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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Belarus bin ich!

    Belarus bin ich!

    Am heutigen 4. November findet in Minsk die lang erwartete Sitzung des Obersten Staatsrates statt, des höchsten Gremiums des Unionsstaates zwischen Russland und Belarus. Dort sollen die 28 Programme unterschrieben werden, die die beiden Länder auf dem Weg zur Integration vereinbart haben. Dabei geht es um bis dato nicht im Detail bekannte „Harmonisierungspläne“ in den Bereichen Währung, Steuern, Finanzmarkt und makroöknomische Rahmenbedingungen. Zudem soll der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus gestärkt werden. 

    Aufgrund der drastischen Corona-Situation in beiden Ländern findet die Sitzung im Online-Format statt, sodass auch kein persönliches Treffen von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin vorgesehen ist. Zwischen den beiden Autokraten scheint es seit einer langen Zeit der demonstrativen Harmonie wieder einmal zu kriseln, man provoziert sich gegenseitig mit Sticheleien – wie schon häufig in den vergangenen 15 Jahren. So nahm Putin, obwohl dies angekündigt war, nicht an der Sitzung der Eurasischen Wirtschaftsunion Mitte Oktober in Minsk teil. Im Gegenzug gewährte Lukaschenko dem angereisten russischen Außenminister Sergej Lawrow keine persönliche Audienz. Der aber ließ durchblicken, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, wie wichtig Russland das Verfassungsreferendum anscheinend ist, das für das Jahr 2022 in Belarus angekündigt ist. 

    Am 22. Oktober tauchten in russischen Medien die Ergebnisse einer scheinbar geheimen Umfrage auf, die das russische, im Staatsbesitz befindliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM in Belarus durchgeführt hat, obwohl es über keine offizielle Lizenz für solche Umfragen im Nachbarland verfügt. Die Ergebnisse sind für Lukaschenko, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Denn 55 Prozent der Befragten geben an, Lukaschenko überhaupt nicht zu vertrauen, während 50 bzw. 48 Prozent der Befragten die inhaftierten Oppositionellen Maria Kolesnikowa und Viktor Babariko als beliebteste Politiker des Landes nennen. Zudem sprechen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine stärkere Integration mit Russland aus. Unbekannt ist, wie die brisanten Ergebnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten und ob die Umfrage möglicherweise ein Fake ist. In jedem Fall sorgte sie in den sozialen Medien für genügend Gesprächsstoff und Spekulationen um die Stoßrichtung eines solchen Manövers. Dabei wurde vielerorts um solcherlei Fragen debattiert: Inwieweit meinen es die beiden Staaten ernst mit der Integration? Inwieweit ist Lukaschenko dem Kreml nützlich, die Integration voranzutreiben? Oder ist die Integration – wie auch andere Schritte, so beispielsweise die Verfassungsreform – eine Strategie, um Lukaschenko von mehreren Seiten unter Druck zu setzen und ihn letzten Endes strukturell soweit einzukreisen, dass er seine Macht aufgeben muss? Dies könnte Russland den Einfluss in Belarus ermöglichen, den es abseits des mitunter launischen und schwer zu kontrollierenden Lukaschenko schon lange sucht. Jedenfalls ermöglichte der Radiosender Echo Moskwy, der sich überwiegend im Besitz der Gazprom-Media Holding befindet, am 26. Oktober auch noch ein Interview mit Swetlana Tichanowskaja. Darin sagte sie, dass der Kreml ihrer Meinung nach als Mittler bei der Machtübergabe in Belarus infrage käme. 

    Die Anspannung vor dem heutigen 4. November ist also groß. Der politische Beobachter Paulyk Bykowski hält es für möglich, dass die Papiere letztlich unterzeichnet werden, aber dass sich Lukaschenko bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht drängen lässt. Denn sein größter Trumpf sei das Versprechen einer Integration, um den Kreml immer wieder zu Krediten und billigem Öl und Gas zu drängen. Eine tatsächliche Integration, mit Strukturen außerhalb seiner Kontrolle, würde Lukaschenko in Gefahr bringen, seine Macht einzubüßen. Wieder andere wie Alexander Klaskowski meinen, dass es durchaus möglich sei, dass es erst gar nicht zu einer Unterzeichnung kommt – wie schon am 8. Dezember 2019, als ebenfalls eine neue Vereinbarung in Sachen Unionsstaat anstand, die Entscheidung aber vertagt wurde. 

    Währenddessen verstärkt Lukaschenko in Belarus weiter seine Kontrolle auf unterschiedlichen Ebenen, was der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Stück für das Medium SN Plus vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse analysiert. Dabei hinterfragt er auch die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus, die immer deutlichere Formen annimmt. 

    Der Staat wird militarisiert

    Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Die Personalentscheidungen vom 18. Oktober illustrieren diese Entwicklung auf drastische Weise. Justizminister ist nun nicht mehr ein Jurist, sondern ein Generalmajor der Miliz, nämlich der ehemalige stellvertretende Innenminister Sergej Chomenko. Bei seiner Ernennung erläuterte Lukaschenko den Grund für diesen Wechsel. Die Erklärungen lassen sich wie folgt interpretieren: Vom Justizminister werden Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen verlangt, also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.

    Ein noch markanteres Beispiel dafür, wo das Land hinsteuert, ist die Ernennung von Oleg Tschernyschow zum stellvertretenden Präsidiumsvorsitzenden der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ist ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit Alfa beim Komitee für Staatsicherheit (KGB) und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des KGB, In den unabhängigen Medien wurde jüngst viel darüber geschrieben, dass die Schulen in Kasernen umgewandelt würden und die Miliz dort die Kontrolle übernimmt. Es scheint, als sei nun die Akademie der Wissenschaften an der Reihe. Eine verstärkte Kontrolle des KGB über die Akademie der Wissenschaften bedeutet, dass dem Regime jetzt die politische Loyalität der Mitarbeiter dort wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnisse.

    Am 11. März 2021 wurde Wadim Sinjawski, General der Miliz, zum Minister für Katastrophenschutz ernannt. Er erklärte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter des Ministeriums, dass das Ministerium im Falle eines Ausnahmezustands die Aufgabe hat, mit der Waffe in der Hand Unruhen im Land zu unterbinden. Schließlich sei ein Offizier des Katastrophenschutzministeriums ein „Vermittler der Ideologie des Staates“. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Bekämpfung von Bränden und Überschwemmungen nur zweitrangig ist.

    Die staatlichen Institutionen ändern sich also in ihrer Funktion. Anstatt ihren eigentlichen Pflichten nachzugehen, beschäftigen sie sich immer stärker mit der Bekämpfung von Regimegegnern und der Sicherstellung politischer Loyalität.

    Unterstützung für das Regime wird jetzt zur Einstellungsvoraussetzung für eine Arbeit in einer staatlichen Einrichtung. Das soll auch im Arbeitszeugnis vermerkt werden. Berufliche Qualitäten der Mitarbeiter sind da zweitrangig.

    Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    In einem normalen Land liegt das Recht für Gesetzesinitiativen vor allem beim Parlament. In Belarus wird dies bislang von der Präsidialadministration und der Regierung übernommen. Jetzt tritt die Miliz in den Vordergrund. Symbolisch verdeutlicht es wieder einmal, welche Zeiten in Belarus angebrochen sind.

    Dissidententum in Sachen Corona

    Am 19. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zur epidemiologischen Lage im Land ab. Der Schwerpunkt seiner Rede bestand darin, dass zur Eindämmung von Corona-Infektionen keine außerordentlichen Einschränkungen vonnöten sind. Er verbat der Miliz, die Maskenpflicht zu kontrollieren und diejenigen zu bestrafen, die im öffentlichen Raum keine Maske tragen.

    Lukaschenko ließ eine sehr eigenartige Einstellung zum Impfen erkennen:

    „Ich kann nicht verbieten, dass Menschen geimpft werden, aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben.“

    Und der wichtigste Hinweis an die Adresse der höheren Beamtenschaft: „Wem spielt ihr denn damit in die Hände?“ Ein kleiner Wink, dass es eben Feinde sind, die strenge Einschränkungen vorschlagen.

    Daraufhin hob das Gesundheitsministerium am 22. Oktober die Maskenpflicht im Land auf. Sie hatte nur 13 Tage bestanden. Und das vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen.

    Dieses eigenartige Dissidententum ist eine Fortsetzung der Politik, die die belarussische Regierung 2020 verfolgt hatte. Also ein Kleinreden der Gefahr und die Weigerung, wie in anderen Ländern Einschränkungen zu erlassen.

    Der Starrsinn Lukaschenkos hat den gleichen Ursprung wie seine Anstrengungen, in der Konfrontation mit der protestierenden Bevölkerung zu beweisen, dass er Recht hat. Nach dem Motto: Ich habe die Präsidentschaftswahl wirklich mit 80 Prozent gewonnen, und alle, die anderer Meinung sind, sind vom Westen gekaufte Banditen, Extremisten und Terroristen.

    Ganz ähnlich ist Lukaschenkos Covid-Dissidententum gelagert. Er gibt selbst zu, dass seine Haltung zu Covid-19 einer der Gründe für den massenhaften Unmut in der Gesellschaft war. Umso schlimmer für die Menschen: Der Führer des Volkes, kann nicht irren. Niemals und nirgendwo. Selbst wenn man sich dafür der ganzen Welt entgegenstellen und einen sehr hohen Preis bezahlen muss.

    Lukaschenkos Argument, die ganze Welt habe erkannt, dass der belarussische Ansatz zur Bekämpfung des Virus richtig sei, und er werde deshalb keinen weiteren Lockdown einführen, hält keiner Kritik stand. Schließlich ist in den europäischen Ländern die Bevölkerungsmehrheit bereits geimpft oder ist auf dem Weg dorthin.

    Doch es gibt hier noch eine weitere Erklärung. In anderen Staaten, selbst in denen mit einer liberalen Ideologie, übernahmen die Regierungen während der Zuspitzung der Coronakrise die Aufgabe, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Und das war der Grund für die strengen Maßnahmen, die die Kontakte zwischen den Menschen auf ein Minimum reduzieren sollten.

    In Belarus hingegen enthebt Lukaschenko den Staat eines Teils seiner Aufgabe, die ja darin besteht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Er bürdet diese Verantwortung den Bürgern auf: „Jeder soll über seine Geschicke so bestimmen, wie er es für nötig hält … Keinerlei Druck auf die Leute … Alles freiwillig … Masken, Schutzmaßnahmen und Impfungen sind ganz allein eine freiwillige Angelegenheit eines jeden einzelnen“.

    Das heißt, der Staat befreit sich teilweise von Pflichten, wie auch in anderen Bereichen, entledigt sich einer weiteren Aufgabe. Als ob die Aufgabe der Behörden lediglich sei, die Menschen im Krankheitsfall zu behandeln. Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Kontakte? Das ist nicht unsere Aufgabe.

    Militärische Zusammenarbeit mit Russland

    Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.

    Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete, dass Belarus und Russland als Antwort auf die Bedrohung durch den Westen eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates verabschieden würden. Das Dokument solle demnächst auf einer Sitzung des Hohen Rates des Unionsstaates beschlossen werden, die um den 4. November herum angesetzt wird.

    Diese Neuigkeit ist allerdings drei Jahre alt. In Wirklichkeit ist die Militärdoktrin keineswegs neu: Das Dokument lag schon vor drei Jahren vor und sollte am 13. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Ministerrates des Unionsstaats verabschiedet werden. Minsk hatte jedoch die Unterzeichnung der Doktrin blockiert, als Zeichen des Protests gegen ein „Ultimatum“ des russischen Premierministers Dimitri Medwedew, der eine Politik des „Zwangs zur Integration“ verkündet hatte. Am 19. Dezember 2018 hat Wladimir Putin die Doktrin dann einseitig verabschiedet. Minsk sabotiert den Vorgang bis heute.

    Desweiteren, so Schoigu, hätten die Verteidigungsminister von Russland und Belarus Dokumente unterzeichnet, die den Betrieb zweier russischer Militärobjekte in Belarus verlängern. Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wileika.

    Doch es fehlen jegliche Einzelheiten zu diesen Papieren: Unter welchen Bedingungen werden diese Objekte weiterbetrieben? Um welchen Zeitraum wurde verlängert?

    Interessant ist auch, dass Informationen über die Unterzeichnung allein von russischer Seite verbreitet wurden. Auf der Internetseite des belarussischen Verkehrsministeriums heißt es, die Minister hätten eine Verlängerung des Abkommens lediglich „erörtert“, was die Einrichtung der Radarstation bei Baranowitschi und des Fernmeldezentrums Wileika „zu den bestehenden Bedingungen angeht“(!).

    Und das bedeutet, dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist. Die Unterzeichnung ist für die Sitzung des Hohen Rates am 4. November vorgesehen.

    Wie dem auch sei, die militärische Zusammenarbeit von Belarus und Russland ist jedenfalls intensiver als die Integrationsprozesse in anderen Bereichen des Unionsstaates. Die militärische Präsenz Russlands auf belarussischem Territorium wird stärker. Mit allen negativen Folgen für die Souveränität von Belarus. 

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  • Viktor Scheiman

    Viktor Scheiman

    Viktor Scheiman ist eine der mächtigsten und unheimlichsten Figuren der belarussischen Politik. Er zählt zu den Hauptorganisatoren der politischen Repressionen der letzten 25 Jahre und war treuer Schildknappe Alexander Lukaschenkos, den er seit den ersten Tagen seiner Präsidentschaft begleitete. Am 15. Juni 2021 wurde die „Graue Eminenz“ jedoch überraschend von seinem Amt als Leiter des einflussreichen Verwaltungsamtes des Präsidenten der Republik Belarus entbunden.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Viktor Wladimirowitsch Scheiman ist Berufssoldat. Er war an den Kampfhandlungen der sowjetischen Truppen in Afghanistan beteiligt. 1990, als die Perestroika ihren Höhepunkt erlebte, war er Major und wurde als Volksabgeordneter in den Obersten Sowjet der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewählt. Dort lernte er Alexander Lukaschenko kennen, der ebenfalls Abgeordneter war. Diese ersten fünf Jahre verhielt er sich still, trat selten auf und vermied den Zusammenschluss mit jeglichen Fraktionen oder politischen Gruppen. Bereits damals war er kein Politiker, der die Öffentlichkeit suchte.

    Lukaschenkos Vertrauter

    Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Scheiman erst 1994 bekannt, als er als Mitglied von Lukaschenkos Wahlkampfteam direkter Zeuge jenes Ereignisses wurde, das später als „Attentat von Liosno“ in die Geschichte der belarussischen Präsidentschaftswahlen einging. Auf das Auto, in dem sich der Präsidentschaftskandidat Lukaschenko zusammen mit Iwan Titenkow und Viktor Scheiman befand, wurde angeblich geschossen. Die Ermittler und der Großteil der Medien kamen allerdings zu dem Schluss, dass das Attentat fingiert war, ziemlich ungeschickt obendrein, eventuell unter Beteiligung von Scheiman. Dennoch dürfte die Geschichte Lukaschenko bei den Wahlen zusätzliche Stimmen eingebracht haben.

    Nach der Wahl zum Präsidenten ernannte Lukaschenko Scheiman zum Staatssekretär des Sicherheitsrates der Republik Belarus. Dieser Rat koordinierte die Arbeit aller Sicherheitsbehörden.

    1995 wurde der beliebte Innenminister Juri Sacharenko gefeuert. Lukaschenko war besorgt, die Polizei könnte aus Solidarität zu ihrem Minister rebellieren und sich gegen ihn wenden. Deswegen wurde Scheiman unverzüglich zum Innenminister ernannt und blieb zwei Monate auf dem Posten, bis ein neuer Minister gefunden war. Damit zeigte Lukaschenko erstmals öffentlich, wer zu seinen engsten Vertrauten unter den Funktionären gehörte.

    Todesschwadron

    Mit Scheimans Namen verbindet man das sogenannte Todesschwadron. Diese Spezialeinheit zur Ermordung von Menschen entstand Mitte der 1990er Jahre. Zunächst war sie auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ausgerichtet; „kriminelle Größen“, die Mitte der 1990er Jahre bedeutenden Einfluss erlangt hatten, verschwanden damals nicht selten spurlos. Bei einer Parlamentsrede am 4. August 2020 schwelgte Lukaschenko in Erinnerungen und erzählte von den ersten Jahren seiner Präsidentschaft: „Ich verlangte, dass man mir eine Liste der Banditen auf den Tisch legt und sie beseitigt […]. Und tatsächlich haben wir Minsk in einem halben Jahr von allen Banden gesäubert […]. Allein Scheiman und noch ein paar Männer, die mit Pistolen in der Hand durch die Stadt liefen und fuhren, um diese Arschlöcher zur Strecke zu bringen.“1

    Und dann kamen die Oppositionspolitiker an die Reihe. Am 7. Mai 1999 verschwand der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko spurlos. Im selben Jahr verschwanden am 16. September der ehemalige Vizepremier Viktor Gontschar und sein Freund Anatoli Krassowski.

    Die Ermittler kamen den potenziellen Tätern auf die Spur. Am 21. November 2000 wurde dem Innenminister Naumow ein Bericht seines Stellvertreters Nikolaj Lopatkin vorgelegt, in dem es heißt: „W. W. Scheiman erteilte Pawljutschenko die Anordnung, den ehemaligen Innenminister J. N. Sacharenko physisch zu vernichten […] Die Aktion der Ergreifung und des anschließenden Mordes wurde von Pawljutschenko – SOBR-Chef und Chef der Ersten Kompanie der Spezialeinheit – und vier seiner Männer ausgeführt […]. Analog dazu führte Pawljutschenko am 16. September 1999 die Ergreifung und Ermordung von W. I. Gontschar und A. S. Krassowski aus.“2

    Vom Verdächtigen zum Generalstaatsanwalt

    Was folgt, ist ein regelrechter Kriminalroman: Der Verdächtige Dimitri Pawlitschenko (so die korrekte Schreibweise seines Namens) wird verhaftet. Nach einem Verhör sprechen Generalstaatsanwalt Oleg Boschelko und KGB-Chef Wladimir Mazkewitsch bei Lukaschenko vor und bitten um die Erlaubnis, Scheiman festzunehmen. Als Scheiman erfährt, dass der SOBR-Chef verhaftet wurde, kann er sich ausmalen, dass ihm dasselbe droht. Also schickt er eine Spezialeinheit zum Untersuchungsgefängnis des KGB, um Pawlitschenko rauszuholen. Mazkewitsch kontert mit einer eigenen Spezialeinheit. Im Zentrum der Hauptstadt kommt es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung.

    Der Ermittler Iwan Brantschel, der ebenfalls zum operativen Ermittlungsteam gehörte, erzählt: „Wir waren vier Mal da, um den Präsidenten davon zu überzeugen, dass Pawlitschenko und Scheiman Verbrecher sind. Erfolglos.“3 Lukaschenko befiehlt, Pawlitschenko zu ihm zu bringen, doch nach einem kurzen Gespräch mit ihm erteilt er den Befehl, ihn gehen zu lassen.
    Eine Erlaubnis, Scheiman zu verhaften, erteilt der Präsident nicht. Im Gegenteil: Am 27. November 2000 werden Generalstaatsanwalt Boschelko und KGB-Chef Mazkewitsch ihrer Posten enthoben und am Tag darauf wird Viktor Scheiman, der Hauptverdächtige in diesem Fall, zum Generalstaatsanwalt ernannt. Gleichzeitig wird die gesamte Infrastruktur für politische Ermittlungen vom Sicherheitsrat in die Generalstaatsanwaltschaft verlegt. Nun ist er dafür zuständig, den Anschuldigungen gegen sich selbst nachzugehen. Die Ernennung Scheimans zeugt davon, dass Lukaschenko den Fall so schnell wie möglich unter den Tisch kehren, alle Verdächtigen aus der Schusslinie nehmen und die Spuren verwischen wollte. Von da an verbindet Lukaschenko und Scheiman ein unsichtbares Band illegaler Handlungen.

    Zwischenzeitlicher Karriereknick

    2004 wird Scheiman de facto zum zweiten Mann im Staat, als er die Stelle des Leiters der Präsidialadministration bekommt. 2006 kehrt er auf den Posten des Staatssekretärs des Sicherheitsrates zurück, von dem er jedoch im Juli 2008 per Beschluss des Präsidenten wieder entfernt wird. Der engste Vertraute Lukaschenkos war in Ungnade gefallen. Offizieller Grund der Entlassung war eine Bombenexplosion am 4. Juli, Scheiman wurde Fahrlässigkeit vorgeworfen.

    Aber es ist offensichtlich, dass die Explosion nur einen Vorwand für die Entlassung darstellte. Die wahren Gründe lagen woanders: Wenn das Oberhaupt eines autoritären Regimes einem seiner Untergebenen zu sehr verpflichtet ist, erwachsen diesem daraus unweigerlich Probleme. Ein Alleinherrscher steht nicht gern in der Schuld, egal bei wem. Im Idealfall haben alle Beamten ihren Aufstieg ihm zu verdanken. Dann sind sie zuverlässig und ihm treu ergeben.

    Zur selben Zeit bekam Scheiman einen starken Konkurrenten, den Assistenten des Präsidenten in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit: dessen Sohn Viktor Lukaschenko. Die Kontrolle über die Sicherheitsdienste fiel nun zunehmend in seine Hände. Denn natürlicherweise vertraute das Staatsoberhaupt seinem neuen Schützling mehr.

    Außerdem hatte Scheiman durch seine lange Zeit in hohen Positionen zu viele Beziehungen, zu viele Menschen waren von ihm abhängig, sein systemisches Gewicht wuchs. Auch das missfiel Lukaschenko.

    Zudem war 2008 das Jahr der ersten Versuche, die belarussischen Beziehungen mit dem Westen aufzubessern. Im April 2004 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, Scheiman aus der Regierung zu entlassen und ein Verfahren gegen ihn wegen Beteiligung an der Ermordung der genannten Oppositionspolitiker einzuleiten. Die EU verhängte Visa- und Finanzsanktionen gegen ihn. Womöglich war die Entlassung Scheimans ein Versuch Lukaschenkos, die Beziehungen mit dem Westen von Null zu beginnen.

    Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten

    Aber der Status der Ungnade dauerte nicht lange an. Bereits 2009 wurde bekannt, dass Viktor Scheiman zum Assistenten des Präsidenten in Sonderfragen ernannt wurde. Als besonders vertrauenswürdige Person wurde er mit geheimen, sensiblen Aufträgen betraut. Unabhängige Medien mutmaßten, dass es sich um Waffenhandel und ähnliche Angelegenheiten handelte, die der Öffentlichkeit besser verborgen bleiben sollten.4 Beispielsweise betreute er die belarussischen Unternehmungen in Venezuela und später in Afrika.

    Im Januar 2013 ernannte Lukaschenko Viktor Scheiman schließlich zum Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten. Hier ist erklärungsbedürftig, um was für einen Posten es sich genau handelte. Denn das Eigentum des Präsidenten, das vom Verwaltungsamt des Präsidenten kontrolliert wird, bildet eine besondere, in der modernen Welt unbekannte Form des Eigentums, wie es sie wohl nur im belarussischen Modell gibt. Am ehesten ist sie mit den 
    Apanage-Ländereien mittelalterlicher Monarchien vergleichbar.

    Doch anstatt sich, wie in anderen Staaten üblich, um die routinemäßigen Aufgaben der technischen Versorgung des Präsidenten und der Präsidialadministration zu kümmern, widmet sich das Verwaltungsamt des Präsidenten dem Handel. Zunächst hatte es sich die einträglichsten Immobilien in der Hauptstadt angeeignet, um sie als Büroräume zu vermieten. Bald kontrollierte es immer mehr profitable Unternehmen sowie den Import und Export bestimmter Güter (bspw. den Export von Holz aus dem Naturschutzgebiet Beloweschskaja puschtscha). Ebenfalls unter seine Kontrolle fallen die Getreide-, Kohle-, Holz-, Fisch-, Zucker-, Traktoren-, Tabak-, Alkohol- und Hotelindustrie, sowie ein Teil der Erdölindustrie. Außerdem handelt das Verwaltungsamt des Präsidenten mit Konfiskat, also mit ausländischen Waren, die vom belarussischen Zoll an der Grenze beschlagnahmt werden.

    Das alles geht einher mit Steuer- und Zollerleichterungen, die sich auf präsidiale Beschlüsse stützen. Nach Schätzung des ehemaligen belarussischen Ministerpräsidenten Michail Tschigir ist das Verwaltungsamt des Präsidenten die größte Handelsorganisation des Landes.5 Seit Beginn ihres Bestehens gibt es den Verdacht, dass ein Teil der Einnahmen aus seinen überbordenden Aktivitäten nicht ins Staatsbudget, sondern in einen Sonderfonds des Präsidenten wandert.6 Allerdings lässt sich das nicht überprüfen.

    Offenbar konnte so eine Behörde nur einem sehr zuverlässigen Menschen anvertraut werden. Und ein solcher war Scheiman. Er bekleidete den Posten acht Jahre, was sehr lange ist. Einige seiner Vorgänger wurden gefeuert, manche, wie Galina Shurawkowa, kamen sogar ins Gefängnis. Denn dieses Geschäftsmodell, das keinerlei Kontrolle unterliegt, ist ein fruchtbarer Boden für Korruption. Aber Scheiman konnte sich beherrschen.

    Abtritt des „letzten Mohikaners“

    Warum ist er nun zurückgetreten? Da Scheiman ein absolut verschlossener Mensch ist, der die Öffentlichkeit scheut und trotz hoher Staatsposten kaum Interviews gibt, kann man nur spekulieren.

    Es sind verschiedene Versionen im Umlauf. Häufig ist die einfachste Erklärung der Wahrheit am nächsten. Unabhängige Medien berichten, Scheiman habe gesundheitliche Probleme, was nicht dementiert wurde. Angeblich hat er eine Krebserkrankung und unterzieht sich einer Chemotherapie. Lukaschenko sagte, Scheiman habe mehrfach darum gebeten, zurücktreten zu dürfen. Als letzte Amtshandlung rang Lukaschenko Scheiman noch ab, einige begonnene Projekte zu Ende zu bringen – etwa auf Kuba, wo er sich seit Anfang Juli aufhält.

    Doch wie auch immer der Grund für Scheimans Rücktritt lauten mag, klar ist, dass sein Rückzug Wellen schlägt. Denn er ist nicht einfach ein hoher Beamter, sondern gewissermaßen ein Symbol der Unerschütterlichkeit des bestehenden Regimes. Der politische Analyst Juri Drakochrust äußerte in diesem Zusammenhang folgenden Gedanken: „Für viele war Scheiman ein ‚Symbol der Stabilität‘. Wenn dieses Symbol verschwindet, kursieren im System natürlich allerlei Gerüchte, Ängste, Unsicherheiten: ‚Wenn sogar Scheiman geht, stehen die Dinge wohl ziemlich schlecht.‘“7

    Bekanntermaßen endet eine Epoche, wenn ihre markanten Figuren abtreten. Der Abtritt Scheimans, den Lukaschenko bei seinem Abschied als „letzten Mohikaner“ bezeichnete, legt nahe, dass sich möglicherweise auch die Epoche Lukaschenko dem Ende zuneigt.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


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  • Wird Lukaschenko nervös?

    Wird Lukaschenko nervös?

    Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.

    Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.

    Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte. 

    Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
     

    Englisches Sprichwort

    Mögliche Folgen der Sanktionen

    Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.

    Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.

    Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.

    Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.

    Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).

    Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“. 

    Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.

    Das gefährliche Thema Krieg

    Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.

    Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn. 

    Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“

    Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.

    Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.

    Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.

    Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.

    Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.

    Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.

    Das Spiel mit Roman Protassewitsch

    Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.

    Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

    Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.

    Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.

    Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.

    Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.

    Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.

    Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.

    Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.

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  • Sjanon Pasnjak

    Sjanon Pasnjak

    Von allen Politikern, die im Zuge von Gorbatschows Perestroika und dem Zerfall der Sowjetunion ins öffentliche Leben von Belarus traten, ist Sjanon Pasnjak zweifellos die schillerndste Figur. 

    Nach der Krise und dem Zusammenbruch des totalitären kommunistischen Systems entstand die Nachfrage nach einem neuen, in der Sowjetunion bis dahin unbekannten Beruf: dem des öffentlichen Politikers. Pasnjak wurde dieser Nachfrage in vollem Umfang gerecht. Als kompromissloser Kämpfer für ein unabhängiges Belarus ist er in die Geschichte eingegangen. Wer ist dieser radikale Politiker? Was hat ihn geprägt? Welche Rolle spielt er im heutigen Belarus?

    Sjanon Pasnjak wurde 1944 in einer katholischen Familie im Gebiet Hrodna geboren. Sein Großvater, Jan Pasnjak, war einer der Anführer der christlich-demokratischen Bewegung in West-Belarus, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Pasnjaks Vater fiel im Zweiten Weltkrieg.

    Bereits in jungen Jahren tat sich Pasnjak als Dissident hervor. Hier setzte sich offenbar die Familientradition des Großvaters fort, die der nationalen Wiedergeburt eine große Bedeutung beimaß und damit im Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Politik der Verschmelzung aller Nationen um das russische Volk stand. Nach dem Schulabschluss studierte Pasnjak an der Minsker Hochschule für Theater und Kunst, von der er zwei Mal aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen wurde. Er arbeitete als Fotograf und Archäologe, promovierte trotz allem in Kunstgeschichte. Nebenbei gab er Texte im Samisdat heraus. Seit den 1960er Jahren setzte er sich aktiv für den Erhalt der historischen Bausubstanz in Minsk ein, dessen Altstadt von der Sowjetmacht Stück für Stück zerstört wurde. 

    Der Erneuerer der belarussischen Nationalbewegung

    Pasnjaks Sternstunde kam mit Gorbatschows Perestroika. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sein Name zum ersten Mal bekannt, als er am 3. Juni 1988 in der Zeitschrift Litaratura i mastaztwa [dt. Literatur und Kunst] den Artikel KurapatyDaroha smerci [dt. Kurapaty – Straße des Todes] veröffentlichte, in dem es um die Erschießung tausender Bürger in einem Minsker Vorort während der Stalinära ging.

    Zur Zeit der Perestroika war die Enthüllung der stalinistischen Verbrechen zur ideologischen Grundlage für die Diskreditierung des sowjetischen Systems überhaupt geworden. Die Befürworter von demokratischen Reformen nutzten die Tatbestände aktiv, um die Notwendigkeit eines Wandels zu begründen. Pasnjak verstand, dass seine Zeit gekommen war und es eine reelle Chance gab, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Also trat er aktiv in den politischen Kampf ein. Er wurde zu einem der Organisatoren der Belarussischen Volksfront (BNF), der wichtigsten Oppositionskraft in Belarus Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gorbatschows Perestroika eröffnete die Möglichkeit, verhältnismäßig freie Wahlen durchzuführen. Die Unionsrepubliken der UdSSR erhielten mehr und mehr Souveränität. Die reale Macht ging auf die Parlamente der Republiken über, die Obersten Sowjets. 1990 fanden in Belarus die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet der BSSR statt, erstmals unter den neuen Bedingungen. Die BNF konnte mit rund 30 Abgeordneten ins Parlament einziehen, darunter auch Pasnjak, der in seinem Wahlkreis in Minsk gesiegt hatte. Er übernahm den Vorsitz der Oppositionsfraktion der BNF im Obersten Sowjet der BSSR. Die Fraktion setzte sich nicht nur für die rasche Umsetzung demokratischer Reformen ein, sondern auch für den Austritt aus der Sowjetunion und damit für die vollkommene Unabhängigkeit von Belarus. 

    Im Rahmen der von Michail Gorbatschow ausgerufenen Politik der Glasnost wurden damals die Parlamentsdebatten live im Fernsehen übertragen, wodurch Pasnjaks Name in Belarus weite Bekanntheit erlangte. Mehrere Jahre lang war er der unbestrittene Führer der Opposition, Symbol der antikommunistischen Bewegung und der nationalen Wiedergeburt. 

    Unter den Bedingungen der akuten politischen Krise und der Ratlosigkeit der kommunistischen Nomenklatura, die Belarus regierte, konnte die kleine Fraktion der BNF die Tagesordnung im Obersten Sowjet bestimmen und initiierte immer neue Schritte in Richtung Demokratisierung der Republik und der Unabhängigkeit von der UdSSR. Die Rolle der BNF und Pasnjaks bei der Demontage des totalitären Systems und der Proklamierung der belarussischen Souveränität kann nicht hoch genug bewertet werden. Als begabter Redner und Publizist erschuf er sich ein Image des kompromisslosen Kämpfers für ein unabhängiges Belarus. Er formulierte das Konzept des belarussischen Nationalismus und der belarussischen Staatlichkeit. Der bekannte belarussische Schriftsteller Wassil Bykau sagte auf dem 3. Parteitag der BNF: „Die Nation kann sich glücklich schätzen, dass Gott ihr Sjanon Stanislawowitsch Pasnjak als Anführer gesandt hat.“

    Sjanon Pasnjak (am Mikrophon) und Alexander Lukaschenko (verdeckt hinter dem rechten Bannerhalter) bei einer Kundgebung in Mogiljow im Jahr 1990 / Foto © facebook.com/siarhiej.navumchyk

    Nach dem Zerfall der UdSSR und der Ausrufung der Unabhängigkeit von Belarus blieb die Macht in den Händen der alten Nomenklatura. Die BNF blieb in der Opposition. Wie alle neu entstandenen Staaten im postsowjetischen Raum steckte auch Belarus in einer tiefen sozialen Krise. Unter diesem Vorzeichen fanden 1994 die Präsidentschaftswahlen statt. Sechs Personen kandidierten damals für das Amt des Präsidenten, darunter auch Sjanon Pasnjak. Er erhielt 12,82 Prozent der Stimmen. Die Wahl gewann Alexander Lukaschenko.

    Im Kampf gegen die Rückkehr der Diktatur

    Nach seinem Amtsantritt begann Lukaschenko, die demokratischen Institutionen, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems geschaffen worden waren, wieder zu demontieren und den Übergang zur Diktatur, dem Regime der persönlichen Macht, zu vollziehen. Am 11. April 1995 trat Sjanon Pasnjak gemeinsam mit 18 weiteren Abgeordneten der oppositionellen BNF in den Hungerstreik, um gegen das von Lukaschenko initiierte Referendum zu protestieren, das die Wiedereinführung des Russischen als zweite Staatssprache und die Wiederkehr der sowjetischen Staatssymbolik vorsah. Die Protestierenden sahen darin einen Gesetzesbruch und blieben nach Ende des Arbeitstages im Parlamentsgebäude. Nachts kamen Spezialeinheiten der Miliz und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten ins Gebäude. Sie schlugen die Abgeordneten und zerrten sie mit Gewalt hinaus. Dabei versuchten sie, Pasnjak die Augen auszustechen, traten ihm vor die Brust und schlugen seinen Kopf gegen die Wand. So erfuhren die Abgeordneten der Opposition am eigenen Leibe, wie die Diktatur Form annahm. 

    1995 fanden die Wahlen zum 13. Obersten Sowjet statt. Kein einziger Abgeordneter der BNF schaffte es ins Parlament. Obwohl Pasnjak in seinem Wahlkreis 47 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, während sein Gegner 40 Prozent holte und 13 Prozent gegen beide Kandidaten stimmten. Nach dem Gesetz ist derjenige gewählt, der mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Später stellte sich heraus, dass die Wahlergebnisse gefälscht wurden, wie die Zentrale Wahlkommission auch zugab. Dass eine so große Zahl von Wählern gegen beide Kandidaten stimmte, war zu auffällig. Normalerweise stimmen ein bis zwei Prozent gegen beide Kandidaten. Der Einzug von Pasnjak in den Sowjet sollte also verhindert werden.

    Nachdem sie den Rückhalt im Parlament verloren hatte, rief die BNF das Volk zu Protestaktionen auf den Straßen auf. Pasnjak war einer der Hauptorganisatoren dieser Proteste. Der Frühling 1996 wurde sehr turbulent, es gab ernsthafte Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und der Miliz. Eine ernste politische Krise zeichnete sich ab, die von Lukaschenkos Bestrebungen, ein autoritäres Regime zu errichten, nur noch verschärft wurde. Er fürchtete die organisierte politische Kraft, die die BNF damals darstellte, und ihren beliebten charismatischen Anführer. Lukaschenkos Antwort darauf waren politische Repressionen. 

    Pasnjak sollte für die Organisation „gesetzwidriger“ Kundgebungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste Pasnjak im Frühjahr 1996 Belarus verlassen und erhielt schließlich gemeinsam mit seinem Oppositionskollegen Sjarhei Nawumtschyk politisches Asyl in den USA. Es war das erste Mal seit dem Zerfall der UdSSR, dass Staatsangehörige aus dem postsowjetischen Raum diesen Status aus politischen Gründen erhielten. Seitdem lebt Sjanon Pasnjak im Exil.

    Insgesamt bedeuteten die Präsidentschaftswahlen 1994 und die Parlamentswahlen 1995 eine schwere Niederlage für die Belarussische Volksfront. Die belarussische Gesellschaft der 1990er Jahre war nicht bereit, die Ideologie des ethnokulturellen Nationalismus anzunehmen, den die BNF vertrat, sondern hing nostalgisch der Sowjetzeit nach. Parallel dazu hatten einige Besonderheiten in Pasnjaks Charakter – als Mensch wie als Politiker – eine negative Rolle gespielt. Der Vorsitzende der BNF war ein klassischer Idealist, ein Ideenfanatiker, ein Prophet, aber kein pragmatischer Politiker. Er war eher zum Vorsteher einer orthodoxen religiösen Sekte geeignet als zum Anführer einer politischen Partei. Der Glaube an die eigene Messiasrolle und Unfehlbarkeit, die Nichtakzeptanz von Andersdenkenden, das Kategorische gegenüber seinen Opponenten stießen viele Menschen ab. Alle, die nicht seiner Meinung waren, betrachtete Pasnjak als Agenten des belarussischen KGB oder des russischen FSB. Seine Unfähigkeit zu Kompromissen verhinderte die Bildung breiter Allianzen. 

    Charakteristisch für Pasnjaks Ideologie ist die Fetischisierung, die Absolutsetzung der nationalen Idee, ihre Erhebung zum Kult. Er stellt eine direkte Verbindung zwischen der belarussischen Wiedergeburt und dem Grad der gesellschaftlichen Moral her („Wo man Belarussisch spricht, gibt es keine Halunken“1). Pasnjak ist zudem für seine schroff ablehnende Haltung gegenüber Russland bekannt. 1994 schrieb er seinen bekannten Artikel Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren, in dem er Russland als das absolut Böse zeichnete. Seiner Meinung nach gingen alle Nöte und Leiden von Belarus, vom Bolschewismus bis zur Inflation [der 1990er Jahre – Anm. dek], von der Russischen Föderation aus. Pasnjak zufolge habe der „verkommene, zerstörerische imperiale Osten“ negative Eigenschaften wie „Rüpelei, Unzucht, Sauferei, russische Fäkalsprache, Faulheit, Hass und Lüge“2 nach Belarus gebracht. In seiner Charakterisierung der russischen Politik als der eines „feindlichen Staates, der sich im Kriegszustand mit Belarus befindet“, nahm Pasnjak kein Blatt vor den Mund und bezeichnete Russland als „blutige Bestie“3. Weil jedoch in Belarus prorussische Einstellungen überwogen, wurde eine derart harte antirussische Position von der Mehrheit der Belarussen schlecht aufgenommen. 

    Der radikale Oppositionelle im Exil

    Aber Pasnjak war nicht nur Russland gegenüber negativ eingestellt, sondern auch dem Westen und seinen Werten gegenüber, vor allem dem Liberalismus. Er lehnte das Prinzip des Vorrangs der Menschenrechte vor den Rechten der Nation ab und vertrat die Meinung, das habe den westlichen Staaten geschadet. Sein radikaler Konservatismus erlaubte auch keine Toleranz gegenüber der LGBT-Bewegung. „In einer normalen, zivilisierten Gesellschaft kann und wird es keine Erotik geben“, konstatierte Pasnjak. Im belarussischen patriarchal geprägten Dorf habe sich der Mann nachts mit der Frau „mit der natürlichen Fortführung des Menschengeschlechts beschäftigt, ohne irgendwelche Erotik“, all das sei „Teufelszeug“.4 Auch in der Außenpolitik der USA und der EU-Staaten erkannte er eigennützige Motive. Er sah eine „Ruchlosigkeit der Politik, wie im Osten, so auch im Westen“5 gegenüber Belarus. Konfrontiert mit der Ablehnung seiner Ansichten in der Gesellschaft, bezeichnete Pasnjak die Belarussen schließlich selbst als „ein krankes Volk“6

    Den größten Teil seiner Zeit im Exil verbrachte Pasnjak in Polen. Nach seiner Ausreise schrumpfte sein politischer Einfluss sehr schnell. Lediglich in einer kleinen Gruppe von Unterstützern konnte er seine Popularität aufrechterhalten. Die vielen politischen Niederlagen und die Emigration ihres Vorsitzenden riefen in der BNF eine Krise hervor. 1999 kam es zur Spaltung der Partei. Pasnjak wurde von seinen früheren Mitstreitern Autoritarismus vorgeworfen. Gemeinsam mit einem Teil der BNF-Mitglieder gründete er die Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF) und übernahm deren Vorsitz.

    In den vergangenen 20 Jahren boykottierten Pasnjak und seine Partei so gut wie alle Wahlen, die in Belarus stattfanden. Die KChP-BNF lehnte jegliche Bündnisse und Koalitionen ab. Pasnjaks Treffen mit europäischen Politikern reduzierten sich auf ein Minimum. Man kann von einer Selbstisolation der Partei und ihres Vorsitzenden sprechen. Pasnjaks gesamte politische Tätigkeit im Exil bestand im Grunde aus Artikeln, Erklärungen und Kommentaren auf der Internetseite der Partei. Er erinnerte mehr an einen politischen Beobachter als an einen Politiker. Nebenbei veröffentlichte er eine Sammlung publizistischer Texte sowie Gedicht- und Fotobände.  

    Sjanon Pasnjak (Mitte) bei einem Besuch des belarussischen Kalinouski-Regiments Anfang 2023 in Bachmut / Foto © t.me/belwarriors

    Den Ausbruch der nationalen Proteste im Jahr 2020 bewertete Pasnjak widersprüchlich. Lukaschenkos wichtigsten Gegner zu Beginn der Präsidentschaftswahlkampagne, den Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, bezeichnete er als russischen Agenten und postulierte: „Babariko ist heute ein potentiell gefährlicherer Feind für die belarussische Nation als Lukaschenko“7. Swetlana Tichanowskaja erhielt zunächst positive Beurteilungen von Pasnjak, er nannte sie den „einzigen positiven Menschen“ unter den Kandidaten. Er rief sie dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Später machte Pasnjak Tichanowskaja für alles Mögliche verantwortlich. Im Interview mit dem Portal Zerkalo am 26. April 2023 äußerte er sich beispielsweise folgendermaßen: „Was Swetlana Tichanowskaja angeht, so ist das zunächst einmal ein Moskauer Projekt“; „sie wurde von Spezialkräften angeworben“; „Tichanowskaja hat damals die Wahlen durch Tricksereien gefälscht“; „ihr Handeln verursacht nicht nur politischen Schaden, sondern stellt eine kriminelle Ansammlung von Verbrechen dar“; „sie ist Belarus feindlich gesinnt“; „die politischen Gefangenen haben ihre Haft größtenteils Swetlana Tichanowskaja und ihren Leuten zu verdanken“.8 

    Pasnjak bezieht andererseits entschieden Position gegen die westlichen Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime, da sie seiner Ansicht nach Belarus in Russlands Arme drängen. Zuletzt interessierte sich die demokratische Bewegung in Belarus wieder stärker für Pasnjak. Einige bekannte Persönlichkeiten schüttelten ihm medienwirksam die Hand. Das hängt damit zusammen, dass die Niederschlagung der Proteste, die Festigung des Lukaschenko-Regimes und die Ausweitung der massenhaften Repressionen ein Interesse an Radikalisierung in der Gesellschaft wachgerufen haben; die friedlichen Methoden des Kampfes werden zunehmend in Frage gestellt und Pasnjaks Radikalität ist wieder gefragt. Doch dabei handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Denn Sjanon Pasnjak ist für Belarus eher eine Person der Geschichte als der zeitgenössischen Politik.


    1. Posnjak. Ein politisches Porträt. – Jewropeiskoje wremja, 6/1994 ↩︎
    2. Narodnaja Gaseta, 15.–27.01.1994 ↩︎
    3. Narodnaja Gaseta, 26.08.1993 ↩︎
    4. Nascha Niwa, 10/1992 ↩︎
    5. Narodnaja Gaseta, 29.10.1992 ↩︎
    6. Narodnaja Gaseta, 14.01.1993 ↩︎
    7. euroradio.fm: Poznjak: segodnja Babariko – potenzial’no bolee vrednyj belorusam, čem Lukašenko ↩︎
    8. zerkalo.io: «Belorusov v 2020-m podstavili somnitel’nye lica iz-za granicy čerez internet». Bol’šoe interv’ju s Zenonom Poznjakom ↩︎

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  • Lukaschenkos Büchse der Pandora

    Lukaschenkos Büchse der Pandora

    Eine der wichtigsten Entscheidungen seiner gesamten Amtszeit – so nannte Alexander Lukaschenko am 17. April eine Neuerung, die er eine Woche später verkündet hat: Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, soll seine Macht einem neuen Dekret zufolge an den belarussischen Sicherheitsrat übertragen werden. 

    Ebenfalls am 17. April hatten der belarussische KGB und der russische FSB verkündet, ein angeblich geplantes Attentat auf Lukaschenko vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Lukaschenko vermutet dabei eine Beteiligung amerikanischer Geheimdienste. Auch Putin erwähnte den Fall in seiner Rede zur Lage der Nation. Im belarussischen Staatsfernsehen sprach ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sogar von einer geplanten Invasion aus Litauen, mit Geländefahrzeugen und Maschinengewehren. 

    Fürchtet Lukaschenko ernsthaft um sein Leben? Während der genaue Wortlaut des Dekrets noch nicht bekannt ist, wird derzeit viel spekuliert, was es damit auf sich hat: Eine Art Lebensversicherung für Lukaschenko, wie Iryna Chalip in der Novaya Gazeta meint? Oder handelt es sich womöglich um Vorbereitungen auf einen Machttransfer nach kasachischem Szenario, wie Artyom Shraibman auf Telegram vermutet?

    Für den belarussischen Politologen Waleri Karbalewitsch ist das Dekret vor allem eins: verfassungswidrig und damit hochgefährlich. Ein Kommentar auf SN Plus
     

    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by
    Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by

    Was unmittelbar ins Auge springt, ist der absolut verfassungswidrige Charakter dieser Entscheidung. Schließlich schreibt die geltende Verfassung genau vor: Wenn der Präsident seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann, werden seine Vollmachten an den Premierminister übergeben. Das ist alles klar und deutlich.

    Ein präsidiales Dekret kann nicht die Verfassung ersetzen, das ist nicht rechtmäßig. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Abschnitte der Verfassung, die die Tätigkeit der Regierungsorgane regeln, nur mit einem Volksentscheid beschlossen werden können und nicht anders.

    Selbst in Monarchien kann der Monarch nicht einfach nach eigenem Gutdünken entscheiden, wer nach seinem Abgang auf dem Thron sitzen soll. Es gibt ein Gesetz zur Regelung der Thronfolge. 

    Demnach ist das geplante Dekret mit einem solchen Inhalt ein Sabotageakt an der Verfassung. Erstmals seit 1996 beabsichtigt Lukaschenko derart klar und offensichtlich die Verfassung zu verletzen. Da im Sicherheitsrat die Silowiki überwiegen, schlägt Lukaschenko quasi vor, den Militärs die Macht zu übertragen. Damit würde eine Struktur zum höchsten Regierungsorgan, die von niemandem gewählt und von der Verfassung nicht vorgesehen ist. 

    Sabotageakt an der Verfassung

    Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wird besonders deutlich, dass im Land ein Regime der persönlichen Macht herrscht, ein personalisiertes Regime. Gewichtige Entscheidungen über den Staatsapparat trifft ein einzelner Mensch, ausgehend von seinen persönlichen Interessen. Alle weiteren staatlichen Organe sind reine Dekoration. Niemand kann Lukaschenko sagen, er breche die Verfassung. Weder das Verfassungsgericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die zwei Kammern der Nationalversammlung würden wohl auf irgendeine Weise auf den offensichtlich verfassungswidrigen Sabotageakt reagieren. 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich? Warum wollte Lukaschenko nicht auf die neue Verfassung warten (das Referendum ist für Anfang 2022 angesetzt), um diese Neuerung darin festzuschreiben, warum ändert er das Regierungssystem stattdessen mit solchen Sondermethoden? 

    Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich?

    Allem Anschein nach glaubt Lukaschenko wirklich an diesen Verschwörungsmythos und leidet an einer traumatischen Störung. Es sagt etwas über seinen Geisteszustand aus, dass ihn sogar die Karikatur eines Umsturzes zu hektischem Handeln bewegt, zu verzweifeltem Herumzerren an diversen Regierungshebeln, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Einen Menschen, der sich in einem solchen Zustand befindet, kann man leicht manipulieren – was der KGB offenbar auch tut.

    All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo sich scheinbar alles beruhigt hatte: Die Hauptgefahr für das Regime ist gebannt, der Protest auf ein Minimum heruntergefahren, die Regierung hat die Situation im Lande unter Kontrolle und nichts zu fürchten. Lukaschenko sieht das jedoch anders, wie sich zeigt. Er lebt jeden Tag in Erwartung eines Anschlags auf seine Machtstellung. Nur in so einem Zustand kann man sich solche Dekrete ausdenken. Mit dieser Entscheidung zeigt Lukaschenko, dass die politische Krise im Land noch nicht überwunden ist, auch wenn die Staatsmedien seit Monaten den Sieg verkünden. Aber Sieger verhalten sich anders.

    Verzweifeltes Herumzerren an diversen Regierungshebeln

    Sollte Lukaschenko dem aktuellen Premierminister (Roman Golowtschenko) misstrauen, dann müsste er, so könnte man meinen, einen anderen ernennen, dem er vertraut. Aber nein. Lukaschenko setzt mehr Hoffnung auf ein Kollektivorgan (den Sicherheitsrat) als auf eine konkrete Person. Schon früher hat er mehrfach behauptet, dass man seinem Nachfolger nicht so viel Macht übertragen darf, dass man die Vollmachten des Präsidenten unbedingt auf mehrere Zweige der Staatsgewalt aufteilen muss. Hier gilt die gleiche Logik.

    Doch hier ergibt sich noch ein Problem. Mit dem geplanten Dekret demonstriert Lukaschenko, dass die Verfassung an Geltungskraft verliert. Und wenn das so ist, dann besteht – „wenn es morgen keinen Lukaschenko mehr gibt“ – eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Prozesse unkontrolliert und außerhalb des rechtlichen Rahmens ablaufen werden. Warum geht Lukaschenko davon aus, dass im Sicherheitsrat Entscheidungen per Abstimmung und nicht durch Gewalt getroffen werden? Wenn es kein Gesetz gibt, ist alles erlaubt. Mit dem Verfassungsbruch öffnet Lukaschenko die Büchse der Pandora, und entlässt einen gefährlichen Geist aus der Flasche.

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    Schwarze Flecken im System

    Über sechs Millionen Mal wurde der Film bereits geschaut. Die Rede ist von Solotoje dno (dt. Goldgrube) des belarussischen Aktivisten und Journalisten Stepan Putilo, der mit seinem Telegram-Kanal Nexta die Proteste in Belarus seit dem 9. August 2020 begleitet und geprägt hat. In dem Film, der in seiner Machart an die Videos von Alexej Nawalny erinnert, verfolgen Putilo und sein Team Spuren der systematischen Korruption im Hause Lukaschenko. Es geht um Luxus-Immobilien, dunkle Geschäfte und teure Autos. Man kann ihn als Versuch deuten, den Mythos von Lukaschenko als Antikorruptionskämpfer und ehrlichen Mann aus dem Volk zu zerstören. 

    Zudem zeigt er, wie Aktivisten und Oppositionelle bemüht sind, Lukaschenko und seinen weiterhin rigide agierenden Machtapparat mit unterschiedlichen Mitteln unter Druck zu setzen und aus den Angeln zu heben. Dass die Machtvertikale in Belarus alles andere als stabil zu sein scheint, demonstrieren auch die Ämterrochaden der vergangenen Wochen. Zeigt das System möglicherweise Nervosität? 

    Am morgigen Donnerstag, dem 25. März, begeht die Opposition den traditionellen Tag der Freiheit, den Dsen Woli. Eine offizielle Demonstration in Minsk wird es nicht geben. Die Autoritäten haben eine Genehmigung abgelehnt. Stattdessen kam es in diesen Tagen im ganzen Land zu zahlreichen Festnahmen. So wurden alle 35 Teilnehmer eines belarussischen Sprachkurses inhaftiert. Auch das sind Zeichen dafür, dass Lukaschenko die Opposition sehr ernst nimmt.

    Der Politologe Waleri Karbalewitsch demonstriert in seiner aktuellen Analyse für Swobodnyje nowosti Plus, dass der Machtapparat gegen Attacken nicht so immun ist, wie es manchmal scheint.

    Der Mythos der Unbestechlichkeit

    Es ist nicht so, dass in diesem Film irgendwelche sensationellen Fakten präsentiert werden, von denen niemand etwas wusste. Einem politikinteressierten Publikum ist fast alles, was darin gezeigt wird, schon lange bekannt. Die unabhängigen Medien haben viel über Korruption berichtet.

    Allerdings haben sich im vergangenen Jahr viele Belarussen in die Politik eingeschaltet, die sich früher nicht dafür interessiert haben. Und für diese Menschen ist der Inhalt des Films eine Entdeckung. Für sie sind die weißen Flecken der belarussischen Politik nun zu schwarzen mutiert.

    Doch das Problem der Korruption weist bei uns eine Besonderheit auf. In Russland hat sich Alexej Nawalny mit dem Thema Korruption in der Politik einen Namen gemacht. In Belarus hingegen stand das Problem bis heute nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Protestwelle seit dem 9. August 2020 wurde nicht durch Korruption ausgelöst, sondern durch ganz andere Dinge.

    Korruption gilt in Belarus als etwas ganz Eigenes, weil es Lukaschenko gelungen ist, der Öffentlichkeit ein mythenhaftes System der belarussischen Gesellschaft und seiner eigenen Gestalt zu verkaufen. Es heißt, dieses Modell biete keinen fruchtbaren Boden für Korruption, denn hier habe man einen Staat ohne Reiche errichtet, eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit. Angeblich hätte der volksnahe, ehrliche Präsident in Belarus nicht zugelassen, dass das Volksgut zerhackstückt wird; die Konzerne seien in staatlicher Hand geblieben – nicht die Oligarchen hätten sie sich einverleibt wie in Russland oder der Ukraine. Korruption ist im öffentlichen Bewusstsein in erster Linie an Privatisierung gekoppelt. Und Lukaschenko lässt regelmäßig hiesige Oligarchen einsperren; das hat dem einfachen Volk gefallen.

    Diesem Konstrukt, auf dem Lukaschenkos Image aufgebaut ist, versetzte Putilos Film einen Schlag. Es hat sich gezeigt, dass eine Person mit grenzenloser Macht das Volksgut uneingeschränkt für sich nutzen kann, wenn es keine Kontrolle seitens der Gesellschaft gibt. 

    Die Machthaber haben ihre moralische Autorität bereits mit der Präsidentschaftswahl und den darauf folgenden Ereignissen eingebüßt. Der Film ist gewissermaßen ein weiterer Nagel im Sarg. Er hilft zu zeigen, dass die Korruptionsimmunität des belarussischen Gesellschaftsmodells ein Mythos ist. Und der, der seinem Status nach das moralische Vorbild des Regimes sein sollte, entpuppt sich als Symbol seiner moralischen Krise. Der Film erklärt in gewisser Hinsicht, warum Lukaschenko so sehr an der Macht festhält.

    Ein spezieller Fonds für den Präsidenten

    Als Lukaschenko am 13. März nach der Teilnahme am Minsker Langlauf auf die Fragen der Journalisten antwortete, versuchte er sich zu rechtfertigen. Das gelang ihm nur mäßig. Es fiel ihm nichts Besseres ein, als zum wiederholten Mal an sein verblasstes Image vom ehrlichen Politiker zu erinnern: „Das Schlimmste für mich wäre, euch zu enttäuschen. Ich werde nie etwas sagen und dann etwas anderes tun […], das schwöre ich euch.“ Doch dieses Propaganda-Klischee zieht längst nicht mehr. Und was anderes hat er nicht zu bieten. Die Antwort auf die Frage, wozu ein einzelner Mensch so viele Residenzen braucht (im Film ist die Rede von 18), ist Lukaschenko letztlich schuldig geblieben. Schlimmer noch, er hat die zentrale Idee des Films – die Korrumpiertheit des Regimes – faktisch bestätigt. Seine Skianzüge bekommt er demnach von dem Unternehmer Sergej Teterin geschenkt.

    Aber noch wichtiger ist, dass Lukaschenko zugegeben hat, eine sogenannte eiserne Reserve zu haben, die sich über die Jahre akkumuliert, für den Notfall: „Das Geld, das ich zum Beispiel jetzt in der Pandemie verwende – Boni für Ärzte, den Kauf von dringenden Medikamenten und Ähnliches –, dieses Geld ist nicht im Budget vorgesehen.“

    Die Rede ist von einem besonderen Präsidentenfonds, den Lukaschenko ganz zu Beginn seiner Tätigkeit eingerichtet hat. Dieser Fonds ist in keinem Gesetz vorgesehen und wird vom Präsidenten persönlich verwaltet. Das veranlasste die Presse seinerzeit, über zwei belarussische Budgets zu schreiben – einem Staatsbudget und einem Präsidentenbudget. Aus welchen Quellen sich dieser Fonds speist, ist ungewiss. Unabhängige Medien vermuten, dass das Geld vor allem aus den breit angelegten kommerziellen Tätigkeiten des Präsidialamts stammt. In all den Jahren seit der Gründung des Fonds gab es keinerlei Informationen, keinerlei Rechenschaft über die Verwendung des Geldes oder seiner Menge. Es gab auch keine unabhängige Kontrolle über die Ausgaben.

    In der Vergangenheit sah sich Lukaschenko unter dem Druck der Kritik und unangenehmen Fragen der Presse mehrfach gezwungen, die Existenz eines Schattenbudgets öffentlich einzuräumen. Zum letzten Mal wurde der Fonds während der Präsidentschaftswahl 2006 erwähnt. Damals hatte der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin ihm vorgeworfen, Gelder aus Waffengeschäften veruntreut zu haben, und gefragt: „Wo ist das Geld, Sascha?“

    Jetzt hat Lukaschenko faktisch zugegeben, dass der außerbudgetäre Präsidentenfonds nach wie vor existiert. Und er darin immer noch keinen Korruptionsaspekt sieht. Lukaschenko ist davon überzeugt, dass er das Recht hat, frei über mithilfe von Staatsstrukturen eingenommene Ressourcen zu verfügen, ohne vor jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Und wenn er daraus Mittel für die Bedürfnisse der Gesellschaft entnimmt (wie jetzt, um das Gesundheitssystem zu unterstützen), dann betrachtet er das als Ausdruck seiner Großherzigkeit und Humanität.

    Vertiefung der internationalen Isolation

    Genau zu derselben Zeit musste Lukaschenko einräumen, dass sich das Land in internationaler Isolation befindet. Er stellte fest, dass man bereits beginne, Belarus an allen Fronten zu bedrängen, und erklärte: „Beachten Sie meine Worte: Wir haben keine Freunde in der Welt.“

    So hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Rücktritt Alexander Lukaschenkos von seinem Posten als Chef des belarussischen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) nicht gebührend gewürdigt und die Wahl seines Sohnes Viktor Lukaschenko als seinen Nachfolger nicht akzeptiert. Seinen Worten zufolge forderte das IOC stattdessen, nicht nur den Präsidenten selbst, sondern auch seinen Sohn sowie den Chef des belarussischen Eishockey-Verbands Dimitri Baskow aus dem Nationalen Olympischen Komitee auszuschließen. Das Internationale Olympische Komitee wollte offenbar keine Zugeständnisse an das offizielle Minsk machen und schlug den vorgeschlagenen Kompromiss aus. Das ist eine weitere internationale Niederlage für die Lukaschenko-Familie.

    Gleichzeitig kam es zu Reibereien mit dem Eurovision Song Contest. Die Europäische Rundfunkunion erklärte, dass das Lied Ja nautschu tebja [dt. Ich werde dich lehren – dek], mit dem die belarussische Band Galasy ZMesta das Land beim Wettbewerb vertreten sollte, gegen ihre Regeln verstoße, weil darin politische Motive erkennbar seien. Es besteht die Möglichkeit, dass unser Land von der Teilnahme am Wettbewerb ausgeschlossen wird.

    Das Regime verpuppt sich

    Das Regime reagierte auf diese Angriffe mit einer Verschärfung des Kampfes gegen seine Opponenten, mit der Mobilisierung von Ressourcen sowie der Säuberung des Staatsapparats. Außerdem mit einem künstlich provozierten diplomatischen Konflikt mit den polnischen Nachbarn.

    Als am 11. März Kaderpositionen im Sicherheitsbereich neu besetzt wurden, setzte Lukaschenko neue Akzente bei den Aufgaben der Armee. Aus seinen Worten ist zu schließen, dass die Hauptbedrohung für den Staat jetzt weniger von außen als von innen ausgeht. Folglich muss sich die Armee auf den Kampf gegen den inneren Feind konzentrieren.

    Damit fand die Neuverteilung der Schlüsselposten im Sicherheitsapparat ihren Abschluss, die mit dem Beginn der politischen Krise eingesetzt hatte: Nach dem 9. August 2020 hatte Lukaschenko den Posten des Vorsitzenden des KGB, des Vorsitzenden des Komitees für Staatskontrolle, des Innenministers, des Generalstaatsanwalts, des Vorsitzenden des Zollkomitees und des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Gerichtsgutachten neu besetzt. Der Staatssekretär des Sicherheitsrates wurde zweimal ausgewechselt. Und am 11. März wurden dann schließlich der Vorsitzende des Ermittlungsungskomitees und der Minister für Katastrophenschutz neu ernannt.

    Bemerkenswerterweise gab es bei den Führungsposten der anderen Ministerien und Behörden seit dem Regierungswechsel im Juni letzten Jahres praktisch keine Veränderungen, die bleiben unangetastet. Das alles deutet darauf hin, dass innerhalb der Sicherheitsstrukturen etwas heimlich gärt. Lukaschenko zweifelt an deren Loyalität und wirbelt deshalb wie wahnsinnig die Führungsetagen durch.

    Die Entlassung des Ermittlungskomiteevorsitzenden Iwan Noskewitsch aus dem Amt war absehbar. Medienberichten zufolge hieß es, dass dieser Bereich Lukaschenko am wenigsten Loyalität zollt. Aus dem Zentralapparat des Komitees waren schon zahlreiche Mitarbeiter entlassen worden. Es wundert deshalb eher, dass Iwan Noskewitsch bis jetzt auf seinem Posten saß.

    Sehr bezeichnend ist, dass zum neuen Vorsitzenden des Ermittlungskomitees Dimitri Gora ernannt wurde, der zuvor 26 Jahre lang beim KGB war. Immer häufiger besetzen Generäle des Komitees für Staatssicherheit Schlüsselposten im Staatsapparat.

    Genauso bezeichnend ist, dass der ehemalige Polizeichef der Region Grodno Wadim Sinjawski zum neuen Minister für Katastrophenschutz ernannt wurde. Also niemand aus den Reihen des Katastrophenschutzministeriums selbst, sondern jemand aus einer anderen Sicherheitsbehörde. Vielleicht soll der Katastrophenschutz so mehr für den Kampf gegen Proteste geschärft werden als gegen Feuersbrünste.

    Das Regime verpuppt sich, es wird immer verschlossener, monolithischer und reagiert auf jeden Impuls von außen mit Aggression.

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    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

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    „Wer gehen will, geht leise“

    Warten auf den Tag der Freiheit

    Mit System gegen das System

  • „Belarus wird zum kranken Mann Europas“

    „Belarus wird zum kranken Mann Europas“

    Mittlerweile sind die Massenproteste in Belarus nahezu zum Erliegen gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kälte, Corona, Erschöpfung und die anhaltenden Repressionen. Dennoch gibt es jede Woche dutzende kleinere Protestaktionen im ganzen Land, auf die der Machtapparat Alexander Lukaschenkos weiterhin mit rigorosen Festnahmen reagiert. Zudem geht das System gezielt gegen die Symbolik der Proteste wie beispielsweise der weiß-rot-weiße Flagge vor. Es dürfte klar sein: Das Land befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch nicht absehbar ist. 

    Der bekannte politische Analyst Waleri Karbalewitsch seziert in seinem thesenartigen Beitrag für die Zeitung Swobodnyje nowosti Plus die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, erklärt ihre Bedeutung für das politische System Lukaschenkos und die Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Dynamiken. Dazu wagt er einen Ausblick in die Zukunft.

    1. Der Hauptgrund für den revolutionären Ausbruch ist, dass das belarussische Gesellschaftsmodell, das Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert erschaffen hat, seine Ressourcen aufgebraucht hat und zu einer Bremse für die Entwicklung des Landes geworden ist.
    Innerhalb der belarussischen Gesellschaft hat sich ein großes Protestpotential angestaut, das sich im Sommer 2020 entladen hat. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die eine Situation des „perfekten Sturms“ geschaffen haben. In den 26 Regierungsjahren Lukaschenkos hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich gewandelt. Die Zahl der Menschen, die in privaten Strukturen arbeiten, ist gestiegen. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Belarussen heute eine der marktfreundlichsten Nationen Europas sind.

    2. Der belarussische Frühling ist eine Revolution der wachsenden Erwartungen. Während das Durchschnittseinkommen in Belarus in den letzten zehn Jahren faktisch gesunken ist, sind die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen. Lukaschenko wurde für die meisten Belarussen zum Symbol der Stagnation und der Ausweglosigkeit.

    3. Der Prozess, der in den Staatsmedien als Transformation von Belarus zum IT-Land gezeichnet wurde, hatte unerwartete, weil politische Folgen. Neue Technologien und damit neue Wirtschaftszweige, zum Beispiel die IT-Branche, brachten Arbeitnehmer mit anderen Werten und einem anderen Lebenswandel hervor. Sie beförderten einen Konflikt, einen stilistischen Bruch zwischen denjenigen, die in der digitalen Sphäre mit einer horizontal organisierten Netzkultur leben, und der im Land vorherrschenden autoritären Machtvertikale. Unter anderem führte das zu einer anderen Wahrnehmung der Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik.

    4. Der Machtapparat hat sein Informationsmonopol eingebüßt. Das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke haben das alte Kommunikationssystem des herrschenden Regimes mit der Gesellschaft zerstört. Das war ein wichtiger Faktor für den gesellschaftlichen Aufbruch.

    Das Regime hat seine moralische Autorität verloren

    5. Genau wie die autoritären Herrschaftsmethoden stößt das archaische sozioökonomische und politische System bei den meisten auf Ablehnung. Wir haben eine sich modernisierende Gesellschaft, die Veränderungen und sich vom Staatspaternalismus befreien will, und auf der anderen Seite ein Regime, das den Status quo konserviert. Die Gesellschaft ist über den Staat hinausgewachsen, seine Rahmen sind ihr zu eng geworden. Lukaschenko ist nicht einmal aufgefallen, dass er und das Land in verschiedenen historischen Epochen leben.

    6. Das seit einem Vierteljahrhundert bestehende belarussische Modell basiert nicht auf dem Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institute, sondern auf dem Vertrauen in Lukaschenko. Die Legitimität des Regimes gründete in vielerlei Hinsicht auf dem persönlichen Charisma des Staatsoberhaupts. So führte die Krise des Vertrauens in seine Person zu einer heftigen politischen Krise. 

    7. Das Ergebnis der jüngsten Ereignisse war die Desakralisierung der Macht als solche. Bisher waren in Belarus die staatlichen Institute der einzige Mechanismus, der die Belarussen zu einer Gesellschaft vereinte. Andere Mechanismen wie Nation oder Zivilgesellschaft gab es nicht im vollumfänglichen Sinn. Jetzt weigert sich der Staat, diese einigende Funktion zu erfüllen. Im Gegenteil, die Regierung hat die Gesellschaft ganz bewusst gespalten und einem Großteil der Bürger faktisch einen Bürgerkrieg erklärt. Der Staat ist zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden.

    8. Das Regime hat seine moralische Autorität verloren. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei dem Großteil der Bevölkerung die Illusionen hinsichtlich dessen zerstört, was der Staat Lukaschenkos in Wahrheit ist. Die Belarussen sehen die Macht nun als ungerecht und unmoralisch. Auf diese Weise wurde die belarussische Revolution, genau wie die ukrainische Revolution von 2014, zu einer Revolution der Würde.

    9. Innerhalb weniger Monate, im Eiltempo, hat sich die Gesellschaft enorm entwickelt. Die Philister sind zu Bürgern geworden, mit dem metaphorischen Beinamen die „Unglaublichen“. Das Volk wurde zum politischen Subjekt, das das Regime sich weigert anzuerkennen.

    10. Im Laufe der letzten Monate hat sich in Belarus eine Zivilgesellschaft formiert, horizontale Verbindungen wurden geknüpft. Eine große Infrastruktur der sozialen Bewegung ist entstanden, ganze Häuser und Viertel haben sich zusammengeschlossen und kommunizieren über Chats. Anstelle von staatlich initiierten Korporativen haben sich spontan selbstorganisierte Berufsverbände gebildet. Es gibt Chatgruppen von Medizinern (Die weißen Kittel), Sportlern und so weiter. Dieser Prozess findet zu einem wesentlichen Teil auf den digitalen Plattformen statt, das heißt auf einer postindustriellen Basis.

    Die Proteste haben nicht zu einer Spaltung der Eliten geführt

    11. Der Werdungsprozess der belarussischen Nation ist abgeschlossen. Gewöhnlich formiert sich eine Nation im Kampf gegen einen äußeren Feind (ein Imperium, ein Mutterland). Im Fall von Belarus formierte sich die Nation im Kampf gegen das herrschende Regime – ein weiteres Paradox der belarussischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass traditionelle Symbole zum Symbol der Revolution wurden: die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen.
    Und wir haben in diesen Monaten erstmals gesehen, dass es eine belarussische Diaspora gibt (als Teil der belarussischen Nation), die den Protest aktiv unterstützt.

    12. Das korporative Staatsmodell hat eine Niederlage erlitten. Die Belegschaften von Staatsunternehmen haben sich den Protesten angeschlossen – die stellen ein Schlüsselelement des belarussischen Gesellschaftsmodells und ein wichtiges Kontrollinstrument für die politische Loyalität der Arbeitnehmer dar.


    13.  Der prinzipiell friedliche Charakter des Protests, der im Gegensatz zur ausnehmenden Brutalität des herrschenden Regimes steht, ist ein weiteres Phänomen der belarussischen Revolution. Wenn es gelingt, ein hartes, konsolidiertes politisches Regime auf friedlichem Wege zu besiegen, wäre das eine einzigartige Erfahrung einer demokratischen Transformation.

    14. Die Proteststimmung in der Gesellschaft, der „Aufstand der Massen“, hat allerdings nicht zu einer „Krise der Obrigkeit“, einer Spaltung der Eliten geführt, was nach sämtlichen Theorien eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck des Volkes zu bröckeln beginnt oder auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich nicht erfüllt. Warum?

    a) Weil wir in Belarus ein starkes und konsolidiertes autoritäres Regime haben. Nicht ein einziges staatliches Institut ist vom Volk gewählt, ist dem Volk Rechenschaft schuldig oder untersteht seiner Kontrolle. Alle Institute sind gänzlich unempfänglich für abweichende Gesinnungen. Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems. Es gibt eine feste Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt. Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.

    b) In Belarus ist der Staat in allen Bereichen des öffentlichen Lebens überaus präsent. Er dominiert nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch die soziale Sphäre (Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, Medizin und Bildung), die Medien, die Kultur und so weiter. Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen. Dabei steht die Umsetzung der Repressionen, und nicht die Erfüllung der eigentlichen Funktionen, heute im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsorgane.

    Der Staat wird auf das politische Regime reduziert

    15. Die einzige Antwort des herrschenden Regimes auf die neue Herausforderung ist es, auf nackte Gewalt und präzedenzlose politische Repressionen zu setzen. Alle, die gegen Lukaschenko sind, werden zum Freiwild deklariert. Gesetze gelten für sie nicht.

    16. Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenko versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.

    17. Seit Monaten befindet sich das Land psychologisch im Zustand eines Bürgerkriegs. Und der Krieg ist nicht einmal mehr kalt. Mehrere Menschen wurden getötet, Hunderte waren Prügel und Misshandlungen ausgesetzt, mehr als dreißigtausend wurden verhaftet.

    18. In der Konfrontation des Regimes mit der Revolution gab es einen Komplettausfall der staatlichen Funktionen. Die Staatsorgane haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Die belarussische Außenpolitik ist de facto dabei, zerstört zu werden, das Land verliert seinen internationalen Subjektstatus. Die radikale außenpolitische Kursänderung innerhalb von wenigen Tagen hat eindrücklich gezeigt, dass die Außenpolitik in einem autoritären Regime nicht dem Schutz der nationalen Interessen dient, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck ist, ein Instrument der Macht eines einzelnen Menschen. Mehr nicht.
    Vollständig zerstört sind das Rechtssystem und die Organe der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines intakten modernen Staates unmöglich ist.
    Nach und nach werden im Land Unternehmens-, Kultur- (z. B. das Kupala-Theater) und Sportstrukturen zerstört, die im Verdacht stehen, gegenüber dem herrschenden Regime nicht loyal zu sein. 
    Auf diese Weise entledigt sich der Staat seiner Funktionen und bewahrt nur die, die dem Machterhalt dienen: die Straforgane. Staatliche Institute, die gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen sollen, richten sich auf Selbstbedienung ein, um die eigenen Interessen vor den Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Der Staat wird auf das politische Regime reduziert.

    19. Lukaschenko, der seit einem Vierteljahrhundert als Garant für Stabilität galt, ist paradoxerweise zu einem der Hauptfaktoren für die Destabilisierung des Landes geworden. 

    20. Bisher richtete sich Lukaschenko über den Kopf der staatlichen Institute und der Nomenklatura hinweg an das Volk, dabei fußte seine Alleinherrschaft auf der Unterstützung des Volkes. Jetzt, da die Unterstützung der Gesellschaft weg ist, ist er auf den Staatsapparat angewiesen. Das bedeutet, dass die Rolle, das politische Gewicht der Nomenklatur, zunimmt.

    Eine Niederlage für die letzte postsowjetische Utopie

    21. Das Regime wird zunehmend militarisiert. Die Sicherheitsstrukturen sind zum systembildenden Element des Lukaschenko-Staats geworden. Und sie werden ihren Anteil an der Macht einfordern. Ein Anzeichen für diesen Trend ist die Tatsache, dass Lukaschenko mit dem Beginn des Revolution die Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat neu besetzt hat.

    22. Die belarussische Gesellschaft hat ein tiefes psychologisches Trauma erlitten. Mit diesem Trauma wird auch das Regime leben müssen. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft. In den kommenden Jahren wird sich das Land im Zustand eines posttraumatischen Syndroms befinden.

    23. Die belarussische Revolution hat der letzten postsowjetischen Utopie einen vernichtenden Schlag versetzt. Sie zerstörte ein Projekt, das auf der Illusion beruhte, man könne Fortschritt ohne demokratische Transformation gewährleisten, und zwar indem man die grundlegenden Elemente der sowjetischen Vergangenheit konserviert. 

    24. Die Stärke des Staatsapparats hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben. Aber rohe Gewalt kann weder seine persönliche Legitimität oder die Legitimität des herrschenden Regimes gewährleisten noch die politische Krise überwinden. Der Großteil der Bevölkerung ist Lukaschenko gegenüber äußerst negativ gestimmt, und ihr aktiver Teil demonstriert Bereitschaft, den Protest fortzusetzen. Die Metapher, Lukaschenko sei Präsident des OMON, beschreibt die momentane Situation sehr gut.

    25. Der Überdruss am Autoritarismus à la Lukaschenko hat dazu geführt, dass das Pendel der öffentlichen Stimmung weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Belarus ist reif für eine vollwertige Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie.

    26. Mit den früheren Methoden wird sich Lukaschenko nicht an der Macht halten können. Es entsteht eine Situation, die der Klassiker der Revolutionsliteratur auf die Formel gebracht hat: Die Obrigkeit kann nicht wie einst regieren. Das heißt, um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus notwendigerweise härter und undemokratischer werden als bisher.

    27. Das Ergebnis ist, dass sich im Land zwei entgegengesetzte, auseinanderstrebende Tendenzen zeigen. In den nächsten Monaten werden wir ein noch härteres autoritäres Regime erleben, und auf der anderen Seite eine politisierte, revolutionisierte, in Bewegung gekommene Gesellschaft, die den Geschmack der Freiheit gekostet hat. Der Deckel auf dem brodelnden Kessel gerät immer mehr unter Druck. Das heißt, der Konflikt wird sich zuspitzen und unversöhnlicher werden, die politische Krise wird sich verschärften.

    28. Belarus wird von der Insel der Stabilität in absehbarer Zukunft zum „kranken Mann Europas“ und des ganzen postsowjetischen Raumes werden. Das ist der unausweichliche Preis für ein Vierteljahrhundert lähmender Stagnation.
    Wir können schon heute sagen, dass die belarussische Revolution in die Geschichte eingegangen ist und entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes haben wird. Schließlich geht eine Revolution nie spurlos vorüber. Die belarussische Gesellschaft steht vor großen Veränderungen.         

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  • Alexander Lukaschenko

    Alexander Lukaschenko

    Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

    Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

    Der Weg zur Macht 

    Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
     

    „Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

    Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

    Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

    Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

    Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

    Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

     

    Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

    Machthunger und Gewaltenteilung 

    Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

    Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

    Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

    An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

    Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Die Ideologie des Systems 

    Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

    Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

    Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

    Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

    Gründe für die lange Herrschaft 

    Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

    Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

    Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

    Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

    Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

    Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

    Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

    Der Ego-Kult 

    Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

    Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

    Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

    Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Das Jahr des Umbruchs  

    Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

    Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

    Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
     

    Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

    Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


    1. Imja, 6. November 1997 ↩︎
    2. Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 ↩︎
    3. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 ↩︎
    4. Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 ↩︎
    5. Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 ↩︎
    6. Femida, 22. Januar 1996 ↩︎
    7. Swaboda, 12. November 1996 ↩︎
    8. https://news.tut.by/economics/695690.htm ↩︎
    9. Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram ↩︎
    10. Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 ↩︎
    11. Femida, 1995, Nr. 3 ↩︎
    12. Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 ↩︎
    13. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 ↩︎
    14. Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 ↩︎
    15. Fernsehauftritt am 17. September 2002 ↩︎
    16. Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 ↩︎

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