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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Pjotr Mascherau

    Pjotr Mascherau

    Wozu mit dem Volk anbändeln, wenn deine Karriere nicht davon abhängt? Im Unterschied zu vielen Apparatschiks in der sowjetischen Führungsriege war Pjotr Mascherau gewissermaßen ein Politiker westlichen Typs, der wohl auch aus echten Wahlen als Sieger hervorgegangen wäre. Als Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei regierte er die BSSR von März 1965 bis zum 4. Oktober 1980; an dem Tag verunglückte er bei einem Autounfall. Er war ein äußerst beliebter Politiker, dessen Nähe zum Volk ehrlich und echt wirkte. Er pflegte einen bescheidenen Lebensstil, arbeitete fleißig und engagiert. Den Hubschrauber, der ihm als Oberhaupt der BSSR zur Verfügung stand, nutzte er permanent, um Menschen im ganzen Land zu besuchen und mit ihnen zu sprechen, auch in den entlegensten Dörfern. In der Regel begannen solche Flüge morgens zwischen 4:00 und 4:30 Uhr und dauerten mit etlichen Zwischenstopps fast den ganzen Tag.1  

    Die öffentliche Meinung zu Mascherau ist im heutigen Belarus jedoch gespalten. Seinerzeit brachten die aufstrebenden Städte vielen Belarussen einen höheren Lebensstandard, andererseits waren sie Schmelztiegel, die in den Jahrzehnten nach dem Krieg aus Bauern mit belarussischen Dialekten russischsprachige Sowjetbürger machten. Das ist etwas, wofür Mascherau heute von vielen scharf kritisiert wird.  

    Wer war Pjotr Mascherau und was ist sein politisches Erbe? Eine Gnose von Viktor Schadurski

    Pjotr Mascherau (vorne rechts) zusammen mit Fidel Castro beim Besuch der Gedenkstätte Chatyn im Jahr 1972. / Foto © IMAGO / ITAR-TASS  

    Pjotr Mascherau hatte das Glück, in einer Zeit an der Spitze der BSSR zu stehen, die einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Dieser war, ähnlich wie in vielen anderen Gegenden des riesigen sowjetischen Imperiums, Reformen zu verdanken, die in Moskau initiiert wurden. Die großen materiellen und technischen Ressourcen, die nach dem Krieg in das zerstörte Belarus investiert worden waren, fingen an, sich bezahlt zu machen. In Minsk und anderen großen Städten wurden mit Betriebsanlagen, die in der DDR und anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion demontiert und nach Belarus gebracht worden waren, für die damalige Zeit moderne Industriebetriebe gegründet. Belarus bekam den Beinamen „Montagewerk der UdSSR“. 

    Mascheraus politische Laufbahn hatte während des Zweiten Weltkriegs begonnen. Innerhalb weniger Jahre stieg er vom Ersten Sekretär des Partisanenkomitees des Komsomol in der Oblast Wilejka (1943) bis zum Leiter des Komsomol der BSSR auf (1947). Dann überwand er relativ schnell ein paar Stufen im Parteiapparat, um im März 1965 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Belarus (KPB) ernannt zu werden – das faktisch höchste Amt im politischen System der BSSR. Diesen hohen Rang hatte er mit der Protektion seines Vorgängers Kiryl Masurau erreicht, der im März 1965 Erster Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR geworden war.            

    Der politische Werdegang eines glühenden Partisanen  

    Mascherau wurde zum Symbol der sogenannten Partisanengruppe im Partei- und Staatsapparat der BSSR. Abgesehen von den höchsten Ämtern (Masurow, Mascherau) bekleideten Mitglieder der Partisanenbewegung zahlreiche wichtige Posten im Partei- und Staatsapparat, in der Wirtschaft und in den Sicherheitsdiensten. Wie der US-amerikanische Historiker Michael E. Urban feststellte, verhalfen die Aufopferung der Partisanen „für das Volk“ und ihr Kampf „an der Seite des Volkes“ einer Reihe von Partisanenkommandeuren zum Aufstieg an die Spitze der belarussischen Führungselite.2 So war es auch bei Mascherau.       

    In den ersten Kriegstagen schloss sich Pjotr Mascherau freiwillig der Roten Armee an. Er geriet sofort in Kriegsgefangenschaft, konnte jedoch fliehen und kehrte zurück in die kleine Bezirkshauptstadt Rassony im Norden von Belarus, wo er früher Lehrer gewesen war. Hier begann seine Tätigkeit als Widerstandskämpfer und Partisanenkommandeur. Er gründete eine Familie und fand Mitstreiter, von denen viele ihn sein Leben lang begleiteten. Im April 1942 wurde Mascherau Kommandeur einer kleinen Partisaneneinheit (die Wahl erfolgte zuerst durch ihre Mitglieder und wurde dann vom belarussischen Stab der Partisanenbewegung in Moskau bestätigt). Im August 1944 – er hatte bereits zwei Kriegsverletzungen – wurde ihm der Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ verliehen, den einige Dutzend belarussische Partisanen tragen.       

    Unter Pjotr Mascheraus Führung wurde der Mythos vom heroischen Partisanenkampf später Teil der politischen Identität der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik.  

    Heute ist Mascherau für viele Belarussen der mittleren und älteren Generation die beliebteste Führungsfigur des sowjetischen Belarus. Vieles aus seinen Gesprächen mit der Bevölkerung ist in Erinnerung geblieben. Die Sympathien, die so viele Menschen immer noch für ihn hegen, bringen seinem Namen in der offiziellen Ideologie von Lukaschenkos Regime jedoch keine Ehre ein.

    Pjotr Mascherau in Partisanenuniform, 1944 / © Foto Belarussisches Staatsarchiv für Film-, Audio- und Fotodokumente / gemeinfrei
     

    „Sohn eines Volksfeindes“ 

    Der zukünftige Parteifunktionär wurde im Februar 1918 in einer Gegend, die heute zum Rajon Sjanno in der Woblasz Wizebsk gehört, in einer Bauernfamilie geboren. Pjotr Mascheraus Ururgroßvater war der Familienlegende nach ein französischer Soldat in Napoleons Armee, der 1812 aufgrund einer Verletzung im Ujesd Sjanno zurückbleiben musste. Er konvertierte zur Orthodoxie, heiratete eine Bäuerin und bekam den Namen Maschero (wohl vom französischen ma chère abgeleitet). Im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, wurde Pjotr Mascheraus Vater Miron Maschero der antisowjetischen Agitation beschuldigt, verhaftet und zu zehn Jahren Arbeits- und Umerziehungslager verurteilt. Er starb nach wenigen Monaten. Erst 1959 wurde er „wegen fehlenden Tatbestands“ posthum rehabilitiert.3 

    Vielleicht war es Semen Wragow, der Mann der älteren Schwester, der Pjotr und seinem Bruder Pawel nach der Festnahme ihres Vaters beistand. Er hatte eine leitende Funktion im Wizebsker NKWD inne. Vielleicht half es auch, dass sie ihren Namen von Maschero auf Mascherau änderten. Jedenfalls konnte Pjotr Mascherau trotz allem 1939 seinen Abschluss am pädagogischen Institut in Wizebsk machen und anschließend an einer Mittelschule Physik unterrichten. 

    Seine Beteiligung am antifaschistischen Widerstand brachte dem Partisanenkommandeur einen enormen persönlichen Verlust ein: Im September 1942 wurde seine Mutter Darja Petrowna zusammen mit anderen Bewohnern von Rassony wegen Verbindungen zu Partisanen von den deutschen Besatzern gefangengenommen und erschossen. Mascherau kannte diese grausame Praktik im Kampf gegen die Partisanen, hatte gewusst, dass sie sich an Familienmitgliedern der Untergrundkämpfer rächen. Es war ihm jedoch nicht gelungen, seine Mutter rechtzeitig im Wald zu verstecken. Seine Tochter erinnert sich, wie er sich sein Leben lang für den Tod seiner Mutter schuldig fühlte und sich das nie verzeihen konnte.      

    Lukaschenkos Abneigung gegen Pjotr Mascherau 

    Pjotr Mascheraus Tochter Natalja Mascheraua ist ebenfalls politisch aktiv und wurde als Abgeordnete ins belarussische Parlament gewählt. 2001 ließ sie sich als Kandidatin zu den Präsidentschaftswahlen in Belarus registrieren, ihre Kandidatur aber bald wieder löschen, weil ihr klar wurde, dass sie unter den gegebenen politischen Bedingungen keine Chance auf einen Sieg hatte.4 Allein ihr Versuch, am Wahlkampf teilzunehmen, ist ein bekannter Grund für Lukaschenkos Abneigung gegen ihren Vater. Der Diktator äußerte sich öffentlich über seine Kränkung und fügte hinzu, dass eine Frau ohnehin keinen Staat lenken könne. Derartiges sagte er oft, auch als 20 Jahre später Swetlana Tichanowskaja gegen ihn antrat.  

    Noch deutlicher wurde Lukaschenkos Aversion gegen Mascherau 2005, als die zweitwichtigste Verkehrsader durch Minsk „auf Bitte von Kriegs- und Arbeitsveteranen“ von ehemals „Mascherau-Prospekt“ in „Prospekt der Sieger“ umbenannt wurde. Der Name des ehemaligen Oberhauptes der BSSR wurde einem anderen aus drei kleineren Straßen gebildeten Prospekt zugeteilt.   

    Lukaschenko hat ganz offensichtlich etwas gegen Vergleiche seiner Person mit Mascherau.  2018 betonte er in einem Interview, dass Mascherau und er nicht gegeneinander antreten könnten, da sie unterschiedlichen Gewichtsklassen angehörten: Er, Lukaschenko, sei der erste Präsident von Belarus, während Mascherau innerhalb des großen sowjetischen Staates einfach nur eine Art Gouverneur gewesen sei (für den alle Entscheidungen in Moskau getroffen wurden). Wobei sich Lukaschenko selbst in seiner ersten Wahlkampagne für die Wiederherstellung der BSSR einsetzte und somit für die Verwaltung durch einen „Gouverneur“.5 

    Gleichzeitig versuchte Lukaschenko, Mascherau die Schuld am Versiegen der staatlichen Förderung für die belarussische Sprache und Nationalkultur anzuhängen – obwohl Lukaschenko im Mai 1995 selbst dafür gesorgt hatte, dass Russisch die zweite Amtssprache wird. Davor hatte diesen Status nur Belarussisch gehabt. Trotzdem wälzte er in einem Interview 2015 die Frage nach dem vulnerablen Zustand der belarussischen Sprache auf das ehemalige Oberhaupt der BSSR ab: „Das war alles Mascherau. Nicht ich, verstehen Sie? Ich nicht. Ich hab ein Land übernommen, in dem Russisch und manchmal Trassjanka mehr gesprochen wurde als Belarussisch”.6

    Pjotr Mascherau: 1998 wurde zu seinem Andenken noch eine Briefmarke herausgegeben. Heute wird offiziell immer seltener seiner gedacht. / © Foto gemeinfrei 

    Viele Experten haben darauf hingewiesen, dass das Mascherau-Jubiläum zu seinem 100. Geburtstag im Februar 2018 auf offizieller Ebene weitgehend ignoriert wurde. Die einzige sichtbare Veranstaltung war eine temporäre Ausstellung im Museum des Großen Vaterländischen Kriegs. Die Propagandisten versuchen heute sogar, seinen Namen im Kontext der belarussischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu vermeiden. Auf Lukaschenkos offizieller Website wird Pjotr Mascherau nur zweimal indirekt erwähnt.     

    Interessenvertreter von Belarus oder Handlanger der Moskauer Politik? 

    Mascherau erfreute sich nicht nur in Belarus großer Beliebtheit, sondern auch außerhalb der BSSR. Mit seiner äußerlichen Attraktivität, seiner ausdrucksstarken, melodiösen Stimme und seinen schauspielerischen Qualitäten fand er geschickt den Draht sowohl zu Staatsoberhäuptern des sozialistischen Lagers als auch zu gewöhnlichen Leuten. Diese Unterhaltungen missfielen häufig den hohen und weniger hohen sowjetischen Beamten.  

    Die Wirtschaftsdaten der BSSR während Mascheraus Amtszeit sprechen für sich, doch sind sie nicht allein sein Verdienst. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von der Regierung der UdSSR getroffen, die sowohl bezüglich Wirtschaftsbranchen als auch generell unter den Sowjetrepubliken die Prioritäten setzte. Laut sowjetischer Statistik stieg die Industrieproduktion in Belarus von 1940 bis 1986 um das 40-Fache. Zum Vergleich: In der gesamten Sowjetunion stieg sie um das 26-Fache, in Russland um das 23-Fache und in der Ukraine um das 18-Fache.7 Das führte zu einer rapiden Urbanisierung: Während Minsk 1950 noch 273.600 Einwohner zählte, waren es 1960 bereits 538.500 und 1972 eine Million und 1990 sogar 1.623.500 Menschen.8 

    Seit die Sowjetunion Anfang der 1960er Jahre den Export von Erdöl und Erdölderivaten hochfuhr, verläuft eine Pipeline durch belarussisches Territorium, die zu einem der weltweit größten Erdölleitungsnetze namens Drushba (dt. Freundschaft) gehört. Rohstoffe aus dem erdöl- und erdgasfördernden Wolga-Ural-Gebiet flossen damals nach Ungarn, Polen, in die Tschechoslowakei und DDR. Die Lage der BSSR als Transitland für den Export von Kohlenstoffverbindungen begünstigte den Bau von riesigen Raffineriebetrieben in Nowopolozk (1963) und Mosyr (1975) und die rasche Entwicklung der chemischen Industrie, des Bergbaus und der Energieerzeugung. Nach dem Krieg konnte durch den Produktionsausstoß im Maschinenbau die Versorgung der belarussischen Landwirtschaft mit technischen Geräten und Anlagen hochgefahren werden; früher wurde alles händisch gemacht und brachte dadurch weitaus geringeren Ertrag. Der deutliche Aufschwung in der landwirtschaftlichen Produktion machte Belarus über die Grenzen der UdSSR hinaus zu einem wichtigen Exportland für Nahrungsmittel. Die Errungenschaften jener Zeit in Industrie und Landwirtschaft legten den ökonomischen Grundstein für ein unabhängiges Belarus und wurden von Lukaschenkos autoritärem Regime in vollem Umfang genutzt.      

    Gegen Mascherau hagelt es trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – Kritik. Für manche war er offensichtlich ein Vertreter des sowjetischen Totalitarismus, der in den meisten Fällen linientreu gehandelt hat. Nie erwähnte er öffentlich die Repressionen gegen seinen Vater. Er verteidigte aktiv die Sowjetmacht und spielte von Jugend an nach den Regeln des totalitären Regimes. Wahrscheinlich hatte ihm genau das seinen direkten Weg in die Politik geebnet.  

    Auf Pjotr Mascheraus Initiative wurde die Metro in Minsk gebaut. Auf dem Foto: Haltestelle Jakub-Kolas-Platz / © Foto Antares 610 / CC BY-SA 3.0  

    Doch steht außer Zweifel, dass Mascherau einen gewissen Einfluss auf Qualität und Tempo hatte, mit denen er die Anweisungen aus dem Kreml befolgte und sie mit Logik und Vernunft versehen konnte. Das setzte er haputsächlich für die sozioökonomische Entwicklung der Städte und ländlichen Gegenden ein. Zum Beispiel war es ihm ein Anliegen, in Minsk eine Metro bauen zu lassen. Das konnte er nur umsetzen, indem er sich für Unterstützung an Leonid Breschnew wandte. 

    Die wirtschaftlichen Erfolge der Mascherau-Ära hatten ihren Preis: Die erste Generation von Dörflern, die ihren festen Wohnsitz in der Stadt hatten, wollte mit dem Ablegen der Muttersprache ihren niederen Status als „Kolchosniki“ (dt. Landeier) überwinden. Vertreter der belarussischen Nationaldemokraten, darunter der führende Politiker Sjanon Pasnjak, nannten Mascherau immer mal wieder einen „erzkommunistischen Russifikator“ und „Zerstörer der belarussischen Nation“. Der ehemalige Parteisekretär wurde für die totale Russifizierung des belarussischen Bildungssystems, für die Schädigung der Umwelt durch wirtschaftliche Erschließung und für die beginnende Verödung der kleinen („perspektivlosen“) belarussischen Dörfer verantwortlich gemacht.9 Und tatsächlich hatte Mascherau gegen die Moskauer Politik der Russifizierung von Belarus und anderen Sowjetrepubliken nicht nur nichts einzuwenden, sondern mehr noch: Er fand diesen Prozess in Ordnung und betrachtete ihn als notwendigen Schritt zur Entwicklung des „Sowjetmenschen“, des „Menschen der kommunistischen Zukunft“.                 

    Es gibt jedoch auch positivere Bewertungen seines Erbes. So ist der Politologe Sergej Bogdan der Meinung, Mascherau habe trotz allem eine wichtige Rolle für die spätere Unabhängigkeit von Belarus gespielt, weil unter seiner Führung die Belarussen endgültig zu einer eigenständigen Nation mit einer modernen Wirtschaft, einem Bildungssystem, mit Kultur und Wissenschaft geworden seien.10 Die britische Historikerin Natalja Tschernyschewa vertritt sogar die Ansicht, unter Mascherau sei Raum für zivilgesellschaftliche Strukturen geschaffen worden.11 

    Letzten Endes kann man das Wirken des ehemaligen BSSR-Oberhaupts als Beispiel dafür betrachten, dass auch unter totalitären Bedingungen Persönlichkeiten an führenden staatlichen Positionen sitzen können, die in der Lage sind, im Rahmen ihrer Befugnisse adäquate Entscheidungen zu treffen und damit die sozioökonomische Modernisierung des Landes voranzutreiben und den Lebensstandard seiner Bevölkerung zu verbessern.     

    Mit Mascheraus Tod und der Ernennung eines neuen Oberhaupts der Republik war die „Partisanen-Epoche“ in der belarussischen Nomenklatur vorbei, und es begann die Zeit der sogenannten „Minsker Industrie-Gruppe“, die Belarus bis zum Zerfall der Sowjetunion und in den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit regierte.

     


    1 Jarosch, N. Tworil na semle i w nebe // Pjotr Mascherow. Epocha i sudba. K 100-letiju so dnja roshdenija. Wospominanija i statji. — M.: Studija Etnika, 2017, S. 488-490. 
    2 Urban, Maikl (2010). Belaruskaja sawezkaja elіta (1966–1986): alhebra ulady / per. s angl. mowy. Wіlnja: EHU. 
    3 Pjotr Mascherow. Epocha i sudba. K 100-letiju so dnjaroshdenija. Wospominanija i statji. — M.: Studija Etnika, 2017, S. 11. 
    4 Natalja Mascherowa objasnila, potschemu ona snjala swoju kandidaturu s presidentskich wyborow (05. Juli 2001), in: https://www.newsru.com/world/05jul2001/masherova.html
    5 Drosdow, Leonid (2018). Petr Mascherow: padenije wwerch. Minsk: Isdatelskije reschenija. 
    6 Lukaschenko — o belorusskom jasyke: Eto ne ja, woprossy— k Mascherowu, in: Euroradio(15.01.2015), https://euroradio.fm/ru/lukashenko-o-belorusskom   
    7 Ioffe, Grigory (2004). Understanding Belarus: Economy and Political Landscape. Europe-Asia Studies, Vol. 56, No. 1 (Jan., 2004), 85–118 (S. 88 ff): https://www.jstor.org/stable/4147439 
    8 Demografitscheski jeshegodnik Respubliki Belarus (2018). Minsk: Nazionalny statistitscheski komitet Respubliki Belarus, S. 33. 
    9 Pasnjak, Sjanon (09.01.2013). Etnas i nazyja. Pazniak, hier: http://pazniak.info/page_etnas_i_natsyiya-yazyke-eto-ne-ya-voprosy-k-masherovu   
    10 Bogdan, Sergej (31.03.2015). Mascherow, kotory stroil Belarus w teni Moskwy, in: Nasha Niva. https://nashaniva.com/?c=ar&i=146809&lang=ru 
    11 Chernyshova, N. The Soviet Roots of the 2020 Protests: The Unlikely History of Belarusian Civic Nationalism // Belarus in the Twenty-First Century. Routledge, 2023, S. 33–49. 

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  • Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    1991 erklärte die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wie alle anderen Sowjetrepubliken, die seit 1990 begonnen hatten, sich von der Sowjetunion loszusagen. Nur die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hatte sich nicht unabhängig erklärt, lediglich ihre Souveränität festgestellt. Die neu entstandene Republik Belarus begab sich in das Abenteuer der parlamentarischen Demokratie, was aber schon bald wieder ein jähes Ende fand. 1994 – bei den ersten Präsidentschaftswahlen – wurde Alexander Lukaschenko ins Amt des Präsidenten gewählt. Er brachte das Land zurück auf einen autoritären Kurs. 

    War dieser Kurs unvermeidlich? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass sich die belarussische Bevölkerung von einer demokratischen Entwicklung abgewandt hat? Hat die kurze Zeit der Demokratie dennoch Spuren hinterlassen, die sich beispielsweise im Selbstermächtigungsprozess der Proteste von 2020 gezeigt haben? In einem Bystro beantwortet der belarussische Historiker Viktor Schadurski diese und weitere Fragen. 
     

    Alexander Lukaschenko 2007 in Minsk / Foto © Imago/UPI Photo

    Русская версия

    1. Erlangte Belarus seine staatliche Souveränität 1991 eher durch die glückliche Fügung äußerer Umstände als durch den eigenen Willen zur Unabhängigkeit?

    Man darf natürlich die Selbstaufopferung vieler Generationen von Belarussen nicht kleinreden, die über Jahrhunderte hindurch für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft haben. Allerdings muss man zugeben, dass eine deutliche Mehrheit der Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sich keine Zukunft außerhalb des „einen Sechstel der Erdoberfläche“ vorstellen konnte. Laut Umfragen aus dem Jahr 1990 waren damals nur zwölf Prozent der befragten Belarussen für eine staatliche Souveränität der Republik. Bei der Volksbefragung, die am 17. März 1991 in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, stimmten 82,7 Prozent  der belarussischen Teilnehmer für die Aufrechterhaltung der UdSSR und nur 16,1 Prozent dagegen. Das waren deutlich mehr Pro-UdSSR-Stimmen als in Russland oder der Ukraine. In der „Parade souveräner Staaten“, die 1988 begann, verabschiedete Belarus seine Unabhängigkeitserklärung erst am 27. Juli 1990, also nach der Ukraine und noch weiteren sieben Unionsrepubliken. Auf diese Weise machte sich die belarussische Regierung nicht nur später als die baltischen Länder, sondern auch später als Russland und die Ukraine auf den Weg in die staatliche Souveränität.

    Der Behauptung, Belarus habe seine Chance auf Unabhängigkeit in erster Linie günstigen äußeren Umständen zu verdanken gehabt – nämlich der Position seiner Nachbarländer, einschließlich Russland –, ist also durchaus zuzustimmen.

    2. Warum waren die Belarussen pro-sowjetischer bzw. pro-russischer als andere Völker der Sowjetunion?

    Eine schwere Belastungsprobe für die Entwicklung der belarussischen Nation war vor allem die aktive Politik der Russifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik sah nicht nur die Verankerung der russischen Sprache in Bildung, Kultur und Verwaltung vor, sondern auch eine zügige Industrialisierung der Unionsrepublik. Die Gründung neuer Automobilgiganten sorgte für ein rasantes Wachstum von Minsk und anderen belarussischen Städten und schuf die Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.  

    Bei der Unterdrückung des nationalen Selbstbewusstseins in der belarussischen Gesellschaft spielte die zentralisierte Kaderpolitik Moskaus eine wichtige Rolle, bei der alle wichtigen Ämter ausschließlich mit „von oben geprüften“ Beamten besetzt wurden. Die so genannte Partisanenelite, mit der man Namen wie Kirill Masurow und Pjotr Mascherow assoziierte, wurde Ende der 1970er durch Vertreter der Großindustrie ersetzt, für die die nationalen Besonderheiten der Belarussen eher ein Relikt aus der Vergangenheit waren als das geistige Fundament eines Volkes mit langen europäischen Traditionen.

    Einer besonders gründlichen Kontrolle durch den sowjetischen Ideologieapparat waren historische Forschungen und der Geschichtsunterricht über Belarus unterworfen. Zur Geschichte der belarussischen Gebiete bis 1917 wurde praktisch geschwiegen, während die Zeit des Großfürstentums Litauen und die Rzeczpospolita als Belagerung des belarussischen Volkes dargestellt wurden, das immer von einer Wiedervereinigung mit Moskau träumte.  

    3. Allen Hindernissen zum Trotz wurde Belarus jedoch zu einem souveränen Staat. Wie war das möglich?

    Wie bereits erwähnt, trugen zur Erlangung der belarussischen Unabhängigkeit äußere Umstände bei. Zugleich können äußere Umstände keine ernsthaften Veränderungen in einem Land herbeiführen, wenn nicht auch die nötigen inneren Faktoren vorliegen. Das große Glück der Belarussen war, dass sie durch ihre ganze Geschichte hindurch immer über eine kleine, aber sehr motivierte, national orientierte Elite verfügten. Diese Leute fanden zur richtigen Zeit und im richtigen Moment das Potenzial und die Möglichkeit, der Gesellschaft einen nationalen Handlungsplan anzubieten. So geschehen in den Jahren 1905 bis 1917 sowie in der Zeit der ersten Belarussifizierung in den 1920er Jahren. 1990 und 1991 gelang es den spärlichen national-demokratischen Kräften, vertreten vor allem durch die Belarussische Volksfront unter der Führung von Senon Posnjak, durch das amorphe, konservative belarussische Parlament – den Obersten Sowjet der XII. Legislaturperiode (1990–1995) –, äußerst wichtige Beschlüsse durchzuboxen, die für Belarus den Weg zur staatlichen Souveränität ebneten und die Bedingungen für Demokratisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Reformen schufen.  

    Aktive Unterstützung bekamen die Demokratisierungsprozesse in Belarus durch die kreative Intelligenzija, durch Bildungspersonal, Kulturschaffende und Unternehmer. Auch in anderen Bevölkerungsschichten fand die Idee der Wiedergeburt der belarussischen Nation Anklang. Der staatlichen Bürokratie hingegen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums bestehen blieb, waren Nationalisierungs- und Demokratisierungsentwicklungen größtenteils fremd.

    4. Hätte Belarus eine Chance auf eine weitere Demokratisierung gehabt?

    Die Anhänger des Wandels in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten, wenn auch eine geringe, so doch eine Chance, dem Autoritarismus Einhalt zu gebieten. Eine verpasste Gelegenheit war laut Experten der Verzicht einiger demokratischer Abgeordneter auf außerordentliche Parlamentswahlen, bei denen aktivere und stärker national orientierte Vertreter der Gesellschaft hätten gewählt werden können. Der Oberste Sowjet der XII. Legislaturperiode wurde 1990 gebildet, als die UdSSR noch existierte und die Kommunistische Partei dominierte, weswegen darin vor allem Anhänger der alten Staatsmacht vertreten waren. 

    Im März 1994 verabschiedete der Oberste Sowjet eine Verfassung, die eine starke Position des Präsidenten in Belarus vorsah, die angesichts der schwach entwickelten politischen Kultur in der Bevölkerung und unreifer demokratischer Institutionen der Diktatur Tür und Tor öffnete. Die Praxis zeigt anschaulich, dass Länder mit einer parlamentarischen Regierung über eine starke Widerstandsfähigkeit gegen Autoritarismus verfügen. Meiner Meinung nach hat Belarus in der Zeit der parlamentarischen Republik nicht ausreichend materielle und moralische Unterstützung durch demokratische Staaten erfahren, die den jungen Staat damals vor allem als traditionelle „Einflusssphäre“ der Russischen Föderation wahrnahmen. 

    5. Warum konnte Alexander Lukaschenko nicht nur die demokratischen Kandidaten besiegen, sondern auch Vertreter der „Regierungspartei“?

    Der Zerfall der UdSSR führte zum Untergang des streng zentralisierten Wirtschaftssystems, die engen Handels- und Produktionsbeziehungen zwischen den Unionsrepubliken rissen ab. Belarus erlebte ein drastisches Waren- und Dienstleistungsdefizit, die Inflation stieg rasant, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftskrise wurde von einer nomenklatorischen Privatisierung begleitet, das heißt, die attraktivsten Objekte aus dem Staatseigentum gingen in den Besitz von Beamten und ihren Verwandten über. Diese negativen Phänomene brachte der Großteil der Bevölkerung mit zwiespältigen Demokratisierungsprozessen in Verbindung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurden Demokratisierungsprozesse fortan nicht mit einer höheren Lebensqualität assoziiert, sondern eher umgekehrt, man sah in der Demokratisierung die Hauptgründe für die Wirtschaftskrise, für verstärkte Bürokratie und die wachsende Korruption.

    6. Wozu führte die Krise am Ende?

    Die Krise ließ in der Mehrheit der Gesellschaft den Ruf nach einer „starken Hand“ in Person des Präsidenten laut werden. Das belarussische Volk hatte keine Erfahrung mit den Bedingungen einer stabilen Demokratie und war sehr anfällig für Populismus. 

    Den Schmerz der Bevölkerung über den Verlust der sowjetischen Vergangenheit und ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen wurde von einer Gruppierung um den ehrgeizigen Alexander Lukaschenko geschickt aufgegriffen, indem sie sowohl die offizielle Regierung als auch die demokratischen Kandidaten scharf kritisierte. Anstelle eines konkreten, stichhaltigen Wahlprogramms wartete der Populist mit dem Slogan „Zurück in die UdSSR“ auf, der ihm mit 80,34 Prozent  der Stimmen einen klaren Sieg einbrachte.    

    7. Die belarussische Bevölkerung wählte Lukaschenko nicht nur, sondern unterstützte auch seinen Kurs der Rücknahme der Belarussifizierung. Wie kam es dazu?

    Im Vergleich zu anderen postsowjetischen autoritären Herrschern geht von Lukaschenko eine zusätzliche Gefahr aus, indem seine Politik auf die Zerstörung der national-kulturellen Grundlagen des belarussischen Staates abzielt. Eine seiner ersten Initiativen war eine Volksabstimmung im Mai 1995, bei der nebst drei anderen diese Frage gestellt wurde: „Sind Sie einverstanden damit, dass der Status der russischen Sprache jenem der belarussischen angeglichen wird?“ [das Belarussische war 1991 in den Rang der alleinigen Staatssprache erhoben worden – Anm. der Red.] 83,3 Prozent der Befragten stimmten der Initiative des Staatsoberhaupts zu. Die Mehrheit (75,1 Prozent ) war auch für die Änderung der Nationalsymbolik und eine stärkere Anbindung an Russland (83,3  Prozent).

    Obwohl die Mehrheit der Lukaschenko-Anhänger belarussischer Abstammung war, stellte die belarussische Sprache keinen hohen Wert für sie dar. Viele Landbewohner waren in die russischsprachigen Städte gezogen und hatten möglichst schnell den Stempel des „Kolchosbauern“ und „Dörflers“ loswerden wollen und versucht, Russisch zu sprechen. Viele ehemalige Landbewohner konnten sich jedoch die typische belarussische Aussprache und die gemischte Lexik nicht abgewöhnen und sprachen Trassjanka. Als dann Anfang der 1990er die aktive Belarussifizierung begann, verspürten sie keine Motivation, zur belarussischen Sprache zurückzukehren, weil das ihre langjährigen Bemühungen, sich einer russischsprachigen Umgebung anzupassen, zunichte gemacht und wieder Aufwand bedeutet hätte. 

    Man muss betonen, dass Lukaschenkos populistischen Kurs auch viele demokratisch gestimmte Wähler unterstützten, die sich in der ersten Zeit von ihm weismachen ließen, dass die Zweisprachigkeit nicht zu einer Benachteiligung der belarussischen Sprache, sondern zur Demokratisierung der Sprachenpolitik führen würde. 

    8. Welche Rolle spielten demokratische Errungenschaften aus der parlamentarischen Zeit für die weitere Entwicklung von Belarus?

    Im November 1996 etablierte Lukaschenko im Zuge einer sogenannten Volksabstimmung, die genau genommen ein Staatsstreich war, eine personengebundene Diktatur. In Belarus wurde ein politischer Kurs eingeschlagen, der ein Erlahmen aller wichtigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Gleichzeitig leistete die belarussische Gesellschaft, gestützt auf demokratische Errungenschaften aus der Zeit der parlamentarischen Republik und auf die Hilfe demokratischer Länder, relativ erfolgreich Widerstand gegen die Konsolidierung des Autoritarismus und sein Abgleiten in Richtung Totalitarismus. Dieser Widerstand fand sowohl in der Politik als auch in Wirtschaft, Bildung und Kultur statt. So schritt trotz der Abneigung des Regenten gegen die Privatwirtschaft ein langsamer, aber stetiger Ausbau der Klein- und Mittelbetriebe voran, es wurden weiterhin moderne Technologien aus wirtschaftlich entwickelten Ländern importiert, und aus dem Ausland kam beachtliche humanitäre und technische Hilfe herein.           

    Als jedoch 2020 die Balance, die zwischen der bröckelnden autoritären Gruppierung und der aufsteigenden belarussischen Gesellschaft bestand, in rasendem Tempo zerstört wurde, musste die Diktatur, um ihr Fortbestehen zu sichern, zu totalitären Methoden greifen.   

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Viktor Schadurski
    Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.01.2023

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