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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ein Fehler historischen Ausmaßes“

    „Ein Fehler historischen Ausmaßes“

    An jedem Tag der vergangenen Woche haben hunderte Moskauer gegen die Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl protestiert. Am Samstag versammelten sich laut Nichtregierungsorganisation Bely Stschottschik 22.500 Demonstranten auf dem Sacharow-Prospekt. Bei der größten Protestaktion der vergangenen Monate forderten sie eine freie und faire Regionalwahl, zu einem wiederkehrenden Motiv der Demonstration gehörte der Slogan Ljubow (dt. Liebe).

    Ljubow Sobol ist eine von rund 20 OppositionskandidatInnen, die die Moskauer Wahlkommission von der Wahl zum Stadtparlament ausgeschlossen hatte. Wie auch die anderen unabhängigen Kandidaten musste die junge Juristin und Mitstreiterin von Alexej Nawalny Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis sammeln, um antreten zu dürfen. Laut Moskauer Wahlkommission sei ein Teil dieser Unterschriften jedoch gefälscht, deshalb dürfe Sobol per Gesetz nun nicht zugelassen werden.

    Sobol sowie andere Oppositionskandidaten sehen darin eine politisch-motivierte Entscheidung. Die Regierungspartei Einiges Russland sei in der russischen Gesellschaft derzeit so unbeliebt, dass sie ihre Kandidaten als unbefleckte Unabhängige ins Rennen schicke. Um eine Schlappe bei der Wahl am Einheitlichen Wahltag am 8. September abzuwenden, würden die Behörden nun auch unfaire Zulassungshürden konstruieren – und damit die Teilnahme der Opposition verhindern. 

    Viele Beobachter vergleichen diese Entscheidung mit der letzten Wahl zum Moskauer Stadtparlament vor fünf Jahren. Auch damals sei sie weder frei gewesen noch fair, auch damals habe es ähnliche Zulassungshürden gegeben. Diesmal, so der Tenor, sei aber Eines anders: Die Opposition, die damals gespalten war, ziehe jetzt an einem Strang. Tatsächlich kam es bisher noch nie vor, dass Ljubow Sobol, Ilja Jaschin, Dimitri Gudkow und andere Oppositionelle gemeinsame Forderungen erheben und gemeinsam auf die Straße gehen. Wlad Dokschin hat sie begleitet und die Proteste in einer Fotoreportage für die Novaya Gazeta festgehalten.

    Unabhängige Kandidaten unterschiedlicher politischer Bewegungen für die Wahl der Moskauer Stadtduma. Eine Sache verbindet sie: der Ausschluss von der Wahl aus formalen Gründen / Foto © Wlad Dokschin

    Der Politiker Alexej Nawalny vor dem Beginn der Kundgebung bei seinen Anhängern / Foto © Wlad Dokschin

    Auf dem Sacharow-Prospekt vor Beginn der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Rede des Politikers Dimitri Gudkow. Er wurde von der Wahl ausgeschlossen, weil er nach Angaben der Wahlkommission die gestatteten zehn Prozent „Ausschuss“ an  Unterstützer-Unterschriften überschritten hat / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmer der Kundgebung mit einem Plakat: „Ein Fehler historischen Ausmaßes“ / Foto © Wlad Dokschin

    Ljubow Sobol, der die Registrierung zur Wahl der Moskauer Stadtduma verweigert wurde, kommt von der Bühne. Ihr hilft Iwan Shdanow, dem ebenfalls die Registrierung verweigert wurde / Foto © Wlad Dokschin

    Politiker Alexej Nawalny beschwört die Teilnehmer der Kundgebung, keine Angst vor Festnahmen zu haben im Kampf für ein besseres zukünftiges Russland / Foto © Wlad Dokschin

    Eine Teilnehmerin der Kundgebung. Aufschrift auf den Plakaten: „Ich habe ein Recht auf Wahl“ sowie die Namen der Kandidaten Iwan Shdanow und Ljubow Sobol / Foto © Wlad Dokschin

    Michail Swetow, Vertreter der Libertären Partei. Mitglieder der Partei hatten die Kundgebung organisiert / Foto © Wlad Dokschin

    Am Eingang bekamen die Teilnehmer Trillerpfeifen. Laut Plan der Organisatoren sollten sie damit die Machthaber auspfeifen / Foto © Wlad Dokschin

    Ilja Jaschin während seines Auftritts. Auch ihm wurde die Registrierung verweigert. Im Hintergrund zu lesen: „Wir haben das Recht auf eigene Kandidaten“ / Foto © Wlad Dokschin

    Teilnehmerin der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt. Auf ihrem Plakat steht: „Sie nahmen die Liebe – es blieb nur Hass“, Anspielung auf den Vornamen der Kandidatin Ljubow Sobol, der übersetzt „Liebe“ bedeutet / Foto © Wlad Dokschin

    Laut Zählung der NGO Bely Stschottschik nahmen an der Kundgebung rund 22.000 Menschen teil / Foto © Wlad Dokschin

    Nach dem Ende der Kundgebung / Foto © Wlad Dokschin

    Angehörige der Russischen Nationalgarde drängen die nach der Demo Gebliebenen auf dem Sacharow-Prospekt zurück. Insgesamt wurden bei der Protestaktion sechs Menschen verhaftet / Foto © Wlad Dokschin

    Fotos: Wlad Dokschin
    Übersetzung und Anlauf: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 22.07.2019

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  • Es stinkt zum Himmel

    Es stinkt zum Himmel

    Russland hat ein Müllproblem: Rund 100 Milliarden Tonnen unverarbeitete Abfälle lagern derzeit auf einer Fläche von ungefähr vier Millionen Hektar, was etwa der Größe der Schweiz entspricht. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte größer sein. Haushaltsmüll macht dabei rund zwei Drittel aus – da allerdings über 90 Prozent davon nicht recycelt wird, wachsen die Müllberge täglich weiter. 


    Nachdem im Sommer 2017 in der Oblast Moskau massenhaft Deponien stillgelegt wurden, wird der in Moskau anfallende Haushaltsmüll auf die verblieben knapp 20 Halden verteilt. Viele davon platzen aus allen Nähten, in den Städten ringsum klagen Anwohner über giftige Gase, die krank machen.


    Am 14. April fanden nun in neun betroffenen Orten der Oblast Moskau Protestveranstaltungen statt. Tausende Menschen gingen zum Geburtstag des Gouverneurs Andrej Worobjow auf die Straßen, um ihn auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Irina Gordijenko und Wlad Dokschin waren für die Novaya Gazeta in der Stadt Serpuchow dabei.

    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    „Vor einigen Tagen hat das Schiedsgericht die Schließung der Mülldeponie Lesnaja angeordnet, gegen die wir seit fast einem Jahr kämpfen. Wir haben vor Gericht Recht bekommen“, die Demonstration in [der Ortschaft Bolschewik bei – dek] Serpuchow eröffnet der Organisator Nikolaj Dishur, ein Abgeordneter im Stadtkreis Tschechow. „Die Deponie muss jetzt unverzüglich geschlossen werden, ich wiederhole: un-ver-züg-lich. Sie ist nun per Gesetz verboten – und wir alle zusammen verkörpern jetzt hier und heute dieses Gesetz. Wir sind eine Macht.“

    Durch die Menge geht ein zustimmendes Raunen.

    Um die fünftausend Menschen haben sich hier versammelt. Überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons, Plakate:

    „Hört auf uns zu vergiften!“

    „Moskaus Umland ist kein Müllplatz!“

    „Worobjow, mach die Müllkippe dicht!“

    Auf die größte Zustimmung, die lebhafteste Reaktion bei den Menschen jedoch stößt die Forderung: „Worobjow, ab in den Ruhestand!“

    Viele sind mit ihren Kindern gekommen. Überall in der vier Kilometer von Serpuchow entfernten Ortschaft hingen bereits Tage vor der Demonstration riesige Plakate, die die Protestaktion ankündigten. Die Veranstalter hatten die Aktion ursprünglich in Serpuchow selbst durchführen wollen. Doch die dortige Stadtverwaltung hatte das untersagt und stattdessen eine eigene, alternative Demonstration abgehalten unter dem Motto „Mülltrennung“ – mit Musik, kostenlosem Essen und Volksbespaßung in Form von Tauziehen. Doch die Protestkundgebung in Bolschewik hat weitaus mehr Menschen mobilisiert.

    Der Gestank erreicht nun auch die Städter

    „Ich selbst wohne jetzt in Serpuchow – bei meiner Mutter“, erzählt die Teilnehmerin Tatjana der Novaya [Gazeta – dek]. „Aber unser Haus steht hier, praktisch direkt an der Lesnaja. Vor einem halben Jahr mussten wir es verlassen, weil sich das bei ihr gesundheitlich bemerkbar machte.“ Tatjana nickt in Richtung ihrer fünfjährigen Tochter. „Der Gestank war unerträglich. Früher haben die Städter unsere Proteste gegen die Müllhalde nicht verstanden. Aber vor einem halben Jahr hat der Gestank auch sie erreicht.“

    Die Mülldeponie Lesnaja liegt vier Kilometer von Serpuchow entfernt. Drumherum – eine Reihe kleinerer Dörfer. Die Deponie belegt eine Fläche von 33 Hektar. Sie ist damit eine der größten in der Oblast Moskau – und aktuell die einzige im Süden des Gebiets.

    „Die Deponie verstößt gegen drei Grundbedingungen: Der Müll wird nicht sortiert, es gibt kein Auffangsystem für das Sickerwasser, und das Wichtigste: Das Limit für die Mülleinfuhr ist längst ausgeschöpft“, erklärt Nikolaj Dishur. „Laut Projektkapazität kann die Halde 300.000 Tonnen Müll pro Jahr fassen. Unseren Berechnungen zufolge landen dort aber momentan übers Jahr rund 1,2 Millionen Tonnen. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist der Müllberg auf die Höhe eines zehnstöckigen Hauses angewachsen, das ist mehr als in den ganzen 50 Jahren seiner Existenz. Wir haben ausgerechnet, dass unsere Deponie einen Gewinn von einer Milliarde Rubel [ca. 13 Millionen Euro – dek] abwirft. Und ich bin sicher, dass Gouverneur Worobjow und seine Leute – trotz des Gerichtsurteils – bis zum letzten Moment Widerstand leisten werden. Aber auch uns sollte man nicht unterschätzen.“

    Erfolgreicher Hungerstreik

    Dishur weiß, wovon er spricht. Im vergangenen Jahr konnten er und seine Mitstreiter die Schließung der Mülldeponie Kulakowo erreichen, in der Nähe der Stadt Tschechow, in deren Stadtduma er als Abgeordneter sitzt. Anfangs hatten die Abgeordneten sich um einen Dialog mit dem Gouverneur Worobjow bemüht und darauf verwiesen, dass die Müllkippe Kulakowo sich bis an die nahegelegene Schule ausgebreitet hat. Nur 480 Meter lagen dazwischen. Dabei schreiben die Gesundheitsauflagen eine Sperrzone von mindestens 500 Metern vor. Das Amt für Umweltnutzung und andere regionale Instanzen behaupteten allerdings stur, die Entfernung bis zum Schulgebäude betrage 501 Meter, es läge also kein Grund vor, die Deponie zu schließen. Daraufhin war eine dreizehnköpfige Initiativgruppe mit Dishur an der Spitze vor Gericht gezogen und am 1. Juni, dem Internationalen Tag des Kindes, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Die Behörden des Gouvernements wurden sichtlich nervös. Und weil ihre Überredungsversuche nichts brachten, wurde die Mülldeponie Kulakowo zum 1. September im Eilverfahren stillgelegt.

    „Die Schließung haben wir zwar erreicht. Aber die Müllkippe wurde einfach brach liegengelassen. Fast ein Jahr ist vergangen, aber allen Versprechen zum Trotz kümmert sich niemand um ihre Rekultivierung. Mit der Lesnaja wird das nicht so laufen. Wir fordern nicht nur die Schließung, sondern auch die Wiederurbarmachung. Andernfalls wird sich das ganze Moskauer Umland zum Protest erheben“, sagt Dishur.

    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“
    „Wir wollen keinen Dreck einatmen!“

    Die Organisatoren der Protestaktionen in den verschiedenen Städten sind gut vernetzt. Außerdem haben Dishur und seine Mitstreiter im vergangenen Jahr die Organisation Bürgerforum registrieren lassen. Sie soll alle unabhängigen Abgeordneten, Stadt- und Bezirksvorsitzenden der Moskauer Oblast vereinen und so gemeinsam die „Interessen der Bevölkerung verteidigen“.

    Unter Jubelrufen und Applaus betritt Alexander Schestun die Bühne. Er ist der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Serpuchow.

    „Noch ist es zu früh für eine Siegesfeier. Aber wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“, sagt Schestun emotionsgeladen in die völlige Stille hinein. „Schauen Sie, Anhänger der unterschiedlichsten Parteien und Bewegungen haben sich hier versammelt. Wir halten zusammen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Jeder von Ihnen erfüllt mich mit Stolz. Danke. Zusammen mit Ihnen fühle ich mich sicher. Ich werde mich von Gouverneur Worobjow nicht unter Druck setzen lassen.“

    In der allgemeinen Stille ertönt deutlich eine Frauenstimme:

    „Vors Gericht mit ihm!“

    Die Menge bricht in tosenden Beifall aus.

    Alexander Schestun ist bereits in der dritten Legislaturperiode Vorsitzender des Deputiertenrats im Rajon Serpuchow. Er genießt in der Region tadellose Autorität. Und obwohl Schestun seit Langem in Konflikt mit den Behörden der Moskauer Oblast steht (er ist der einzige unter allen Vorsitzenden der Verwaltungskreise im Gebiet, der sich vehement gegen die Abschaffung der Direktwahl bei Kommunalwahlen wehrt – eine Reform, für die Worobjow lobbyiert), war der Druck auf ihn noch nie so enorm wie seit Beginn der Müll-Krise. Die Regionalverwaltungen werden laufend durchsucht; laut Schestun kommen Drohungen direkt von den Mitarbeitern des FSB und Beamten der Gouvernementsbehörden: Entweder du trittst von deiner Kandidatur bei den kommenden Wahlen zurück und stoppst die Proteste, oder es passiert was.

    Malheur für die Regierungspartei

    Vor dem Hintergrund der Müll-Proteste geriet [die Regierungspartei – dek] Einiges Russland – genauer, die hiesige Abteilung – in eine Bredouille. Die Jedinorossy im Rajon Serpuchow sind nämlich selbst aktive Teilnehmer der Müll-Proteste. Auf der Demonstration sind neben Flaggen der KPRF, der Anarchisten und von Jabloko auch zahlreiche blau-weiße Flaggen der Regierungspartei zu sehen. Und es ist längst nicht die erste Demo, an der hiesige Parteimitglieder teilnehmen.

    Einige Tage zuvor, nach Bekanntwerden der Aufruhr, bekamen die Regionalpolitiker Besuch vom stellvertretenden Regierungsvorsitzenden der Oblast Alexander Kostomarow und von der Gebietsvorsitzenden der Partei Lidija Antonowa. Sie wollten ihre Parteigenossen zur Räson bringen. Doch der Trip war nicht von Erfolg gekrönt. „Leben Sie mal selbst hier auf der Müllkippe“, schlug man den Funktionären vor. Seit Montag, dem 16. April, soll die Abteilung der Partei Einiges Russland im Rajon Serpuchow nun per Eilbeschluss des Parteirats aufgelöst werden.

    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate
    Um die 5000 Menschen haben sich versammelt, überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons und Plakate

    Die Kundgebung endete mit der Verabschiedung einer Resolution. Die drei Hauptforderungen lauten: Die Deponie ist sofort zu schließen. Die Verwaltung der Moskauer Oblast hat drei Monate Zeit, der Öffentlichkeit einen Rekultivierungs-Plan für die Mülldeponie vorzulegen. Ferner ist ein Plan für den Bau einer Recycling-Anlage zu erarbeiten.

    Die Resolution wurde einstimmig angenommen.

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  • Plattentausch in Moskau

    Plattentausch in Moskau

    Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.

    Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.

    Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.

    Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“

    Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.

    Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.

     

     

    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Maxim Borissowitsch, Anna, Maria, Artjom und Jascha Dubach
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1967
    Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer) 
    Bewohner: 6 Personen, 1 Hund, 1 Igel, 1 Katze
    Umzugswunsch: nein

    Besser eng als ungemütlich!

    Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!

    Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).

    Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Alexander und Aljona Selin
    Bezirk:
    Metrogorodok
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 1976
    Wohnfläche: 72 m2
    Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen
    Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks

    Alles ist verrottet, alles ist marode

    Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow
    Bezirk:
    Tuschino
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 2006
    Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde
    Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashka mit hohen Decken in demselben Bezirk)

    Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt

    Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.

    Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!

    Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Tatjana und Iwan Jeremenko
    Bezirk:
    Sokolniki
    Baujahr: 1957
    Einzugsjahr: 1965
    Wohnfläche: 97,8 m2
    Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer)
    Umzugswunsch: kategorisch dagegen

    Das ist meine ‚kleine Heimat‘

    Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Jelena und Dima Cholin
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1992
    Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
    Bewohner: 2 Personen, 1 Hund, 1 Katze
    Umzugswunsch: nein

    Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei

    Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.

    Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.

    Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin
    Bezirk:
    Oktjabrskoje Polje
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 1974
    Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer) 
    Bewohner: 2 Personen
    Umzugswunsch: durchaus 

    Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!

    Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!

    Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)

    Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 2009
    Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer)
    Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium
    Umzugswunsch: eher nein

    Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?

    Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Jelena Serebrennikowa
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1969
    Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
    Bewohner: 3 Personen, 1 Hund
    Umzugswunsch: nein 

    Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft

    Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.

    Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?


    Foto © Wlad Dokschin
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    Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow
    Bezirk: Sapadnoje Degunino
    Baujahr: 1964
    Einzugsjahr: von Geburt an
    Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 4 Personen, 1 Katze
    Umzugswunsch: ja

    Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze

    Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.

    Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Julia Sacharowa
    Bezirk:
    Ismailowski
    Baujahr: 1951
    Einzugsjahr: 2014
    Wohnfläche: 56 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 1 Person, 1 Hund, 1 Eichhörnchen
    Umzugswunsch: nein

    Jetzt träumen sie von einer Aufwertung der Gegend

    Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.

    Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.

    Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Natalja Markewitsch
    Bezirk:
    Retschnoi Woksal
    Bauzeit: 1950er Jahre
    Einzugsjahr: 2008 
    Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer) 
    Bewohner: 1 Person, 1 Katze 
    Umzugswunsch: ja

    Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha

    Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her.
    Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.

    Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja
    Bezirk:
    Lefortowo
    Bauzeit: 1950er Jahre
    Einzugsjahr: 2017
    Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer)  
    Bewohner: 3 Personen
    Umzugswunsch: eher dagegen

    Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen

    Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.

    Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.

    Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.

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