in Russland nach wie vor nicht gibt.

    Die Grundlage des russischen Lebens bildete über viele Jahrhunderte das Herrschereigentum, das Erbe des [gnose-5269]Wotschina-Systems[/gnose]. Es stellt den Ursprung von Recht und Reichtum in Russland dar. In der gesamten russischen Politik dreht sich alles genau darum. Erklärt ein Politiker seine Haltung zur staatlichen Macht, hat er die Frage nach seinem Programm umfassend beantwortet – mehr brauchen wir nicht zu wissen, weder über ihn noch über das Programm.

    Drei Sichtweisen zum Thema Staatsmacht: patriotisch, liberal, progressiv

    Bei der Diskussion waren mehr oder weniger offenkundig alle drei traditionellen russischen Sichtweisen zu diesem heiklen Thema vertreten:

    Die patriotische Haltung (auch die slawophile genannt), war repräsentiert durch Strelkow: Die Staatsgewalt ist a priori das Gute („Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet.“). Sie ist die unmittelbare und irrationale Verkörperung des gemeinschaftlichen Geistes und bedarf keiner weiteren Legitimation. Sie braucht weder Schutz noch Beschränkung durch äußere Kräfte, sondern muss immer und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse handeln, das per se mit den Interessen der russischen Gesellschaft übereinstimmt. Wodurch die Demokratie in Russland nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich ist, denn sie könnte die natürliche Einheit zwischen Volk und Staatsmacht zerstören und zu einem Instrument in den Händen von Plutokraten sowie inneren und äußeren Feinden Russlands werden.

    Die liberale Haltung (auch die westliche genannt), war repräsentiert durch das liberale Publikum, an das sich sowohl Nawalny als auch Strelkow wandte: Die Staatsgewalt ist a priori das Böse. Sie steht im Widerstreit mit der Gesellschaft. Ihre Interessen sind den Interessen der Gesellschaft entgegengesetzt, deswegen muss sie permanent kontrolliert und beschränkt werden. Sie muss dazu angehalten werden, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, also entgegen ihren eigenen, egoistischen, „blutrünstigen“ Interessen. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung von demokratischen Institutionen überlebensnotwendig für Russland. Denn nur durch Demokratie lässt sich die Bestie im Zaum halten. 

    Die progressive Haltung (auch die revolutionär-demokratische genannt), repräsentiert durch Nawalny: Die Staatsgewalt ist an sich neutral. Alles hängt davon ab, in wessen Händen sie liegt. Liegt die Macht in „schlechten“ Händen, ist sie „reaktionär“ und muss bekämpft werden. Liegt sie in „guten“ Händen, ist sie „progressiv“ und verdient Unterstützung. Die Interessen einer reaktionären Staatsmacht widersprechen den Interessen der Gesellschaft, die Interessen einer guten Staatsmacht entsprechen denen der Gesellschaft. Deswegen ist die Demokratie in Russland in dem Ausmaß nützlich, in dem sie der Staatsmacht hilft, in guten Händen zu bleiben. Tut sie dies nicht, kann und sollte sie beschränkt werden (Zweckmäßigkeit vor formeller Rechtmäßigkeit).

    Der vertikal organisierte Staat erscheint alternativlos

    Sowohl aus historisch als auch aus streng inhaltlichen Gründen bilden die progressiven, revolutionär-demokratischen Ideen eine ganz eigene Symbiose aus Westlertum und Slawophilie. Die Progressiven erkennen die rationale Notwendigkeit an, die Staatsgewalt der Gesellschaft unterzuordnen, ihre Vorstellung von Staatsgewalt bleibt jedoch irrational.

    In äußerst verkürzter Form lassen sich die drei herrschenden ideologischen Trends in Russland folgendermaßen zusammenfassen: Man muss der Staatsmacht dienen (Patrioten), man muss die Staatsgewalt bekämpfen (Liberale) und man muss die Staatsgewalt nutzen (Progressive).
    Auch wenn die Distanz zwischen diesen drei Positionen auf den ersten Blick enorm  erscheint, liegen sie in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Denn sie gehen von derselben Grundlage aus: Die russischen Patrioten, die russischen Liberalen und die russischen Revolutionär-Demokraten (die Progressiven) erkennen allesamt die objektive Alternativlosigkeit, ja sogar Notwendigkeit eines streng zentralisierten, von oben nach unten organisierten, vertikal integrierten Staates für Russland an.

    Der Leviathan als „guter Onkel“, die Gesellschaft als infantiler Teenager

    Aus verschiedenen, sich nicht selten gegenseitig ausschließenden Gründen beten restlos alle – Patrioten, Liberale und revolutionäre Demokraten –  den  russischen Leviathan an. Ihre Einschätzungen, was den russischen Staat betrifft, gehen zwar auseinander, doch betrachten sie ihn alle als einen „sozialen Demiurgen“ und den einzig möglichen Ursprung aller Politik. Die Staatsmacht erscheint ihnen als eine Kraft, die sich von der Gesellschaft losgelöst hat und ein Eigenleben führt. So ein Blick auf die Staatsmacht geht meist mit dem Blick auf die Gesellschaft als einem infantilen Teenager einher. 

    Für die Patrioten mangelt es der russischen Gesellschaft zu sehr an Standhaftigkeit gegenüber dem schlechten Einfluss des Westens, als dass man ihr vertrauen könnte. Für die Liberalen hingegen ist die russische Gesellschaft zu archaisch und reaktionär, als dass man das Schicksal in ihre Hände legen könnte. Für die revolutionären Demokraten ist die Gesellschaft traditionsgemäß kein Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Insgesamt sind sich alle einig: Von der russischen Gesellschaft ist außer Wirren nichts zu erwarten. Die einen vertreten offen, die anderen unterschwellig die Annahme, sie brauche bis heute einen „guten Onkel“. 

    Liberale hoffen insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht 

    Formal stehen die Liberalen im Kampf gegen den Leviathan in der ersten Reihe. Sie der Liebe zu ihm zu bezichtigen, ist also ziemlich schwierig. Doch es gibt einen Lackmustest, der etwas erkennen lässt, worüber man unter Liberalen nicht laut spricht, zumindest nicht öffentlich. Der Indikator ist das Zustimmungs-Level für liberale Ideen in der russischen Gesellschaft – diese Zustimmung überstieg bisher noch nie die derzeitigen „14 Prozent“, die schon zum Mem geworden sind. 

    Die bittere Wahrheit für die Liberalen ist: Auf dem sogenannten demokratischen Weg können sie nicht an die Macht kommen. Bei wirklich demokratischen Wahlen in Russland wird ein Strelkow immer bessere Chancen haben als jeder liberale Kandidat. Wenn die Liberalen also von Demokratie und der freien Wahl des russischen Volkes sprechen, hoffen sie insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht und ihre Fähigkeit, ein Programm umzusetzen, das dem Großteil dieses Volkes fremd ist. Das ist kein Vorwurf, lediglich die Feststellung unangenehmer Fakten, die einen gewichtigen historischen und kulturellen Hintergrund haben.

    Progressive haben eine Chance, an die Macht zu kommen

    Gemessen an der liberalen Utopie erscheinen die bolschewistischen Ansprüche der Progressiven um Nawalny ehrlicher, oder zumindest praktikabler. Die erklärten Ziele der Liberalen sind genauso unerreichbar wie die der Progressiven, aber die Progressiven haben zumindest eine Chance, an die Macht zu kommen. Darüber, was sie dann mit dieser Macht tun wollen, sprechen sie vorsorglich nur in äußerst allgemeinen Formulierungen. Das ist zumindest ehrlich.

    Es gibt verschiedene Arten von Autokratien – orthodoxe, kommunistische, antikommunistische, korrupte und sogar antikorrupte. Bei der Diskussion lieferte keine der Parteien eine Antwort auf die Frage, welche institutionellen (konstitutionellen) Reformen durchgeführt werden müssten, um Russland aus dieser festgefahrenen Spur zu reißen und die Möglichkeit einer weiteren „oligarchischen“ Regierung zu verhindern. Die Ironie des Schicksals liegt darin, dass es Chodorkowski ist, der versucht, eine Antwort zu liefern und so als Beispiel dafür dient, dass Revolutionen in der Regel von Verrätern ihrer Klasse gemacht werden.

    Allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt seit Katharina der Großen unangetastet
     

    Die Idee besteht darin, sich grundsätzlich vom streng zentralisierten Modell einer vertikal integrierten Staatsgewalt zu verabschieden sowie eine Reihe von formalen Beschränkungen einzuführen, die eine weitere Reproduktion dieses Modells in Russland unmöglich machen. 

    Es geht also um eine tiefgreifende politische Reform für Russland, die jene allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt zerstören soll, die praktisch seit den Zeiten von Katharina der Großen unangetastet geblieben ist. Diese Reform müsste mindestens drei Hauptkomponenten einschließen:

    Ein unbedingter Machtwechsel. Mit Blick auf die historische Erfahrung und Russlands „übles politisches Erbe“ gilt es Maßnahmen zu ergreifen, damit niemand, und zwar unter keinen Umständen, langfristig oder gar auf unbegrenzte Zeit, Schlüsselpositionen in der Regierung bekleiden kann, einschließlich des Postens des Staatsoberhaupts. Dazu muss es in der russischen Verfassung und in den Verfassungsgesetzen eindeutige Formulierungen geben. 

    Eine tiefgreifende Dezentralisierung von Macht. Das ist der wichtigste und inhaltlich weitreichendste Punkt der politischen Reform. Er beinhaltet zwei Kernpunkte: den Übergang zu einer tatsächlichen Föderalisierung und den Ausbau der Selbstverwaltung, auch in den Metropolen. 

    Dabei wird vorausgesetzt, dass eine echte Föderalisierung kein mechanischer Prozess ist, bei dem „so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt“ an die bereits bestehenden, halbfiktiven territorialen Gebilde übergeben wird. Es geht um eine tiefgreifende Umstrukturierung des gesamten Beziehungssystems zwischen der Staatsführung in Moskau und den Regionen, die auch die Bildung neuer Föderationssubjekte vorsieht.

    Und schließlich einen Übergang zur parlamentarischen (oder auch parlamentarisch-präsidialen) Republik. Der Erhalt der bestehenden Regierungsform ist nicht zweckdienlich, sowohl wegen ihrer tiefen Verwurzelung in einer autokratischen Tradition als auch wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der angestrebten Organisationsstruktur der Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Diese Struktur erfordert eine andere politische Repräsentationsform. In der neuen Konfiguration der Staatsmacht steht die Regierung in der Verantwortung vor dem Parlament, sie muss das zentrale Element beim Aufbau der Staatsmacht bilden.

    Situation in Russland erinnert stark an ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren

    Einerseits erinnert die Situation in Russland stark an die ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren und könnte durchaus genauso traurig enden. Andererseits gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Heute haben die Widersprüche zwischen den Liberalen und den revolutionären Demokraten keinen antagonistischen Charakter (auch wenn die Leidenschaften hochkochen). Und das bedeutet, dass ein Kompromiss und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. 

    Nawalny, der von allen Seiten der Kritik ausgesetzt ist – von rechts und links, von oben und unten – hat in Wirklichkeit noch nichts getan, das die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit den Liberalen ausschließen würde. Das vom Kreml aufgedrängte und von einem Teil der liberalen Intellektuellen aus Konjunkturgründen aufgegriffene Klischee von Nawalny als einem „Faschisten“ entbehrt jeglicher politischer und ideologischer Grundlage. 

    Nawalny ist ein typischer Vertreter der russischen revolutionär-demokratischen Tradition. Er ist natürlich kein Bolschewist im herkömmlichen Sinne, aber ein enger Verwandter der Bolschewisten. Die Wurzeln seiner politischen Philosophie (und die gibt es, glauben Sie mir) gehen auf die Narodniki zurück. Das ist, wie die russische und die Weltgeschichte gezeigt haben, politisch zwar auch „kein Zucker“, hat aber nichts mit Faschismus zu tun. 

    Russische Politik ist wie ein Videospiel mit vielen Levels

    Zudem wissen wir aus der historischen Erfahrung, dass die Weigerung der Liberalen, mit den revolutionären Demokraten zusammenzuarbeiten, den Faschisten den Weg zur Macht bereitet hat. Genau das geschah nämlich im Deutschland der 1930er Jahre, wo der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Thälmann objektiv betrachtet Hitler in die Hände spielte. 

    Die aktuelle russische Politik erinnert an ein Videospiel: Es gibt viele Levels, aber das nächste Level erreicht man nur, wenn man die Aufgaben des vorherigen erfüllt hat. Für die Opposition gibt es nichts gefährlicheres als den Versuch, ein oder sogar zwei Level zu überspringen, indem sie beginnt, die Probleme der nächsten Stufe zu lösen, bevor die aktuellen gelöst sind. 

    Um das erste Level abzuschließen, müssen die liberalen und die revolutions-demokratischen Kräfte einen konstitutionellen Konsens bilden. Das ist die Conditio sine qua non für einen Sieg der Opposition und das Hauptmerkmal ihrer politischen Reife. 

    Im Gegensatz zu dem, was Lenin forderte, muss sich die heutige Opposition zunächst vereinen und später voneinander abgrenzen.

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