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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zahnloses Raubtier

    Zahnloses Raubtier

    Stars sind immer auch Identifikationsfiguren. Die russische Gesellschaft beobachtet sehr genau, wie sich Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler zum Krieg positionieren. Lassen sie sich vor den Karren der Propaganda spannen wie der Rockbarde Grigori Leps, die Sängerin Polina Gagarina oder der einstige Skandalrocker Sergej Schnurow? Ziehen sie sich zurück und schweigen, wie die Pop-Sängerin Olga Busowa? Oder sprechen sie sich klar gegen den Krieg aus und nehmen dafür auch Konsequenzen in Kauf, wie die Schlager-Ikone Alla Pugatschowa und ihr Mann, der Comedy-Star Maxim Galkin? Und was sind die Motive für die eine oder andere Haltung? Echte Überzeugung, Anbiederung oder Zwang vonseiten der Staatsmacht? 

    Wer sich öffentlich gegen den Krieg positioniert, dessen Karriere ist in Russland schnell beendet, Konzerte sind nicht mehr möglich. Ende August hat der Fall des Pop-Rockers Roman Bilyk für Aufsehen gesorgt, bekannt unter dem Künstlernamen Zver (dt. Raubtier). Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Bilyk wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen. Dann tauchte plötzlich ein Video auf, in dem Zver ein Konzert vor russischen Soldaten hinter der Front gibt und sich ansieht, wie die Artillerie ein paar Schüsse abfeuert. Für viele Fans eine schmerzhafte Enttäuschung. Wie auch für den Autor der Novaya Gazeta Europe, Wjatscheslaw Polowinko.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Roman Bilyk, Frontmann der Band Zveri, wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen, nun gab er ein Konzert für russische Soldaten an der Front / Foto © Sergei Bobylev/ITAR-Tass/imago images

    Am 21. August 2023 hat der Propangandist Semjon Pegow (auf Telegram bekannt unter dem Pseudonym War Gonzo) ein Video mit Roman Bilyk alias Roma Zver, dem Frontmann der Band Zveri verbreitet, auf dem zu sehen war, wie dieser seine Songs in der „Volksrepublik Donezk“ vor Soldaten hinter der Front spielte. Und Zver singt da nicht nur, sondern führt sich auf wie ein echter Kämpfer. Das rief heftige Reaktionen hervor, weil die Band Zveri bis dahin den umfassenden Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt hatte. 

    Um die Metamorphose von Roma Zver zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Ende Mai machte der Zveri-Leadsänger in einer Bar in Samara heftig Randale, warf mit Stühlen und Sonnenblumenkernen (!), fluchte derb – mit einem Wort, er führte sich auf wie ein echter Punk. Wie steht es um die psychische Verfassung eines Menschen, der sich so verhält? Entweder ist ihm von Vornherein klar, dass das für ihn keine Folgen haben wird, oder er kann sich aufgrund von Stress (und einer nicht zu verachtenden Menge von hartem Alkohol) nicht mehr beherrschen. In Zvers Fall ist Zweiteres wahrscheinlicher: Der Musiker hatte nach Kriegsbeginn über ein Jahr lang im Netz antimilitaristische Statements veröffentlicht, und obwohl sich die Zahl seiner Konzerte nicht wirklich verringerte, standen die Zveri vonseiten der „patriotischen“ Öffentlichkeit doch ordentlich unter Druck. Ein paar Wochen nach dem Vorfall in Samara wurde ein geplantes Konzert auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum abgesagt und durch die eindeutig staatskonforme Band Tschish & Co ersetzt. Parallel dazu wurde gefordert, zu überprüfen, ob Roma Zver die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hat. Die absolute Katastrophe für einen, der Russland nicht verlassen will.

    Und plötzlich taucht Bilyk vor ein paar Wochen in Anton Beljajews Projekt LAB mit einem Song von Jegor Letow auf: Pro duratschka – (dt. Über einen Dummkopf). LAB ist ein Großprojekt zur Produktion von Coverversionen, sozusagen von Neuinterpretationen. Wichtig ist jedoch: Zu Beginn werden diese Coverversionen auf VKontakte veröffentlicht, und Roma Zver ist der einzige Interpret mit explizit antimilitaristischer Haltung. 

    Sowohl Zvers Teilnahme an diesem Projekt als auch das Lied darüber, dass es „im Feuer des Schützengrabens keine Atheisten“ gebe, waren bereits ein Signal, dass sich etwas verändert hatte – aber was da genau passiert war, war nicht ganz klar. 

    Und jetzt ist Roma Zver in die „Volksrepublik Donezk“ gefahren und ist nicht nur vor Soldaten aus Russland aufgetreten, sondern hat auch in Helm und Panzerweste beim Kanonenbeschuss mitgemacht (nur die Munition hatte ihm schon jemand zurechtgelegt). „Sehr tiefe Frequenzen, und dann das ganze Spektrum“, kommentierte er den Sound. Und dann sang er:

    Genieße deine Siege, 
    rede, verdränge, dass du schwach bist. 
    Spar dir deine Ratschläge, Kleiner! 
    Erzähl, erzähl, wie toll du bist.

    Die ehemaligen Fans verbergen im Netz ihren Schock hinter Spott: „Der harte Alkohol zeigt Folgen“, „Alles, was mit dir zu tun hat, geht den Bach runter“, „Mädels und Jungs kämpfen – eins-zwei-drei“, „Iskander-Regen“ – und so weiter. Mit einer Zeile aus einem Zveri-Song lässt sich auch erklären, was mit Bilyk los ist: So ist es einfacher, so ist es leichter. Du löschst die Postings gegen den Krieg, singst für Russlands Soldaten, bekommst Anerkennung von Sachar Prilepin und hast mit deinen Konzerten von nun an keine Sorgen mehr. Zwei Konzerte in Moskau und Sankt Petersburg sind ausverkauft.

    Doch das Drama besteht bei Roman Bilyk nicht nur darin, dass er seine Instagram-Posts gelöscht hat und an der Front für die Russen singt. Vor dem Krieg trat Roma Zver zum Beispiel für Kirill Serebrennikow ein, als dieser mit seinem Theaterlab Sedmaja studija vor Gericht stand. Dort äußerte Roma Zver Folgendes:

    • „Dieser Prozess lässt erkennen, was die Staatsmacht von uns hält. Wir zählen für sie gar nicht.“
    • „Alle Massenmedien, alle staatlichen Kanäle verbreiten Propaganda.“
    • „Es fühlt sich an, als wären wir alle für sie nichts als Vieh, lauter ungebildete Leute: Ihr seid Vieh, haltet still und schweigt.“
    • „Peskows Märchen glaube ich nicht und will sie nicht hören, weil das auch wieder lauter Geschichten für Leute sind, die Lichtjahre entfernt sind von dem, was tatsächlich bei uns passiert.“

    Alles, was Zver da beschreibt, wurde nach dem 24. Februar 2022 nur noch schlimmer – und bis zu seiner Fahrt in die „Volksrepublik Donezk“ war ihm das auch völlig klar. Und trotzdem sagte er sich bewusst von seinen eigenen Ansichten los, knickte ein und verbog sich. Bedenkt man, dass Roman einen beträchtlichen Teil seiner Jugend in Mariupol und Kyjiw verbracht hat, wird sein Sinneswandel umso fataler. 

    Möglicherweise sitzt der Zveri-Frontmann dem Irrglauben auf, dass „es mein Land ist, auch wenn es Fehler begeht“. Vielleicht versucht Roman Bilyk, sich damit zu beruhigen, dass auch Russland offiziell gegen Kriege ist: Wie uns das staatliche Fernsehen erzählt, fängt Russland ja Kriege nicht an, sondern beendet sie nur.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass Bilyk ein Strafverfahren angedroht und ein Angebot gemacht wurde, das er nicht ausschlagen konnte. Wir wissen es nicht, aber das ist jetzt auch egal.  

    Wie ein wucherndes Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs

    Der Kompromiss, zu dem viele Prominente gezwungen sind, die in Russland geblieben sind, ließ Roman in Schäbigkeit und Heuchelei abrutschen (was den „Patrioten“ nach wie vor missfallen könnte, aber mit ihrem Repertoire an Negativität werden sie sich Bilyks Meinungsumschwung mit der Phrase „Hat er’s endlich kapiert“ erklären). Was mit dem Frontmann von Zveri passiert, ist zudem insofern doppelt traurig, als hier vor unseren Augen ein Mensch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Wie bei einem wuchernden Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs. Und es bleibt einem nichts anderes übrig als zuzusehen, wie das Ende naht. 

    Roma Zver ist natürlich nicht der Erste, der sich so verändert. Nicht nur durch psychologische Manipulation sagt man sich von seiner Meinung und seiner Vergangenheit los, sondern auch aus banaler Dummheit: Erinnern wir uns nur an Maria Schukschina, die ihr Gedenken des eigenen unter Stalin erschossenen Großvaters gegen eine Vergötterung Stalins für seine „Bewahrung der Kirche“ (!) eintauschte. Aber weder Schukschina noch Grigori Leps oder Dima Bilan, die in Videos über Kinder aus dem Donbass mitspielen, noch Valentina Talysina und Alexander Paschutin lösen eine so schwere Enttäuschung aus: Von denen war nichts anderes zu erwarten. Hier jedoch wird ein Jugendidol dekonstruiert – noch dazu ein Rocker (wenn auch ein sehr poppiger). Viele glauben – übrigens zu Unrecht –, dass einer, der Rock spielt, automatisch etwas vom Leben begriffen hat. Das ist eine absolute Illusion: Die Leute aus der Rock-Szene, die sich gegen den Krieg geäußert haben, kann man an einer Hand abzählen. Auf jeden Juri Schewtschuk kommt ein Dutzend Bands wie KnjaZz und Tschaif.    

    Das größte Unglück für Roma Zver aber ist, dass er mit dem Bewusstsein weiterleben muss, dass eine Kanone seiner ersten Heimat seine zweite Heimat beschossen und er mit Vergnügen dabei zugesehen hat. Schlimm ist nicht nur, dass Roma Zver den Krieg unterstützt, sondern dass er das auch noch geil findet. Kannibalismus ist ekelhaft – bis du den ersten Bissen Menschenfleisch kostest. Roman Bilyk scheint tief in sich drinnen einen tierischen Hunger verspürt zu haben. 

    Wessen Jugend beim Sound von Rajony-kwartaly (dt. Bezirke und Wohnblocks) blühte, der steht jetzt ebenfalls vor der Wahl. Die Musik der Zveri weiterhören, als ob nichts gewesen wäre, weil es „einfach eine so große Liebe“ ist? Oder „Sorry, Roma, ich hau ab“? Die Entscheidung scheint eindeutig – aber das scheint nur so, denn wir wissen nicht, wie viele Menschen, die eine ähnliche Verzweiflung durchgemacht haben wie der „echte Punk“ Roma Zver, genau solche Kompromisse eingehen wie ihr Idol. Nachdem auch „Helden bereit sind, für Geld zu sterben“, wieso sollen die anderen besser sein? Erst recht, wo doch die Menschen in der großen Masse gar keine Helden sind.  

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  • Demonstrativ beleidigt

    Demonstrativ beleidigt

    Nach dem Besuch des Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament vergangenen Donnerstag war es in der Hauptstadt Tbilissi zu heftigen Protesten gekommen. Die Demonstranten hielten unter anderem Schilder hoch mit englischsprachigen Aufschriften wie „Stop Russia!“ oder „Russia is occupant“. Die Polizei ging mit alle Härte gegen die Demonstranten vor. 
    Nun kriselt es auch in den georgisch-russischen Beziehungen: Wegen der angeblich „russlandfeindlichen Provokation“ während der Proteste verhängte Russlands Präsident Putin am Tag darauf ein Flugverbot, russische Airlines dürfen ab dem 8. Juli keine Flüge nach Georgien mehr anbieten. Dies sei nötig, um die „nationale Sicherheit zu gewährleisten“. 
    Dabei sehen Beobachter in der Einladung Gawrilows und im brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten vor allem eine Führungsschwäche der georgischen Regierung. Die Einladung stößt auf Unverständnis, zumal der Georgienkrieg von 2008 sowie die starke russische Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien im medialen wie öffentlichen Bewusstsein Georgiens sehr präsent sind. 

    Doch weshalb reagiert Russland nun so scharf? Was bedeutet das Flugverbot zur Hochsaison tatsächlich für den Tourismus und für die Beziehungen der beiden Länder untereinander? Wjatscheslaw Polowinko und Arnold Chatschaturow haben für die Novaya Gazeta russisches Staatsfernsehen geschaut und unterschiedliche Politologen befragt.

    Die Proteste in Tbilissi, die am 20. Juni begonnen haben, wurden zum gefundenen Fressen für die Propagandamacher des russischen Fernsehens. Bis dato hatten sie noch rund zehn Mal täglich jedwede Neuigkeit aus der Ukraine wiedergekäut. „Neuer Majdan in Tbilissi“ titelte die Sendung 60 Minuten im Fernsehsender Rossija. Artjom Schejnin brachte das georgische Thema in seiner Sendung Wremja pokashet sehr ausführlich und genau, aber mit Standard-Einsprecher: „Die Menschen sind bestimmt nicht von allein auf die Straße gegangen, jemand hat sie instruiert.“

    In beiden Sendungen trat der russisch-orthodoxe Kommunist Sergej Gawrilow auf. Während der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie hatte er [im Plenarsaal des georgischen Parlaments – dek] auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Georgiens Platz genommen, was der formale Auslöser für die Proteste war. 
    Wie ein Mantra wiederholte Gawrilow, dass die Schuld „auf Seiten der Gastgeber“ liege – alle anderen, angefangen bei  Alexander Chinschtein bis zu Maria Sacharowa, stimmten mit ein: Es sei eine „große zurechtgebastelte Provokation“.
    Zu einem gewissen Zeitpunkt schien es, der Kreml selbst glaube die Geschichten, dass die Proteste auf Befehl „englischsprachiger Instrukteure“ begonnen hätten und habe daraufhin entschieden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Traditionell griff man zu Bomben auf Woronesh: Präsident Wladimir Putin erließ ein Verbot, das russischen Flugzeugen ab dem 8. Juli nicht mehr erlaubt nach Georgien zu fliegen. Bürgern, die schon dort sind, soll die Möglichkeit offen stehen, nach Hause zurückzukehren. 

    „Vom Sicherheits-Standpunkt her ist diese Maßnahme womöglich plausibel, aber sie schießt über das Ziel hinaus“, so der Polittechnologe Witali Schkljarow, der auch ein Jahr in Georgien gelebt hat. „Eine andere Frage ist, inwieweit es auch für einen Präsidenten juristisch überhaupt zulässig ist, privaten Airlines zu verbieten, in ein anderes Land zu fliegen.“
    Bei den Fluglinien allerdings wurden diesbezüglich keine Fragen laut: Sie murrten zwar ein wenig, stellten aber allesamt am 22. Juni den Verkauf von Flugtickets nach Georgien ein. Doch für die in Tbilissi lebenden Russen war die Entscheidung über die „Evakuierung“ ein echter Schock.  
    Aus Sicht des Kreml gibt es hier jedoch keinerlei Unstimmigkeiten, stellt der Polittechnologe Gleb Pawlowski klar: „Die Staatsmacht glaubt aufrichtig, dass sie Gutes tut, wenn all diese Menschen beispielsweise auf die Krim fahren können.“

    Viele Wege führen nach Tbilissi

    Das Verbot von Flügen nach Georgien ist ein Schlag für die Tourismusbranche des Landes. Nach Angaben russischer Reiseanbieter kommen jährlich im Durchschnitt  5 Millionen Touristen nach Georgien (im vergangenen Jahr waren es insgesamt 8,7 Millionen). Davon sind 1,4 Millionen russische Staatsbürger, mehr Menschen kommen nur aus Aserbaidschan. Im Jahr 2018 stieg die Zahl der russischen Besucher um 24 Prozent.
    Allerdings wird durch das Einstellen von Flügen russischer Airlines der Reisebetrieb nach Georgien nicht insgesamt lahmgelegt. Man muss nun Umwege nehmen, aber eine vollständige Blockade gibt es nicht.

    „Der Druck auf Georgien ist die Folge einer Kränkung der russischen Machthaber“, meint der Polittechnologe Alexej Makarkin. „Dabei geht es nicht einmal darum, dass der Abgeordnete Gawrilow beleidigt wurde, sondern dass sich die georgischen Machthaber nicht entschuldigt haben.
    Regierung und Opposition in Tbilissi sind zerstritten, ihr Problem ist nicht gelöst, aber einen offensichtlichen Konsens gibt es: Gawrilow ist selber schuld. In Russland schmerzt eine solche Position, darum hat man sich überlegt, wie man [zurück]schlägt.“

    Georgischen Wein zu verbieten ist sinnlos, das hat schon vor gut zehn Jahren nicht sonderlich gut funktioniert. Also hat man sich jetzt auf die Touristen fokussiert, die sich, vorwiegend wegen der russischen Staatspolitik gegenüber Ägypten und der Türkei in den vergangenen Jahren, nach Tbilissi umorientiert haben: Dort ist es günstig und lecker. 

    Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern

    In Tbilissi selbst nimmt man die Taktik des Kreml mit Ironie auf: „Es gibt einen ökonomischen Aspekt dabei, ja, der mag unangenehm sein, aber auch nicht wirklich gravierend“, erklärt Jegor Kuroptew, ein russischer Medienmanager, der in Tbilissi arbeitet. „Russische Touristen sind hier sehr beliebt. Die kommen sogar und beobachten die Proteste, finden das interessant, alles ist in bester Ordnung. Daher wirkt es merkwürdig, den eigenen Leuten zu verbieten, irgendwohin zu fliegen. Schade, dass der Kreml mit einer solchen Entscheidung versucht, die Beziehung zwischen den Völkern zu verschlechtern.“  

    „Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern. Gegenüber dem Kreml hat das Land sehr klare Vorbehalte: Gespräche mit Politikern darf es nur über eine ,Deokkupation der Gebiete’ [von Abchasien und Südossetien – Novaya] geben“, meint Kuroptew. „Dass sich Gawrilow auf den Stuhl des Parlamentspräsidenten gesetzt hat, das war bloß der Auslöser. Dass überhaupt eine offizielle russische Delegation mit Duma-Abgeordneten kommt, konnte nur so aufgenommen werden“, schließt Kuroptew.

    Der Kreml bietet den Menschen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an

    Die Idee des Kreml bestehe darin, den Abgeordneten Gawrilow pars pro toto mit den Bürgern Russlands gleichzusetzen, sagt Alexej Makarkin. Georgien sei für den Kreml in vielerlei Hinsicht nebensächlich. Diese Proteste könnten [dem Kreml] aber dazu dienen, neues Leben in die Beziehungen mit einem ganz anderen, einem loyalen, aber mittlerweile unzufriedenen Gegenüber einzuhauchen: „Dieses Verbot und die Informationskampagne zielt auf solche Menschen ab, die sowieso nicht nach Georgien reisen. Die Logik dahinter: Sie schikanieren uns, und wir sollen auch noch dorthin fahren? Wir helfen sowieso allen, uns sind sowieso alle zu Dank verpflichtet. Das Verbot soll gerade die Menschen zusammenschweißen, die so denken“, betont Makarkin. „Früher haben sie traditionsgemäß den Staat unterstützt, dann aber kam die Rentenreform, und die Menschen wollten Gerechtigkeit. Nun bietet man ihnen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an.“

    Für den Kreml sei der ganze Vorfall ein unerwartetes Geschenk, meint auch Gleb Pawlowski: „Ein Flugverbot ist in diesem Fall zwar übertrieben, Moskau aber will diese Geschichte aufbauschen. Rein praktisch sind diese Proteste für den Kreml ungünstig, aber gleichzeitig eine passende Gelegenheit, um sich demonstrativ beleidigt zu zeigen und nach Bedarf die Eskalation fortzusetzen“, so Pawlowski. 

    Die Beziehungen des Kreml mit den georgischen Machthabern waren in den letzten Jahren durchaus sachlich (soweit das überhaupt möglich ist, wenn die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind). Angesichts der Ergebnisse des ersten Protesttages schrieb aber die georgische Präsidentin Salome Surabischwili auf Facebook, dass die Massenproteste ausschließlich Russland zupass kämen, das „Feind und Besatzer“ sei. Interessant, dass Surabischwili, die die Protestierenden de-facto des Spiels auf der Seite der „Besatzer“ beschuldigt, dabei die Rhetorik der Demonstranten aufgreift.
    Solche Slogans wurden übrigens zu einem zusätzlichen Reizfaktor für die russischen Machthaber. Eine Version legt nahe, dass das Verbot gerade dann durchgesetzt wurde, als die Banner-Sprüche gegen Russland und Putin durch die Welt gegangen waren.

    Laut Experten wäre es logisch gewesen, bei einer neuerlichen Eskalation im Konflikt zwischen Russland und Georgien gleich am Anfang auf die Bremse zu treten. Nun aber sei das schon sehr schwierig: Jetzt sei der Moment, alle Vorteile aus der aufgeheizten Stimmung bis zum Ende „auszuschöpfen“, meint Gleb Pawlowski.
    Außerdem „muss einer den ersten Schritt machen“ zur Versöhnung, ergänzt Witali Schkljarow. Den aber will keiner machen. Und vielleicht kann es auch keiner.  

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  • „Der Kreml wird auf Chaotisierung abzielen“

    „Der Kreml wird auf Chaotisierung abzielen“

    Am 31. März fand in der Ukraine die Präsidentschaftswahl statt. Für Beobachter war es schwer vorherzusagen, wer in die Stichwahl am 21. April kommen wird. Diese scheint nun genauso unberechenbar: Obwohl der Abstand zwischen Herausforderer Wolodymyr Selensky und Amtsinhaber Petro Poroschenko in der ersten Runde etwa 14 Prozentpunkte betrug, ist es nicht klar, wer am Ende gewinnen wird.

    Seit 2014 – mit der Angliederung der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine – sind die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew zerrüttet: Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch floh im Februar 2014 nach Russland, sein Nachfolger Petro Poroschenko vertritt dezidiert eine Anti-Kreml-Haltung. In seinem aktuellen Wahlprogramm befürwortet er etwa die EU- und NATO-Integration seines Landes. Demgegenüber äußert sich sein Herausforderer Selensky eher zurückhaltend: Sein Wahlprogramm, so einige Beobachter, sei in diesen Punkten eher schwammig formuliert.

    Wie schaut der Kreml auf die Wahl in der Ukraine? Auf welchen Kandidaten setzt Moskau bei der Stichwahl zwischen Poroschenko und Selensky?

    Diese Fragen beantwortet im Interview mit der Novaya Gazeta Gleb Pawlowski – ehemaliger Polittechnologe, der zu den Architekten des Systems Putin gezählt wird.

    Novaya Gazeta / Wjatscheslaw Polowinko: Wie zufrieden ist die russische Regierung mit der gegenwärtigen Lage nach dem ersten Wahlgang: Selensky in Führung, Poroschenko auf dem zweiten Platz?

    Gleb Pawlowski: Die russische Regierung ist mit dem Status quo natürlich nicht zufrieden. Ich denke, dem Kreml würde außer einem Sieg Boikos keine Konstellation passen. Selensky macht Poroschenkos Chancen auf einen Sieg im zweiten Durchgang praktisch zunichte. Aus der Sicht Moskaus wirkt er zu merkwürdig und unberechenbar.

    Moskau hat bisher nur mit Angehörigen des ukrainischen politischen Establishments zu tun gehabt und hat es sehr wohl vermocht, sich mit ihnen zu arrangieren – mit allen, auch mit Poroschenko. Der Kandidat Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment, und er wird sich in seinem Vorgehen nicht sehr weit von seinen Wählern entfernen können.

    Selensky steht für den Protest der Wähler gegen das Establishment

    Seine Wähler, das ist die breite Masse der Bevölkerung, die des Krieges und der Welt müde ist, die sich nicht ins russische Bett legen will und die Korruption in Kriegszeiten nicht mehr ertragen kann. Man muss aber wissen, dass das keine pazifistischen Wähler sind; sie verlangen von Selensky nicht, dass er sofort den Krieg beendet. Im Grunde folgte die Wahl der Logik negativer Umfragewerte, und Selensky ist davon am wenigsten betroffen.

    Moskau könnte mit Selenskys Kandidatur teilweise zufrieden sein, weil er aus Sicht des Kreml ein schwacher Kandidat ist.

    Schließlich wird er ja nicht automatisch von der gesamten ukrainischen Bevölkerung akzeptiert werden; falls er gewinnt, wird das für ihn ein Problem sein, unter anderem mit Blick auf die Armee und die Kampfverbände, die im Großen und Ganzen nicht für ihn sind. Und außerdem ist da wieder das Problem der Westukraine, weil die Wahl dieses eindeutig nicht ukrainisierten Kandidaten bedeuten würde, dass es eine mehrheitliche Opposition gegen die Rolle gibt, die die Westukraine in letzter Zeit im Land gespielt hat.

    Der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen

    Es wird jetzt potentiell ein gewisses Machtvakuum entstehen, das nach dem zweiten Wahlgang zum Tragen kommen wird: Selensky wird es schwerfallen, die Anerkennung der gesamten Ukraine zu bekommen, und es wird einen gewissen Einbruch geben, eine Pause, in der Moskau in das Spiel einsteigen kann. Dass der Kreml das Spiel aufnehmen will, wird aus verschiedenen Vorstößen deutlich, etwa durch die Initiative, die Ergebnisse der Wahl in der Ukraine nicht anzuerkennen. Das ist eine recht dumme und schädliche Idee, weil dies eine direkte Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine bedeuten würde. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da sich die Gelegenheit für politisches und diplomatisches Spiel ergibt. Der Kreml aber spitzt die Situation zu, wie das so seine Art ist, wenn es ein Problem gibt. Es ist zwar gefährlich, aber der Kreml wird auf eine Chaotisierung des Spielfelds abzielen.

    Selensky wird es nach Ansicht Moskaus damit nicht aufnehmen können; es wird zu dem für die Ukraine üblichen Krieg zwischen den Gruppierungen kommen. Die Kalkulation ist, dass die Probleme erneut von den Herren des Geldes und den bewaffneten Ressourcen gelöst werden.

    In den russischen wie auch in den ukrainischen Medien kursiert die Theorie, dass Selensky im Falle seines Sieges Julia Timoschenko zur Ministerpräsidentin machen könnte. Da sie schon einmal mit Russland zusammengearbeitet hat, könnte sie nach Ansicht der Analytiker zu einem zusätzlichen Faktor werden, mit dem Moskau auf ukrainische Politiker Druck ausüben könnte. Wie realistisch ist ein solches Szenario?

    Dann würde Selensky das Risiko eingehen, sofort die Unterstützung zu verlieren. Die Ukraine hat so etwas schon einmal durchgemacht: Sie hatte einen dritten Kandidaten gewählt, aber sobald dieser einen Deal mit dem Establishment gemacht hatte (wie das etwa bei Serhij Tihipko der Fall war), verlor dieser Kandidat für die Menschen sofort jede Bedeutung und schied aus der Politik aus. 

    Selensky muss schleichend und schweigend die Zeit bis zum zweiten Wahlgang überstehen und sollte sein Ansehen nicht durch Allianzen beschädigen. Allerdings kann ich mir nur schwerlich vorstellen, dass sich selbst dann um Poroschenko herum eine starke Koalition gegen den Gewinner des ersten Wahlgangs bildet.

    Es gibt das Stereotyp, dass der Kreml über viele Einfluss nehmende Agenten in der ukrainischen Politik verfügt. Wie sehr hat Russland derzeit von innen Einfluss auf die Politik der Ukraine?

    Russland hatte tatsächlich seit langer Zeit hervorragende und sehr gut entwickelte Verbindungen zum ukrainischen Establishment.

    Und wenn der Kreml nicht im Jahr 2014 eine Dummheit begangen und sich in ukrainische Angelegenheiten eingemischt hätte, wäre Putin auch heute noch oberster Schiedsrichter für alle zukünftigen politischen Kombinationen in der Ukraine.

    Andererseits bedeutet das aber nicht, dass ukrainische Politiker Agenten Moskaus sind. Selbstverständlich waren für Moskau die Kriegssituation und die Gebietsverluste seitens der Ukraine keineswegs hilfreich hinsichtlich einer Stärkung seines Einflusses. Das ist keine Frage der Agenten, sondern meiner Ansicht nach eine Frage der abnormen Enge der Verbindungen zwischen den Establishments der beiden Länder. Sie machen sich auf pathologische Weise gegenseitig das Leben schwer. Zumindest ist das für mich im Falle Russlands offensichtlich, weil diese Fixierung auf die Ukraine, wo es doch im eigenen Land solche Probleme gibt, schlichtweg Irrsinn ist. Uns sollte die Ukraine offen gestanden derzeit überhaupt nicht beschäftigen.

    Könnte der mögliche Sieg Selenskys für den Kreml zu einem unangenehmen Signal werden, da die Menschen in Russland dann vielleicht denken: Oh, es sieht so aus, als könnte man gegen die „alte Schule“ ankommen?

    Es ist schon seit langem bewiesen, dass die Dinge bei uns so nicht laufen. Diese Vorstellung stammt ebenfalls vom russischen Establishment, nämlich, dass die Bevölkerung nur auf das Geschehen in der Ukraine schaut.

    Selensky ähnelt sehr vielen Akteuren in unserem Showbusiness, den Schauspielern aus den Serien, es ist aber sonnenklar, dass keiner von ihnen eine solche Rolle übernehmen könnte, mal ganz davon abgesehen, dass gegen so jemanden sofort ermittelt werden würde.

    In Russland fehlt diese ukrainische Kombination aus Verzweiflung und der Bereitschaft, es mal zu probieren.

    Die Ukrainer treffen diese Wahl und sind sich des Risikos bewusst, was an sich schon wichtig und interessant ist. Bei uns ist die Situation eine andere, wir sind nicht die Ukraine, und nicht Kasachstan.

    Inwieweit kommt der bislang lokale Triumph Selenskys der russischen Propaganda gelegen? Man könnte ja bei seinen Misserfolgen dann sagen: „Schaut nur, wen die Ukrainer da gewählt haben!“. Wenn es Erfolge gibt, ließe sich ebenfalls etwas konstruieren. 

    Aus Sicht unserer Propaganda gelingt der Ukraine nie auch nur irgendetwas. Unsere Propaganda beruht auf der Vorstellung der vermeintlichen „ukrainischen Dummheit“. Die landesweiten Fernsehsender verbreiten, dass diejenigen, die sich für Ukrainer halten, einfach nicht sonderlich helle sind, und zu nichts fähig, vor allem nicht zum Aufbau eines Staates. Ich denke, dass die Propaganda auch weiterhin mit diesem recht toxischen Motiv operieren wird. Eine Wahl Selenskys dürfte als weiteres Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden.

    Eine Wahl Selenskys dürfte als Zeichen dieser „ukrainischen Dummheit“ dargestellt werden

    Wichtig ist, dass diese Thesen nicht nur Richtung Ukraine, sondern auch Richtung Europa verlautbart werden: Man sollte die Ukraine nicht unterstützen, die kann ja nicht einmal bei sich selbst für Ordnung sorgen. Das können nur wir, unterstützt also uns!

    Das sind doch recht fruchtlose Bemühungen…

    Bislang sind sie fruchtlos. Wir wissen allerdings nicht, wie die Lage in der Ukraine in einem halben Jahr ist. Wenn dort Chaos entsteht, könnte der Kreml meinen, dass Europa abwinken wird.

    Sie haben vor vielen Jahren fast alles vorhergesagt, was mit der Ukraine geschah. Hätten Sie sich in ihren kühnsten Prognosen vorstellen können, dass einer der Wahlsieger jemand sein könnte, der der Politik sehr fernsteht?

    Den Sieg eines Populisten vorauszusagen ist nicht schwierig. Das ist weltweiter Trend und Mainstream: Überall siegen die Populisten. Die sind aber alle unterschiedlich. Auch Wladimir Putin war ein Populist, der als solcher seiner Zeit voraus war. Selensky und seine Taktik sind etwas anders. Sein Populismus ist friedlicher und ist daher schwerer dingfest zu machen; ihm ist schwieriger etwas entgegenzusetzen. In seinem Programm gibt es keinen Feind, er ist kein Trump: Selensky verspricht nicht, die Ukraine groß zu machen und gleichzeitig alle Russen aus dem Land zu jagen.

    Von einem Populismus dieser Art konnte ich nicht ausgehen, und ich konnte nicht davon ausgehen, dass in Zeiten eines Krieges so jemand gewinnt. Das Phänomen Selensky macht deutlich, dass der neue Populismus sich nicht auf Figuren wie Trump oder Orbán beschränkt. Dieser Populismus wird neue Konstellationen hervorbringen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

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  • „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. 

    Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. 

    Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf. 

    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin
    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin

    Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

    Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

    Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht. 

    Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt

    Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

    Womit hängt das zusammen?

    Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

    Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie

    Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden. 

    Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.
    Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand  gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

    Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann. 

    Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

    Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

    Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

    Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

    Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).

    Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.

    Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.

    Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

    Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“
    Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

    Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

    Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

    Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

    Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte

    Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche  Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

    Sie meinen die Bolotnaja?

    Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

    Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

    Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt. 

    Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn

    Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

    Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

    Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

    Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

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    Die Untergangs-Union

    In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.

    Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.

    Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.

    Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.

    Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.

    Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.

    Nichts bleibt ohne Folgen

    Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“

    Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.

    Kasachstan zahlt einen hohen Preis

    Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben – sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.

    Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.

    Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.

    Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.

    Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.

    Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.

    Nicht alle lassen sich einspannen

    Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“

    „Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.

    Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.

    Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.

    Die Quadratur der Union

    Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken – wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.

    Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.

    Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz  ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.

    Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.

    Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.

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