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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

    Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

     

    „Lukaschenko hat heute eine Wahlfarce veranstaltet, und wir fliegen mit der Person nach Brüssel, die wirklich zum Präsidenten gewählt wurde. Frau Präsidentin, herzlich willkommen.“ Das sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski am Abend des 26. Januar 2025 kurz vor seinem Flug in die belgische Hauptstadt. Seine Begleitung: Swetlana Tichanowskaja. In Belarus hatte sich der Langzeit-Diktator gerade zum Sieger einer Pseudo-Wahl küren lassen. 

    Gab es bei dieser Scheinwahl überhaupt Überraschungen? Unter welchen Bedingungen fand die Wahl-Inszenierung statt? Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Form profitieren? Wird das Regime die Repressionen nun abmildern? 

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).

    Eine Gruppe junger Leute passiert ein Plakat, das die „Präsidentschaftswahlen” in Belarus bewirbt. Oktoberplatz, Minsk / © Foto IMAGO / ITAR-TASS Vladimir Smirnov

     

    dekoder: Was sagt das offizielle Ergebnis bei den Scheinwahlen aus? 

    Victoria Leukavets: Das Ergebnis von 86,82 Prozent, das sich das Regime selbst zuerkannt hat, zeigt den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit und den zutiefst undemokratischen Charakter der Wahl. Schließlich hat das Regime die Gesellschaft in den vergangenen Jahren mit schrecklichen Repressionen überzogen. Eine solche Zahl deutet eindeutig darauf hin, dass die Wahl manipuliert wurde und das Ergebnis im Voraus feststand. Dies ist typisch für autoritäre Regime, in denen die offiziellen Ergebnisse von jeglichem echten Wahlprozess abgekoppelt sind. 

    Gab es tatsächlich keinerlei Überraschungen? 

    Die wahre Überraschung wäre, wenn die Wahl fair verlaufen wäre. Da es keine legitime Opposition gab und abweichende Meinungen unterdrückt wurden, war diese Wahl alles andere als frei und fair. Die Vorstellung, dass es „keine Überraschungen“ gab, zeigt nur, wie gründlich das System manipuliert ist.

    Wie sehen diese Manipulationen aus?

    Unter der Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka, der seit über drei Jahrzehnten an der Macht ist, wurden Oppositionelle systematisch zum Schweigen gebracht, entweder durch Inhaftierung, Exil oder Einschüchterung. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen mittlerweile strengen Beschränkungen, so dass die Wähler keinen Zugang zu alternativen Meinungsäußerungen hatten. Darüber hinaus mangelte es dem Wahlprozess an Transparenz und Fairness, es gab weit verbreitete Wahlmanipulationen und staatliche Kontrolle über die Wahlergebnisse. In einem solchen Umfeld, in dem echte Wahlmöglichkeiten und demokratische Grundsätze unterdrückt wurden, waren diese Wahlen weder frei noch rechtmäßig. 

    Die Parlamentswahlen Anfang 2024 fanden bereits unter enormen Sicherheitsvorkehrungen statt – wie sah es diesmal aus? 

    Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl Schüler der Oberstufe als auch Studenten ideologisch geschult wurden, um auf die bevorstehenden Wahlen eingeschworen zu werden. Eine ähnliche Praxis gab es bereits vor den Wahlen 2020, und es wird erwartet, dass sie sich nach den Protesten von 2020 noch intensiviert hat. Der Staatssekretär von Lukaschenkas Sicherheitsrat, Aljaksandr Wolfawitsch, hat versucht, die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Er hat vor möglichen Provokationen im Zusammenhang mit den Wahlen gewarnt. Die Staatsmedien und die „alternativen“ Kandidaten führten eine gedämpfte Agitationskampagne, vermieden Kundgebungen und Kritik an den Mitbewerbern. 

    Ab dem 20. Januar wurden die Miliz und die Truppen des Inneren in Erwartung der Wahl am 26. Januar rund um die Uhr in einen verstärkten Einsatzmodus versetzt. Mobile Einsatzteams, ausgerüstet mit Maschinenpistolen, waren zur Unterstützung in den Wahllokalen eingesetzt. Die vorzeitige Stimmabgabe begann am 21. Januar. Wjasna berichtete, dass die Belarussen gezwungen wurden, vor den Wahlen ein Dokument zu unterzeichnen, in dem sie sich verpflichteten, nicht zur Machtergreifung aufzurufen. Vor dem finalen Wahltag war von den Behörden angekündigt worden, dass der Zugang zu Webseiten in Belarus aus dem Ausland blockiert werde. 

    Welche Rolle haben Lukaschenkas Mitkandidaten gespielt? 

    Dieses Mal hat die Zentrale Wahlkommission nur regimetreue Kandidaten zugelassen. Insgesamt wurden fünf Kandidaten registriert – Lukaschenka selbst und Hanna Kanapazkaja – eine regimetreue Kandidatin – traten als Unabhängige an. Die anderen drei Kandidaten gehörten regimefreundlichen Parteien an: der Kommunistischen Partei, der Liberaldemokratischen Partei von Belarus und der Republikanischen Partei für Arbeit und Gerechtigkeit. Diese streng kontrollierte Kandidatenliste ließ wenig Raum für echten Wettbewerb und sicherte Lukaschenkas anhaltende Vorherrschaft.

    Die Spoiler-Kandidaten spielten für das Regime eine entscheidende Rolle, indem sie die Illusion eines politischen Wettbewerbs erzeugten und gleichzeitig die Macht der Herrschenden sicherten. Ihre Präsenz trug dazu bei, die das Bild als Mehrparteiensystems zu stärken, und vermittelte die Illusion einer Wahlmöglichkeit. In Wirklichkeit trugen diese Kandidaten jedoch dazu bei, die Legitimität der Wahlen aufrechtzuerhalten, die streng kontrolliert und manipuliert wurden, um jede ernsthafte Herausforderung der Regierung zu verhindern. 

    Im Vorfeld der Wahlen tourte ein „Marathon der Einheit“ durch das Land – eine Propagandashow mit Musikern, Kinderunterhaltung und Auftritten von Propagandisten. Einheit ist ein zentrales Konzept in Lukaschenkos Propaganda: Was verbirgt sich dahinter? 

    Der Marathon der Einheit war ein groß angelegtes soziales und kulturelles Ereignis, das am 17. September 2024 begann und sich über wichtige Städte und Regionen in ganz Belarus erstreckte. Er wurde bis zu den Wahlen fortgesetzt und fand seinen Höhepunkt in einem großen Konzert und einer Reihe von Aktivitäten in der Hauptstadt Minsk. Die Veranstaltung umfasste eine Vielzahl von Programmpunkten, wie beispielsweise die Vortragsreihe KEINE langweilige Vorlesung, Stadtspaziergänge mit dem Titel Das ist alles mein Geburtsland, Ausstellungen wie Belarus. Takeoff und Souveränes Belarus, eine mobile Ausstellung des Belarussischen Staatlichen Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und eine Konzertreihe mit dem Titel Die Zeit hat uns erwählt.  

    Das Lukaschenka-Regime nutzte diesen Propaganda-Marathon, um Einigkeit zu demonstrieren und zu zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Führung steht. Einige Veranstaltungen im Programm zielten ausdrücklich darauf ab, den Staat als gegensätzlich zu den demokratischen Kräften im Exil zu sehen. So wurde in der Ausstellung Parallelwelten der belarussische Staat als Symbol für positive Entwicklung und Fortschritt dargestellt, während die Opposition für Zerstörung und Verfall steht. 

    Plakat an einer Bushaltestelle mit den Kandidaten und ihren Wahlprogrammen / © Foto Gazetaby.com  

     

    Hat Lukaschenkos Staat außer Propaganda-Slogans irgendwelche konkreten Ideen für die Zukunft?   

    Eines der Schlüsseldokumente ist das Konzept für die sozioökonomische Entwicklung, das in sowjetischer Tradition als Fünfjahresplan konzipiert ist. Im Dezember letzten Jahres wurde ein Konzeptentwurf für das die Jahre 2026–2030 erstellt, der dem Ministerrat im Frühjahr vorgelegt werden soll. In dem Entwurf werden mehrere Prioritäten genannt: 1. Technologischer Aufschwung – Sicherung der Souveränität in strategisch wichtigen Branchen, insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. 2. Investitionsmanöver – die Priorisierung von Investitionen in Projekte mit hohem Multiplikatoreffekt. 3. Humanressourcen der Zukunft  – die Entwicklung von Humankapital, um den Anforderungen der digitalen Wirtschaft gerecht zu werden. 4. Proaktiver Export – die Ausweitung des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit aufstrebenden Märkten in Südostasien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika. 5. Regionalentwicklung – die Schaffung umweltfreundlicher, gut entwickelter Regionen mit hohem Lebensstandard. 

    Diese Ziele mögen erstmal vernünftig klingen, aber sie stehen nur auf dem Papier und adressieren die aktuell drängenden Probleme von Regime und Land. Das Konzept ist also dazu da, die Gesellschaft zu beruhigen und sie hinter sich zu scharen. In der Praxis wird jedoch eine der dringlichsten Herausforderungen und künftigen Ziele für das Lukaschenka-Regime darin bestehen, seine Souveränität zu bewahren und eine stille Übernahme durch Russland in allen Bereichen – Kultur, Wirtschaft, Militär und Politik – zu verhindern. 

    Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Weise von den Wahlen profitieren? 

    Die Demokratiebewegung hat die „Wahlen” vor allem genutzt, um das internationale Bewusstsein für die Lage in Belarus zu schärfen und auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Am Wahltag gab es in Warschau eine Großdemonstration, eine Konferenz mit dem Titel Belarussen haben Besseres verdient und hochrangige Gespräche am Rande des Rates für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel. Das Europäische Parlament hat bereits eine Resolution verabschiedet, die die EU dazu aufruft, die Wahlen in Belarus nicht anzuerkennen. Mit großer Sicherheit werden weitere nationale Parlamente dieser Resolution folgen. 

    Seit letztem Sommer sind über 240 politische Gefangene freigelassen worden – von Kalesnikawa und Babaryka gab es Lebenszeichen. Wie können diese Zeichen gedeutet werden? 

    Das Regime verfolgt mit dieser Politik möglicherweise mehrere Ziele. Innenpolitisch ging es Lukaschenka womöglich darum, die Spannungen innerhalb der belarussischen Gesellschaft im Vorfeld der Wahlen zu verringern. Darüber hinaus könnte er auch versuchen, den Dialog mit dem Westen wieder aufzunehmen. Seine Bemühungen um eine subtile Liberalisierung könnten als Versuch gewertet werden, den westlichen Ländern zu signalisieren, dass er für Verhandlungen offen ist, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen.  

    Außerdem könnte Lukaschenka seine Aussichten auf einen Dialog mit dem Westen in einem breiteren regionalen Kontext sehen. Angesichts der sich möglicherweise anbahnenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine verfolgt er diese Entwicklungen genau und kalkuliert ihre Auswirkungen. Möglicherweise geht er davon aus, dass Verhandlungen über die Ukraine unvermeidlich sind, und sein Handeln könnte ein frühzeitiger Versuch sein, sich auf eine mögliche Veränderung der regionalen Gegebenheiten vorzubereiten. 

    Viele fragen sich: Werden die Repressionen nach der Scheinwahl nachlassen?  

    Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Regime wirklich eine Liberalisierung oder eine Annäherung an den Westen anstrebt. Stattdessen wird sich das Lukaschenka-Regime mit ziemlicher Sicherheit darauf konzentrieren, die Kontrolle über die Lage im Land zu behalten, wobei die Wahlen nur einer von vielen Schritten in diesem Prozess waren. Tatsächlich könnte sich die Phase nach den Wahlen als noch kritischer erweisen als die Wahlen selbst, wie frühere Wahlzyklen gezeigt haben. Historisch gesehen ist die Zeit nach den Wahlen die Zeit, in der das Regime mit seinen größten Herausforderungen konfrontiert ist, mit möglichen Unruhen oder Versuchen, seine Macht in Frage zu stellen. In Anbetracht dessen ist Lukaschenkas Vorgehen eher Teil einer strategischen Bemühung, die Situation zu stabilisieren und dadurch sicherzustellen, dass jeglicher Dissens sowohl während als auch nach den Wahlen schnell eingedämmt wird. 

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  • Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?  

    Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?  

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). 

    dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum? 

    Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.  

    Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?

    Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. 
    Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.  

    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by
    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by

    Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte? 

    Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer. 

    Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch? 

    Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle. 

    Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln? 

    Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann. 

    Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen? 

    Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.  

    Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich? 

    Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen. 

    Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus? 

    Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter. 

    Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst. 

    Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt. 

    Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv? 

    Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben. 

    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja
    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja

    In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte? 

    Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen. 

    Und die wären? 

    Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.

    Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert. 

    An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.  

    Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten? 

    Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. 

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