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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Tschüss, Russki Mir?!

    Tschüss, Russki Mir?!

    Ende September ist der Krieg um Bergkarabach zwischen Aserbaidshan und Armenien wieder neu entflammt, zahlreiche Zivilisten und Soldaten sind dabei ums Leben gekommen. Nun kam die überraschende Wende: Beide Seiten einigten sich in der Nacht zum Dienstag unter Vermittlung Russlands auf ein gemeinsames Abkommen

    Darin spiegelt sich die militärische Übermacht Aserbaidshans wider, die sich in den vergangenen Wochen deutlich zeigte: So sieht das Dokument etwa vor, dass Armenien sich teilweise aus Bergkarabach zurückzieht. Russland schickt knapp 2000 Soldaten, um den Frieden zu sichern – für zunächst fünf Jahre. Nachrichten, dass auch Aserbaidshans Verbündeter, die Türkei, Truppen entsende, dementierte der Kreml.

    Während die Menschen auf Aserbaidshans Straßen einen Sieg feiern, kam es in Armenien zu heftigen Protesten. Armeniens Präsident Nikol Paschinjan bezeichnete das Abkommen als „unaussprechlich schmerzhaft für mich selbst und für unser Volk“. 

    Was die Rolle Russlands, traditionelle Schutzmacht Armeniens, angeht, sind sich Beobachter allerdings uneins: Auch wenn die Türkei an dem Abkommen nicht beteiligt ist – den Einfluss in der Region muss Russland künftig mit Aserbaidshans wichtigstem Verbündeten teilen. Steht Russland mit Armenien also auf der Verliererseite?
    Der russische Außenexperte Wladimir Frolow erklärte dem Nachrichtenportal Rambler, der Deal sei gut für Putin – unter der Voraussetzung, dass Russland nicht für Armenien in den Krieg ziehen will. Letzteres versteht Frolow als Ausdruck einer strategischen Wende in der russischen Außenpolitik – die er schon länger beobachtet und Ende Oktober auf Republic am Beispiel von Bergkarabach und Belarus beschrieb: Demnach verabschiedet sich Moskau von der Dominanz im postsowjetischen Raum ganz bewusst – schlicht, weil der Preis für Russland zu hoch ist.

    Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert. Eine „Eurasische Union“, eine „Zone privilegierter Interessen“, der „Russki Mir“, die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den „NATO-Panzern und -Raketen“ und die einzigartige Rolle als „Garant für Sicherheit und Souveränität“ für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der aktuellen Agenda des Kreml verschwunden.

    Solch grandiose Ideen existieren zwar in den Talkshows der Staatssender, aber diejenigen, die die russische Politik in den Regionen machen, bedienen sich viel realistischerer Narrative. Denn es herrscht die Meinung, dass der Traum von der russischen Dominanz im postsowjetischen Raum zwar eine gute Sache ist, aber der Preis für seine Verwirklichung viel zu hoch; de facto kann er nur in Ausnahmeszenarien realisiert werden – im Falle, dass existenzielle Staatsinteressen bedroht sind. In den meisten Fällen aber, und insbesondere dort, wo es keine gemeinsame Grenze mit Russland gibt, ist die postsowjetische Dominanz eher ein Luxus als ein Vehikel für nationale Entwicklungsziele. Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen. Moskau „wägt ab, was für uns sinnvoll ist und was nicht“, sagt Fjodor Lukjanow. Zu einem großen Teil ist das auf die Analyse der russischen Aktionen in der Ukraine, Georgien und Syrien zurückzuführen.

    Die postsowjetische Dominanz ist eher ein Luxus

    Der neue russische Ansatz in postsowjetischen Angelegenheiten lässt sich im Wesentlichen auf drei Frames herunterbrechen: Wozu? Was habe ich davon? Wie trete ich möglichst nicht in dumme Scheiße? (In Anlehnung an die außenpolitische Doktrin Barack Obamas „Don‘t do stupid Shit“.)

    Das Konzept der „strategischen Zurückhaltung“ Russlands im postsowjetischen Raum lässt sich an Wladimir Putins letztem Auftritt beim Waldai-Forum ablesen, bei dem der Präsident Ruhe und Gelassenheit demonstrierte, während er akute Krisen im nahen Ausland erörterte.
    Die zeitliche Parallele der Unruhen in Belarus und Kirgistan sowie das Wiederaufflammen eines echten Krieges zwischen Armenien und Aserbaidshan um die Region Berg-Karabach sind ein guter Stresstest für die neue russische Strategie, und bisher hält sie ihm stand.

    Belarus

    In Belarus legt Moskau Selbstbeherrschung an den Tag – bei gleichzeitiger Wahrung des Handlungsspielraums. Noch bis vor kurzem glaubte man, ein drohender Regimewechsel infolge einer Farbrevolution in einem Staat, der durch ein Netz von Bündnisverpflichtungen an die Russische Föderation gebunden ist und Russland physisch von der NATO trennt, würde eine militärische Intervention Moskaus auslösen. Dadurch wären Proteste zu unterdrücken, oder zumindest ein hybrider Krieg möglich, um marionettenartige Pufferstaaten analog der Donezker Volksrepublik und der Volksrepublik Luhansk zu schaffen. Doch eine Wiederholung des ukrainischen Szenarios hat es nicht gegeben.

    Moskau hat den Wahlkampf in Belarus aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Die Frage war lediglich, ob Lukaschenko seine Macht unmittelbar unter dem Druck der Straße verlieren würde (was dem Kreml natürlich überhaupt nicht geschmeckt hätte) oder ob es gelingt, „den Prozess zu strukturieren“ und Moskau den Weg in die belarussische Politik zu ebnen.

    Am Ende entschied man sich für eine zurückhaltende Linie: schickte Lukaschenko wärmsten TV-Support (naja, und noch ein bisschen mehr), signalisierte die Bereitschaft, sich „im Falle von Massenunruhen“ einzumischen (ohne darauf die geringste Lust zu haben und völlig im Klaren darüber, dass eine direkte Einmischung einen antirussischen Protest konsolidieren würde), blockierte die Vermittlerrolle des Westens und riet den Demonstranten „zu Lukaschenko zu gehen und ihn nach einer Verfassungsreform zu fragen“.

    Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten. Durch die Absage an eine zu aktive Einmischung in die Krise und an ein direktes gewaltsames Vorgehen in Belarus konnte eine Destabilisierung innerhalb Russlands verhindert werden. Indem Russland westliche Forderungen nach einem „nationalen Dialog“ unter OSZE-Vermittlung verhinderte, hat es diese Vermittlerrolle selbst eingenommen. Nicht zuletzt hat die zurückhaltende Reaktion auf die belarussische Krise Moskau einen besonnenen Blick auf das Projekt des Staatenbundes ermöglicht: Ist der wirklich so vorteilhaft für Russland oder birgt er nicht auch ein Risiko für die russische Staatlichkeit? Alles, was einen Staatenbund ausmacht, lässt sich auch innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion verwirklichen.

    Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden

    Selbst der Wert eines Militärbündnisses mit Belarus stellt sich in neuem Licht dar. Die Bedrohung durch die NATO – das sind nicht die polnischen Panzer vor Smolensk, sondern amerikanische luft- und bodengestütze Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Zentraleuropa. Ist es für die Verteidigung Russlands da nicht sicherer, die 100 Milliarden US-Dollar an Öl- und Gassubventionen für Belarus darauf zu verwenden, den ganzen europäischen Teil des Landes mit Iskander-M-Raketen und S-400-Luftabwehrsystemen zu überziehen (und so die eigenen Fabriken mit Aufträgen auszulasten)? Klar ist, dass es in Minsk nach der Krise keine Rückkehr zum Status quo geben wird, und die „neue russische Zurückhaltung“ ermöglicht es, in aller Ruhe abzuwägen, wie es nun weitergehen soll.

    Bergkarabach 

    Hier hat Moskau eine Beteiligung auf dieser oder jener Konfliktseite vermieden, auch wenn die von der TV-Propaganda angeheizte Polemik in Russland bereits bedrohliche Ausmaße annimmt.

    Moskau gibt zu verstehen, dass der Konflikt um die Region Bergkarabach weder direkten Bezug zu Russland hat noch seine nationalen Interessen berührt. Zwar stellt Putin die aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS resultierenden Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien nicht in Frage, doch in Wirklichkeit überdenkt Moskau den Nutzen eines solchen Bündnisses, dessen Vorteile für Armenien auf der Hand liegen, nicht jedoch für Russland.

    Die Beziehungen zu Aserbaidshan haben für Russland einen eigenständigen Wert und werden nicht durch das Prisma der armenischen Interessen betrachtet. Dieser Wert wird dadurch bestimmt, dass die russisch-aserbaidshanische Grenze durch eine äußerst heikle Region verläuft: Dagestan und das Kaspische Meer. Die Ruhe an dieser Grenze und die enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarn, um diese Ruhe zu gewährleisten (damit es nicht wieder so wird wie in den 1990ern und Anfang der 2000er Jahre), sind nicht weniger wichtig als die Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien.

    Es ist Moskau ein Dorn im Auge, dass beide Seiten versuchen, Russlands Position zu ihren Gunsten zu manipulieren, und Russland auf diese Weise Probleme bereiten. Zu eindeutig nutzt Aserbaidshan das Thema der russischen Antiterroroperationen in Tschetschenien und Dagestan, um separatistische Tendenzen im eigenen Land abzuwehren. Macht man diese Position zu einem unumstößlichen Prinzip, dann entkräftet man die Argumente Russlands in Bezug auf den Donbass und die Krim und verstärkt im Gegenzug die der Ukraine.

    Armenien hat schon unter der damaligen Führung das russische Vorgehen auf der Krim im Jahr 2014 zu sehr als Freibrief für eine schrittweise „Wiedervereinigung“ durch eine „Selbstbestimmung des karabachischen Volkes“ gewertet. Und auch wenn Sergej Lawrow erklärt, dass gemäß UN-Charta das „Selbstbestimmungsrecht der Völker an zentraler Stelle steht und die territoriale Integrität und Souveränität respektiert werden müssen“, ist Moskau lediglich bereit, dieses rechtliche Novum auf die Krim (und Abchasien und Südossetien) anzuwenden, aber nicht auf Bergkarabach (und nicht einmal auf den Donbass).

    Zur Türkei

    Moskau wird sich wegen des penetranten Eindringens der Türkei in den postsowjetischen Raum und deren Anspruch auf Beteiligung an einer Regulierung in Bergkarabach nicht auf einen bewaffneten Konflikt mit ihr einlassen, trotz der laut werdenden Aufrufe, zu den Waffen zu greifen und „ein neues Chalchin Gol“ herbeizuführen. Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende außenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem „Hirntod der NATO“ führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und dem Mittelmeerraum erhöht.

    Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung

    Es gibt nur zwei Minen, die die russisch-türkischen Beziehungen sprengen könnten: Erstens eine Ausweitung der militärtechnischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und der Ukraine (Produktion von Drohnen, Lieferung von Hochpräzisionswaffen und Lobbyarbeit für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens in die NATO). 
    Und zweitens die aggressive Propagierung eines Panturkismus und des politischen Islam innerhalb Russlands. Die Verstärkung der türkischen Präsenz im Südkaukasus ist eine vollendete Tatsache, und das einzige, was Moskau interessiert, ist, dass Erdogan die roten Linien nicht überschreitet.

    Ausformuliert bedeutet die neue außenpolitische Doktrin des Kreml in etwa:

    • nur das absolute Minimum tun, das sich aus Vertragsverpflichtungen ergibt; Ausgaben für das Krisenmanagement minimieren; „brüderliche Hilfe“ leisten; nach und nach „die Last der postsowjetischen Führung“ reduzieren
    • als Bedingung für russische Hilfe möglichst konkrete Schritte des Empfängers dahingehend vereinbaren, dass er sich und seine Souveränität unter die geopolitischen Ziele Moskaus unterordnet
    • die Bündnisverpflichtungen Russlands einer gründlichen Prüfung unterziehen, anpassen und die Formate der russischen Beteiligung konkretisieren
    • nichts tun, was die innenpolitische Lage in Russland destabilisieren könnte, auch nicht durch eine zu aktive Beteiligung Russlands an den inneren Krisen seiner Nachbarn oder eine unreflektierte Ausweitung bestehender Integrationsbündnisse
    • nicht zulassen, dass die russische Außenpolitik durch „Bruderrepubliken“ und ihre „russländischen Diasporen“ zugunsten von deren Interessen manipuliert wird, die sich nicht immer mit den russischen decken
    • keine weiteren Sanktionen aus dem Westen auf sich laden wegen eines postsowjetischen „Anhängsels“ der Russischen Föderation 
    • keine Schritte unternehmen, die Russlands Handlungsspielraum einschränken oder einen Rückzug ohne Gesichtsverlust unmöglich machen und in eine Sackgasse führen, vergleiche „stupid Shit“ 
    • nicht gegen Windmühlen der inneren Destabilisierung postsowjetischer Staaten ankämpfen; Toleranz für ein gewisses Grad an Instabilität in den Regionen entwickeln; von einem übermäßig aktiven Kampf gegen die Farbrevolutionen Abstand nehmen. 
    • sich der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst sein sowie ihrer Unzulänglichkeit, einen entscheidenden Effekt auf regionale Krisen auszuüben – abgesehen von Situationen, die unmittelbar die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen
    • anderen regionalen Playern stillschweigend „eingeschränkte Interessen“ im postsowjetischen Raum zugestehen – und einen Modus vivendi mit ihnen suchen, ohne einen Fetisch aus der „russischen Dominanz“ zu machen: Dominant nur dort, wo es dich ohne Dominanz teuer zu stehen kommt, und nicht einfach nur aus Prinzip
    • anerkennen, dass der Aufstieg der Russischen Föderation zu einer Großmacht in anderen Regionen der Welt (dem Nahen Osten, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum) zu einer Abhängigkeit von anderen Regionalmächten führt, die wiederum die Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum einschränkt; sich aller Risiken und Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation mit „aufstrebenden Regionalmächten“ bewusst sein – im Unterschied zu einer simulierten „kontrollierten Eskalation“ mit den USA, der NATO oder der EU, wo ein Militäreinsatz grundsätzlich unmöglich ist
    • sich wegen all dem „keinen Kopf machen“, auch wenn die internationale Presse sich mit Schlagzeilen über den schwindenden russischen Einfluss in ihrer eigenen Einflusssphäre überschlägt.

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  • Ein Donbass für Syrien?

    Ein Donbass für Syrien?

    In der vergangenen Woche standen Russland und die Türkei am Rande eines Krieges: 36 türkische Soldaten wurden in Nordsyrien Opfer einer großangelegten Offensive der von Moskau unterstützten Assad-Truppen. Die Türkei reagierte zunächst mit Gegenangriffen, eine Eskalation konnte jedoch vermieden werden.

    Am kommenden Donnerstag, dem 5. März 2020, treffen sich nun Putin und Erdoğan in Moskau, um die Situation in der Region Idlib zu besprechen. Der türkische Präsident sagte, dass er sich von den Gesprächen eine Waffenruhe oder andere Lösungen erhoffe. Laut Militärexperten könne bei dem Treffen ein neues Abkommen geschlossen werden, dass das Sotschi-Memorandum vom September 2018 ersetzt. Dieses sah eine Stabilisierung der Region vor: Die Türkei verpflichtete sich darin unter anderem, die islamistischen Milizen von den gemäßigten Anti-Assad-Kräften abzuspalten. Die Assad-Regierung saß nicht mit am Tisch, sondern wurde über das Ergebnis und die Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und der Türkei lediglich informiert.

    Einen Vormarsch syrischer Truppen auf das von der Türkei beanspruchte Idlib sah das Sotschi-Memorandum dabei aber genauso wenig vor wie das zuvor beschlossene Astana-Abkommen. Da Russland die Truppen von Assad bei ihrem Vormarsch auf Idlib zumindest gewähren ließ und die Türkei es nicht schaffte, Anti-Assad-Kräfte aufzuspalten, betrachten manche Beobachter die bisherigen Abkommen zwischen den beiden Ländern als weitgehend wirkungslos.

    Ein neuer Anlauf könnte darin bestehen, dass Russland der Türkei nun tatsächlich garantiert, dass die Region Idlib faktisch unter türkische Kontrolle kommt. In diesem Szenario des Politologen und Außenexperten Wladimir Frolow pfeift Russland Assad zurück und überlässt die Region weitgehend der Türkei. 
    Warum sollte Russland seinen Verbündeten Assad aber im Stich lassen? Unter anderem, weil die Türkei in dem Konflikt sowieso am längeren Hebel sitzt und Russland sich kräftig verkalkuliert hat, meint Frolow auf Republic

    Die Türkei setzt derzeit bei ihrer Operation Frühlingsschild massenweise auf Kampfdrohnen, Kampfflieger, Boden-Boden-Systeme, Spezialeinsatzkräfte und ein begrenztes Bodenkontingent. Mit dem Beginn der Operation hat die Türkei ihre Entschlossenheit demonstriert, eigene existentielle Interessen in Idlib zu verteidigen. Innerhalb von drei Tagen hat sie der syrischen Armee und pro-iranischen Kräften erheblichen Schaden bei Kriegstechnik und Streitkräften zugefügt.

    Assad kann, so hat sich gezeigt, die Region Idlib ohne massives militärisches Eingreifen Russlands und ohne Unterstützung des Iran nicht gänzlich unter seine Kontrolle bringen. Er muss dort stoppen, wo er gestoppt wurde. 

    Die Türkei wiederum musste einsehen, dass sie allein durch Luftangriffe unter vorwiegendem Einsatz von Kampfdrohnen die syrischen Truppen nicht an die Linie des Sotschi-Memorandums von 2018 zurückdrängen kann. Die türkischen Verbündeten aus den Reihen der syrischen Opposition waren nicht schlagkräftiger als die syrische Armee. Für eine Vergrößerung des [türkisch] kontrollierten Gebiets hätte man mit einer ausreichend großen Einheit von Landstreitkräften einmarschieren müssen (aktuell sind dort etwa 4000 Personen) – dafür hätte Erdoğan jedoch weder innenpolitische noch internationale Unterstützung gehabt.

    Damaskus war bestrebt, Idlib vollständig zu kontrollieren, um die Hoheit über das Gebiet wiederherzustellen, die Grenze [zur Türkei – dek] zu schließen und um die Bevölkerung, die dem syrischen Regime gegenüber nicht loyal ist, so weit wie möglich in die Türkei abzudrängen. Für Russland war es womöglich wichtig zu demonstrieren, dass es Damaskus darin unterstützt, die territoriale Souveränität im ganzen Land wiederzuerlangen. Außerdem bleibt die Aufgabe, die terroristischen Gruppierungen der HTS niederzuzwingen, um die eigenen Stützpunkte in Latakia endgültig vor terroristischen Drohnenangriffen abzusichern. Allerdings gab es auch Vermutungen, dass ein erheblicher Teil dieser Quadrokopter-Attacken Provokationen seitens alawitischer Pro-Assad-Gruppierungen waren, um Russland in die Operation in Idlib hineinzuziehen. Und Moskau in dieses Abenteuer hineinzuziehen – das ist Assad gelungen. 

    Womit Moskau nicht gerechnet hatte

    Womit Moskau nicht gerechnet hat, war die harte Reaktion der Türkei. Erdoğans Entscheidung, trotz der russischen Präsenz massiv militärische Gewalt gegen die syrische Armee einzusetzen, kam für Moskau unerwartet. Offenbar können wir sowohl über die ineffektive Arbeit unserer Agenten und des elektronischen Nachrichtendienstes in der Türkei sprechen, die die Absichten und die Entschlossenheit Ankaras nicht rechtzeitig erkannt haben, als auch über den übermäßigen Einfluss der syrischen Verbündeten auf die Einschätzungen des russischen Militärkommandos sowie die falsche Einschätzung der Situation durch die politische Führung des Landes. Auch wenn der Luftangriff vom 27. Februar, bei dem 36 türkische Soldaten getötet und mehr als 30 verwundet wurden, tatsächlich von syrischen Flugzeugen durchgeführt wurde (obwohl die Türken etwas anderes glauben und die syrische Luftwaffe bei Dunkelheit nicht fliegt), war es ein Signal an die Türkei, nicht die rote Linie zu überschreiten. Der Luftangriff hat das Ausmaß der militärischen Eskalation der Türkei nur noch verstärkt.

    Und hier wird klar, dass die russische Operation in Syrien seit 2015 darauf ausgelegt ist, die syrische Opposition und die Terroristen zu bekämpfen, aber nicht einen großen Staat, geschweige denn ein NATO-Mitglied. 

    Die Türkei hat mit dem Angriff auf die syrischen Truppen (unter gleichzeitiger Vermeidung eines Zusammenstoßes mit den russischen Luftstreitkräften) gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in Syrien schlicht nicht ausreichen, um die Offensive einer mächtigen Armee und Luftwaffe zu verhindern. Die Türkei hat im syrischen Theater von Kriegshandlungen die absolute militärische Überlegenheit, und als Grenzland hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur Eskalationsdominanz.

    Die russischen Kräfte in Syrien sind dagegen praktisch isoliert, die Hauptversorgungswege führen durch türkische Meerengen und Luftraum. Ankara hat gezeigt, dass der Sieg Russlands in Syrien und eine Nicht-Wiederholung von Afghanistan unter Mitwirkung der Türkei erreicht wurde, die sich weigerte, „ein zweites Pakistan“ zu werden, und sich stattdessen auf Moskaus Anerkennung ihrer begrenzten, aber grundlegenden Interessen in Nordsyrien verließ. Die Verpflichtung Moskaus, diese Interessen der Türkei zu respektieren, wurde durch die Operation in Idlib verletzt.
    Eng abgesteckte Ziele in Syrien, die begrenzten Mittel für ihre Erreichung und die damit verbundenen Risiken sind seit 2015 die Schlüsselfaktoren für den russischen Erfolg. Oberstes Prinzip war es, Vorsicht walten zu lassen, wenn es darum ging, das Verhältnis zu Drittstaaten aufs Spiel zu setzen. 

    Moskau war in den Konflikt eingetreten, um das Assad-Regime zu retten, um einen Präzedenzfall in der Bekämpfung von Farbrevolutionen zu schaffen, um terroristische Einheiten und die bewaffnete syrische Opposition maximal zu schwächen sowie um eine Basis für die Militärpräsenz in der Region zu schaffen. Diese Aufgaben hat es erfüllt.

    Moskau hatte sich nie zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle Assads über syrisches Territorium bis zum letzten Zentimeter wiederherzustellen – geschweige denn dazu, das syrische Regime in einem bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat und NATO-Mitglied zu verteidigen. So gesehen geht die aktive Beteiligung der russischen Streitkräfte an der Operation der syrischen Armee in Idlib „weit über die ursprünglich abgesteckten Ziele hinaus und übersteigt die ursprünglich eingegangenen Risiken“, wie der Kriegsberichterstatter Ilja Kramnik in seinem Telegram-Kanal schreibt.

    Moskaus Dilemma

    Moskaus Einlassen auf die syrische Operation in Idlib mit der starken militärischen Reaktion der Türkei, die die Kampffähigkeit der syrischen Streitkräfte untergrub, brachte Russland vor ein Dilemma: Es entweder selbst auf eine Eskalation der Kampfhandlungen anzulegen (was einer erheblichen Aufstockung der Truppen in Syrien bedurft hätte), indem man Flugzeuge und Luftabwehr auch gegen die türkische Armee einsetzt (man hätte türkische Drohnen abschießen und die kriegswichtige Infrastrukturen der Türken in Idlib und im syrischen Kurdistan bombardieren können – selbstverständlich ohne Schäden auf türkischem Territorium, was den Bündnisfall im Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hätte auslösen können). Oder aber man hätte sich still und heimlich wegschleichen und die syrischen Verbündeten mit der Armee Erdoğans allein lassen können.

    Klugerweise wurde die zweite Entscheidung getroffen (genauer gesagt, ein paar Tage lang wurde überhaupt nichts entschieden). Moskau hat sich bis zum Montag nicht in den Kriegsverlauf in Idlib eingemischt und so der türkischen Luftwaffe und Artillerie die Möglichkeit eingeräumt, der syrischen Armee, den Hisbollah-Einheiten und der militärischen Infrastruktur (einer Munitionsfabrik, ein paar Flugplätzen) erheblich zu schaden. Doch sich noch weiter zurückzuziehen und eine absolute Niederlage und Erniedrigung des syrischen Verbündeten zuzulassen, hätte dem Image und Status Russlands in der Region und in der Weltpolitik inakzeptablen Schaden zufügen können. Daher stimmte Putin einem Treffen mit Erdoğan in Moskau und einem neuen Abkommen über die Aufteilung Idlibs zu.

    Die Schlüsselfrage über die Zukunft Idlibs bleibt aber weiterhin ungeklärt. Die Interessen Moskaus an guten Beziehungen zur Türkei (sowohl, was den wirtschaftlichen, als auch, was den militärstrategischen Bereich angeht) sind weit größer als alle Interessen Russlands an Syrien (diese sind eher bescheiden). In diesem Sinne ist es für Moskau sinnvoller, die türkischen Begehrlichkeiten zu stillen in Bezug auf die Sicherheitszone in Idlib. Die Verantwortung für einen weiteren Kampf gegen HTS/al-Nusra kann man Ankara überlassen.

    Idlib muss nicht unbedingt komplett wieder unter die Kontrolle Assads kommen. Schließlich hat Assad einen Bürgerkrieg im eigenen Land entfesselt, dem mehr als 550.000 Menschen zum Opfer fielen und der weitere sechs Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Dafür muss er aufkommen. Denjenigen Bevölkerungsteil, der gegenüber seinem Regime am stärksten oppositionell eingestellt ist, gewaltsam unter seine Macht und seine Repressionen zu zwingen, ist kontraproduktiv.

    Idllib als syrisches Donbass?

    Moskau hat einen starken diplomatischen Trumpf in petto – den in Russland erstellten Entwurf einer neuen syrischen Verfassung: Er sieht eine dezentrale Macht und die Autonomie mancher Regionen in Syrien vor. 2017 hat Assad so getan, als würde er die Vorschläge Moskaus nicht wahrnehmen. Nun ist der Moment gekommen, da seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden sollte.

    Denn wenn das „Volk des Donbass” das Recht auf einen „Sonderstatus” innerhalb der Ukraine hat, warum kann das „Volk Idlibs” dann nicht Anspruch auf genau so einen Sonderstatus erheben, wo es doch weitaus mehr Grund hat, eine Zentralregierung zu fürchten (als alawitisch-schiitische religiöse Minderheit, die die sunnitische Mehrheit unterdrückt)? Warum ist die gewaltsame Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium und die Grenzen mit militärischen Mitteln schlecht für die Ukraine, aber gut für Syrien? Warum sollte man auf die Situation in Idlib und auch im syrischen Kurdistan nicht Arbeitsergebnisse nutzen, die im Rahmen der Minsker Abkommen für den Donbass erzielt wurden? Dort finden sich alle nötigen Regulierungs-Komponenten.
    Der russischen Diplomatie würde es nicht schaden, größere Konsequenz bei der Anwendung von Schlüsselprinzipien des internationalen Rechts zu demonstrieren. Im Gegenteil, es würde Moskaus Verhandlungsposition sowohl im Donbass als auch in Syrien stärken.

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  • Neue Weltordnung im alten Format?

    Neue Weltordnung im alten Format?

    Bei den Gedenkfeiern zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren hat Wladimir Putin am 23. Januar eine programmatische Rede gehalten: In der Gedenkstätte Yad Vashem sagte er vor den anwesenden 46 Staats- und Regierungschefs, dass alle dafür Verantwortung tragen, die schrecklichen Tragödien des Krieges nie mehr zu wiederholen. „Besondere Verantwortung für den Erhalt der Zivilisation“ tragen aber vor allem die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen, so der russische Präsident.

    Diese Staaten sind heute die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und müssen laut Putin „ein ernsthaftes und direktes Gespräch über die Grundprinzipien einer stabilen Weltordnung und die drängendsten Probleme der Menschheit“ führen. 

    Wie soll dieses Gespräch aussehen? Wie kann es zur „Entspannung der Weltlage“ beitragen? Und wie kommt der Kreml überhaupt zu einem derartigen Vorstoß? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.

    Programmatische Rede bei der Gedenkfeier zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers vor 75 Jahren / © kremlin.ru
    Programmatische Rede bei der Gedenkfeier zur Befreiung des NS-Vernichtungslagers vor 75 Jahren / © kremlin.ru

    Die Idee für einen Gipfel der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats brachte Wladimir Putin zum ersten Mal in seiner Rede an die Föderationsversammlung am 15. Januar 2020 ins Spiel. Und nur eine Woche später formuliert er sie in Israel anlässlich des internationalen Holocaust-Forums bereits als konkrete außenpolitische Initiative:

    „Geschichtsvergessenheit und Zersplitterung können angesichts der Bedrohungen schreckliche Konsequenzen haben. Wir müssen nicht nur den Mut haben, dies in aller Deutlichkeit zu sagen, sondern auch alles dafür tun, um den Frieden zu verteidigen und zu bewahren. Beispielgebend hierfür sollten und könnten, denke ich, die fünf Gründungsstaaten der Vereinten Nationen sein, die eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Zivilisation tragen.“

    Gipfeltreffen mit dem 75. Jahrestag des Sieges in Moskau verbinden? 

    Dass Putin die Initiative innerhalb einer Woche zwei Mal vorgebracht hat, deutet darauf hin, dass das Thema im Vorfeld abgesprochen und von den Partnern insgesamt positiv aufgenommen wurde. Noch vor Ort bekam die Idee eines Fünfergipfels Unterstützung von Frankreichs Präsident Macron. Auch China soll laut Dimitri Peskow bereits seine Unterstützung zugesagt haben; Großbritannien warte auf „weitere Details“. Washington hat sich offiziell noch nicht geäußert, aber informelle Gespräche haben bereits stattgefunden (bei der Libyen-Konferenz vergangenen Sonntag in Berlin unterhielt sich Putin lebhaft mit dem US-Außenminister Mike Pompeo) – offenbar mit positivem Ausgang.

    Offenbar will der Kreml das Gipfeltreffen mit den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Sieges am 9. Mai in Moskau verbinden – auch wenn Putin der Form halber erklärt, es könne „in jedem Land, an jedem Ort der Welt“ stattfinden. Dafür sprechen einerseits die „Gründungssymbolik“ – 75 Jahre seit dem Sieg über den Faschismus und 75-jähriges Bestehen der UN – und andererseits die ständigen Verweise auf das Konzept der „Siegermächte als Begründer der Nachkriegsordnung“. Noch symbolträchtiger wäre es, das Treffen in Jalta (wo 1945 über die Gründung der UN beraten wurde) oder San Francisco (wo die Gründung tatsächlich stattfand) abzuhalten, aber das wäre wohl zu viel der Symbolik.

    Merkwürdiger Beigeschmack für den Besuch von Kanzlerin Merkel 

    Ein Gipfel der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats am 9. Mai in Moskau würde den Jubiläumsfeierlichkeiten diplomatischen Inhalt verleihen und die Chance auf ranghöchsten Besuch erhöhen. Zwar würde ein „Gipfel der Siegermächte“ dem Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und des japanischen Premierministers Shinzo Abe einen merkwürdigen Beigeschmack verleihen. Dies hätte aber auch seinen verborgenen Sinn, nämlich die „geopolitische Unselbständigkeit“ von Berlin und Tokio zu unterstreichen, die genau wie vor 75 Jahren, die Entscheidungen der „Siegermächte“ hinnehmen müssten.

    Gleichzeitig birgt Wladimir Putins Initiative organisatorische wie inhaltliche Risiken. Ein solches Treffen hat es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben (es war auch nicht nötig, weil die Staaten in ständigem Austausch stehen: einerseits auf der Ebene der Bevollmächtigten in New York, andererseits auf der Ebene der Außenminister, die alljährlich bei der UN-Vollversammlung zusammenkommen). Damit ein derart hochrangiges Treffen zustande kommt, bedarf es heutzutage triftiger Gründe und substanzieller Ergebnisse (eine allgemeine wohlklingende Absichtserklärung ist eindeutig zu wenig).

    Problematisch ist auch die Außenwirkung einer solchen Veranstaltung: Was werden die übrigen Staaten von den Teilnehmern halten, insbesondere ihre Verbündeten? 

    Für Russland und China ist das ein maximal bequemes Format: Im Gegensatz zur G7, G8 oder gar G20 ist der UN-Sicherheitsrat völkerrechtlich verankert, Russland und China haben ein Vetorecht auf sämtliche Entscheidungen. Weil sich die beiden Staaten bei den meisten internationalen Fragen einig sind, würden sie bei einem Fünfergipfel eine gemeinsame Front bilden, während die westlichen Teilnehmer mit Meinungsverschiedenheiten überfrachtet sind, die ihre Positionen schwächen. 

    Problematische Außenwirkung

    Das Vereinigte Königreich sieht nach dem Brexit ohnehin ziemlich schwach aus, sein Einfluss auf das Weltgeschehen scheint sich heutzutage offenbar auf die Regulierung des Erwerbs von Londoner Elite-Immobilien durch ausländische Investoren zu beschränken. Die rasche Zustimmung Macrons zu einem solchen Treffen zeugt von seinem Entschluss, die führende und unabhängige Rolle Frankreichs in Europa und der Welt zu betonen, doch sie wird für Unzufriedenheit innerhalb der EU sorgen (die bisher nicht zu dem Treffen geladen ist). Und ohne die Unterstützung aus Berlin ist die Zustimmung aus Paris nicht viel wert. Trump ist sowieso unberechenbar und könnte mit Vorschlägen kommen, die den übrigen Teilnehmern, einschließlich des Organisators, nicht schmecken.

    Die ungute Außenwirkung wird noch dadurch verstärkt, dass Moskau stark die besondere Rolle der „Siegermächte als Begründer der Nachkriegsordnung von Jalta“ hervorhebt. Es spiegelt die russische Sichtweise auf das Völkerrecht wider, wonach lediglich ein paar wenige Oligarchenstaaten, die das multipolare internationale Konzert bestimmen, über volle Souveränität und Unabhängigkeit verfügen, während alle anderen Länder mit eingeschränkter Souveränität ausgestattet sind und den „Großmächten“ im Rahmen des „jeweiligen Lagers“ zu folgen haben. Eine Veranstaltung, die nur annähernd an Jalta 1945 erinnert, erscheint für die politische Elite in Washington, Paris und London inakzeptabel, ganz zu schweigen von den Hauptstädten Osteuropas und Asiens.

    Viele Fragen wirft auch die abstrakt gehaltene Agenda des Gipfels auf. Was bedeutet „ein ernsthaftes und direktes Gespräch über die Grundprinzipien einer stabilen Weltordnung und die drängendsten Probleme der Menschheit“? Wie genau soll das Gespräch „über die kritische Masse an Herausforderungen in den unterschiedlichsten Bereichen, über das Konfliktpotential auf regionaler und internationaler Ebene aussehen, damit die Teilnehmerstaaten Verantwortung übernehmen und dem weiteren gefährlichen Anwachsen dieser Masse Einhalt gebieten“? Bisher ist das nichts weiter als Buchstabensalat. Die Unschärfe der Tagesordnung könnte den Gipfel scheitern lassen oder zu seiner Durchführung in einer gestutzten Version führen, was für Moskau eine Demütigung wäre.

    Es droht weder ein globaler Atomkrieg noch macht es Sinn, das „Konfliktpotential“ von möglichen regionalen Zusammenstößen ohne die daran beteiligten Länder zu diskutieren. Was genau sollen die Fünf entscheiden? Als einziges konkretes Thema hat Putin die Lage in Libyen genannt. Aber welchen Zweck hat es, darüber zu beraten, ohne die anderen zentralen Akteure mit einzubeziehen: Deutschland, Italien, die Türkei, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Katar und Saudi-Arabien? Drei der fünf ständigen Mitglieder – Russland, Frankreich und bis zu einem gewissen Grad auch die USA – unterstützen Marschall Haftar, die Regierung der Nationalen Einheit Saraj wurde von der UN selbst aufgestellt. Was sollte man da beschließen? Welches Ergebnis soll das „neue Jalta“ nach dem Verständnis des Kreml liefern?

    Gipfel als Schlussstrich unter Putins erfolgreiche geopolitische Offensive

    Die Antwort auf diese Frage scheint in Dimitri Peskows Kommentar zu liegen: Der Gipfel des UN-Sicherheitsrates soll „die Suche nach Wegen zur Entspannung der Weltlage in Gang setzen“. Nach dem Überschreiten der roten Linie 2014 und nach sechs Jahren offener Konfrontation mit dem Westen braucht Moskau nun also eine „Entspannung der Lage“, um seine Stellung als „globale Großmacht“ neu zu bestätigen und – ganz wie Mitte der 1970er Jahre – um seine geopolitischen Errungenschaften zu konsolidieren (Multipolarität und absolute Souveränität; der postsowjetische Raum als „Region mit privilegierten Interessen“ ohne EU und NATO; eine führende Rolle im Nahen Osten; eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa). 
    Es ist Zeit, einmal tief durchzuatmen, sich umzusehen und den Blick auf die innere Agenda zu richten. Und die wird aktuell bestimmt durch den von Putin eingeleiteten verfassungsmäßigen Machttransfer, der unter möglichst angenehmen und stabilen äußeren Bedingungen durchgeführt werden will.

    Putin möchte außenpolitische Rechnungen begleichen

    Der Gipfel soll also die erfolgreiche geopolitische Offensive von Wladimir Putin besiegeln, ihre Ergebnisse legitimieren, einen Prozess der Normalisierung und Aufhebung der Sanktionen in Gang setzen und die konstruktive Zusammenarbeit auf der gemeinsamen Agenda einleiten. Dafür scheint Moskau bereit, den Konflikt im Donbass unter überwiegend ukrainischen Bedingungen zu lösen (Modernisierung der Minsker Abkommen, Übertragung der vollständigen Grenzkontrolle an Kiew bis zu den Wahlen in den vorübergehend besetzten Gebieten um Luhansk und Donezk, den Abzug von sämtlichem schweren Gerät auf russisches Gebiet), gefolgt von einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu Kiew. 

    Putin möchte vor seinem Abtritt wahrscheinlich versuchen, alle außenpolitischen Rechnungen zu begleichen und seinem Nachfolger keine offenen außenpolitischen Probleme zu hinterlassen, die zu akuten militärischen Krisen führen könnten. Wenn es sorgfältig vorbereitet wird, wäre ein solches Gipfeltreffen dafür kein schlechtes Format.

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    Pakt mit dem Teufel

    Am 23. August 1939 stieg der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop ins Flugzeug nach Moskau, um dort einen folgenreichen Vertrag zu unterzeichnen. Im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Außerdem unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit ebneten sie, so die eine Lesart, den Weg zum Zweiten Weltkrieg.

    Den Grundstein für eine andere Lesart legte Molotow schon im August 1939: „Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags bezeugt, dass sich die historische Voraussicht des Genossen Stalin glänzend erfüllt hat.“ Die Erzählung über die „historische Voraussicht“ beherrschte auch die Auslegung des Pakts in den Nachkriegsjahren: Stalin, so hieß es, habe damit den Kriegsbeginn hinausgezögert und so Menschenleben gerettet. 

    80 Jahre nach der Unterzeichnung des Pakts kommt die russische Politik zu demselben Schluss. Auch mit anderen Argumenten revidiert sie erstmals die seit der Perestroika geltende Verurteilung des Pakts, den auch Putin 2009 als amoralisch bezeichnete. 

    Will Moskau mit dieser geschichtspolitischen Offensive zeigen, dass es auch heute solche Instrumente der Außenpolitik einsetzen will? Was würde das für die völkerrechtlichen Beziehungen bedeuten? Und wer ist hier eigentlich der Adressat? Diese Fragen stellt der Politologe und Außenexperte Wladimir Frolow auf Republic.  

    Moskau hat den 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes mit einer mächtigen Informationskampagne begangen. Diese hat einerseits die Verteidigung des Vertrags zum Ziel, andererseits die Rechtfertigung der Motive und Ziele der stalinschen Sowjetunion: sowohl beim Abschluss des Paktes als auch bei der territorialen Aufteilung Osteuropas auf Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls. An der Kampagne waren höchstrangige Persönlichkeiten beteiligt, die für Gestaltung des außenpolitischen Kurses Russlands verantwortlich sind.

    „Diplomatischer Triumph der UdSSR“

    Außenminister Sergej Lawrow erklärte, dass „die UdSSR genötigt gewesen“ sei, den Nichtangriffspakt mit Deutschland zu unterzeichnen, weil England und Frankreich nicht zu einem Militärbündnis mit Moskau bereit gewesen seien. Wladimir Medinski, Kulturminister und Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, bezeichnete den Pakt als einen „diplomatischen Triumph der UdSSR“.

    Den Schlussakkord der Kampagne bildete ein Post des Außenministeriums in den sozialen Netzwerken, in dem behauptet wurde, dass „durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag der Krieg an für die UdSSR strategisch günstigeren Grenzen begann und die Bevölkerung dieser Gebiete erst zwei Jahre später dem Naziterror ausgesetzt wurde. Dadurch wurden hunderttausende Menschenleben gerettet.“

    Vollständiger Wechsel des historischen Narrativs

    Die Dimension der Kampagne und der hohe Status der Beteiligten übersteigen den Rahmen der üblichen propagandistischen Reaktionen auf „diffamierende Ränke“ der westlichen Partner.

    Es geht um einen vollständigen Wechsel des historischen Narrativs. Diesem hatte seit dem 24. Dezember 1989 und dem Beschluss des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR zum Hitler-Stalin-Pakt folgende Einschätzung zugrunde gelegen: dass es sich um einen verfehlten „Akt persönlicher Macht“ (Stalins) gehandelt habe und dass der Pakt in keiner Weise „den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelte, das keine Verantwortung für dieses Komplott trägt“.

    2009 hatte Premierminister Wladimir Putin diese Bewertung des sowjetischen Parlaments erneut bekräftigt, als er den Hitler-Stalin-Pakt als „amoralisch“ bezeichnete. Das Außenministerium der Russischen Föderation erklärte im selben Jahr, dass „der politische und moralische Schaden für die UdSSR durch den Abschluss eines Vertrages mit Nazi-Deutschland offensichtlich war“.

    Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung

    Heute wird womöglich der Versuch unternommen, das Narrativ über den Beginn des Zweiten Weltkrieges unter Kontrolle zu bringen, womöglich aus bestimmten, weitreichenden, außenpolitischen Zielen heraus – etwa zur Stützung der Vision des Kreml von einer neuen Weltordnung und einem zukünftigen Sicherheitssystem in Europa. Welche Folgen kann diese intensive Apologetik haben, die etwas rechtfertigt, das vor 30 Jahren zurecht als amoralischer und nicht zielführender (was die Abwendung der Kriegsgefahr von der UdSSR betrifft) Akt persönlicher Macht erklärt worden war, der für die UdSSR „die Folgen der hinterhältigen nazistischen Aggression“ verschärfte?

    Für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands ist die Kampagne kontraproduktiv

    Die pathetische Apologetik des Hitler-Stalin-Paktes ist für die aktuelle außenpolitische Agenda Russlands kontraproduktiv. Moskau hat sich in den vergangenen Monaten einem Punkt genähert, an dem es in den Beziehungen zum Westen endlich „das Thema Ukraine und Krim abschließen“ könnte. Hoffnung sollte für Moskau in dem neuen Gaullismus von Emmanuel Macron bestehen. Der ruft dazu auf, Russland zurückzuholen und zusammen mit ihm eine „neue europäische Sicherheits- und Vertrauensarchitektur“ aufzubauen. Außerdem könnte die Hoffnung in dem geerdeten Pragmatismus von Donald Trump bestehen, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky väterlich rät, sein „Problem [mit Wladimir Putin] zu lösen“.

    Sensible Einstimmung statt propagandistischer Salven

    Ein solches Gespräch erfordert allerdings eine sorgsame Vorbereitung und eine Atmosphäre neuer Perspektiven. Hier ist eine sensible Einstimmung des medialen Hintergrunds vonnöten und nicht propagandistische Salven zu militärhistorischen Themen.

    In einer derart sensiblen Situation sollte man es zumindest unterlassen, Salz in die Wunden seiner Verhandlungspartner zu streuen, deren politische Position zu schwächen oder das Misstrauen in die eigenen Ziele und Absichten zu verstärken. Eine Propagierung des Hitler-Stalin-Pakts bedeutet, ein außenpolitisches Instrumentarium und ein Konzept von Völkerrecht gutzuheißen, die der heutigen UNO-Charta widersprechen. Die Charta war 1945 verabschiedet worden, damit „sich derartiges nicht wiederholt“.

    Wofür steht der Hitler-Stalin-Pakt? 

    Der Bruch bestehender bilateraler Vertragsverpflichtungen, die Unterminierung der Souveränität von Nachbarstaaten, Einmischung in deren innere Angelegenheiten, Diktate unter Androhung von Gewalt, militärische Aggression, Neuziehung von Grenzen, die Annektierung von Teilgebieten (Polen, Rumänien, Finnland) oder ganzer Staaten (Litauen, Lettland, Estland) – für das alles stehen der Hitler-Stalin-Pakt und das Vorgehen der UdSSR bei dessen Umsetzung.

    Bedeutet nun, 80 Jahre später, die Verherrlichung des Paktes, dass Moskau auch heute solche Instrumente der Außenpolitik gutheißt und rundum entschlossen ist, sie zukünftig einzusetzen, wenn es dies für nützlich und den Augenblick für geeignet hält? Schließlich waren 2014/15 bei den Ereignissen in der Ukraine ähnliche Instrumente zum Einsatz gekommen. Zudem enthielt das zur Begründung dienende propagandistische Narrativ sogar direkte Parallelen (siehe den „Minderstaat Polen“ und den „Staatsstreich in der Ukraine“), die die vertraglichen Verpflichtungen Moskaus wegwischen sollten. Und auch in den Minsker Abkommen sind die bekannten Züge einer „künftigen politischen Neugestaltung“ zu erkennen.

    Es wäre jetzt, so scheint es, angebracht zu zeigen, dass die „Exzesse“ von 1939 und 2014 einmaliger Natur waren und derartiges von Russland nicht mehr zu erwarten ist. Die Tweets des russischen Außenministeriums behaupten jedoch das Gegenteil. Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen, nullt sie aus. Bei einer normalen außenpolitischen Planung wäre eine solche Diskrepanz zwischen propagandistischem Diskurs und prioritärer Agenda unmöglich. Bei uns scheint das jedoch anders zu sein.

    Das Propagandasignal löscht wesentliche Interessen

    Lawrows Wortklauberei soll den Unwillen Moskaus maskieren, eines der zentralen Prinzipien des Völkerrechts anzuerkennen, nämlich die Gleichheit souveräner Staaten. Dieses Prinzip legt fest, dass alle Subjekte völkerrechtlicher Beziehungen – Großmächte wie Kleinstaaten – über gleiche Rechte verfügen und ihre Souveränität in keiner Weise durch dritte Staaten eingeschränkt werden kann. Moskau hingegen vertritt fast schon offiziell ein Konzept von „Einflusssphären“ und einer „multipolaren Welt“, demzufolge nur einige „Großmächte“ über volle und uneingeschränkte Souveränität verfügen und auf der Basis eines auszuhandelnden „Gleichgewichts der Interessen“ Entscheidungen treffen und jene Spielregeln festlegen, die dann für die kleineren Staaten in den jeweiligen Zonen „privilegierter Interessen“ verbindlich sind. Das wird dann als Beispiel für „Realismus in der Weltpolitik“ dargestellt.

    Der Pakt ist ein Beispiel für die „Schaffung einer pseudorechtlichen Realität“ und den Aufbau „einer Welt, die auf Regeln basiert“, die nur einem engen Kreis von Staaten nützen, nicht aber der Stärkung eines universalistischen Ansatzes dienen, bei dem objektiv geltende Rechtsnormen für alle Subjekte völkerrechtlicher Prozesse verbindlich sind.

    Moskau gegen die Stärkung eines universalistischen Ansatzes

    Moskau lehnt einen universalistischen Ansatz ab. Es behauptet, wenn die USA die Normen des Völkerrechts nicht immer befolgen und zuweilen mit dem Recht des Stärkeren vorgehen, dann habe Russland genau das gleiche Recht, die Regeln zugunsten seiner Interessen zu verletzen. Regeln und Recht sind für Moskau heute das Produkt von Laissez-faire der beteiligten Seiten und konkreter Abmachungen. Und Russland müsse, wenn es darum geht, diese Regeln auf Moskau und seine Verbündeten anzuwenden, über ein Vetorecht verfügen (im UN-Sicherheitsrat). Daher rühren zum Beispiel auch die Versuche, im Rahmen des Sekretariats der OPCW einen unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und Schuldfindung beim Einsatz von Chemiewaffen zu blockieren. Gleiches gilt für die Nichtanerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Seegerichtshofes bei den Vorfällen in der Straße von Kertsch. Die Glorifizierung des Hitler-Stalin-Paktes deckt diese versteckte Agenda auf, die durch Lawrows Erklärungen maskiert wird.

    Schließlich wäre da noch die Frage des Zielpublikums. Wen wollen wir eigentlich davon überzeugen, dass der Hitler-Stalin-Pakt die Krönung der Kunst der Diplomatie ist? 

    Für eine Wirkung auf die westlichen Eliten ist die derzeitige Apologetik des Paktes vollkommen kontraproduktiv. In den europäischen Eliten ist niemand bereit, unserer Logik zur Rechtfertigung des Paktes zu folgen. Wem gilt also die Botschaft vom „diplomatischen Triumph“? Bleibt allein die russische Gesellschaft. Es wäre also ein Instrument, mit dem eine Delegitimierung des Stalin-Regimes verhindert werden soll. Warum aber muss das alles dann auf höchster diplomatischer Ebene präsentiert werden?

    Die wichtigste historische Lehre aus dem Abkommen lautet: Ein Pakt mit dem Teufel, mit dem absoluten Bösen lässt sich durch keinerlei rationale Argumente oder Verweise auf das amoralische Vorgehen anderer Mächte rechtfertigen. Bei einem langfristigen „Investitionshorizont“ bringt moralische Relativierung niemals Gewinn.

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    Kalte Freundschaft

    „Wir sehen die USA nicht als Feind”, sagte Putin während des Direkten Drahts; zahlreiche westliche Medien berichteten darüber. Umgekehrt beschreiben russische Staatsmedien die außenpolitische Situation ihres Landes gerne als die „einer belagerten Festung“: Umgeben von Feinden trotze Russland aber erfolgreich den ständigen Versuchen des Westens, es zu vereinnahmen, so der Tenor.

    Auch Wladimir Putin betont wiederholt Russlands Großmacht-Stellung, die ständig vom Ausland unterminiert werde: Diesmal auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Dieses von der russischen Regierung organisierte Jahrestreffen internationaler Politiker, Wirtschaftsführer und -experten will neben der Wirtschaft auch die Antworten auf drängende globale Fragen fördern.

    In einer öffentlichkeitswirksamen Ansprache empfiehlt Putin dem Westen, Russlands „volle Souveränität“ anzuerkennen und seine „rechtmäßigen Interessen“ zu akzeptieren – nur so könne ein globales Machtgleichgewicht wiederhergestellt werden.

    Dem Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow deucht dies wie ein „Zurück in die 1970er“. Auf republic.ru kommentiert der einstige Diplomat Putins geopolitisches Weltbild und zeigt auch anhand jüngster Hacker-Attacken Parallelen zur Breshnew-Zeit auf.
    Diese gilt in der russischen Geschichtsschreibung als eine Zeit, in der die Sowjetunion dem Westen Paroli bieten konnte. Ansonsten wird sie aber vor allem mit dem Sastoi assoziiert – der Epoche des Stillstands. 

    Die außenpolitische Botschaft Wladimir Putins an den sogenannten Westen ist klar: „Da könnt ihr lange warten!“ Signifikante Veränderungen in der russischen Außenpolitik sind nicht geplant, geschweige denn eine Revision des zugrundeliegenden Konzepts: „Der Westen wirkt der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen und will so die eigene Vormachtstellung in einer unipolaren Weltordnung erhalten, und Russland reagiert entsprechend auf diese Beschneidung seiner rechtmäßigen Interessen.“

    Der Konflikt mit dem Westen bleibt ein ideologischer Grundpfeiler der russischen Außenpolitik und bestimmt Moskaus Handeln auf der internationalen Bühne. Die russischen Interessen zu vertreten heißt nun fast ausschließlich, die geopolitischen und wirtschaftlichen Positionen des Westens in einem Nullsummenspiel zu untergraben.

    Das Ausmaß des Konflikts und die konkreten territorialen und diplomatischen Fronten werden variieren. Beeinflusst werden sie durch die aktuelle politische Weltlage, die Maßnahmen und die Entschiedenheit des Westens, russische Bestrebungen abzublocken, sowie die innenpolitische Situation und die außenwirtschaftliche Konjunktur. Von Letzterer hängen Russlands Ressourcen für die Durchführung einer entschlossenen Außenpolitik ab.

    Gemäßigte Phase der Konfrontation

    Putin bekundete Moskaus Interesse an einer gemäßigten Phase der Konfrontation (nicht ihrer Beendigung), das heißt an einer „Entspannung der internationalen Lage“ im Stil der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.

    Dem Westen wird angetragen, sich mit Russlands neuem geopolitischen Status abzufinden, Russlands regionale und globale Ambitionen als legitimes Interesse zu akzeptieren und seine uneingeschränkte Souveränität anzuerkennen, sprich: sich nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen.

    Außerdem wird dem Westen nahegelegt, auf jegliche Kritik der russischen Innenpolitik zu verzichten, die Sanktionen aufzuheben und zu einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückzukehren.

    Zudem sollte man zu einer engen politischen Zusammenarbeit mit Moskau in allen wichtigen globalen Fragen übergehen, wobei Russlands Gleichstellung mit dem Westen anerkannt und Moskaus Propagandanarrativ Berücksichtung finden muss.

    Helsinki 2.0 – nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt

    Das alles sieht aus wie der Vorschlag eines Helsinki 2.0 – allerdings nicht mehr nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Und mit ein paar grundlegenden Neuerungen, insbesondere im „humanitären Korb“.

    Dabei geht es um die endgültige Festlegung der Einflussgrenzen (nicht nur der geografischen, sondern auch der ideologischen – man hat nunmal unterschiedliche Auffassungen von Menschen- und Persönlichkeitsrechten), um die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (die Art und Weise eines Machtwechsels darf nicht Gegenstand internationaler Beziehungen sein). 
    Es geht um für Russland vorteilhafte Regeln für die Anwendung von Waffengewalt (die gewaltsame äußere Einmischung als „humanitäre Intervention“ oder „Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung“ ist unzulässig, legitim sind hingegen militärische Interventionen nach Aufforderung, zur „Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung“). 
    Außerdem geht es um die Souveränität des Informationsraumes (Kontrolle über das Internet und die Medien auf dem eigenen Interessengebiet) sowie die Handelsfreiheit und staatlich kontrollierte Investitionen, unabhängig vom innen- oder außenpolitischen Tagesgeschehen.

    Völlige Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung

    Damit sind zwei potentiell destabilisierende außenpolitische Konzepte zur vorbehaltlosen Annahme auf dem Tisch. Sie stammen ebenfalls aus den guten alten 1970ern, sind aber in ihrer Form leicht abgewandelt: Die „rechtmäßigen Interessen“ und die „uneingeschränkte Souveränität“.

    Das erste Konzept schreibt Moskaus Recht auf militärisches Eingreifen im Ausland fest – sowohl im Umkreis der eigenen Landesgrenzen als auch in anderen Regionen der Welt, wo sich eine Möglichkeit bietet, bei verhältnismäßig geringem Kostenaufwand auf den Westen Druck auszuüben. Die Grenzen der „Rechtmäßigkeit“ dieser Interessen sind absichtlich nicht klar definiert und können bei Bedarf kurzerhand uminterpretiert werden. Aber das Recht zur Neuinterpretation und zur Anpassung der gesamten Außenpolitik an diese neue Fassung hat nur eine Person.

    Bei der völligen Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung wirkt die Unberechenbarkeit der russischen Außenpolitik destabilisierend auf die Weltgemeinschaft und provoziert eine Politik der Zurückhaltung.

    „Rechtmäßige Interessen“ sind heute die Krim, morgen der Donbass und der Südosten der Ukraine, in einem Jahr Syrien, in zwei Jahren Libyen, in drei Jahren die Balkanstaaten und Afghanistan. Nicht auszuschließen, dass irgendwann auch Venezuela oder Nicaragua auf dieser Liste landen.

    Enger Kreis von wahren Souveränen

    Das Konzept der „uneingeschränkten Souveränität“ für die einen birgt die Gefahr, dass sie automatisch eine begrenzte Souveränität aller anderen bedeutet. Damit wird eine Zwei-Klassen-Struktur in den internationalen Beziehungen geschaffen, in denen dann einige Länder gleicher sind als andere.

    In Wladimir Putins Weltauffassung gibt es nur wenige Staaten, die über uneingeschränkte Souveränität verfügen, sprich über die Fähigkeit, eine gänzlich unabhängige Außenpolitik zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Meinung anderer Großmächte. Neben Russland und den USA sind das Indien, China, Brasilien und der Iran. Aber auch diese Liste ist nicht endgültig und unterliegt gelegentlicher Revision.

    Die restlichen Staaten verfügen über begrenzte Souveränität. Sie können keine eigenständigen außenpolitischen Entscheidungen treffen und müssen ihr Handeln mit ihrem Lehensherren abstimmen. Zu dieser Gruppe zählt Putin alle NATO-Länder, einschließlich Deutschland und Frankreich, weil er annimmt, dass in diesem Bündnis alles von den USA entschieden wird.

    Dieses vereinfachte Bild dient Moskau als eine perfekte Matrix der internationalen Beziehungen: Alle Schlüsselfragen und Regeln der Weltordnung werden in einem engen Kreis von wahren Souveränen ausgehandelt. Sie kontrollieren jeweils ihren Bereich und können die Meinung der anderen Staaten getrost außer Acht lassen.

    Breshnew Doktrin wiederbelebt

    Dieses Konzert der Großmächte bedeutet auch, dass Russland seinen Vasallen-Bereich hat – eine Reihe von Staaten, deren Souveränität dadurch beschränkt ist, dass sie bestimmte Aspekte der Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik mit Moskau abstimmen müssen. Vor allem gilt das für den Aufbau jeglicher Beziehungen zum Westen.

    Offenbar wurde Breshnews Doktrin wiederbelebt: Die Souveränität der Länder des russischen Lagers wird demzufolge nicht durch das marxistische Dogma vom Aufbau des Sozialismus begrenzt. Vielmehr geht es um den Verzicht auf eigenständige Beziehungen zum Westen und auf ein demokratisches Regierungssystem. Denn die Regierungschefs müssen in erster Linie Moskau gefallen.

    Verschärfter Ideologie-Kampf gegen den Westen

    Es gibt außerdem noch Anzeichen, dass auch an ein weiteres außenpolitisches Konzept der 1970er Jahre angeknüpft wird: Die Politik der Entspannung geht nämlich einher mit einer Verschärfung des ideologischen Kampfes der „Völker“, gegen den Westen.

    Das zeigt sich anhand von Putins wohlwollenden Aussagen über die „patriotischen Hacker, die frei sind wie Künstler“ und bereit, für das Land einzustehen. Oder dann, wenn Putin eine für den Westen schmerzliche Kontinuität suggeriert, indem er die Kritik an Russland als ein Zeichen ethnischer Russophobie darstellt.

    Der Partisanenkrieg der „patriotischen Hacker“ gegen die „russophoben Politiker“ in den westlichen Ländern wird befürwortet, quasi in alter sowjetischer Tradition einer Außenpolitik, die „befehlshörige Komsomol-Freiwillige“ unterstützt. Dank moderner Technologien ist es relativ einfach und günstig, sich direkt an das westliche Publikum zu richten und dabei eine glaubhafte Abstreitbarkeit (plausible deniability) zu wahren. So entgeht man westlichen Sanktionen („auf staatlicher Ebene machen wir das nicht“) und kann unverfroren verkünden, Russland mische sich nicht in fremde Wahlen ein, während man bei Facebook zielgerichtet Werbung für den richtigen Kandidaten postet.

    Die „freien Hacker“ und die Kriege der Bots in Sozialen Netzwerken – das ist die neue Dimension des ideologischen Kampfes, gegen die man sich im Westen im Rahmen der Meinungsfreiheit bislang nicht zur Wehr setzen kann. Im Gegensatz zu Russland können westliche Politiker unliebsame Seiten oder Postings nicht einfach blockieren. Und die Versuche des Westens, Gleiches mit Gleichem zu vergelten würden am Roskomnadsor scheitern.

    Russland wirft dem Westen „Hysterie“ vor

    Moskau behauptet, dass im Westen wegen der russischen Hacker und deren Einmischung in Wahlen geradezu „Hysterie“ und „politische Schizophrenie“ herrsche. Das sei ein Zeichen der Schwäche der westlichen Demokratien und des fehlenden Vertrauens in die eigenen Institutionen.

    Diese in zentralistischer Manier verbreitete Argumentation lässt vermuten, dass man die schöne Arbeit der Cyberfreiwilligen auch weiter billigend in Kauf nehmen wird, ohne sie als Einmischung in innere Angelegenheiten anzusehen.

    Das beim Forum vorgeschlagene Remake mit Upgrade der außenpolitischen Konzepte der 1970er Jahre ergänzt sich tatsächlich gut mit einem ähnlichen Upgrade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Statt Strukturreformen, Entstaatlichung und mehr Konkurrenz wird eine allgemeine Block-Chain und Digitalwirtschaft unter strenger staatlicher Kontrolle vorgeschlagen, bei der Staatsfirmen vorschriftsgemäß „sogenannte Startups“ unterstützen. In den 1970ern nannte man das „Kampaneischina“.

    Innen- und Außenpolitik sind eng verzahnt

    Anatoli Tschubais, der ebenfalls am Forum teilgenommen hat, beschrieb das konzeptuelle Problem sehr treffend: „Das soziale, ökonomische und politische System im Land deckt überraschend viel ab, ist ausgeglichen und auf seine Weise sogar harmonisch. Es ist ein System, bei dem die Innenpolitik die Außenpolitik ergänzt. Was wiederum bedeutet, dass eine ernsthafte Umstrukturierung der Innenpolitik kaum möglich ist, ohne die Außenpolitik anzurühren. Vermutlich braucht es ganzheitliche Schritte, und das birgt große Risiken.“

    Man könnte meinen, bei einem Zeithorizont von sieben Jahren sei man mit der Strategie „Zurück in die 1970er“ innen- und außenpolitisch auf der sicheren Seite. Bleibt nur noch, die äußere Realität daran anzupassen.

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  • Trump ein Agent Putins?

    Trump ein Agent Putins?

    Putin und Trump auf Kuschelkurs? Putin bezeichnet den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten als „talentierten Politiker“, Trump äußert Verständnis für die russische Angliederung der Krim. Trumps Wahlkampfchef Manafort war zudem lange Jahre Berater des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch (der sich nach seinem Sturz im Februar 2014 nach Russland absetzte).

    Für viel Aufregung im Clinton-Lager sorgte zuletzt außerdem die Veröffentlichung sensibler E-Mail-Kommunikation der Demokraten auf der Plattform Wiki Leaks – laut FBI das Werk russischer Hacker.

    Aber heißt das gleich, dass Trump im Auftrag Moskaus agiert? Ein paar unklare Momente gebe es zwar, meint der Politologe Wladimir Frolow, aber den US-Wahlkampf lenke der Kreml sicherlich nicht. Ihm nutze Trump vielmehr innenpolitisch.

    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com
    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com

    Im New-York-Times-Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump wurden Positionen laut, die mit den außenpolitischen Interessen Russlands überaus stark im Einklang stehen. Das Interview schlug in den USA ein wie eine Bombe und hat in den führenden Print- und Internetausgaben für eine Flut von Kommentaren gesorgt. Die meisten Experten kommen zu einem wenig tröstlichen Schluss: Trump handelt, vielleicht nicht einmal willentlich, im Interesse Russlands.

    Der US-amerikanische Politologe Sam Greene meint, man könne beim Thema „Trump ist ein Agent Putins“ – was natürlich Unsinn ist – schon von einem Medienhype sprechen.

    Sollte man das nicht etwa begrüßen?

    Moskau dürfte vieles von dem gefallen, was Trump sagt. Seine außenpolitischen Einfälle könnten die Stellung der USA in der Welt bedeutend schwächen und die Beziehungen zu den wichtigsten Partnern der USA in Europa und Asien zerstören. Das wiederum würde den amerikanischen Druck auf Russland verringern.

    Von den Absichten Trumps und seiner Mannschaft ist Folgendes bekannt: Er möchte die US-Verpflichtungen im Sicherheitsbereich beträchtlich einschränken (darunter auch die atomaren Sicherheitsgarantien für die NATO-Staaten, Japan und Südkorea); er möchte von der „Demokratieförderung“ im Ausland und dem Sturz autoritärer Regime Abstand nehmen; in Syrien möchte er mit Präsident Assad und mit Russland gegen den Islamischen Staat zusammenarbeiten; er möchte der Ukraine keine amerikanischen tödlichen Waffen zur Verfügung stellen, und er möchte zur russischen Führung konstruktive Beziehungen aufbauen.

    In den Versprechen Trumps, die Beziehungen zu Russland als einer „Supermacht“ wiederherzustellen, sieht Moskau die Bereitschaft, das Recht Moskaus auf seine Interessensphäre im postsowjetischen Raum anzuerkennen.

    Wenn der möglicherweise zukünftige US-Präsident erklärt, dass die Sicherheitsgarantien der NATO erst nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung greifen sollten, dann bedeutet das auch ein Ende des auf die NATO konzentrierten Sicherheitssystems in Europa. Davon konnte Moskau bislang nur träumen.

    Wenn Newt Gingrich, Mitglied des Trump-Teams und einst vehementer Befürworter einer NATO-Erweiterung, sagt, die USA würden wegen Estland, das „in den Vororten von St. Petersburg“ liegt, keinen Atomkrieg anfangen, was ist das dann bitteschön anderes als eine deutliche Anerkennung der russischen Einflusssphäre?

    Wie meinte doch Präsident Putin, der Trump im Laufe des vergangenen Jahres zwei Mal als „markanten und talentierten Politiker“ bezeichnet hat: „Sollte man das nicht etwa begrüßen?“

    Dubiose Berater

    Die Frage ist nur, ob Moskau deswegen etwas mit der Kandidatur Trumps zu tun hat und ob es dessen Wahlkampf unterstützt, was einen Verstoß gegen US-Gesetze darstellen würde. Ergäbe sich diese Möglichkeit, würde der Kreml sie natürlich mit Freuden nutzen. Schließlich geht man im Kreml davon aus, dass die USA und die EU auf eben diese Weise vorgehen, wenn sie prorussische Führer in den postsowjetischen Weiten oder im Nahen und Mittleren Osten absetzen. Tatsächlich aber hat Moskau solche Möglichkeiten nicht.

    Die USA sind nicht Frankreich, wo Oppositionsparteien wie der Front National von Marine Le Pen bei ausländischen Banken Millionenkredite aufnehmen können. In Amerika ist eine ausländische Wahlkampffinanzierung streng verboten.

    Andeutungen, das Unternehmensimperium von Trump und folglich auch sein Wahlkampf seien wohl von russischen Geldern abhängig, scheinen wenig zu beweisen. Tatsächliche Spuren, dass Trump kommerzielle Projekte in Russland oder mit russischer Beteiligung verfolgt, sind ebenfalls nicht zu finden. Es stimmt zwar, dass er in Moskau einen Trump-Tower bauen wollte; dazu gekommen ist es allerdings nicht.

    Manafort und Moskau

    Viel gesprochen wird von Moskaus Einfluss auf Paul Manafort, Trumps Wahlkampfchef. Als Begründung dient hier, dass Manafort einige Jahre als Medienberater von Viktor Janukowitsch gearbeitet hat, als jener noch Ministerpräsident und dann Präsident der Ukraine war. Wer hieraus eilige Schlüsse zieht, übersieht, dass der Kreml all die Jahre eine Entlassung Manaforts erwirken wollte, da dieser als amerikanischer Einflusskanal betrachtet wurde (hierin lag auch einer der Gründe für Moskaus Misstrauen gegenüber Janukowitsch). Janukowitsch hatte anscheinend verstanden, dass der Kreml dadurch seine Kontrolle über ihn zu stärken suchte, und hat Manafort daher nicht gefeuert.

    Eine politische Rolle hat der amerikanische Berater in keiner Weise gespielt. Vielmehr verfolgte Manafort in der Ukraine seine unternehmerischen Ambitionen, für die seine Verbindungen zu Janukowitschs Beamten und Bürokraten die Grundlage bildeten.

    Mit anderen Worten: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Manafort heute unter dem Einfluss Moskaus steht.

    Eine eingehende Betrachtung verdient allerdings jene mysteriöse Geschichte, dass auf dem Parteitag der Republikaner Änderungen im außenpolitischen Programm der Partei vorgenommen wurden. Aufgrund einer direkten Intervention nicht näher genannter Berater Trumps wurde aus dem Programm die Forderung gestrichen, der Ukraine tödliche, US-amerikanische Waffen zu liefern.

    Wer und was hinter dieser Korrektur der Ukraine-Passage steht, ist eine spannende Frage, und hier gibt es Anlass zum Verdacht. Eine direkte Initiative Moskaus scheint es eher nicht gegeben zu haben. Ob es aber mit Hilfe Dritter informelle Konsultationen mit der russischen Botschaft in Washington gegeben hat, könnte wohl Gegenstand einer Untersuchung durch das FBI werden.

    Russlands Spur bei den US-Wahlen

    Zumindest ansatzweise reale Anhaltspunkte für Versuche Russlands, die Präsidentschaftswahlen in den USA zu beeinflussen, finden sich allenfalls in der skandalösen Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs des Democratic National Committee auf der Website WikiLeaks. Die Mails waren von zwei Hacker-Gruppen erbeutet worden, die wiederum US-amerikanischen Cybersecurity-Experten zufolge mit den russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Zeitpunkt der Veröffentlichung (gleich nach dem Parteitag der Republikaner und kurz vor dem der Demokraten) und Inhalt des vorgelegten Materials zeugen von der Absicht, Clintons Ruf konkret zu schaden. Clintons Wahlkampfteam holte zum Gegenangriff aus: Robby Mook, Kampagnenleiter der Demokraten, beschuldigte in einer Livesendung Russland, sich zugunsten von Donald Trump in den US-Wahlkampf einzumischen.     

    Tatsächlich sieht die Geschichte mit dem Klau und der Verbreitung der E-Mails aus der demokratischen Parteizentrale wie eine klassische „aktive Maßnahme“ aus: Platzierung von kompromittierendem Material, Bloßstellung des zu belastenden Objektes, Demoralisierung seiner Anhängerschaft, indirekte Stärkung der Position des Bündnispartners. Doch zu behaupten, das werde einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wäre unzulässig.

    Mal angenommen, die Idee zu dieser Aktion stamme aus Russland, so zeugt sie doch von absolutem Unverständnis der Mechanismen amerikanischer Innenpolitik und inadäquater Bewertung der Einflussmöglichkeiten. So etwas wird in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern, freien Medien und einem Milliarden-Dollar-Budget für Wahlkampagnen wohl kaum etwas ändern können.

    Wenn es um ein bescheideneres Ziel gegangen wäre – einen Vergeltungsschlag gegen die US-Präsidentschaftskandidatin für den Versuch, mit dem Datenleak der Panama Papers (hinter deren Veröffentlichung Moskau die US-amerikanischen Geheimdienste vermutet) die russische Staatsführung zu diskreditieren, dann kann man eine solche „aktive Maßnahme“ durchaus als erfolgreich bezeichnen. Viel Lärm, die Führung zufrieden, praktischer Effekt gleich Null. Doch mit dem hat man auch kaum gerechnet. Bringt man das aber mit Trump in Verbindung, das heißt nimmt man an, er habe von der Top Secret-Aktion des russischen Geheimdienstes gewusst – dann ist das schon die reinste Verschwörungstheorie.      

    Mit Wettrüsten zermürben

    Die offiziellen russischen Medien machen kein Hehl aus ihrer Sympathie für Trump und ihrer negativen Einstellung gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton. Doch ist das bereits ein Hinweis darauf, dass Russland Trump unterstützt? Nein. Wer sieht sich in den USA schon Nachrichten auf Russisch an? Sogar das englischsprachige RT, das „für Trump feuert“, hat in den USA ein so unbedeutendes Publikum, dass es lächerlich wäre, von einem wie auch immer gearteten Effekt auf die Wahlen zu sprechen.

    Der Grund, warum das russische Fernsehen den republikanischen Kandidaten unterstützt, liegt in der russischen Innenpolitik: Es ist lediglich ein weiteres Mittel, die Regierung Russlands zu legitimieren, wenn sogar ein US-Präsidentschaftskandidat sagt, dass Wladimir Putin eine starke Führungsfigur ist und alles richtig macht. Ein äußerst überzeugendes Argument für den einfachen Bürger Russlands.

    Die viel wichtigere Frage ist, wie Trump im Fall eines Wahlsieges sein außenpolitisches Programm in die Tat umsetzen wird. Die Realisierung seiner außenpolitischen Pläne wird die globalen Turbulenzen nur verstärken, zu akuten regionalen Krisen und zur Verbreitung von Nuklearwaffen führen. Bei aller Attraktivität der Schwächung globaler Positionen der USA entspricht das nicht den Interessen Russlands.

    Andererseits werden einzelne Aspekte von Trumps Konzepten bereits von Obama umgesetzt – etwa der Verzicht auf die Lieferung tödlicher Waffen in die Ukraine und die Ablehnung eines gewaltsamen Sturzes der Regierung Assads in Syrien. Tradition haben in der amerikanischen Außenpolitik außerdem die Forderungen, den Beitrag der Bündnispartner zur gemeinsamen Verteidigung mit den USA zu erhöhen.

    Moskau betrachtet die Präsidentschaft Trumps vorerst als Window of Opportunities in einem Manöver, bei dem man annimmt, von einer Präsidentschaft Clintons sei außer einer noch schärferen Konfrontation nicht viel zu erwarten. Das Problem der „Unerfahrenheit Trumps“ ist Moskau bewusst. Und es bestehen Befürchtungen: Könnten seine populistischen Aufrufe, „Amerika wieder groß zu machen“ (Make America Great Again), zu einem Versuch ausarten – in Reminiszenz an die erste Amtszeit Reagans – die führende Position der USA wiederherzustellen und Russland durch ein Wettrüsten zu zermürben?



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  • Unterschiedliche Frequenzen

    Unterschiedliche Frequenzen

    Putin, so soll es Kanzlerin Angela Merkel kurz nach dem russischen Eingreifen auf der Krim gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“. Die Debatte, wie ein Dialog mit Russland zu führen ist, ob er überhaupt geführt werden kann, schwelt seitdem und spaltet zumal die deutsche Öffentlichkeit in die Lager vermeintlicher „Russland-Versteher“ und „Russland-Basher“.

    Auf Slon.ru greift Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow die Dialog-Frage nun von russischer Seite auf: Russland will mit dem Westen reden, es muss mit dem Westen reden. Erste Signale würden auch schon gesendet. Doch vor allem einen wichtigen Punkt gelte es vorab zu klären.

    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru
    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru

    Schon seit mehr als zwei Jahren haben Russland und der Westen Kommunikationsprobleme. Beide Seiten senden sich immerzu verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Die Empfangsgeräte laufen auf unterschiedlichen Frequenzen, die Entschlüsselungscodes sind verlorengegangen, man befindet sich in parallelen Informations-Universen.

    In der Anfangsphase der Konfrontation ging es noch darum, Unterschiede in der Herangehensweise zu markieren und gegenseitige Vorwürfe zu verschärfen. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Heute dagegen zeigt sich auf beiden Seiten der Wunsch nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse der Entfremdung. Jetzt muss man herausfinden aus dem Lost in Translation, damit die Kommunikation irgendwie wieder im gleichen Signalsystem stattfinden kann.

    Die Vergangenheit ruhen lassen

    Moskau hat in den letzten drei Monaten seine Rhetorik ein wenig korrigiert und sendet dem Westen unzweideutige Signale: Man sei bereit, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen in Bereichen, wo die Interessen übereinstimmen – insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung und bei der Lösung des Syrienkonfliktes. Im April gab Wladimir Putin beim Direkten Draht zu verstehen, dass Russland keine weiteren außenpolitischen Abenteuer plane, und lobte Barack Obama dafür, dass dieser seine außenpolitischen Fehler in Libyen eingestehe.

    Der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und seine Stellvertreter geben keine Interviews mehr mit Verschwörungstheorien, dass das amerikanische Außenministerium insgeheim plane, Russland Sibirien abspenstig zu machen. Im Gegenteil: Kürzlich fand eine Konferenz des russischen Verteidigungsministeriums zu internationalen Sicherheitsfragen statt, auf der Patruschew, der Leiter des FSB Bortnikow, Verteidigungsminister Schoigu und der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Gerassimow die Zusammenarbeit Russlands mit den USA bei der Bekämpfung des IS in Syrien als ein Beispiel anführten für das mögliche und notwendige russisch-amerikanische Zusammenwirken auch in anderen Bereichen. De facto gab man so zu verstehen, dass Moskau an einer baldigen vollständigen Wiederherstellung der Zusammenarbeit mit Washington interessiert sei.

    Als ersten bedeutenden Schritt hierfür sieht Moskau den Beginn der in Genf beschlossenen Kooperation: Russische und amerikanische Militärs werden bei der Überwachung der Waffenruhe und beim Trennen der kämpfenden Parteien in Syrien zusammenarbeiten. Und gerade eine solche direkte militärische Zusammenarbeit, die nach der Krim von den Amerikanern aufgekündigt worden war, hat die russische Seite nachdrücklich verfolgt. Warum, versteht sich von selbst: Sie ist ein Signal, dass Krim und Donbass der Vergangenheit angehören.

    Vom Bestreben des Kreml, „den Ton in der Kommunikation mit der Außenwelt zu ändern“ zeugt auch das symbolträchtige Konzert von Gergijew und Roldugin: in den Ruinen des de facto von Russland befreiten Palmyra.

    Doch sobald es um die inhaltliche Seite der Botschaft an die Welt geht, kommt es zu schweren Ausfällen in der Kommunikationsstrategie Moskaus: Der Sinn der Mitteilung erreicht seinen Adressaten nicht.

    Schwammige Ziele

    Moskau versucht, eine klare Formulierung seiner politischen Ziele zu vermeiden. Sicher ist nur, dass Russlands Hauptinteresse nicht in „Kriegstänzen“ in Syrien und nicht in der „Rettung von Soldat Assad“ liegt. Dies ist nur ein Werkzeug, das ausgetauscht und in etwas wirklich Wichtiges umgewandelt werden muss, etwas, wovon die Zukunft des Landes und der Machthaber abhängt.

    Das soll offensichtlich eine Formel für ein neues, stabiles Sicherheitsgleichgewicht in Europa sein. Und gleichzeitig ein neues Paradigma der Beziehungen mit dem Westen, das einerseits Konfrontation und Wettrüsten ausschließt, andererseits jegliche Einflussnahme auf die russische Innenpolitik und die politische Einstellung der Bürger verhindert.

    Darum ist aus dem russischen Außenministerium auch zu vernehmen, dass es in den Beziehungen mit dem Westen kein business as usual geben könne, wobei man auch angebliche Forderungen des Westens im Sinn hat, „dass wir allen etwas schulden würden, und vor allem so werden müssten wie sie“, beispielsweise in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe.

    Den Westen interessiert vor allem, dass Russland  bestehende Staatsgrenzen respektiert

    In Wirklichkeit interessiert den Westen nur, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, das heißt vor allem, dass es bestehende Staatsgrenzen respektiert. Russland seinerseits möchte eine Form der Zusammenarbeit mit dem Westen, die keine weitere Annäherung oder gegenseitige Integration vorsieht. Genauer gesagt eine Form, die eine Integration Russlands in Europa ausschließt, aber „eine Integration des Westens in Russland“ zulässt, sprich die Übernahme des russischen Systems „traditioneller Werte“.

    Wenn das ein Aufruf zu einem „neuen ideologischen Kampf“, zu russischem Messianismus und russischer Einzigartigkeit sein soll, dann ist es dumm. Wenn es die legitime Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ sein soll, warum wird sie dann auf so eine verdrehte Art formuliert?

    Das neue Jalta ist gestrichen

    Ein weiteres schlecht artikuliertes Ziel der russischen Politik ist, den Westen zu nötigen, russische Lösungswege wichtiger regionaler Probleme zu akzeptieren. Gemeint ist hier offenbar, dass es unzulässig sei, wenn der Westen beim Sturz diktatorischer Regime einseitig eingreife oder auch die Opposition während der sogenannten Farbrevolutionen durch Waffen unterstütze.

    Bei der Konferenz des Verteidigungsministeriums gaben die russischen Sprecher zu verstehen, dass die russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der globalen Sicherheit nur dann erfolgreich sein kann, wenn Washington die russischen Rezepte der Konfliktregulierung, also die russischen Bedingungen der Zusammenarbeit, annimmt. Alle anderen Bedingungen werden von Vornherein als „antirussisch“ oder gar „russophob“ abgelehnt.

    PATHETISCHE RHETORIK VS. PRAGMATISCHE ÜBEREINKÜNFTE

    Sicherlich ist dieses Ziel Moskaus nicht völlig unrealistisch. In letzter Zeit hat sich die Herangehensweise des Westens, und vor allem der USA, in Syrien, Libyen und Ägypten sichtlich der russischen angenähert. Doch daraus irgendwelche langfristigen Abmachungen oder Tauschgeschäfte bei anderen Themen zu machen, ist nahezu unmöglich. Hier folgt der Westen einer einfachen Logik: Warum sollte man Russland für etwas bezahlen, das es aus Eigeninteresse tut?

    Deswegen war der „Abtausch“ der Ukraine gegen Syrien seit jeher nicht besonders realistisch. Und die ungeschickten und provokanten Erklärungen aus Moskau, die westlichen Länder würden internationale Terroristen unterstützen und sie zur Destabilisierung unerwünschter Regime benutzen, lassen jegliche Lust auf einen vertrauensvollen Dialog vergehen. Hier muss man sich entscheiden, ob man sich in pathetischer Rhetorik übt, die auf das innere Auditorium abzielt, oder ob man pragmatische Übereinkünfte erreichen möchte.

    Russlands wichtigstes strategisches Ziel ist es letztlich, eine Erweiterung der NATO und der EU zu verhindern, insbesondere wenn diese Erweiterung Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Aber nicht nur – wie die Warnschüsse in Richtung Schweden, Finnland und Montenegro gezeigt haben.

    In seiner Rede bei der Militärparade am Tag des Sieges erklärte Wladimir Putin, man sei bereit, an der Erschaffung eines „modernen blockfreien Systems der internationalen Sicherheit“ zu arbeiten. Auch zuvor erklangen die Thesen vom Übergang zur „blockfreien Sicherheitsarchitektur“ und vom Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ mehrfach in den Reden und Interviews von Sergej Lawrow.

    DAS JALTA-PRINZIP

    Aber es bleibt völlig unklar: Was genau wollte Moskau in diese Richtung vorschlagen, abgesehen von der totgeborenen Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit? Natürlich kann es nicht um die freiwillige Auflösung der NATO oder der EU gehen. „Die NATO ist Realität“, gestand Sergej Lawrow ein. Aber Moskau hätte gern, dass sie bleibt, wo sie ist, und sich niemals mehr irgendwohin bewegt. Dasselbe gilt für die Erweiterung der EU.

    Es gibt nur ein Problem dabei, diese Auffassung in einem internationalen Abkommen zu kodifizieren: Weder die NATO noch die EU oder Russland können für andere Staaten entscheiden, wie sie für ihre Sicherheit sorgen und wo sie sich wirtschaftlich integrieren. Das wäre das Jalta-Prinzip, und darauf lässt sich keiner mehr ein. Das hat man anscheinend auch in Moskau begriffen und aufgehört, vom „neuen Jalta“ zu sprechen, das die Resultate des Kalten Krieges neu festlegen würde.   

    Die Lehre vom Zerfall der Sowjetunion

    Es versteht sich von selbst, dass unabhängige Staaten frei über ihre Neutralität entscheiden dürfen. Andere Staaten und ihre militärischen Bündnisse müssen diese dann respektieren. So lautet das Prinzip des Vertrags von Wien 1955 und der Schlussakte von Helsinki. Doch das setzt hundertprozentige Garantien von Russland voraus. Und deren Glaubwürdigkeit liegt seit der Eingliederung der Krim fast bei Null.

    Für den Westen besteht überhaupt keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unterzeichnen, dass man von einer Erweiterung absehe – alle Entscheidungen diesbezüglich wurden längst getroffen. Keine einzige der postsowjetischen Republiken hat ernsthafte Perspektiven auf eine NATO-Mitgliedschaft (die geplante Erweiterung bezieht sich nur auf die Balkanstaaten).

    Wenn Russland also irgendwelche verpflichtenden Übereinkünfte möchte, die die militärische Aktivität der NATO oder die Expansion der EU regeln, dann muss es dafür in Verhandlungen treten und eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen machen. Und wie die aussehen sollten ist, insbesondere im militärischen Bereich, längst bekannt.

    Verhandlungen würden die Diskussion um die Ukraine wieder neu aufrollen

    Doch neuen ernsthaften Verhandlungen mit dem Westen weicht Russland geflissentlich aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Verhandlungen setzen voraus, dass man sich auf eine gemeinsame Verständnisebene eines Problems und seiner Ursachen begibt, dass man Bedenken und Vorbehalte der anderen Partei berücksichtigt und das eigene Verhalten entsprechend an ausgehandelte Kompromisse anpasst. Das würde unweigerlich zurück zur Diskussion führen, weshalb sich Russland im Jahr 2014 in die Ereignisse in der Ukraine eingemischt hat, und darüber, welche Verantwortung es für die Eingliederung der Krim trägt. Genau das versucht Moskau mit allen Mitteln zu vermeiden.

    Verhandlungen über Rüstungskontrolle oder Kompromisse betrachtet der Kreml als einen Rückfall in Gorbatschows „neues außenpolitisches Denken“, das angeblich zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hatte. Dieser Logik folgend wären Verhandlungen über eine Normalisierung und Erneuerung der Zusammenarbeit – zum Preis einer notwendigen Korrektur des eigenen Vorgehens, etwa im Donbass – gleichbedeutend mit dem Weg in den Abgrund.

    Stattdessen inszeniert man ein Theaterstück über die alleinige Schuld des Westens an der bestehenden Krise, über die von Gott weiß woher aufgetauchten Sanktionen und über die Verlagerung von NATO-Militärstruktur in Richtung russischer Grenze. Gleichzeitig werden scharfe, an Fouls grenzende Aktionen gegen Kriegsschiffe und Flugzeuge der Nato unternommen. Sie sollen der NATO die Unzufriedenheit Russlands signalisieren und sie dazu bewegen, quasi ganz von selbst Russlands Bedingungen und Bedenken anzuerkennen.

    Moskau setzt auf Unberechenbarkeit, um die eigene Position zu stärken

    Moskau riskiert die Eskalation: Mittels der Demonstration seiner Unberechenbarkeit und mittels jäher Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen möchte es seine zukünftige Verhandlungsposition stärken. Es möchte das Gefeilsche mit dem Westen quasi in einer Zeit der Post-Ukraine beginnen, dabei aber die Ukraine selbst ausklammern, liege doch die „Ursache für die Krise im Agieren von Kiew“ – das also seine Position anzupassen habe, und zwar durch Erfüllen der Bedingungen von Minsk-2.

    Die Machtkomponente „Unberechenbarkeit in der Außenpolitik macht beim Westen allerdings nicht den nötigen Eindruck. Der sieht in Moskaus „pubertärem Verhalten“ viel eher eine Methode, Schwäche und Unsicherheit zu kaschieren. „Den Troll füttern“ möchte keiner. Im Westen gibt es zurzeit eine lebhafte Diskussion darüber, wie man mit Russland am besten kommunizieren soll.

    Man ist sich dessen bewusst, was Putin möchte: Nämlich, dass der Westen Russland in Ruhe lässt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Aber gleichzeitig soll er – und zwar verpflichtend – bei allen Fragen Rücksprache halten, die Russlands Interessen betreffen.

    Man weiß dort auch, dass nur eine Person in der Russischen Föderation den Inhalt dieser Interessen bestimmt, und man ist bereit mit ihr zu verhandeln. Das Problem besteht offenbar darin, dass Moskau inhaltlich nicht vorbereitet ist auf ein konstruktives Gespräch – wir wissen nicht genau, was wir wollen – und in der psychologisch motivierten Angst, sich auf Verhandlungen einzulassen. Die versteht man als Zeichen der Schwäche.

    Doch früher oder später wird man mit dem Westen Gespräche über die Regeln des Zusammenlebens führen müssen. Die Lehre aus der Sowjetunion besteht darin, es zu tun, bevor es zu spät ist.

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  • Was hat Moskau im Angebot?

    Was hat Moskau im Angebot?

    Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen: Der russische Präsident erteilte der zuvor oft beschworenen Partnerschaft mit der NATO ein klare Absage und positionierte Russland in unerwartet deutlicher Rhetorik als wiedererstarkte Weltmacht, die in der von ihm propagierten multipolaren Weltordnung ihre eigene Rolle zu spielen gedenke. Wie unerwartet diese Äußerungen für den größten Teil der Zuhörer kamen, ja wie schockierend sie für viele waren, rekonstruierte kürzlich der CICERO: „Die Konferenzgäste tauschen ungläubige Blicke aus, heben die Hände, zucken die Schultern. Alle Gesten fragen dasselbe: Was soll das?“ Manche, berichtet der Autor des Artikels, sprachen gar vom Beginn eines neuen Kalten Krieges.

    Mitte Februar steht nun wieder eine Sicherheitskonferenz in München an, zu der ursprünglich Putin erwartet wurde, nun aber wohl doch Premierminister Medwedew oder Außenminister Lawrow fahren werden – letzte Klarheit darüber, wer die russische Delegation leiten wird, scheint noch nicht erreicht. Die Tatsache, dass Putin kürzlich der BILD ein ausführliches programmatisches Interview gegeben hat, lässt vermuten, dass auch die diesjährige Konferenz den Rahmen für eine russische Standortbestimmung bieten könnte. In welcher Weise könnte Russland die heißen Eisen Ukraine, europäische Sicherheit, Terrorismus in der derzeitigen angespannten Situation handhaben? Wird versucht, einen neuen Dialog mit dem Westen anzuknüpfen, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation? Darüber macht sich Wladimir Frolow für SLON Gedanken.

    Wladimir Putin wurde zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen, die traditionell im Februar stattfindet. Und obwohl die Teilnahme des russischen Präsidenten noch nicht offiziell bestätigt ist, gibt es Anzeichen, dass seine neue „Münchner Rede“ schon in Arbeit ist. Einmal in seinem letzten Interview in der deutschen Klatschpresse, und in dem neuen Dokumentarfilm Weltordnung, in dem Putin seine Sicht auf die heutige Welt darlegt.

    Offenbar will sich Putin mit dem Westen aussprechen, und die neue Münchner Rede ist das ideale Format dafür. So erklärt sich auch die für viele befremdliche Auswahl der Boulevardzeitung BILD als Plattform für ein richtungsweisendes Interview. Die BILD ist eine Botschaft „an die Welt“ und „an die Völker“ (orbi). Der Auftritt auf der Münchner Konferenz eine Botschaft „an die Stadt“ (urbi) – also die westlichen Eliten.   

    Sagt uns nicht, wie wir leben sollen

    Sollte Putin nach München fahren, dann wäre das ein mutiger Schritt. Im Vorjahr hatte man als Abgesandten den russischen Außenminister Sergej Lawrow dorthin geschickt, der vor dem Hintergrund des glänzenden Angriffs russischer „Freiwilliger und Fronturlauber“ auf den Donezker Flughafen und auf Debalzewo [Debalzewe] massivem Widerstand ausgesetzt war, um nicht zu sagen ausgelacht wurde. Das Publikum dort ist gnadenlos, und Antworten auf Zuhörerfragen gehören zum Format.        

    Im Laufe des Jahres ist aber, insbesondere seit dem Einsatz Russlands in Syrien, das Beziehungsklima zwischen Russland und dem Westen etwas milder geworden, und neuerliche Widerstände in München wird es wohl nicht geben. Auch weil Putin ein erfahrener Polemiker ist und auf unbequeme Fragen zu antworten weiß. In letzter Zeit allerdings klingt es immer mehr nach einem „sagt uns nicht, wie wir leben sollen“.    

    Die letzten Auftritte des russischen Präsidenten bestanden vorwiegend in der Aufzählung wohlbekannter Kränkungen, die der arglistige Westen, allen voran die USA, Russland zugefügt hat: die Ausweitung der NATO, die militärischen Interventionen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der vom CIA initiierte Arabische Frühling und die Destabilisierung des Nahen Ostens, der Ausbau der Raketenabwehr in Europa und Asien, der „Staatsstreich in Kiew“ und die „dumme Verhängung von Sanktionen gegen Russland“.

    Doch dieses sentimentale Narrativ ist vor allem faktisch nicht ganz korrekt.

    Der Streit um angebliche Versprechen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands die NATO nicht Richtung Osten auszuweiten, ist schon lange beigelegt. Derartige Versprechen, geschweige denn Verpflichtungen, hat es einfach nie gegeben: Im Jahr 1990 hatte niemand an eine NATO-Osterweiterung gedacht. Es gab lediglich das Versprechen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Truppen anderer NATO-Länder bereitzustellen (die Armee der BRD betraf das nicht).

    Ausreichend wirksam verfocht Russland seine Sicherheitsinteressen in der Grundakte von 1997, in der verankert wurde, dass auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder keine Atomwaffen, keine militärische Infrastruktur und keine wesentlichen Truppenkontingente stationiert werden. Diese Garantien werden bis dato eingehalten. Ungeachtet dessen, dass einzelne NATO-Mitglieder versuchen, sie als Reaktion auf Russlands Vorgehen in der Ukraine und sein demonstratives militärisches Muskelspiel an den Nato-Grenzen aufzuheben.

    Doch derartige Zwistigkeiten interessieren heute kaum jemanden, etwas Neues muss her. Was genau hat Moskau im Angebot?

    Der erboste Moralapostel

    In den 70er und 80er Jahren bestand eine Tradition der sowjetischen Außenpolitik darin, dass die UdSSR-Führung bei internationalen Themen stets öffentlich mit großangelegten Initiativen zur Friedensthematik auftrat (meistens ging es um atomare Abrüstung). Diese Initiativen wurden sodann auf internationalen Foren und in bilateralen Verhandlungen diskutiert und weiterentwickelt. Doch Wladimir Putin bringt in letzter Zeit nichts dergleichen hervor, abgesehen von seinem nicht auf Gegenliebe stoßenden Vorschlag an die UNO, gegen die in Russland verbotene Terrororganisation ISIS eine „neue Anti-Hitler-Koalition“ zu gründen. Ansonsten gibt es lediglich Versuche, den Westen mit Moralpredigten zu belehren.

    Wie der Politologe Iwan Krastew feststellt, wirkt Wladimir Putin im Film Weltordnung wie ein „erboster Moralapostel“, der die Außenwelt wie ein „Familiendrama um Liebe, Hass und Verrat“ betrachtet. Russlands Außenpolitik der letzten Jahre beschreibt Krastew als  „Großmachtsgefühlsduselei“, die sich nicht auf nüchternes Kalkül von Interessen stützt, sondern auf Kränkung durch Ungerechtigkeit.

    Moskau ist der Ansicht, das europäische Sicherheitssystem befinde sich aufgrund der Osterweiterung von NATO und EU in der Krise. Diese Politik bedrohe die Interessen Russlands, das geradezu gezwungen gewesen sei, über die Angliederung der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donezbecken Gewalt anzuwenden, um „eine weitere Expansion westlicher Bündnisse auf für Moskau überlebenswichtige Territorien aufzuhalten …“.      

    Damit möchte Moskau natürlich dem Westen gegenüber rechtfertigen, dass es 2014 in der Ukraine die Hölle anfachte, anstatt, wie 2005, mit der bestehenden Regierung zu verhandeln. Doch für den Westen funktioniert diese Logik nicht. Die europäische Ordnung sah definitiv stabil und sicher aus. Die Probleme begannen 2014, und es war völlig klar, wer sie lostrat.   

    Die Frage der Agenda

    Doch was kann das europäische Sicherheitssystem ersetzen, und wie kann das Sicherheitsvakuum gefüllt werden? Putin sagt im Großen und Ganzen, man hätte die mittel- und osteuropäischen Länder nicht in die NATO aufnehmen, sondern etwas „Neues, Gemeinsames, Europa Vereinendes“ schaffen sollen. Damit führt er quasi von Neuem die Breschnew-Doktrin ein: eine beschränkte Souveränität der zwischen Russland und Westeuropa liegenden europäischen Staaten – in einer Form, die sich nun schon weit über den postsowjetischen Raum hinaus erstreckt.

    Gleichzeitig leistet sich Putin ein paar ziemlich unvorsichtige Aussagen. Zum Beispiel spricht er von der Priorität „menschlicher Schicksale“ vor Grenzen, vom Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Wogegen Moskau mit dem Konflikt im Nordkaukasus die gesamten 1990er Jahre hindurch deutlich verstieß. Ganz abgesehen vom „Prinzip der Gerechtigkeit“, das er zur Lösung territorialer Unstimmigkeiten ins Instrumentarium der russischen Politik übernahm (nun ja, Japan könnte ihm beipflichten).

    Mit einem solchen Ideensortiment kann man in München nicht auf Erfolg zählen, und der Kreml wird sich für all diese mehrdeutigen Thesen eine unschuldigere Interpretation überlegen müssen. Eine positive Agenda von russischer Seite steht noch aus.

    Die NATO auflösen?

    Vielleicht hat Moskau vor, dem Westen eine aktualisierte Version des Vertrags über europäische Sicherheit vorzulegen – dieser Vertrag war die erste außenpolitische Initiative von Präsident Medwedew, sehr feierlich am 5. Juni 2008 in Berlin verkündet und bisher der fundierteste Vorschlag der Russischen Föderation zur Modernisierung des europäischen Sicherheitssystems. Er sollte eine Mischung darstellen aus Nichtangriffspakten vom Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928) und den Statuten des Völkerbundes. Er schlug  – gestützt auf die These  einer geeinten und unteilbaren Sicherheit – ein Beratungssystem der Mitgliedsländer vor, das Russland ein schlecht verschleiertes Vetorecht gegen alle Unternehmungen der NATO eingeräumt hätte.      

    Das ist natürlich besser, als NATO und EU aufzulösen oder ein neues Jalta-Abkommen über die Aufteilung der Einflusssphären zu schließen. Doch der Westen braucht einen solchen Vertrag nicht, insofern ist hier kein Erfolg zu erwarten. Außerdem wird Putin wohl kaum mit dem Ziel nach München fliegen, die gescheiterte Initiative Medwedews fortzuführen.   

    Vor dem Hintergrund des Feldzugs in Syrien ist zu erwarten, dass Putin in seiner Münchner Rede den Schwerpunkt darauf setzen wird, gemeinsam mit dem Westen den internationalen Terrorismus im Nahen Osten und in Afghanistan zu bekämpfen. Erst recht, weil in dieser Hinsicht bereits erste Schritte mit Frankreich gemacht worden sind, was Syrien betrifft (Putin bezeichnete französische Militärangehörige als „Verbündete“), und manche Vorzeichen auch für eine solche Entwicklung in Libyen sprechen.

    Moskau formuliert derzeit neue Organisationsprinzipien seiner Außenpolitik: Maßnahmen gegen die Verbreitung von Chaos und den Zusammenbruch des Staatswesens sowie die Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle in denjenigen Regionen, die für die Russische Föderation von existentiellem Interesse sind. Hier wird dem Anspruch nach eine neue außenpolitische Doktrin formuliert, die im Gegensatz zur amerikanischen Doktrin der „Förderung von Demokratie“ steht. Stattdessen bietet Moskau die Erhaltung und Festigung autoritärer Regime als schrittweisen Übergang zu einer Demokratie mit „nationaler Färbung“. Das ist natürlich eine globale Agenda, die Agenda einer Supermacht. Aber mit Europas Sicherheit steht sie indirekt dennoch in Zusammenhang.

    Taktik der kleinen Schritte

    In München will man jedoch etwas anderes hören: vor allem von einem Ende des Konflikts in der Ostukraine. Aber alles hängt am Unwillen Moskaus, sich auf die Demontage der „Volksrepubliken“ einzulassen. Und Anzeichen, dass man diese Position überdenkt, gibt es bislang nicht. Eher setzt man darauf, dass durch Kiews Verschulden die Verhandlungen scheitern und die Sanktionen aufgehoben werden, weil Minsk II (die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zur Russischen Föderation) von Seiten der Ukraine nicht erfüllt werden kann.   

    Wenn Wladimir Putin den Dialog mit dem Westen über Sicherheit wiederaufzunehmen und das unglückliche Kapitel „Ukraine“ irgendwie zu beenden gedenkt, sollte er Themen wie Geopolitik, Aufteilung von Einflusssphären, neue Weltordnung und Umformatierung der bestehenden europäischen Sicherheitsstrukturen lieber vermeiden.   

    Wenn aber der russischen Regierung die konfrontative Atmosphäre des Blockdenkens lieber ist, dann gibt es keinen besseren Weg, die eigene Bedeutsamkeit auf den Status einer Supermacht zu heben, als den, mit der NATO über Rüstungsbeschränkungen zu verhandeln.

    Der Sorge darüber, dass die jeweiligen militärischen Infrastrukturen territorial wieder näher aneinander heranrücken, kann durch eine Modernisierung des Wiener Dokuments entgegengetreten werden: zum Beispiel, indem man die Anforderungen verschärft, dass geplante Manöver – eben auch jene, die zur Überprüfung der Kampfbereitschaft überraschend durchgeführt werden – unbedingt angekündigt werden müssen, sowie durch neue Abkommen über die Abwehr militärischer Vorfälle im Luftraum und auf See.      

    Man könnte weitergehen und die Verhandlungen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa wiederaufnehmen (2015 hat Russland seine Mitwirkung an den Mechanismen des KSE-Vertrags aufgekündigt) und neue Beschränkungen für den Aufbau schwerer Waffen ausarbeiten, durch die die Angst vor einem plötzlichen Einmarsch sinken würde. Man könnte den Dialog über Raketenabwehr und den Austausch von Daten zu Raketenstarts, über die Art der Bedrohung durch Raketen und das Zusammenspiel der Systeme von NATO und Russland weiterführen.

    Auf dem Gebiet der Sicherheit gibt es eine gemeinsame Agenda, mit der man sich befassen könnte, um so allmählich wieder Vertrauen aufzubauen. Würde Putin den Akzent auf eine reale, nicht auf eine fiktive Agenda setzen, auf eine Rückkehr zur Taktik der kleinen, aber konsequenten Schritte, auf Berechenbarkeit, so würde seine zweite Münchner Rede bedeutender werden als die erste. Sofern er sich überhaupt zu dieser Reise entschließt.

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