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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das zynische Spiel mit der Migration

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.  

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk

    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto
    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto

    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

    Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber … 

    In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war. 

    Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“ 

    Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.  

    Das Problem bleibt akut 

    Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar. 

    Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste. 

    Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“ 

    Minsk traut man nicht 

    Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen? 

    Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen. 

    Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden. 

    Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf 

    Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten. 

    Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver. 

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  • Zurück in die Zukunft

    Zurück in die Zukunft

    „Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen. 

    Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago 

    Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig. 

    Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“ 

    Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen. 

    Erinnerungspolitik als grelle Illustration 

    Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:  

    1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft. 

    2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.  

    In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“ 

    Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich. 

    Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung. 

    Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.  

    Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis! 

    Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.  

    Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung. 

    Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. 

    Großteil der Geschichte einfach abgehackt 

    3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.  

    Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.  

    4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet. 

    Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben. 

    Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“ 

    Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.) 

    5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.  

    Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.  

    Nach der imperialen Pfeife 

    6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen. 

    Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden. 

    Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.  

    In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu. 

    In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“ 

    7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben. 

    Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.  

    So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik. 

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  • Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.

    Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.

    Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.

    Der Beamte entscheidet alles 

    1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“

    Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.

    Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.

    Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.

    Der Fisch stinkt vom Kopf her

    Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.

    In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.

    Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.

    Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.

    So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?

    Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.

    Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.

    Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle

    Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.

    Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.

    In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.

    Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.

    Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.

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  • Nikolaj Statkewitsch

    Nikolaj Statkewitsch

    In Belarus bezeichnet der Begriff „politischer Häftling“ heute ein gewöhnliches, profanes, ja alltägliches Phänomen. Darüber staunt niemand mehr. Seit 2020 wurden und werden mindestens 4800 Belarussen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt.

    Doch selbst angesichts dieser Situation gibt es einen, der sich von den anderen abhebt: Nikolaj Statkewitsch ist eine Kultfigur der belarussischen Opposition, ein Veteran des Kampfes für ein demokratisches Belarus. Dreimal wurde er von Amnesty International zu einem Gewissenshäftling erklärt. Auf seine Art ist er ein belarussischer Graf von Monte Christo. Heute befindet er sich wieder hinter Gittern, verurteilt zu 14 Jahren Freiheitsentzug. Er war noch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die schließlich die historischen Proteste nach sich zogen, festgenommen worden. Nikolaj Statkewitsch verkörpert wie kein anderer Anführer der belarussischen Opposition den Typ des unermüdlichen Kämpfers gegen die Diktatur Alexander Lukaschenkos, was ihn zu dessen persönlichem Feind machte.

    Nikolaj Statkewitsch (belaruss. Mikalaj Statkewitsch) wurde 1956 in dem Dorf Ljadno (Kreis Sluzk, Oblast Minsk) in einer Lehrerfamilie geboren. Mit Beginn von Gorbatschows Perestroika gingen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen in die Politik. Statkewitsch kam aus der Armee, als Militärkader. In sowjetischer Zeit war die Karriere als Militär für Kinder aus ländlichen Gegenden ein guter Weg, den sozialen Status zu verbessern. Statkewitsch stand eine glänzende Karriere beim Militär offen. Doch dann kam die Perestroika. Und Nikolaj Statkewitsch als kluger Kopf ging in die Politik, weil er spürte, dass das seine Berufung ist.

    Die wichtigste oppositionelle Kraft jener Zeit war die Belarussische Volksfront (BNF), eine Organisation, die für eine nationale belarussische Wiedergeburt eintrat. Die Volksfront bestand in zweierlei Form, als Partei und als Bewegung. Die damaligen Gesetze untersagten es Militärangehörigen, einer politischen Partei beizutreten. In einer Bewegung jedoch wurde eine Mitgliedschaft nicht festgeschrieben. Die BNF als Bewegung vereinigte unter ihrem Dach sämtliche Gegner des kommunistischen Regimes, von Liberalen bis zu Nationalisten.

    Für Statkewitsch wurde vor allem die belarussische nationale Idee zum wichtigsten politischen Wert, zu dem er sich bekannte. Und von dieser Haltung ist er nie abgerückt. Er wechselte zur belarussischen Sprache und entwarf schon zu sowjetischen Zeiten ein Konzept zum Aufbau einer belarussischen Armee. Anfang 1991 trat er aus Protest gegen den Einsatz sowjetischer Panzer zur Unterdrückung der Demonstrationen in Vilnius aus der KPdSU aus.

    Am 20. August 1991, während des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GKTschP), wurde in Minsk die Belarussische Vereinigung der Militärangehörigen (belaruss. BSW) gegründet, die sich zum Ziel setzte, eine belarussische Armee aufzubauen. Zum Vorsitzenden der Organisation wurde Statkewitsch gewählt. Ihrer Ideologie und den politischen Aufgaben nach stand die BSW der Belarussischen Volksfront nahe. Die nationale BNF hat auf jede erdenkliche Weise die militärische Vereinigung BSW und damit die Arbeit von Nikolaj Statkewitsch unterstützt.

    Nach dem Zerfall der UdSSR und der Gründung der unabhängigen Republik Belarus kam es zu einem heftigen Konflikt zwischen Statkewitsch und der neuen Führung der Streitkräfte des gerade erst entstandenen Staates. Das Verteidigungsministerium reagierte sehr negativ darauf, dass es innerhalb der Armee eine politische Organisation gab mit einer Ideologie, die von den Generälen als radikal nationalistisch betrachtet wurde. Der Verteidigungsminister verlangte von aktiven Militärangehörigen, entweder aus der Vereinigung auszutreten oder den Dienst zu quittieren. Statkewitsch wollte sich diesem Ultimatum nicht beugen und organisierte eine aufsehenerregende Aktion. Am 8. September 1992, dem Jahrestag der bedeutenden Schlacht bei Orscha, schworen Mitglieder der BSW öffentlich auf dem Platz vor dem Haus der Regierung Belarus die Treue. Als Reaktion entließ die Regierung Aktivisten dieser Organisation aus den Sicherheitskräften, darunter auch Statkewitsch. Im Mai 1993, einen Monat vor der geplanten Verteidigung seiner Doktorarbeit, wurde er aus dem Militärdienst in die Reserve entlassen, und zwar mit der Formulierung „wegen Diskreditierung des Offiziersranges“. 1995 verließ Statkewitsch den Posten des BSW-Vorsitzenden, die Organisation verlor ihren Einfluss und wurde fünf Jahre später endgültig aufgelöst.
     

    Nikolaj Statkewitsch (rechts) bei dem von ihm initiierten Treueschwur auf das unabhängige Belarus im Jahr 1992 / Foto © gazetaby.com 

    Und Nikolaj Statkewitsch, den man im demokratischen Milieu bald auf Belarussisch Mikola nannte, wurde jetzt zu einem professionellen Politiker. Er trat der Partei Belarussische Sozialdemokratische Hramada (dt. Gemeinschaft, Gesellschaft) bei. Diese verknüpfte in ihrem politischen Programm zwei Ideen: Nationalismus und Sozialdemokratie. In Belarus waren nämlich in der Zeit des Zerfalls der UdSSR sozialistische Ideen recht populär. Für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung waren Werte wie Gerechtigkeit und soziale Sicherung wichtig. Viele hegten eine Nostalgie für die Sowjetunion. Daher entstanden im Land eine Reihe sozialdemokratischer Parteien, unter anderem die Hramada.

    1995 wurde Statkewitsch zum Parteivorsitzenden gewählt. Dafür musste er sich auf dem Parteitag in einem heftigen Wettstreit gegen den früheren Parteiführer Oleg Trussow durchsetzen. 1996 nannte sich die Partei um in Belarussische Sozialdemokratische Partei (Volks-Hramada) (BSDP NH). Die Partei vertrat sozialdemokratische Ideen mit einer starken Akzentuierung nationalistischer Werte.

    Der Zufall wollte es jedoch, dass Statkewitsch zu dem Zeitpunkt Parteiführer wurde, als Alexander Lukaschenko sein autoritäres Regime aufbaute. Dieser Prozess war mit einer Demontage demokratischer Institutionen und Mechanismen verbunden. Unter anderem wurden die repräsentativen Institutionen wie das Parlament und die Wahlen in eine reine Imitation ihrer selbst verwandelt. Der oppositionelle Teil der Gesellschaft versuchte, sich dem zu widersetzen. Als einziges Mittel des Protests blieben Aktionen auf der Straße (Versammlungen, Demonstrationen, Mahnwachen usw.). Die Regierung reagierte darauf, indem sie diese Proteste rigoros unterdrückte. Die Straßenaktionen waren stets von Zusammenstößen mit der Miliz begleitet. Teilnehmer wurden verprügelt, festgenommen und verurteilt. 

    Dadurch verlagerte sich die politische Auseinandersetzung auf die Straße. Und Politiker, die sich auf die parlamentarische Arbeit konzentriert hatten, wurden von ihrem Tätigkeitsfeld abgeschnitten. In den Vordergrund rückten jetzt Politiker, die einen Kampf auf der Straße anführen konnten. Statkewitsch wurde zur wichtigsten Figur dieser neuen Phase des oppositionellen Widerstands. Das Bild von Statkewitsch als einem Straßen- und Barrikadenkämpfer hat sich tief eingeprägt und wurde im Weiteren für seine politische Biografie bestimmend.

    So war Statkewitsch 1999 einer der Organisatoren des aufsehenerregenden Freiheitsmarsches, der in heftigen Zusammenstößen mit der Miliz endete. Von 1996 bis 2000 wurde gegen Statkewitsch rund 30 Mal Administrativhaft wegen Straßenaktionen verhängt. Drei Mal wurden gegen ihn Strafverfahren eingeleitet.

    Statkewitsch entwickelte ein Konzept, dessen Sinn in folgender Logik bestand: Lukaschenko siegt, weil er das Bild eines starken, coolen Politikers, so einer besonderen Art Macho, bedient. Daher ist er nur durch einen noch cooleren, stärkeren, mutigeren, unbeugsameren und furchtloseren Opponenten zu besiegen. Das war die Rolle, die Funktion, die Statkewitsch erfüllen wollte. Und deshalb wurde er zur wichtigen Symbolfigur der Opposition. In seinem Artikel Die Ethik der Freien schrieb Statkewitsch: „Verrat an der Freiheit durch Lüge und Erniedrigung lässt einen nicht nur beinahe zum Sklaven werden. Es führt allenthalben zu Unfreiheit. Freiheit eröffnet die Chance, sich als Person zu verwirklichen, mit sich selbst in Harmonie zu sein. Die Möglichkeit dazu gibt es immer. Alles hängt nur von eurem Willen und eurem Mut ab, frei zu sein.“1

    Das war auch der Grund, warum Statkewitsch in den Augen von Lukaschenkos Regime die größte Gefahr bedeutete. Schließlich waren es angesichts fehlender Wahlen gerade die Straßenproteste, die für das Regime die wichtigste Gefahr darstellen.

    In dieser Zeit kam es zu zwei Ereignissen, die in demokratischen Kreisen kontrovers diskutiert wurden. Im Jahr 2000 trafen oppositionelle Parteien und Organisationen – darunter die von Mikola geführte Sozialdemokratische Volks-Hramada – gemeinsam die Entscheidung, die Parlamentswahlen angesichts der herrschenden undemokratischen Bedingungen zu boykottieren. Doch dann ignorierte Statkewitsch plötzlich diesen Beschluss, kandidierte in einem Direktwahlkreis und verlor dort, wie zu erwarten. Auch Statkewitsch selbst konnte sein Vorgehen nicht schlüssig erklären.

    2005 löste die Regierung die Sozialdemokratische Volks-Hramada auf. Dem war ein heftiger Konflikt innerhalb der Parteiführung vorausgegangen, in dessen Folge Statkewitsch den Parteivorsitz verlor. Anschließend gründeten Mikola und seine Mitstreiter ein Organisationskomitee zur Gründung der neuen Belarussischen sozialdemokratischen Partei Volks-Hramada. In diesem Zustand eines nicht registrierten Organisationskomitees besteht die Organisation bis heute. Sie ist trotz der fehlenden offiziellen Registrierung die einzige Partei in Belarus, die Teil der Sozialistischen Internationale ist.

    Am 17. Oktober 2004 fanden in Belarus Parlamentswahlen und ein Referendum statt, dessen formales Ergebnis Lukaschenko juristisch die Möglichkeit gab, unbegrenzt oft bei Präsidentschaftswahlen anzutreten. Die Opposition reagierte mit Protestaktionen, die Statkewitsch anführte. Wegen der Organisation dieser friedlichen Demonstration gegen die Fälschung der Referendumsergebnisse wurden Mikola und ein weiterer der Organisatoren, Pawel Sewerinez, dann 2005 zu drei Jahren Haft verurteilt.

    Das war das erste Mal, dass Oppositionsführer wegen Beteiligung an einer friedlichen Aktion zu Freiheitsentzug verurteilt wurden. Bei den Protesten hatte es keinerlei Unruhen oder Zusammenstöße mit der Miliz gegeben. Von den vielen Anklagepunkten, die vor Gericht vorgebracht wurden, blieb de facto nur einer übrig: regelwidriges Überqueren einer Straße an einer nicht dafür vorgesehenen Stelle. Das ist höchstens eine Ordnungswidrigkeit, für die sie übrigens die Strafe bereits verbüßt hatten. Nach der Freilassung widmete sich Statkewitsch wieder intensiv seiner politischen Tätigkeit.

    2010 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Die Regierung entschloss sich dabei zu einer neuen Taktik und ließ die Registrierung von gleich zehn Kandidaten zu. Einer von ihnen war Nikolaj Statkewitsch. Die Regierung erwartete, dass sich die Stimmen der demokratisch gesonnenen Wähler auf die neun oppositionellen Kandidaten verteilen würden und Lukaschenko leicht den Sieg erringt. Diese Taktik gab jedoch den Opponenten des Diktators die legale Möglichkeit, einen Wahlkampf gegen ihn zu führen. Sie hatten unter anderem Zugang zum staatlichen Fernsehen. Statkewitschs Auftritt dort war der heftigste: In einer Livesendung wandte er sich direkt an Lukaschenko, duzte ihn, und verlangte die Wiedereinführung normaler Wahlen im Land.

    Die Präsidentschaftswahlen fanden am 19. Dezember 2010 statt. Am Wahlabend und in der Nacht zum 20. Dezember fand in Minsk eine Protestversammlung mit tausenden Teilnehmern statt. Statkewitsch führte die riesige Marschkolonne zum Haus der Regierung. Im Laufe der Aktion wurden dort Glastüren eingeschlagen. Die Versammlung wurde gewaltsam von Truppen des Innenministeriums und Spezialeinheiten der Miliz aufgelöst. An diesem Abend und in den folgenden Tagen wurden sieben der zehn Präsidentschaftskandidaten von Sondereinheiten festgenommen, darunter Statkewitsch. 

    Während der Untersuchungshaft trat Statkewitsch aus Protest in einen 24-tägigen Hungerstreik, der auf der Intensivstation eines KGB-Krankenhauses beendet wurde. Er weigerte sich, Aussagen zu machen oder Dokumente zu unterzeichnen. Lukaschenko verzieh Statkewitsch diese Dreistigkeit nicht: Am 26. Mai 2011 wurde er zu sechs Jahren Freiheitsentzug in einer Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen verurteilt. Das war die längste Haftstrafe aller damaligen politischen Häftlinge in Belarus, von denen es einige Dutzend gab.
     

    Mikola Statkewitsch nach seiner Freilassung im August 2015 in Minsk / Foto © Tut.by

    2015 änderte sich jedoch die politische Lage. Lukaschenko schlug einen neuen Kurs ein, um die Beziehungen zum Westen aufzutauen. Die Freilassung der politischen Häftlinge war dabei eine der Bedingungen, die die USA und die EU an Minsk gestellt hatten. Also wurde Statkewitsch aufgrund eines Gnadenerlasses von Präsident Lukaschenko vorzeitig entlassen. Er kam zu einem Zeitpunkt frei, als die belarussische Gesellschaft im Schock der Ereignisse in der Ukraine gefangen war. Während des zweiten Maidan waren rund 100 Menschen ums Leben gekommen; die militärische Aggression Russlands hatte mit der Besetzung der Krim und des Donbass begonnen. Infolge dieser Ereignisse festigte sich in der belarussischen Gesellschaft eine Furcht vor Protestaktionen auf der Straße. Diese wurde von der staatlichen Propaganda weiter angefacht, die der Bevölkerung mit Verweisen auf den „blutigen Maidan“ Angst einjagte. Für eine gewisse Zeit verzichtete die Opposition auf Aufrufe zu Straßenprotesten. Die Präsidentschaftswahlen 2015 waren die einzigen Wahlen in Belarus unter Lukaschenko, bei denen es nicht zu Straßenaktionen kam.

    Statkewitsch versuchte, diese Stimmung aufzubrechen. Er warf den damaligen Oppositionsführern sogar Kapitulationsneigungen vor und organisierte Aktionen mit nur wenigen Teilnehmern. Es war jedoch schwierig, die Stimmung in der Gesellschaft umzukehren. Bald machte die Regierung allerdings etwas, was die unabhängigen Medien einen „Schuss ins eigene Knie“ nannten: Lukaschenko unterzeichnete den sogenannten „Schmarotzer-Erlass“, durch den Bürger, die nicht offiziell arbeiten, die Kommunalabgaben in voller Höhe zahlen sollten. Über eine halbe Million Menschen erhielten Bescheide, dass sie „Schmarotzer“ seien. Und da betrat Statkewitsch die politische Bühne. Auf seine Initiative hin zog am 17. Februar 2017 ein „Marsch der erzürnten Belarussen“ durch das Stadtzentrum von Minsk, die gegen Lukaschenkos Erlass protestierten. An ihm beteiligten sich 2000 bis 3000 Menschen. Eigentlich nicht viele. Doch bedeutete der Marsch die Überwindung des Maidan-Syndroms, einer psychologischen Schwelle, der Angst vor Straßenprotesten. Der Marsch in Minsk setzte eine Kettenreaktion in Gang. In ganz Belarus kam es zu Versammlungen und Märschen empörter Menschen. Die Regierung war genötigt, zur Unterdrückung dieser Proteste sämtliche Einheiten des Innenministeriums loszuschicken. Letzten Endes war Lukaschenko gezwungen, seinen Erlass praktisch zurückzunehmen. Die Gesellschaft hatte gesiegt, was in Belarus äußerst selten vorgekommen ist. Statkewitsch musste allerdings etliche Male eine Administrativhaft absitzen.

    Dann folgte das für Belarus schicksalhafte Jahr 2020. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen wachte die Gesellschaft auf, wurde sehr aktiv und machte deutlich, dass sie Kandidaten unterstützen würde, die eine Alternative zu Lukaschenko darstellen. Gemäß dem Gesetz konnte Statkewitsch nicht bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren, weil seine Vorstrafe noch nicht abgelaufen war. Er bereitete sich aber vor und setzte große Hoffnungen auf Proteste der Bevölkerung. „Ich denke, es gibt einige, die bereit sind, sich an die Spitze der Prosteste zu stellen. Aber ich werde alles tun, um selbst bis zu diesem Platz der Proteste zu gehen und das zu tun, was das belarussische Volk von uns erwartet“2, schrieb er.

    Immer mehr Aktivisten sammelten Unterschriften für oppositionelle Kandidaten. Allen war klar, dass das Land kurz vor einer Eruption stand. Das war auch der Regierung bewusst. Also wurden Präventivmaßnahmen beschlossen. Politiker, die Organisatoren und Kristallisationspunkte von Protesten werden konnten, sollten neutralisiert werden. Also wurden Sergej Tichanowski, Nikolaj Statkewitsch, Pawel Sewerinez und andere verhaftet. Statkewitsch wurde am 31. Mai auf dem Weg zu einem Stand festgenommen, an dem Unterschriften für die Nominierung von Swetlana Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin gesammelt wurden. Zunächst kam er für 15 Tage in Haft. Später wurde die Haft zweimal verlängert, und am 29. Juni 2020 wurde gegen den Oppositionellen ein Strafverfahren wegen der Vorbereitung von Massenunruhen eröffnet.

    Der Gerichtsprozess begann am 24. Juni 2021. Zusammen mit Nikolaj Statkewitsch waren die bekannten Blogger Sergej Tichanowski und Igor Lossik, dazu die beiden Mitarbeiter von Tichanowski, Artjom Sakow und Dmitri Popow, angeklagt. Formal mutete das wie ein Prozess gegen eine kriminelle Vereinigung an. Es störte die Regierung dabei keineswegs, dass viele der Beschuldigten sich gar nicht kannten. Die Verhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, und zwar nicht in der Hauptstadt, sondern in Gomel im dortigen Untersuchungsgefängnis.

    Interessant ist, wie die Ermittler es begründeten, dass diese Personen „Massenunruhen“ vorbereitet haben sollen. Damit bezeichnet die Regierung die massenhaften und – das ist besonders zu betonen – friedlichen Proteste im Jahr 2020. Die Sache ist nur, dass die tatsächlichen „Unruhen“ mit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 begannen. Und Statkewitsch war ja am 31. Mai verhaftet worden, also über zwei Monate vor Beginn dieser Proteste. Am 14. Dezember 2021 schließlich wurde Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

    Die Bedingungen des Strafvollzugs sind für politische Häftlinge aktuell sehr viel härter als früher. Menschenrechtler setzen sie jetzt mit Folter gleich. In nur einem Jahr in der Strafkolonie von Glubokoje hat Statkewitsch 36 Verweise erhalten, darunter 14 Aufenthalte in der Strafzelle. Die Regierung hat um Statkewitsch herum eine Informationsblockade errichtet. Den letzten Brief von ihm hat seine Frau am 9. Februar 2023 erhalten.

    Ende 2021 hatte Mikola noch einen Brief aus dem Gefängnis nach draußen übergeben können, in dem er seine politische und Lebensphilosophie darlegte: „Am Ende des Lebens, falls man sich das Denken bewahrt hat, fragt man sich: Wozu habe ich gelebt? Die Antwort fällt leichter, wenn ihr mit eurem Handeln die Welt, und sei es nur die Welt um euch herum, erheblich besser gemacht habt“3.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


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  • Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    1450 politische Häftlinge hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna mittlerweile in Belarus registriert. Die Zahl steigt seit dem Jahr der historischen Proteste unaufhörlich. Die Dunkelziffer dürfte, davon gehen Experten aus, noch wesentlich höher liegen. Viele sehen davon ab, sich offiziell als „politischer Häftling“ führen zu lassen, da dies Repressionen für Freunde und Angehörige nach sich ziehen könnte. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen also nach wie vor gegen jeglichen Widerstand vor und versuchen, diesen bereits im Keim zu ersticken. 

    Das Ausmaß der Proteste vor zwei Jahren scheint Lukaschenko derart getroffen zu haben, dass er alles dafür tut, eine weitere Eruption von Proteststimmung mit aller Gewalt zu verhindern. Deswegen soll das System auch auf die Zeit nach Lukaschenko vorbereitet und in seinen autoritären Strukturen gestärkt werden. Wie das aussehen kann und welche Tücken damit verbunden sind – das analysiert Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus

    Lukaschenko hat eine Sitzung zu Gesetzentwürfen abgehalten, die Korrekturen im staatlichen Verwaltungssystem vorsehen. Die Sitzung war begleitet von langen und konfusen Ausführungen, in denen er versuchte, den Sinn und Zweck der Neuerungen zu erklären. Aus diesen widersprüchlichen und wenig konkreten Äußerungen war der Inhalt seiner Ideen nur schwer zu erahnen. Man kann nur vermuten, dass er das autoritäre System auch im Falle seines Ausscheidens aus dem Amt aufrechterhalten sehen will. Damit seine persönliche Sicherheit, die Sicherheit seiner Familie und seines engsten Kreises gewährleistet ist.

    Er erklärt das folgendermaßen:

    „Heute sind wir da. Morgen vielleicht auch. Aber übermorgen definitiv nicht. Also müssen wir eine Basis schaffen, Stabilität … Damit das System robust ist und niemand daran rütteln kann. Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Wir werden uns aus dem aktiven Geschehen zurückziehen, aber wir werden weiterleben und beobachten, wie sich das Land entwickelt … Meine Aufgabe ist es, der neuen Generation ein vernünftiges System zur Verwaltung von Staat und Gesellschaft zu hinterlassen. Das ist der Sinn.“

    Ein Charakterzug von Lukaschenkos politischem Stil ist es, Dinge zu sagen, indem er sie verneint. Wenn er etwas strikt ablehnt, ist es vermutlich genau das, was er will. Und auch jetzt hören wir:

    „Auf keinen Fall sollte man diese Gesetzentwürfe und Gesetze auf sich selbst beziehen: ‚Wo werde ich morgen sein, wo wird Golowtschenko, Andreitschenko oder Kotschanowa, Sergejenko sein und so weiter.‘ Auf gar keinen Fall! Wir müssen davon Abstand nehmen und die Gesetze für morgen machen.“

    Ja, so haben sich das alle gedacht.

    Die Macht soll einer herrschenden Nomenklatura gehören

    In Lukaschenkos Vorstellung soll das politische Regime der Zukunft kein Regime der persönlichen Macht sein. Deshalb sieht die neue Verfassung vor, dass im Falle des Ausscheidens des Präsidenten seine Befugnisse nicht auf den Premierminister übergehen, wie das bei der alten Verfassung war, sondern auf den Vorsitzenden des Rates der Republik. Weil der Regierungschef nach Ansicht Lukaschenkos seine Macht missbrauchen könnte. Lukaschenko sagt:

    „Stellen Sie sich vor, der Premierminister führt nach dem Ausscheiden des Präsidenten Präsidentschaftswahlen durch, was dann seine Aufgabe ist. Das Budget, die Wirtschaft, die Finanzen und so weiter – alles ist in einer Hand. Richtig? Richtig. Das Ergebnis wäre in jeder Demokratie recht vorhersehbar … Das ist doch wahrscheinlich nicht ganz korrekt. Es muss schließlich ein System von Checks and Balances, von Machtgleichgewicht geben …“

    Aber andererseits will Lukaschenko die Macht auch nicht dem Volk geben und die Bürger die Regierungsorgane in freien Wahlen selbst wählen lassen. Genau deshalb hat er sich überlegt, dass das nicht gewählte Organ Allbelarussische Volksversammlung als oberste staatliche Instanz eingesetzt werden soll.

    Mit anderen Worten, eine Art hybrides Regime, bei dem die Macht nicht – so wie bisher – einer Person gehört, sondern einer herrschenden Nomenklatura, die sich auf verschiedene Institute verteilt, die völlig unabhängig vom Volk agieren. Also eine Diktatur ohne allmächtigen Diktator.

    Eine komplexe und schwierige Aufgabe. Denn es ergibt sich sofort eine Reihe von Problemen.

    Erstens zeigt die Erfahrung weltweit, dass das Ausscheiden des Diktators in personalistischen Regimen normalerweise eine politische Krise auslöst. Weil es keine echten Mechanismen der Machtübergabe gibt.

    Das Hauptproblem besteht darin, dass die grundlegenden Staatsinstitute in derartigen Systemen nicht funktionieren. In Belarus existieren die Nationalversammlung mit ihren zwei Kammern, das Verfassungsgericht und die normalen Gerichte nur als Dekoration. Dasselbe kann man über die Allbelarussische Volksversammlung sagen. Auch die Regierung arbeitet exakt in dem von Lukaschenko vorgegebenen engen Rahmen. Und zu erwarten, dass diese atrophierten Institute bei Lukaschenkos Abgang plötzlich zum Leben erwachen und anfangen zu funktionieren, ist ein wenig naiv.

    Als ob das nicht genug wäre, fügt Lukaschenko dieser kaputten Maschine ein weiteres Element in Form der Volksversammlung hinzu. Damit wird das simple, einer Deichsel vergleichbare System der Alleinherrschaft übermäßig verkompliziert. Ein autoritäres Regierungsmodell kann naturgemäß nicht komplex sein. Komplex, vielschichtig, mehrstufig und pluralistisch sind demokratische Systeme. Aber der Autoritarismus muss homogen, eindeutig und mit starren hierarchischen Mechanismen ausgestattet sein, die nach dem Motto funktionieren: „Ich Chef – du Idiot.“

    Wichtig ist der Hinweis, dass die Volksversammlung im Prinzip nicht dazu gedacht war, einen Staat zu verwalten. 1200 Menschen, die sich einmal im Jahr versammeln, sind nicht nur nicht in der Lage, irgendwelche wichtigen Entscheidungen zu treffen, sie können nicht einmal ernsthafte staatspolitische Fragen erörtern. Alle sechs bisherigen Volksversammlungen dienten lediglich dazu, vorgefertigte Dokumente durchzuwinken. Es ist per Definition unmöglich, dieses dekorative Institut in ein echtes Regierungsorgan zu verwandeln. Das einzige, wozu die Volksversammlung dank ihrem neuen Status fähig ist, ist es, das Verwaltungssystem endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das auch so aus dem Gleichgewicht geraten wird, sobald der zentrale Pfeiler weg ist: der Alleinherrscher.

    Hier sollten wir uns an die Erfahrung aus Gorbatschows Perestroika erinnern. Der schlanken und einfachen sowjetischen Ordnung wurden Elemente eingepflanzt, die für sie schädlich waren. In die Planwirtschaft wurde das Virus der Rentabilität, der Eigenfinanzierung und unternehmerischen Selbstverwaltung eingeschleppt. In das totalitäre politische System unter der Führung der KPSS – das Virus der Glasnost. Aus heutiger Sicht scheinbar ganz harmlose Dinge. Aber in der Folge ist das System nach kürzester Zeit zusammengebrochen.

    Ich wage die Prognose, dass Lukaschenko sich eigenhändig eine Mine in sein neu geschaffenes System legt. Denn das kann nur so lange funktionieren, wie er selbst an der Macht bleibt.

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  • Im Wendekreis des Nobelpreises

    Im Wendekreis des Nobelpreises

    Alexander Lukaschenko behauptet seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder, dass die Ukraine und auch die NATO einen Angriff auf Belarus planen würden. Genau dies hat der belarussische Machthaber nun auch vordergründig angeführt, um die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland auf den Weg zu bringen. Mittlerweile sollen bereits rund 9000 russische Soldaten in Belarus angekommen sein. Die neu geschaffene Einheit soll an der Grenze zur Ukraine stationiert werden. Zudem laufen Vorbereitungen, den Zivilschutz zu bewaffnen und Bunkeranlagen im ganzen Land auszurüsten. Auch gibt es immer wieder Hinweise, dass Lukaschenko doch planen könnte, seine Armee aufzustocken. In den vergangenen Wochen hat die Staatsführung auch immer wieder Treffen mit seinen Sicherheitsbehörden abgehalten. Trotz dieser Drohgebärden hat Lukaschenko immer wieder dementiert, in den Krieg gegen die Ukraine mit eigenen Truppen aktiv eingreifen zu wollen. Könnten diese Entwicklungen jedoch ein Hinweis darauf sein, dass Putin und seine Armee den Druck auf den widerwilligen Nachbarn erhöht haben, um ihn doch zum Eingreifen zu zwingen? In jedem Fall sind dies alles auch Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Macht durch den Kreml offensichtlich untergraben und damit ausgehöhlt wird.

    Wie souverän kann der belarussische Machthaber überhaupt noch agieren? Ist er mittlerweile ein Getriebener der Umstände, in die er sich vor allem seit 2020 selbst manövriert hat? Was bedeutet dies für die Unabhängigkeit von Belarus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich der belarussische Politanalyst Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus. Dies tut er vor dem Hintergrund der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises, der unter anderem an den belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki geht – dem als Häftling Lukaschenkos eine besondere Rolle im Spiel um die Macht zufallen könnte.

    Beinahe unbemerkt ging das in diesem Jahr achte Treffen von Lukaschenko und Putin über die Bühne. Diesmal in Sankt Petersburg, am Rande eines informellen GUS-Gipfeltreffens, das zeitlich mit Putins 70. Geburtstag abgestimmt worden war. Die eher ephemere GUS hat als Organisation ihre Bedeutung längst eingebüßt. Und um die Oberhäupter der postsowjetischen Staaten zu versammeln, muss Moskau erfinderisch werden. So werden die Präsidenten der GUS-Länder zu Feierlichkeiten eingeladen, etwa zum Tag des Sieges. Und die werden dann zu informellen Gipfeltreffen erklärt. Jetzt haben sie sich also ausgedacht, Putins runden Geburtstag als Anlass zu nehmen. Womit eine Absage wie eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem russischen Präsidenten aussieht. (Diesmal sind übrigens die Präsidenten von Kirgistan und Moldau nicht angereist.)

    Die Gespräche zwischen Lukaschenko und Putin dauerten rund eine Stunde. Vermutlich war es eine Fortsetzung ihrer kürzlich nicht zu Ende gebrachten Diskussion in Sotschi. Inzwischen ist etwas für die belarussisch-russischen Beziehungen sehr Wichtiges passiert: Moskau hat Belarus für seine Verluste durch das russische Steuermanöver eine Kompensation in Form einer „Rückerstattungsakzise“ für belarussische Raffinerien zugesagt. 

    Im Gegenzug stimmte Minsk einer Vereinheitlichung der Steuergesetze mit Russland zu, wogegen sich die belarussische Führung jahrelang gewehrt hatte. Aus einer Reihe von Gründen: Erstens bedeuten jegliche Veränderungen im Steuersystem eine Erschütterung wirtschaftlicher Subjekte und der Wirtschaft insgesamt. Zweitens ist anzunehmen, dass die Steuergesetze nach russischem Vorbild vereinheitlicht werden. Dass Russland seine Steuern an die belarussischen Bestimmungen anpasst, ist schwer vorstellbar. All das bedeutet, dass Belarus der Möglichkeit beraubt wird, selbständig seine eigenen Steuern für die steigenden Preise und Akzisen zu erheben. Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Souveränität eines jeden Staates. Zugunsten Russlands gibt Belarus diese jetzt auf. Außerdem wird ein supranationaler Ausschuss für Steuerangelegenheiten eingerichtet, der diesen ganzen Prozess beobachten und kontrollieren soll. Wodurch Russland auf die gesamte Steuerdatenbank von Belarus, auf alle belarussischen Steuerzahler, Zugriff erhält. Der Preis dafür sind 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, die Belarus von Russland als Kompensation für das Steuermanöver erhält. Für den Verzicht auf einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Souveränität ist das nicht viel.

    Vor einem Jahr, als von den Bündnispartnern 28 Programme der wirtschaftlichen Integration beschlossen wurden, wurde ihr Inhalt von Experten diskutiert. Viele waren der Meinung, sie seien nichts als leere Deklarationen. Möglicherweise wäre es dabei auch geblieben, wäre es nicht zum Krieg und einer verschärften internationalen Isolierung von Belarus gekommen. Jetzt aber, angesichts dieser Verflechtungen, opfert Lukaschenkos Regime im Kampf ums Überleben Stück für Stück immer mehr Teile seiner staatlichen Souveränität.   

    Der Kampf um die Preise

    Am 6. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zum Thema Preispolitik und Inflation ab. Am selben Tag unterschrieb er die Direktive Nr. 10 „Über die Unzulässigkeit von Preiserhöhungen“, in der festgelegt ist, dass Personen, die die Forderungen dieses Dokuments missachten, zur Verantwortung zu ziehen sind bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung.

    Das Thema Preise ist in Belarus seit Lukaschenkos Amtsantritt aktuell. Seine gesamte Regierungszeit hindurch kämpft er gegen die Preissteigerungen. Doch mit sehr kümmerlichen Ergebnissen. Die Inflationsrate in Belarus war in den letzten 30 Jahren eine der weltweit höchsten. Dass diese Direktive in wirtschaftlicher Hinsicht sinnlos ist, ist klar. Längst ist bewiesen, dass der Kampf gegen die Preiserhöhungen mit administrativen Methoden nicht effektiv ist. Weil er mehr Schaden als Nutzen bringt und zur Warenverknappung und Zerstörung der Unternehmensstrukturen führen kann. Zudem ist die Inflation heute ein globales Problem – eine Folge der Covid-Pandemie und der wachsenden Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine

    Zweifellos ist der Erlass dieser Direktive ein politischer Akt. Den Lukaschenko schon oft unternommen hat: Es ist ein Versuch, zum Wirtschaftspopulismus zurückzukehren. Doch in den letzten Jahren ist im Land zu viel passiert, als dass er mit so primitiven Tricks sein Image aufbessern könnte. Man sollte hier aber auch beachten, wie konsequent Lukaschenko auf eine Mobilmachungsökonomie setzt. Es herrscht ein Kampf gegen das Unternehmertum, die Arbeitsbedingungen für Gewerbetreibende und für Anbieter im Agrotourismus werden immer schlechter. Lukaschenko ordnete die Mobilisierung von Studenten und Schülern für die landwirtschaftliche Arbeit an, verlangte ein Verbot der freien Wohnsitzwahl innerhalb des Landes für Verwaltungsbeamte und Fachkräfte. Denn das Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Marktwirtschaft eine sozialpolitische Schicht hervorbringt, die für den Fortbestand der Diktatur eine echte Bedrohung darstellt. 

    Der zweite belarussische Nobelpreis

    Vor zehn Jahren noch hätten die Belarussen nicht einmal davon träumen können. Aber heute haben sie den zweiten Nobelpreisträger innerhalb von sieben Jahren. Der prominente Menschenrechtler Ales Bjaljazki wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gewissermaßen erfährt die Welt dank des Nobelpreises von Belarus.

    Der Sprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, ließ sogleich verlauten, dass der Friedensnobelpreis politisiert worden sei. Ein seltsamer Vorwurf. Denn von allen Nobelpreisen ist er der einzige, mit deutlich politischem Subtext. Wie soll man schließlich außerhalb des politischen Raums für Frieden kämpfen? Krieg und Frieden sind die zentralen politischen Herausforderungen der Gegenwart. Daher kann ein Friedenspreis per se nicht unpolitisch sein.    

    Der Krieg in der Ukraine spielte in diesem Jahr eine wichtige Rolle bei der Nominierung, wie auch die Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, bestätigte. Den Friedenspreis zu vergeben und dabei diesen großen Krieg in Europa seit 1945 zu ignorieren, der die ganze Welt erschüttert, wäre unlogisch. Die Preisträger mussten irgendwie damit zu tun haben. Andererseits: Während dieses erbarmungslosen Krieges Kandidaten für einen Friedensnobelpreis zu finden, ist nicht gerade einfach.

    Das Nobelkomitee entschied sich gegen eine Auszeichnung von Politikern, obwohl unter den Nominierten auch Wolodymyr Selensky, Alexej Nawalny und Swetlana Tichanowskaja waren. Die Lösung war, den Preis an Menschenrechtler bzw. Menschenrechtsorganisationen der drei am Krieg beteiligten Länder zu vergeben – was in der Ukraine für Unmut sorgte: Warum werden Vertreter der angreifenden Länder genauso ausgezeichnet wie jene, die die Opfer der Aggressionen repräsentieren?

    Während in Russland und der Ukraine Organisationen geehrt wurden (Memorial und Center for Civil Liberties), fiel die Wahl in Belarus auf eine konkrete Person: Ales Bjaljazki. Obwohl man auch da das Menschenrechtszentrum Wjasna hätte auswählen können, dessen Leiter der belarussische Preisträger ist. Vermutlich wurde diese Entscheidung von mehreren Faktoren beeinflusst: Vor allem ist daran zu erinnern, dass Ales Bjaljazki schon fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert war. Das heißt, er hatte diesbezüglich eine lange Geschichte. Der zweite wichtige Faktor war, dass Bjaljazki derzeit zusammen mit seinen Wjasna-Anhängern hinter Gittern sitzt. Noch dazu bereits zum zweiten Mal. Jetzt „winkt“ ihm eine saftige Lagerhaft (die Verhandlung liegt noch vor ihm). Er ist als politischer Häftling und Gewissensgefangener anerkannt.

    Zudem sei darauf verwiesen, dass dieser Nobelpreis für Belarus ein Nachhall des Kataklysmus von 2020 ist. Die damaligen Proteste waren eine Zeitlang das größte Medienereignis weltweit. Daher kann man es auch so sehen, dass diese Auszeichnung jene Zehn- und Hunderttausende Belarussen erkämpft haben, die vor zwei Jahren monatelang auf die Straße gingen. Der Preis für Bjaljazki, der hinter Gittern sitzt, sollte die internationale Aufmerksamkeit auf die über tausend politischen Häftlinge in Belarus lenken.

    Was die Reaktion der Regierungen betrifft: Viele meinten, das Nobelkomitee bringe mit dieser Auswahl das belarussische Regime in eine schwierige Situation. Nach dem Motto: Es sei ihm unangenehm, dass sich ein Nobelpreisträger in Haft befindet. Aber auch eine Entlassung wäre peinlich, denn das würde ja aussehen, als ließe Lukaschenko sich von der internationalen Gemeinschaft moralisch unter Druck setzen. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht ist aber auch alles viel einfacher.

    Denn Lukaschenko hat plötzlich einen sehr wichtigen politischen Gefangenen. Den kann er als teure Ware einsetzen und vom Westen ein stattliches Lösegeld verlangen.

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  • Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von Personen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko versuchten die Proteste, die im ganzen Land stattfanden, mit Gewalt und Folter einzudämmen, was allerdings zunächst immer mehr Menschen auf die Straßen trieb. Im Lauf der Zeit gelang es den belarussischen Silowiki, mit scharfen Repressionen den Widerstand zu brechen. Journalisten, Medien, Aktivisten und einfache Bürger wurden außer Landes getrieben, rund 500 NGOs verboten. Die Festnahmen und Aburteilungen dauern bis heute an. Die Men­schen­rechts­orga­nisation Wjasna geht von rund 1300 politischen Gefangenen im Land aus.

    Lebt der belarussische Protest überhaupt noch? Was passiert in der Opposition, die ebenfalls ins Exil musste? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Glaubt Lukaschenko, dass er den Widerstand seiner Gegner gebrochen hat oder fürchtet er eine neue Protestwelle? In einem Bystro mit acht Fragen und Antworten erklärt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch die aktuelle Lage.

    Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    1. Kann man sagen, dass die Protestbewegung in Belarus tot ist?

    Ich würde sagen, die Protestbewegung ist eher eingeschlafen als „tot“. Die Mehrheit der Bevölkerung steht der Regierung nach wie vor kritisch gegenüber. Aber das mündet nicht in aktives Handeln und Aktionen. In Belarus existieren keine legalen Mechanismen, mit deren Hilfe die Bevölkerung ihre Meinung äußern könnte. Heute herrscht in Belarus wieder ein totalitäres System. Und im Totalitarismus sind öffentliche Proteste ein seltenes Phänomen.

    Zudem beobachten wir seit zwei Jahren eine politische Massenemigration aus Belarus. Mehr als 100.000 Menschen haben das Land verlassen. Das heißt, der Großteil der Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, ist bereits emigriert. Im Übrigen werden Proteste dann massenhaft, wenn die Hoffnung besteht, das politische System ändern zu können. 2020 gab es diese Hoffnung, jetzt gibt es sie nicht.

    2. Welche Rolle spielt die neue Diaspora in der Demokratiebewegung?

    2020 ist die belarussische Diaspora erstmals als politischer Faktor in Erscheinung getreten. In den vergangenen zwei Jahren ist sie um ein Vielfaches angewachsen, es sind viele Aktivisten der Protestbewegung hinzugekommen. Sämtliche Zentren der belarussischen Opposition, allen voran das Büro von Swetlana Tichanowskaja, befinden sich im Exil. Man kann sagen, dass sich das oppositionell-gesellschaftliche Leben ins Ausland verlagert hat, weil in Belarus keine legale oppositionelle Tätigkeit möglich ist.

    Im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten der Diaspora, auf das politisch-gesellschaftliche Leben im Land einzuwirken, wesentlich zugenommen. Die belarussischen politischen Diskussionen finden heute auf Plattformen außerhalb des Landes statt. Das sind Medien, soziale Netzwerke, Think-Tank-Foren, Telegram-Kanäle und so weiter.

    Auf der anderen Seite ist klar, dass der Einfluss der Diaspora auf das politisch-gesellschaftliche Leben innerhalb des Landes seine Grenzen hat. Jedwede Veränderungen können nur im Land selbst passieren. Der Einfluss von außen kann nur ein zusätzlicher Faktor sein.

    3. Wie hat sich der Krieg auf die Protestbewegung ausgewirkt? 

    Am 27. Februar 2022, dem Tag des Referendums über die Verfassungsänderungen, und am 28. Februar gab es Proteste. Etwa 1000 Menschen wurden an diesen zwei Tagen festgenommen. In diesen ersten Tagen nach Kriegsbeginn war die Angst groß, dass die belarussischen Streitkräfte in den Krieg auf ukrainischem Boden eintreten würden. Aber das ist nicht passiert, und der öffentliche Protest ist verebbt.

    Die Protestbewegung hat andere Formen angenommen:

    1. Ein Teil der belarussischen Aktivisten ist in die Ukraine gegangen. Sie haben das Kalinouski-Regiment gegründet, das im Krieg für die Ukraine kämpft.

    2. Ein anderer Teil (die sogenannten Partisanen) führt Sabotageakte auf dem Schienennetz durch, um die Fortbewegung der russischen Militärzüge durch Belarus zu verhindern.

    3. Die Opposition hat den Telegram-Kanal Belaruski Hajun ins Leben gerufen, auf dem Informationen über die Bewegungen der russischen Militärtechnik und das Abfeuern von Raketen von belarussischem Staatsgebiet aus veröffentlicht werden.

    Insgesamt kann man sagen, dass sowohl bei den Gegnern als auch den Anhängern Lukaschenkos eine Radikalisierung stattfindet. Die Befürworter des Regimes fordern drastischere Strafen für die Opponenten. Aber sie sind nur im Internet aktiv, in sozialen Netzwerken. Offline sind sie hilflos und verlassen sich ausschließlich auf die Regierung. Die zahlreichen Organisationen, die das Regime geschaffen hat (offizielle Gewerkschaften, die Jugendunion BRSM, die Belaja Rus, die Frauenunion, die Veteranenvereinigung und so weiter) waren auf dem Höhepunkt der Krise 2020 völlig paralysiert. Ihre staatliche Natur macht diese Strukturen unfähig zu Eigeninitiative. Selbst Lukaschenko sagte, dass sie zu nichts taugen.

    4. Welche Erfolge hat das Team von Swetlana Tichanowskaja zu verzeichnen?

    Swetlana Tichanowskaja bleibt die legitime Repräsentantin der belarussischen Demokratie, das Symbol für die Alternative. Ihre Haupterfolge erzielte sie auf internationaler Bühne. Faktisch ist Tichanowskajas Büro zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.

    Dank des aktiven Einsatzes von Tichanoswkajas Team hält sich das Thema Belarus auf der internationalen Tagesordnung. Es nimmt teilweise Einfluss auf die Sanktionspolitik des Westens gegen das Lukaschenko-Regime. Außerdem repräsentiert das Tichanowskaja-Büro die Interessen der belarussischen Diaspora. Allerdings ist der Einfluss auf die innenpolitischen Prozesse in Belarus relativ gering.

    Aber auch die Konkurrenz innerhalb der belarussischen Opposition nimmt zu. Tichanowskajas Opponenten machen sich die nachvollziehbare Unzufriedenheit der belarussischen Protestbewegung zunutze. Seit Beginn der Proteste sind zwei Jahre vergangen, es gibt keine Ergebnisse, die Repressionen nehmen zu, wir beobachten eine politische Massenemigration aus dem Land. Natürlich wird die Schuld bei ihr als Oppositionsführerin gesucht.

    5. Hat das Lukaschenko-System immer noch Angst vor Protesten?

    Ja. Bei diversen Anlässen wiederholt Lukaschenko, dass man sich nicht ausruhen dürfe, sondern die Repressionen fortsetzen müsse, weil der Feind sich verborgen habe und darauf lauere, dass die Regierung Schwäche zeigt. Das Regime hat keine Feedback-Mechanismen zur Gesellschaft. Deshalb wissen die Machthaber nicht, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht. Und weil sie die reale Situation nicht kennen, überzeichnen sie die Gefahr.

    Hinzu kommen die außenpolitische Situation und die wirtschaftlichen Probleme durch die westlichen Sanktionen. Die einzige Antwort des Regimes auf diese Herausforderungen ist die Verstärkung der politischen Repressionen.

    6. Was bedeutet die zunehmende Repression in einem Land, das schon länger als „letzte Diktatur Europas“ bekannt ist?

    Man kann mehrere Beispiele anführen. So wurde ein Gesetz erlassen, das die Todesstrafe für den „Versuch eines Terroranschlags“ vorsieht. Der Begriff Terrorismus wird von den belarussischen Behörden äußerst weit gefasst, deshalb kann darunter jede oppositionelle Tätigkeit verstanden werden, zum Beispiel die Teilnahme an Protestaktionen. Auch Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja wurden nach „Terrorismus“-Paragrafen angeklagt. Im Moment steht die „Terrorgruppe“ von Nikolaj Awtuchowitsch vor Gericht. Dazu gehören ein Mann ohne Beine, eine Rentnerin und ein orthodoxer Priester. So sehen die „schrecklichen Terroristen“ aus.

    Seit kurzem erlaubt es das Gesetz, Menschen, die die belarussische „Justiz“ nicht persönlich zu fassen kriegt, in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Zum Beispiel belarussische Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen, oder die Schienenpartisanen. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna hat nachgerechnet, dass die neue Gesetzsprechung Prozesse in Abwesenheit nach 43 Artikeln erlaubt. Darunter fallen: Verschwörung, Genozid, Staatsverrat, Söldnertum.

    Offenbar stehen die Behörden im Zuge der politischen Repressionen vor einem Problem. Es gibt eine klare Anweisung von Lukaschenko, den Grad der Repressionen aufrechtzuerhalten. Doch jene Bürger, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden entweder bereits verurteilt oder sind emigriert. Wo soll man neue Menschen für die Festnahmen herbekommen?

    Um das Problem zu lösen, gehen die Silowiki in verschiedene Richtungen vor. Einerseits verurteilen sie die, die schon bestraft wurden und auf „schwarzen Listen“ stehen, zum zweiten Mal. Andererseits weiten sie die Repressionen auf immer neue gesellschaftliche Sphären aus. So werden zum Beispiel Menschen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Kommentare zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen, die nicht der offiziellen Position entsprechen.

    7. Wie genau haben sich die Repressionen in den letzten zwei Jahren verändert?

    Im Eilverfahren wurden repressive Gesetze erlassen. Nicht nur oppositionelle Aktivitäten wurden kriminalisiert, sondern das Andersdenken an sich. Der Begriff „Extremismus“ wird quasi uneingeschränkt auf jede Form der gesellschaftlichen Aktivität angewendet. So gelten zum Beispiel die „Diskreditierung von Staatsorganen und der Republik Belarus“ oder das „Schüren von sozialem Unfrieden“ et cetera als Extremismus. 

    Angeklagte nach „politischen“ Artikeln werden mit bis zu 18 Jahren Freiheitsentzug bestraft. In Belarus wurde die Zivilgesellschaft praktisch verboten und öffentliche Organisationen liquidiert. Jeden Tag gibt es Nachrichten von neuen Verhaftungen, Durchsuchungen, Gerichtsurteilen. Laute Prozesse gegen politische Opponenten finden hinter verschlossenen Türen statt.

    Man geht dazu über, Menschen für Dinge zu verurteilen, die schon lange zurückliegen. Am 22. Juni stand Nikolaj B. in Janow vor Gericht, weil er vor fünf Jahren einen Beitrag von Radio Svaboda geteilt hatte. Die Journalistin Katerina Andrejewa wurde zu acht Jahren Haft aufgrund von „Staatsverrat“ verurteilt – wegen eines alten Artikels, der damals nicht einmal als Ordnungswidrigkeit betrachtet wurde. Damit haben die Behörden auch jene Rechtsnorm außer Kraft gesetzt, wonach die Gesetzgebung nicht rückwirkend gilt.

    8. Hat die Protestbewegung eine Chance, einen politischen Wandel in Belarus zu erreichen?

    Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Heute gibt es zwei Faktoren, die eine Gefahr für das herrschende Regime und eine Chance für die Protestbewegung darstellen: Einerseits würde ein möglicher Niedergang des Putin-Regimes in Russland infolge der Misserfolge im Krieg gegen die Ukraine dem Lukaschenko-Regime einen schweren Schlag versetzen. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2020 war es die Unterstützung Putins, die Lukaschenkos Macht im kritischen Moment maßgeblich gesichert hat. Das hat wiederum zu einer fatalen Abhängigkeit des belarussischen Regimes vom Kreml geführt. Deshalb würde sich eine Krise des russischen Regimes unweigerlich auch auf Belarus niederschlagen.

    Zweitens, die drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Belarus durch die westlichen Sanktionen: Bisher war Russland die wichtigste Hilfsquelle für die belarussische Wirtschaft. Nun befindet sich die Russische Föderation selbst in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und kann Belarus nicht für alle Verluste entschädigen. Russland ist für Belarus inzwischen mehr zu einer Problemquelle als einer Quelle der Hilfe geworden. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation könnte infolgedessen sehr unerwartete Formen annehmen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Waleri Karbalewitsch 
    Übersetzerin: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am: 09. August 2022

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    „Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde.“ Das sagte Alexander Lukaschenko in einem Gespräch mit der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Bezug auf den Krieg, den Russland bereits seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. Bevor der Kreml seine Truppen aus dem Norden des Landes in den Donbass und in den Süden der Ukraine verlagert hat, war der Krieg bekanntlich auch von belarussischem Staatsgebiet aus geführt worden. Die Monitoring-Gruppe Belaruski Hajun will herausgefunden haben, dass russische Truppen allein von Belarus aus über 630 Raketen in Richtung Ukraine abgeschossen hätten.

    Seit Wochen scheint der belarussische Machthaber eine zweigleisige Strategie gegenüber seinem Kollegen Wladimir Putin zu verfolgen: In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität. So auch am Tag des Sieges, als Lukaschenko sagte, dass die Belarussen kein Recht hätten, Russland nicht zu unterstützen. Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte. Ebenso auf den Versuch, sich neuen politischen Handlungsraum gegenüber Russland verschaffen zu wollen. Denn einige Belarussen bekunden ihren Unmut gegenüber der Unterstützung des Krieges durch zahlreiche Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken in Belarus, was im Volksmund in Bezug auf den Partisanenmythos des Zweiten Weltkrieges bereits Schienenkrieg genannt wird.

    Was hat Lukaschenko vor? Wie steht es überhaupt um seine Unterstützung in der belarussischen Gesellschaft? Fürchtet sich der Autokrat vor einer Proteststimmung, die trotz scharfer Repressionen neu aufkeimen könnte? Der belarussische Politikanalyst Waleri Karbalewitsch versucht in einem Beitrag für das Online-Portal SN Plus Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden. 

    Viel wurde darüber geschrieben, dass Lukaschenko versucht, seinen außenpolitischen Kurs von 2014 bis 2020 zu wiederholen. Dass er Russlands Krieg gegen die Ukraine und Moskaus Konflikt mit dem Westen nutzen will, um die Beziehung zu den USA und zur EU aufzutauen. Genauso ist anzunehmen, dass Lukaschenko während dieses neuen russisch-ukrainischen Krieges intuitiv versucht, die acht Jahre alte Erfahrung in Bezug auf die gesellschaftliche Stimmung zu nutzen.

    Noch 2014, als der russisch-ukrainische Konflikt begann, hatten unabhängige Meinungsforscher festgestellt, dass zwei Drittel der belarussischen Bevölkerung Russland unterstützen. Die Mehrheit der Belarussen hatte also eine stärkere prorussische Haltung als das offizielle Minsk, das Kurs auf eine (wenn auch nur bedingte) Neutralität nahm. Diese Situation war für die Machthaber sogar ein wenig unbequem, weil es Moskau zusätzliche Hebel zur Einflussnahme auf Belarus an die Hand gab. 
    2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Sämtliche unabhängige Experten erklärten einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird.

    Stimmung in der belarussischen Gesellschaft anders als 2014

    Doch jetzt kam der „schwarze Schwan“ angeflogen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei dem sich Moskau belarussisches Territorium zunutze machte. Dieses Ereignis hatte vorwiegend negative Folgen für das herrschende Regime: Es wurde zum Mit-Aggressor, es gab neue und härtere Wirtschaftssanktionen und es herrscht Antikriegsstimmung im Land und anderes mehr.

    Möglicherweise hat die aktive politische Unterstützung Lukaschenkos für Russland bei diesem Krieg neben den bekannten Faktoren (der starken Abhängigkeit vom Kreml) auch einen anderen Sinn. Lukaschenko hatte wohl gemeint, dass die Bevölkerung in Belarus – ganz wie 2014 – Russland auch in dem jetzigen Krieg unterstützen würde, dass also die prorussische Stimmung der Bevölkerungsmehrheit und die absolut prorussische Position der Staatsführung im Einklang stehen würden. Und dass Lukaschenko erstmals seit 2020 die Unterstützung der Mehrheit erhalten und der gesellschaftliche Rückhalt breiter wird. Dass er wieder „Präsident des Volkes“ wird, nicht länger ein „Präsident der OMON“. Sprich: Der Krieg würde das Regime legitimieren. Und die Opposition, die die Ukraine aktiv unterstützte, würde erneut marginalisiert und sich wie vor 2020 in einem Ghetto wiederfinden.

    Haben sich diese Hoffnungen erfüllt? Was sagt die Meinungsforschung?

    Laut den soziologischen Daten von Professor Andrej Wardomazki geben nur 24 Prozent der Belarussen Russland die Schuld an dem Krieg, und 52 Prozent meinen, dass die Ukraine und der Westen daran Schuld seien. Es scheint, als hätte Lukaschenko bekommen, was er wollte.

    Wobei die 52 Prozent auch nicht die zwei Drittel von 2014 sind. Und es wird noch interessanter: Es stellt sich heraus, dass nicht 52 Prozent, sondern nur 43 Prozent einen realen Krieg von Russland gegen die Ukraine unterstützen. Und 62 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die Russen belarussisches Territorium für den Angriff auf die Ukraine nutzen.

    Krieg in der Ukraine bringt Lukaschenko kaum politisches Kapital

    Das bedeutet, dass es Lukaschenko nicht gelungen ist, eine überzeugende gesellschaftliche Unterstützung für seine Position zum Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich glaube kaum, dass ihm eine Fortsetzung der Kriegshandlungen zusätzliches politisches Kapital einbringen wird.

    Eine andere Sache ist, dass der Krieg in der Ukraine neue Spaltungen in der Gesellschaft zutage förderte. Wie sich zeigte, hegt ein gewisser Teil der auf Proteste ausgerichteten Community prorussische Sympathien. Das bedeutet, dass nicht alle, die gegen Lukaschenko sind, demokratischen Werten anhängen. Das wurde schon 2020 klar. Aber die derzeitige Tragödie in der Ukraine hat diese Stimmungen an die Oberfläche gespült.
    Lukaschenko hat auf der Sitzung vom 19. April bekanntermaßen verkündet, den Kurs der politischen Repressionen zu verstärken. Dazu gehörte der Schritt, die repressive Gesetzgebung zu verschärfen.

    Mit Androhung der Todesstrafe gegen innere Feinde

    Am 27. April verabschiedete das belarussische Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf, der für „den Versuch, einen terroristischen Akt zu verüben“ die Todesstrafe vorsieht. Hier muss man betonen, dass diese Gesetzesneuerungen im beschleunigten Verfahren durchgesetzt werden: Die Gesetzesvorlage zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde bereits in zweiter Lesung angenommen.

    Bemerkenswert ist, dass die Todesstrafe nicht für den terroristischen Akt selbst, sondern schon für einen Versuch vorgesehen ist. Da der Begriff des Terrorismus in Belarus von der Obrigkeit sehr breit ausgelegt wird, lässt er sich mit jedweder oppositioneller Betätigung in Verbindung bringen. Hierzu gehört insbesondere die Teilnahme an Protestaktionen. Beispielsweise wurden gegen die Politiker Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja Anschuldigungen aufgrund von „Terrorismus“-Paragraphen erhoben. 

    Das Repräsentantenhaus verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, das es den Truppen des Innenministeriums erlaubt, zur Unterdrückung von „Massenunruhen“ großkalibrige Waffen einzusetzen. Friedliche Protestaktionen gelten in Belarus bekanntlich als „Massenunruhen“.

    Die Urteile in den „politischen Verfahren“, bei denen die Opposition Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahre erhielt, werden bereits als „stalinistisch“ bezeichnet. Solche Urteile ergingen gegen Bürger der UdSSR in den 1930er und 1950er Jahren. Wir können in Belarus jetzt vom Aufkommen einer „stalinistischen Gesetzgebung“ sprechen. Das Land kehrt konsequent in jene finsteren Zeiten zurück.

    Protest-Stimmung und Sabotageakte 

    Logischerweise stellt sich die Frage: Warum so plötzlich? Die Massenproteste sind zerschlagen. Es scheint keinerlei äußerlich sichtbare Bedrohungen für das herrschende Regime zu geben. Warum also so eine Hektik, den Druck auf die Silowiki zu erhöhen, solche drakonischen Gesetze zu verabschieden?

    Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine Zunahme radikaler Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft. Das zeigt sich in den Sozialen Netzwerken. Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen. Auch die Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und die Aktivität der Cyberpartisanen lassen die Machthaber zu stärkeren Repressionen greifen. Angst hat schließlich große Augen.

    Wenn aber die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt diesem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet.

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  • Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

     „Ich, eine Bürgerin der Republik Belarus, bin gegen die Beteiligung von Belarus beim russischen Militärangriff auf die Ukraine. Ich fordere den Abzug der russischen Truppen aus Belarus. Ich möchte, dass mein Land ein Territorium der Sicherheit ist und sich nicht an Aggressionen beteiligt.“ Dies schrieb die belarussische Lyrikerin Julia Cimafiejeva am gestrigen Sonntag wie viele andere auf Facebook. Es entwickelte sich ein Flashmob, dem sich viele Belarussen anschlossen, um auch gegenüber den Ukrainern auszudrücken, was sie von einem möglichen Einstieg Alexander Lukaschenkos mit eigenen Truppen in Russlands Krieg halten. Am Wochenende hatte es Hinweise gegeben, dass die belarussische Armee anscheinend in der Phase der Mobilmachung sei. Auch zwei Marschflugkörper waren von Belarus in Richtung Ukraine abgefeuert worden, allerdings, wie Lukaschenko selbst mitteilte, von der russischen Armee. Dennoch ist Lukaschenko bereits tief in den Krieg verstrickt. Im Land stehen mehr als 30.000 russische Soldaten und entsprechendes Gerät. Anscheinend werden verwundete russische Soldaten auch in belarussischen Krankenhäusern versorgt, zudem unterstützen die belarussischen Machthaber den Kreml hinsichtlich der Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. Dass Lukaschenko aktiv in den Krieg eingreifen könnte, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Es gibt Berichte von Truppensammlungen in der Nähe der west-belarussischen Stadt Brest.

    In dieser aufgeheizten Atmosphäre fand am gestrigen Sonntag das umstrittene Referendum zur Verfassungsreform statt, dessen vorläufiges Ergebnis in den frühen Morgenstunden am Montag verkündet wurde. Demnach hätten 65 Prozent der 6,8 Millionen Wahlberechtigten für die Reformvorschläge gestimmt, die sich insgesamt so zusammenfassen lassen: Es soll gewisse Machtverschiebungen auf andere staatliche Organe wie die Allbelarussische Volksversammlung geben, allerdings bleibt die zentrale Führung beim Präsidenten, also bei Lukaschenko. Der kann sich ab der nächsten Wahl, die für 2025 angekündigt ist, noch für zwei Legislaturperioden um das Amt bewerben. Was bedeutet, dass er theoretisch bis 2035 regieren kann. Eine zentrale Neuerung, die die Reform vorsieht, ist die Aufhebung des militärisch neutralen Status von Belarus, der in der Verfassung von 1994 festgeschrieben ist. Damit können ab sofort auch längerfristig russische Truppen in dem Nachbarland stationiert werden, sowie auch russische Atomwaffen, die Wladimir Putin am Sonntag in Alarmbereitschaft versetzt hat. 

    Das Referendum sowie Lukaschenkos Rolle im Krieg wird von der belarussischen Opposition massiv kritisiert. „Das ist ein Hochverrat am Staat, ein Hochverrat am Volk“, urteilte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius. „Die Hauptbedrohung unserer Souveränität ist Alexander Lukaschenko“, sagte der im Exil befindliche Oppositionspolitiker Pawel Latuschko. Auch an der Echtheit des Wahlergebnisses gibt es von vielen Seiten Zweifel, da der Auszählungsprozess noch intransparenter als sonst gestaltet wurde. Die Namen der Wahlkommissionsmitglieder wurden geheim gehalten, Exit-Polls waren untersagt und in der in Belarus üblichen Vorwahl, die am vergangenen Dienstag begonnen hatte, gibt es traditionell diverse Manipulationsmöglichkeiten. Die Opposition hatte dazu aufgerufen, die Stimmzettel mit zwei Kreuzen ungültig zu machen. Viele Belarussen nutzten die Stimmzettel auch, um ihren Protest gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen. „Nein zum Krieg“ konnte man auf Zetteln lesen, die abfotografiert durch die sozialen Medien gingen. Zahlreiche Belarussen nahmen den Wahltag trotz der äußerst repressiven Atmosphäre zum Anlass, auf die Straße zu gehen. Hunderte versammelten sich vor allem in Minsk, in Hinterhöfen, auf Plätzen; reihten sich in Menschenketten auf, fuhren hupend durch die Stadt oder skandierten vor dem Verteidigungsministerium Losungen für die Ukraine und gegen den Krieg. An der ukrainischen Botschaft in Minsk beten die Menschen, bringen Blumen und andere Zeichen der Anteilnahme. Die Proteste wurden von der Staatsmacht auseinandergetrieben, rund 800 Personen festgenommen.

    Minsk wurde von der russischen Führung am Wochenende, wie schon ab 2014, für angekündigte Friedensverhandlungen mit der Ukraine ins Spiel gebracht. Eine russische Delegation war dafür bereits am Sonntag in der belarussischen Hauptstadt angekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky lehnt es allerdings ab, nach Belarus zu reisen. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen. Seit Montagmittag verhandeln die Delegationen aus der Ukraine und aus Russland, an der die beiden Staatsoberhäupter allerdings nicht teilnehmen, an der belarussisch-ukrainischen Grenze. 

    Der belarussische Politanalytiker Waleri Karbalewitsch diskutiert in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium SN Plus die Rolle Lukaschenkos im russischen Krieg gegen die Ukraine und analysiert, welche Folgen möglich wären.

    Belarus – das Aufmarschgelände für den Angriff

    Lukaschenko hat wiederholt erklärt, dass von unserem Staatsgebiet aus nie eine militärische Gefahr für die Ukraine ausgehen würde, dass Belarus an keinem Krieg teilnehmen würde, solange es nicht angegriffen wird. Am 22. Februar sagte Lukaschenko bei einem Festakt zum [bevorstehenden – dek] Tag des Vaterlandsverteidigers: „Denken Sie immer daran: Die Staatsführung und ich als Präsident werden immer alles dafür tun, damit Belarus eine friedliche kleine Insel auf diesem verrückt gewordenen Planeten bleibt.“

    Fast wie eine Verhöhnung wurde im Entwurf der neuen Verfassung folgender Punkt ergänzt: „Die Republik Belarus schließt eine militärische Aggression von seinem Gebiet gegenüber anderen Staaten aus.“

    All diese hehren Wünsche werden durch den militärischen Angriff auf die Ukraine vom belarussischen Staatsgebiet aus durchkreuzt – selbst wenn die belarussischen Streitkräfte nicht selbst daran teilnehmen.

    Lukaschenko hat erklärt: „Der an unserer belarussischen Südgrenze verbliebene Teil der russischen Truppen wurde – und das sage ich offen und ehrlich – natürlich vom russischen Generalstab mit hoher Wahrscheinlichkeit – das weiß ich aber nur aus den Medien – in dieser Operation eingesetzt.“

    Also fragen die russischen Generäle Lukaschenko nicht nur nicht um Erlaubnis, belarussisches Gebiet in dem Krieg zu nutzen, sondern informieren ihn nicht mal darüber. Die Information muss er den Medien entnehmen. So ist Belarus jetzt zu einem Durchgangshof für die russischen Truppen geworden.

    Übrigens: Laut einer Definition der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1974 gilt das Bereitstellen des Hoheitsgebiets für eine Aggression gegenüber einem Drittland ebenfalls als Aggression.

    Spannungen, aber kein Krieg

    Bis zum Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, hatte das offizielle Minsk rhetorisch eine radikalere und aggressivere Position zum Westen. Das Wort Schurken erklang gegenüber Politikern der Nachbarstaaten aus Lukaschenkos Munde wie ein tägliches Pflicht-Zitat. Putin und seine Umgebung hatten sich das nicht erlaubt und die Opponenten mit unverhohlenem Zynismus „unsere westlichen Partner“ genannt. Lukaschenko hatte somit das laut gesagt, was der russische Leader aus welchen Gründen auch immer nicht aussprechen wollte, und dadurch in gewisser Hinsicht als Pressesprecher des russischen Präsidenten fungiert.

    Außerdem redete das offizielle Minsk nicht nur, sondern tat auch viel dafür, um den westlichen Nachbarn Probleme zu bereiten: Die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch am Minsker Flughafen, die Migrations-Krise und so weiter. Lukaschenko initiierte auch neue belarussisch-russische Militärübungen auf dem belarussischen Staatsgebiet. So zumindest hatte er das behauptet. Eine solche politische Linie erlaubte Lukaschenko, Putin gegenüber seine Loyalität zu demonstrieren im Austausch gegen diverse Dividenden. Und es dem Westen heimzuzahlen.

    Jedoch interessierte ihn nur die Verschärfung der Spannungen, die Existenz im Ausnahmezustand, die Schaffung einer belagerten Festung, die niemand angreift. Er wollte wohl kaum einen echten Krieg. Denn das bedeutet eine enorme Erschütterung für das Volk und den Staat mit unvorhersehbaren Folgen.

    Ein Krieg lohnt sich nicht für Lukaschenko

    Ein vollumfänglicher Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der auch noch das Staatsgebiet von Belarus einbezieht, bereitet Lukaschenko daher sehr viele Probleme.

    1. Ein Krieg – insbesondere mit der Ukraine – ist sehr unpopulär in Belarus. Davon zeugen Meinungsumfragen. Er ist darüber hinaus auch unpopulär bei Lukaschenkos Anhängern. 

    2. Russlands Aggression gegen die Ukraine ist langfristig eine Bedrohung für die Unabhängigkeit von Belarus. Denn Putin akzeptiert die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion nicht. Russische Politiker machen keinen Hehl daraus, dass die Existenz eines belarussischen Staatsgebildes [für sie] nur irgendein Missverständnis ist. Lukaschenko wiederholt seit 27 Jahren, dass wir und die Russen ein Volk seien, dass Russland unser großer Bruder sei und so weiter. Und nun könnte diese ganze Politik der „brüderlichen Integration“ zu unerwarteten Konsequenzen führen. Putin könnte sagen: Wenn wir doch ein Volk sind – wozu braucht ihr dann einen eigenen Staat?  

    3. Wie sehr Lukaschenko auch eine Beteiligung der belarussischen Armee an diesem Krieg vermeiden mag – für die Weltgemeinschaft bleibt es Fakt, dass Belarus der einzige Helfer des Aggressors ist. Das belarussische Staatsgebiet wird für den Angriff auf die Ukraine genutzt. Belarus und Russland haben sich praktisch gegen die ganze Welt gestellt. Dieses Brandmal lässt sich nicht mehr abwaschen. Und es ist schlimmer als das Brandmal „Diktator“. 

    4. Dass sich russische Truppen (in wachsender Zahl) auf belarussischem Gebiet befinden, heißt für Lukaschenko ein Kontrollverlust über das Land, das er fast drei Jahrzehnte als sein Eigentum betrachtet hat. Das ist der Verlust der militärischen Souveränität. Russische Generäle verfügen über belarussisches Gebiet, wie sie wollen. Das ist sehr unangenehm für jeden Staatschef. Es war kein Zufall, dass der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew nicht zögerlich war mit dem Abzug der OVKS-Truppen aus seinem Land.

    5. Der Krieg vereinfacht alle Beziehungen erheblich, er unterteilt die Situation in Schwarz und Weiß, ohne Schattierungen. Für Lukaschenko bedeutet das eine drastische Verengung des Handlungsspielraums in den Beziehungen zum Kreml. Für Ausweichmanöver, Balanceakte und Finten wird es immer weniger Möglichkeiten geben. So muss etwa die unangenehme Entscheidung zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik gefasst werden. Das Problem ist hier nicht nur die negative Reaktion der Weltgemeinschaft. Bald kommt die Frage nach der Eingliederung der Volksrepubliken in den „Unionsstaat von Belarus und Russland“. Dann werden womöglich auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien beitreten wollen. Es würde dann ein Unionsstaat aus russischen Marionetten. Der Status von Belarus fiele schlagartig auf das Niveau jener nicht anerkannten, kleinen halbstaatlichen Gebilde. Das Bild als völlige Marionette Putins (und das ausgerechnet in der Zeit, in der Letzterer ein klar unangemessenes Verhalten an den Tag legt) – das wäre sicher nicht das Finale der politischen Biografie Lukaschenkos, von dem er geträumt hat.     

    6. Ein ganz realer Konflikt mit der Ukraine, also nicht mehr auf der Ebene der Rhetorik – das ist für das offizielle Minsk in jeglicher Hinsicht unvorteilhaft. Nehmen wir allein den ökonomischen Aspekt. Der Handelsbilanzüberschuss zwischen Belarus und der Ukraine beträgt 4,5 Milliarden US-Dollar. Wenn dieser Handel wegfällt, entstehen für Belarus größere Einbußen als durch westliche Sanktionen.

    7. Die USA und Großbritannien haben neue Wirtschaftssanktionen gegen Belarus verhängt, ausdrücklich wegen der Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine. Offensichtlich hat die EU vor, genau das gleiche zu tun. Zudem werden die Sanktionen gegen Russland zum Teil auch Belarus treffen.

    8. Der Krieg hat die wirtschaftlichen Probleme in Belarus deutlich verschärft. Der Rubelkurs ist nach unten gesaust. Das Fehlen von Fremdwährungen bei den Banken, in den Wechselstuben, an den Bankautomaten, die sich davor bildenden Schlangen – all das könnte ein Vorbote für noch viel ernstere Probleme und sogar unkontrollierbarer Prozesse werden.

    Genau deswegen versucht Lukaschenko, irgendwelche Erklärungen zu vermeiden, und tut so, als ob gar nichts los wäre und die Ereignisse im Süden die Belarussen nichts angingen. Doch im Informationszeitalter ist das unmöglich.

     

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  • Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Das Jahr 2021 in Belarus war geprägt von einer Radikalisierung des Machtapparats um Alexander Lukaschenko: Der hat die Medien, die Zivilgesellschaft, Aktivisten oder Andersdenkende mit scharfen Repressionen bekämpft. Mittlerweile ist kaum noch jemand sicher vor dem Zugriff der Silowiki, auch für Kommentare auf Facebook oder Reposts in den sozialen Medien werden mittlerweile mehrjährige Haftstrafen verhängt. Zusätzlich wurden wichtige Posten in Regierung, Wissenschaft oder Administration mit Leuten aus den Sicherheitsdiensten wie beispielsweise dem KGB besetzt.

    Warum arbeitet diese Repressionsmaschinerie derart konsequent? Wieso ist die Machtvertikale zu Beginn der Proteste nach dem 9. August 2020 nicht erodiert und weshalb zeigt sich der Apparat derart loyal gegenüber Lukaschenko? Auf diese und andere Fragen gibt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch Antworten in diesem Bystro.
     

    1. Welche Rolle spielt der Machtapparat für Lukaschenko?

    Wie in jedem undemokratischen Staat spielen die Silowiki der Sicherheitsapparate und vor allem der Geheimdienste eine übergroße Rolle. Sie sind die zentrale Institution eines solchen Staates, das tragende Element des herrschenden Regimes und das wichtigste Instrument zum Machterhalt. Ihre Funktion ist in Belarus sehr viel weiter gefächert als in einem demokratischen Staat. Doch ihre Hauptfunktion besteht keineswegs im Schutz der Bevölkerung vor Verbrechern oder der Wahrung der öffentlichen Ordnung, sondern in der Verteidigung des Regimes gegen politische Opponenten. Wichtigste Aufgabe der Silowiki ist die Bekämpfung der Opposition. Sie sind an keinerlei Gesetze gebunden und ausgestattet mit dem Recht auf uneingeschränkte Macht. In Belarus gibt es keine zivile Kontrolle über das Militär und die Sicherheitsapparate.
    Die Leiter sämtlicher Sicherheitsorgane sind Lukaschenko persönlich unterstellt; sie werden von ihm ernannt und entlassen. Sie alle konkurrieren um die Gunst des Herrschers und belauern sich gegenseitig.

    2. Was hat sich innerhalb des zentralen Machtapparats durch die Proteste verändert?

    Nach den Massenprotesten von 2020 wurden politische Repressionen zum Hauptaspekt der staatlichen Politik. Deswegen nahm die Dichte und die Bedeutung der Silowiki erheblich zu. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Silowiki besetzen unterdessen Schlüsselposten im Staat. So ist etwa der Leiter der Präsidialadministration, Igor Sergejenko, ein General des KGB. Zum Katastrophenschutzminister wurde Wadim Sinjawski ernannt, ein General der Miliz. Justizminister ist der General der Miliz Sergej Chomenko. Selbst der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften wird von Oleg Tschernyschow, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des KGB, besetzt. Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    3. Der KGB gilt als eine der wichtigsten Säulen des politischen Systems Lukaschenkos. Wie mächtig ist er wirklich?

    Sehr mächtig. Lukaschenko hat den Geheimdiensten jene Funktionen wiedergegeben, die sie in der UdSSR hatten. Laut Gesetz ist der KGB wie zu sowjetischen Zeiten zugleich Geheimdienst, Polizei- und Justizorgan sowie staatliche Verwaltungsbehörde. Er ist berechtigt, Verordnungen zu erlassen, die für andere staatliche Stellen verbindlich sind. Er kann seine Vertreter in eine Reihe mit den staatlichen Behörden stellen, und er kann in bestimmten Fällen die Truppen und Mittel der Armee, des Innenministeriums und des Grenzschutzes nutzen. Das Gesetz berechtigt den KGB, sich uneingeschränkt in die Tätigkeit aller (auch nichtstaatlicher) Wirtschaftssubjekte, Parteien, gesellschaftlicher Organisationen und in das Privatleben der Bürger einzumischen. Nach 2020 hat der KGB an Bedeutung gewonnen. Seine Aufgabe besteht jetzt darin, den Staatsapparat intensiv zu säubern und illoyale Verwaltungsbeamte aufzuspüren.

    4. Warum konnten die Proteste dem Machtapparat nichts anhaben?

    Für die Stabilisierung des Systems war es wichtig, dass Lukaschenko nach dem Beginn der Massenproteste 2020 die Leiter der Sicherheitsorgane ausgetauscht hat. Und zwar, weil er an deren Loyalität zweifelte. Wir können davon ausgehen, dass es dort anschließend gehörig anfing zu brodeln, denn in solch kritischen Momenten sind derlei Personaländerungen in den Sicherheitsbehörden nicht üblich. 
    Die Proteststimmung in der Bevölkerung und der „Aufstand der Massen“ führten jedoch nicht zu einer Krise der Obrigkeit und nicht zu einer Spaltung der Eliten, was allen Theorien zufolge unabdingbare Voraussetzung für den Sieg einer Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck der Bevölkerung auseinanderfällt und auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich schlichtweg nicht bewahrheitet.

    5. Warum sind die Fundamente dieser sehr loyalen und einflussreichen Machtvertikalen derart stabil?

    Der Machtapparat blieb hinter Lukaschenko, weil das autoritäre Regime in Belarus mächtig und konsolidiert ist. Keine einzige staatliche Institution wird vom Volk gewählt, ist der Bevölkerung gegenüber verantwortlich oder wird vom Volk kontrolliert. Der Staatsapparat ist absolut frei von Dissens. Für Regimegegner gibt es dort und in diesem politischen System keinen Punkt, an dem man den Hebel ansetzen könnte. Die Opposition bewegt sich seit einem Vierteljahrhundert außerhalb des Systems. Es herrscht eine strenge Machtvertikale, die von oben, von Lukaschenko persönlich gestaltet wird. Der Staatsapparat ist nicht von der Bevölkerung abhängig und reagiert deshalb nicht auf deren Forderungen, sondern bleibt demjenigen gegenüber loyal, der ihn geschaffen hat.

    Gleichzeitig ist der Staat in Belarus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ganz massiv präsent. Der Staat dominiert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Bereich (Wohnungswesen, Gesundheit, Bildung), die Medien, die Kultur, den Sport und so weiter. Der Staat ist der wichtigste Arbeitgeber. Dadurch kann die Regierung die Gesellschaft unter die Kontrolle des Staates nehmen. Die politischen Repressionen werden nicht nur von den Polizei- und Justizbehörden und den Geheimdiensten vorgenommen, sondern von allen staatlichen Stellen. Die Arbeit sämtlicher staatlicher Einrichtungen ist jetzt weniger auf deren eigentliche Funktion ausgerichtet, sondern vor allem auf Repressionen.

    Vor den Wahlen und auch danach hat Lukaschenko die Finanzierung der Polizei- und Justizbehörden erheblich aufgestockt. Bis zum August 2020 wurden jedem Milizionär, der an der Unterdrückung von Protesten teilnahm, rund 400 US-Dollar pro „Arbeitstag“ gezahlt. In Belarus ist das fast ein durchschnittlicher Monatslohn. Das Monatsgehalt von Angehörigen der Sondereinheit OMON betrug während der Massenproteste nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 2000 und 6000 US-Dollar.

    6. Man hört immer wieder den Vorwurf, dass die Proteste zu friedlich waren, um den Machtblock zum Einsturz zu bringen. Hätte Gewalt gegen diesen hochgerüsteten Apparat überhaupt etwas ausrichten können?

    Erstens zeigt die internationale Erfahrung, dass gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Straße die Zahl der Protestierenden auf ein Viertel schrumpfen lässt. Zweitens wurde gegen die Protestierenden das Militär mit Maschinenpistolen in Stellung gebracht, also Truppen mit Kampfbewaffnung, und nicht nur mit Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Kräfteverhältnisse waren absolut zu Ungunsten der Protestierenden. Und der Versuch eines großen gewaltsamen Widerstands hätte zu sehr vielen Opfern geführt. Drittens hätte ein gewaltsames Vorgehen der Protestierenden eine militärische Intervention Russlands bedeutet; Putin hatte die ja angekündigt. Dann hätte sich das ukrainische Szenario wiederholt. Viertens würde ein Sieg über die Diktatur, der mit Gewalt errungen wird, diese Gewaltkomponente in die Politik eines neuen Regimes weitertragen. Die gewaltsame Konfrontation zwischen verschiedenen politischen Kräften würde sich dadurch verstetigen.

    7. Wie sieht es mit der Zusammenarbeit zwischen den russischen und belarussischen Silowiki-Strukturen aus und hat der Kreml irgendeinen Einfluss auf den zentralen Machtapparat Lukaschenkos?

    Die Zusammenarbeit der russischen und belarussischen Militär- und Sicherheitsapparate ist ziemlich eng und hat sich nach 2020 verstärkt. An erster Stelle stehen vom Umfang her die Streitkräfte und die Verteidigungsministerien der beiden Länder. Ein beträchtlicher Teil der belarussischen Offiziere wird an der russischen Militärakademie ausgebildet. Auch die Geheimdienste, der KGB in Belarus und der FSB in Russland, arbeiten intensiv zusammen. 

    Was den Einfluss Russlands auf die Silowiki und den Militär- und Sicherheitsapparat in Belarus angeht, der ohne Lukaschenkos Wissen oder über seinen Kopf hinweg erfolgt, so ist der nicht groß. Die jetzige Offiziersgeneration hat ihre Karriere im unabhängigen Belarus gemacht. Außerdem bespitzeln sich die belarussischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden gegenseitig. In den letzten Monaten wurden Aufzeichnungen von Gesprächen und Telefonaten einiger Generäle und Offiziere verschiedener Behörden ins Internet gestellt. So stellte sich heraus, dass die Telefone des Innenministers und seiner Stellvertreter abgehört wurden.

    8. Hat die demokratische Staatenwelt irgendwelche Möglichkeiten, Lukaschenkos Machtgefüge unter Druck zu setzen?

    Es ist unwahrscheinlich, dass der Westen oder die Opposition politischen Druck auf diesen Apparat ausüben könnten. Im letzten Jahr gab es eine radikale Säuberung sämtlicher Sicherheitsbehörden, und sie wird fortgesetzt. Alle Mitarbeiter, die der Illoyalität verdächtigt wurden, wurden entlassen. Die verbliebenen stehen unter sorgsamer Kontrolle. Ihre Telefone werden überwacht (damit sie keine oppositionellen Telegram-Kanäle abonnieren), ihre Loyalität wird mit Hilfe von Lügendetektoren geprüft und Auslandsreisen sind ihnen verboten. Jede Illoyalität wird streng bestraft. Die wenigen Offiziere, die 2020 aus Protest gegen Lukaschenkos Politik ihre Entlassung einreichten, sitzen im Gefängnis. Das sind die Gründe, warum der Staatsapparat und vor allem der Militär- und Sicherheitsapparat nun monolithischer und gefestigter auftreten.

    9. Was müsste passieren, damit die Machtvertikale ihre Stabilität einbüßt?

    Es braucht eine heftige politische Krise, die das herrschende politische Regime bedroht, damit diese Vertikale ins Wanken gerät. Das könnte durch neue Massenproteste der Bevölkerung erfolgen, durch heftigen Druck aus Russland, einen sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgrund von Sanktionen durch den Westen und so weiter. Es könnte auch durch einen Rückzug Lukaschenkos vom Präsidentenamt erfolgen, durch eine Doppelherrschaft. Solche Situationen sind aber nur schwer zu prognostizieren.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Waleri Karbalewitsch
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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