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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Keine Nischen mehr

    Keine Nischen mehr

    Der Alltag in Belarus ist weiterhin von Festnahmen und Gerichtsurteilen geprägt. Mittlerweile gibt es 359 politische Gefangene, es wurden infolge der Proteste seit dem 9. August 2020 über 3000 Strafprozesse in die Wege geleitet. Zudem sind die Machthaber um Alexander Lukaschenko bedacht, durch schärfere Gesetze und Verordnungen jegliche Protest- und Kritikmöglichkeit zu bekämpfen und die Berichterstattung über Protestaktionen und Repressionen durch den Staat zu erschweren. Das Parlament hat kürzlich eine Erweiterung und Verschärfung der Extremismus-Gesetze beschlossen. Auch der Sender Euronews wurde in Belarus blockiert.

    Was passiert mit dem Alltag, mit dem Leben, wenn man in einem politischen System lebt, dass die eigene Entfaltungsmöglichkeit immer mehr einschränkt? Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch lotet diese Fragen in einem Beitrag für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma aus, veröffentlicht wurde der Text schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.

    Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt. 

    Dabei dachte ich, ich hätte schon alles mitgemacht und wäre von Anfang an dabei gewesen.

    Bislang hatten die unsicheren Kantonisten durchgehalten, weil es immer noch irgendwo eine Nische gab. 

    Wenn sie die Leute wegen der Kundgebungen in Kurapaty einbuchteten, konntest du noch zum Michalok-Konzert im Gorki-Park gehen. Wenn sie dann auch noch Michalok und Kulinkowitsch verboten (das hatten wir schon mal), gingst du eben in eine Kunstausstellung, die dich daran erinnerte, dass da noch jede Menge Andersdenkende waren wie du. 

    Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt

    Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei einer Lesung in Deutschland vorsichtig gefragt wurde, ob wir, die Bewohner aus dem Land des Glücks, eigentlich einfach so für Reisen durch den Eisernen Vorhang kämen. Damals fand ich, die Deutschen würden übertreiben. 

    Es war ja nicht alles schlecht.

    Ich weiß noch, wie ich erklärte, ein Buch könne man ja im 21. Jahrhundert nicht mehr komplett verbieten, ein starker Text bezwinge jedes Verbot. 

    Und jetzt stehen wir hier. 

    In einer Welt von Texten, die als extremistisch eingestuft werden. 

    In einer Welt von Kunstausstellungen mit unpolitischen Themen (Medizin und Ärzte, come on!), die geschlossen werden, nicht von der Kommission zur Bekämpfung von Pornografie, sonst wäre es ja noch Kunst, sondern vom Ministerium für Katastrophenschutz. 

    Noch vor einem Jahr betete jeder Theaterregisseur, jede Organisatorin einer Kulturveranstaltung und jeder Schriftsteller vor einer Signierstunde: „Hoffentlich kommt jemand, hoffentlich kommt jemand.“

    Denn Zuschauer, Publikum, Leserinnen waren wählerisch angesichts des reichhaltigen kulturellen Angebots und kamen nicht zu jedem. 

    Auch jetzt wird gebetet. 

    Nur anders. 

    Nämlich: „Hoffentlich kommt keiner.“ 

    Gemeint sind damit natürlich nicht Zuschauer, Publikum und Leserinnen. 

    Es gibt praktisch keine künstlerischen Aktivitäten mehr, die nicht mit einem blauen Kleinbus mit getönten Scheiben enden. 

    Und vor allem lässt sich unmöglich vorhersagen, wo, an welchem Punkt, das Signal gegeben wird.

    Da denkst du, du bist Künstler. Oder Eigentümer einer Kultureinrichtung. Wo ist da der Grund zu Verhaftung? Der Anlass für ein Strafverfahren? 

    Es ist wie in dem bekannten Spruch: Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Kommunist war. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Gewerkschafter war. Als sie mich geholt haben, war niemand mehr da, der für mich hätte sprechen können. 

    Zum ersten Mal gibt es keine Nischen mehr. 

    Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie. Wenn du in Krewa Masleniza gefeiert hast, hast du immer noch die Chance, dass sie später nicht mal ein Strafverfahren gegen dich einleiten.

    Nur will niemand mehr riskieren, das auszuprobieren. 

    Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie

    Die aktivsten Leute sind gegangen. Das sind so viele, dass ich kürzlich gemerkt habe: Inzwischen sind wirklich sämtliche belarussischen Bands, die ich jahrelang im Auto gehört habe (Nizkiz gab es damals noch nicht, sorry), im Ausland. Die letzten Verbliebenen haben versucht sich zu bewegen, als hätte sich die Lage nicht geändert. Doch sie sind schnell an ihre Grenzen gestoßen. 

    Niemand ist mehr unschuldig. 

    Es ist ganz offensichtlich: Sie wollen ganze Tätigkeitsbereiche „mit einem glühenden Eisen ausbrennen“. Da kannst du tschechische Autos oder Nivea-Creme verkaufen, das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit. 

    Nach der nächsten lauten Unterredung. Die selbst jene erstarren lässt, die das Ganze ausführen sollen. 

    Das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit

    Musiker sind schuld, weil sie die falschen Lieder singen. 

    Sportlerinnen sind schuld, weil sie die falschen Aufrufe gestartet haben. 

    Werbeleute sind schuld, weil sie den falschen Leuten Platz einräumen. 

    Händler sind schuld, weil sie angeblich nicht mit belarussischen Waren handeln (stimmt das denn)? 

    Journalistinnen sind schuld, weil sie in diesem Land schon immer schuld sind

    Sogar Theaterleute sind schuld! Theaterleute, hört ihr?! Überall, auf der ganzen Welt sind Theaterleute seit Shakespeares Zeiten noch nie für etwas verantwortlich gewesen. Höchstens dafür, dass niemand über ihre Scherze lachte. Und jetzt haben sie sich der Illoyalität schuldig gemacht. 

    Und müssen ausgemerzt werden. 

    Du, eine freie, selbstbewusste Person, die nichts als einen guten Lime-Coffee möchte, bist nur ein einziges falsches Wort von einem feuchten, vergitterten Keller entfernt. 

    Eine einzige Tat, die vor einem Jahr noch niemand wahrgenommen hätte.

    Das Leben hier wird zum Tanz über dem Abgrund. 

    Und erfordert viel Mut. 

    Jeder neue Morgen ist eine Herausforderung: Bist du noch Mensch? Bist du noch frei? 

    Alles ist verboten, selbst Reportagen über die Aktivitäten auf den Straßen. 

    Es ist verboten, am falschen Tag vor die Tür zu gehen. 

    Du hast Gleichgesinnte angehupt? Du hast gute Chancen, den Führerschein zu verlieren. 

    Und ich denke Folgendes. 

    Die Nischen.

    Die von früher.

    Die gab es nicht aus Gutmütigkeit. 

    Denn das Sowjetsystem kannte keine Gutmütigkeit. Und die jetzt, die haben einfach alles aus den früheren, totalitäreren, aber auch wesentlich durchdachteren Zeiten übernommen.

    Und die Typen von früher mit ihren Hornbrillen und aufgedunsenen Gesichtern waren komischerweise davon ausgegangen, dass der Pöbel (also Menschen wie du und ich) doch ein Ventil braucht, um seinen ästhetischen Dampf ablassen zu können. Sie haben keinen Krieg geführt, sie wollten einfach ewig regieren. Und sie taten alles dafür, diese Herrschaft zu ermöglichen. 

    Deshalb gab es in der UdSSR auch die Schestidesjatniki. Wosnessenski, Wyssozki, das Taganka-Theater, Mark Sacharow, Andrej Tarkowski, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Uladsimir Karatkewitsch.

    Was jetzt geschieht, ist der Versuch, das Atmen zu verbieten. 

    An ein derartiges Experiment haben sich nicht einmal die großen, müden Vorgänger herangewagt, die das Fundament jener Angst gelegt haben, die hier nun wieder alles beherrschen soll. 

    Waren das denn Idioten?

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    Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

    Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. In seinen Romanen befasst er sich mit den Mechanismen autoritärer Macht und ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag der Menschen. In dieser Woche ist sein neuer Roman Revolution in der deutschen Übersetzung von Thomas Weiler erschienen. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in dem Roman allerdings nicht um die Protestbewegung, die Belarus seit dem 9. August 2020 in Atem hält. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, was Macht ist, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt und wie sie Menschen letzten Endes zum Schlechten verändert. Über sein neues Buch und über die Proteste in seiner Heimat hat Martinowitsch unlängst in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) gesprochen.

    Auch in Kolumnen und Interviews äußert sich der Schriftsteller immer wieder zu politischen Ereignissen in Belarus. So auch in diesem Beitrag, der sich mit dem aktuellen Stand der Protestbewegung beschäftigt und den Blick in deren nahe Zukunft wagt. Geschrieben hat Martinowitsch den Artikel für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma, veröffentlicht wurde er schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.

    Wahrscheinlich stecke ich schon zu lange da drin. 

    Und erinnere mich an sehr viel. 

    Jedenfalls sehe ich keinen Anlass für Optimismus. 

    Ihr könnt das als Denkanstoß nehmen. 

    Als Einladung zur Desillusionierung. 

    Zur Planung dieses Jahres und eures Lebens. 

    Als Entscheidungshilfe, wie ihr leben und was ihr ändern wollt. 

    Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf? 

    Die Proteste sind nicht das Coronavirus, da gibt es keine erste und zweite Welle. Die Menschen, die im Sommer und Herbst in Massen auf die Straße gegangen sind, haben dafür gebüßt, haben gesessen, haben Repressionen unvorstellbaren Ausmaßes erlebt – wieso sollten sie wiederkommen? 

    An diesem Punkt waren wir schon mal. 

    Und es hat zu nichts geführt. 

    So war das in den 2000er Jahren: Im Herbst schlug die Opposition vor, bis zum Frühling zu warten. Und dann, nach dem traditionellen Tag der Freiheit und dem Tschernobyl-Marsch, wollte sie auf den Herbst warten, in dem sich die „wirtschaftliche Lage verschlechtern“ sollte. Im Herbst wiederholte sich dann das Ganze. Schon der Ausdruck „traditionelle Protestaktion“ ist ein Oxymoron. Ebenso die „geheime Protestaktion“. 

    Es ist doch offensichtlich, aus der Situation „Eine Million an der Stele“ wurde die Situation „Flashmob in der Metro: Menschen tragen weiß-rot-weiße Strümpfe und fotografieren sich ohne Gesichter“. 

    Ihr meint, Elite und Nomenklatura würden sich aufspalten lassen? 

    Die Krise des Jahres 2020 ist nicht mit der Krise des Jahres 1996 vergleichbar. Als ein Mann nur einen Schritt von einem Amtsenthebungsverfahren entfernt war und die Hälfte der Parlamentsabgeordneten und ein Teil der Verfassungsrichter, wenn nicht gegen ihn, so doch wankelmütig waren. Bei vergleichbarer Lage auf den Straßen und Plätzen … Und wie endete es? Mit einer Beschränkung der Sitze „im neuen Parlament“ und einer Verfassungsänderung, nach der eine Amtsenthebung schwieriger zu bewerkstelligen ist als eine Oscar-Nominierung für einen staatlich produzierten Kinofilm. 

    Ihr hebt auf die wirtschaftliche Lage ab? Da kann ich nur sagen: Ja, ja! Warten wir den Herbst ab! Sie wird sich verschlechtern und … (das hatten wir schon). 

    Ihr seid überzeugt, Putin sei enttäuscht, dass die Zusagen von Sotschi, einen Dialog zu starten und die Machtbefugnisse neu zu ordnen, nicht eingehalten wurden? Was kann der denn schon, dieser Putin? Sie sehen ja, Nawalny zu vergiften, haben sie auch nicht geschafft. Und hier haben wir es mit einem geopolitischen Gambitspiel zu tun, einer komplizierten Geschichte. Außerdem dürfte es im Frühjahr aller Voraussicht nach auch in Russland hoch hergehen, weshalb sollte man also die unzufriedenen Russen noch damit ermuntern, dass man die Proteste bei den Nachbarn in Veränderungen münden lässt? 

    Ich weiß, was das Regime getan hat und was es tun wird. Mit der Zusage, die Verfassung ändern zu wollen, hat es sich Zeit erkauft, die Proteste zu ersticken. Und nun, da die Spannungen unter den Ofen gekehrt sind, packt es den Stier beim Euter, schleppt das Ganze bis zum Jahr 2025 und erklärt, die Zeit sei „noch nicht reif für Veränderungen“ (wie gehabt). 

    Es wird vorschlagen, dass wir „die aktuelle Seite umblättern“ und „zum normalen Leben zurückkehren“. 

    Und manch einer wird tatsächlich zurückkehren zu diesem Leben. 

    Wird für die belarussische Sprache auf Etiketten kämpfen. Stets darum bemüht zu verschweigen, dass man diese Sprache binnen drei Tagen zurückhaben könnte, würde sich etwas Größeres ändern. 

    Manch einer wird für die Verteidigung von Kurapaty trommeln — ein Heiligtum, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Furor dort seinen Ursprung hat, in Kurapaty, in der ausgebliebenen nationalen Einigung um dieses Unglück. Aber hätten sich die Dinge 1996 anders entwickelt, stünde in Kurapaty längst ein großes Denkmal und die umliegenden Hektar Land wären unantastbar. 

    Manch einer wird seine Bemühungen und seine Rhetorik auf die Erneuerung der Paläste lenken, jener Paläste, in deren Fenstern unlängst noch alle Scheiben ganz waren und die alten Eichentüren intakt, die aber zusehends verfallen und weiter verfallen werden, wenn der Staat sie wieder an sich reißt, da man hier nichts vollständig besitzen kann, unterstehen wir doch alle dem Kreisexekutivkomitee. 

    Diejenigen, die sich weiter erinnern, werden weiter schreien. 

    Weiter stöhnen. 

    Sie werden sich an internationale Organisationen wenden, die immer gleichgültiger reagieren werden, da an Belarus als Transitland das große Kapital derjenigen hängt, die hinter europäischen Politikern stehen. 

    Bald werden diese gramgebeugten Rechtschaffenen selbst bei den Menschen hier im Land kein Gehör mehr finden. Auch bei denen, die alles gesehen haben und überall dabei waren, denen die Erinnerung daran aber zu schmerzhaft ist. Dann doch lieber shoppen gehen und Serien schauen, außerdem ist es einfach eine Riesengaudi, im Gummireifen die vereiste Tubingbahn in Silitschy runterzusausen … 

    Wir werden uns zerstreiten darüber, wer was falsch gemacht hat. Wieso es gekommen ist, wie es gekommen ist. Wir werden den ehemaligen Führungsfiguren Vorhaltungen machen, besonders jenen, die ins Ausland gegangen sind (dabei hätten sie in erster Linie unser Mitgefühl verdient). Wir werden uns wundern über die Blumen, die manche weiterhin an den Orten ablegen, wo Taraikowski ermordet und Bondarenko zusammengeschlagen wurden. 

    Ich bin einer von denen, die sich erinnern und sich immer erinnern werden. 

    Nicht nur an 2020. 

    Sondern auch an 2010 (Blutlachen im Schnee, schwarze Phalangen in der Dunkelheit, das Aufblitzen der Lichter auf den Helmen). 

    Und an 2006 (oh, dieser Schneesturm!). 

    Und an 1996 und 1999 (hat einer behauptet, die ersten Todesopfer gab es erst seit letztem Sommer). 

    Meine Erinnerung ist es, die mir die Freude nimmt. 

    Aber dieselbe Erinnerung verbietet mir auch, wieder normal zu werden. 

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