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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die stillgelegte Stadt

    Die stillgelegte Stadt

    Rauchende Schornsteine und stampfende Maschinen – die Fabriken und Schmelzwerke waren einst stolzes Symbol der sowjetischen Wirtschaftsmacht. Viele von ihnen findet man bis heute in der Ural-Region, die während des Großen Vaterländischen Kriegs zu einem der wichtigsten sowjetischen Industriezentren ausgebaut wurde. So konnte weitab der Front die industrielle Produktion sichergestellt werden. Ein Propaganda-Gedicht besang die Region als „Stützregion der Staatsmacht“, als eine Kraft, die weit draußen im Hinterland dafür sorge, dem Feind ein jähes Ende zu bereiten. 

    Vom Reißbrett aus schossen die Fabriken aus dem Boden. Viele von ihnen bildeten das Zentrum sogenannter Monostädte –Arbeitersiedlungen, die Stalin ab den 1930er Jahren rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichten ließ.
    Statistisch gesehen liest sich die Geschichte der Monostädte wie eine magische Zahlenreihe: Über 400 Monostädte gab es in Russland, die einst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten. Jeder vierte russische Staatsbürger lebt in einer solchen Stadt. 
    Die in der Ural-Region angesiedelten Monostädte entwickelten sich dank reicher Rohstoffvorkommen zu wichtigen Industriezentren mit einem Lebensstandard, der mancherorts weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag.
    Doch mit dem Ende der Planwirtschaft begann ihr Niedergang, auch die globale Wirtschaftskrise 2008 und die anhaltende Russische Wirtschaftskrise setzen ihnen zu. Zahlreiche Betriebsschließungen sind die Folge. 

    Das trifft sowohl die Monostädte, als auch historisch im Ural verwurzelte Städte, die ihr Gesicht in der Sowjetunion zur Industriestadt wandelten. Solche Städte fernab der üblichen Transport- und Handelswege geraten zunehmend in Vergessenheit. So auch die Stadt Resh, einst eine Hochburg der Nickelproduktion, der die Journalistin Victoria Ivleva für Takie Dela einen Besuch abstattete. Die Stilllegung des Nickelwerks brachte nun schon die dritte große Entlassungswelle mit sich – mit verheerenden Folgen für die Bewohner.

    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela
    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela

    Wenn man nach Resh hineinfährt, passiert man eine Stelle mit dem Datum der Stadtgründung: 1773. Ein Stückchen weiter fällt einem der etwas irritierende Schriftzug „Baden-Baden Smaragdküste“ ins Auge – und das mitten im Uralgebirge.

    „Das ist dieses Kurbad hier bei uns, mit Thermalbecken, da können Sie sogar bei extremen Minusgraden draußen baden“, sagt mein Fahrer und fängt dann plötzlich an, von den echten Smaragden zu erzählen, die hier haufenweise herumliegen, und von der verlassenen Goldmine neben dem Haus seiner Großmutter, wo er immer schon mal hineinklettern wollte, aber er hat Angst, eins auf die Mütze zu bekommen, wenn er da „irgendwas ausbuddelt“, sagt er.

    Kurz gesagt, ich bin umringt vom Ural.

    Am Ortsanfang steht ein Schild ,Baden-Baden Smaragdküste‘ – und das mitten im Uralgebirge

    Resh ist ein ruhiges Städtchen, hübsch anzusehen, es fügt sich ein in den Ural und seine reiche Natur, ohne sie zu erdrücken. Viel Himmel ist hier zu sehen, viel Wasser, alte Bäume, die Stadt wirkt malerisch im Sommer, im Winter wie eine Grafik. Resh mit seiner weitverzweigten Anlage nimmt einen für sich ein, seine verschlungenen, hinan- und hinabeilenden Straßen, der riesige alte, asymmetrisch geformte Teich, in dem man ganzjährig angeln kann, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Villen und die erstaunlich sanftmütigen Menschen. 

    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort
    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort

    Die Hauptsehenswürdigkeit von Resh, von jedem Punkt aus zu erahnen, ist der rot-weiß gestreifte Schornstein des Nickelwerks, das die Stadt achtzig Jahre lang ernährt hat und das es nun, unerwartet für die Bewohner und anscheinend auch für das Werk selbst, plötzlich nicht mehr gibt. Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort.
    Im Zuge der Betriebsschließung sollen alle entlassen werden, und die eigentliche Fabrik, in der der Betrieb früher Tag und Nacht nicht zum Erliegen kam, liegt bereits verlassen da. Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht. 
    Das Werk und seine überraschende Stilllegung, die hier alle kalt erwischt hat, sind es auch, die mich nach Resh geführt haben.

    Man muss wissen, dass Resh Nickel kein eigenständiger Betrieb ist. Er ist das Mittelglied in einer Kette, die von der Gewinnung des Nickelerzes bis zur Schmelzung des Metalls reicht. Resh Nickel stellt das Zwischenprodukt Rohstein her; das Reinnickel wird in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Werchni Ufalei gewonnen. Die Werke in Resh und Ufalei sowie die Nickelgrube in der Stadt Serow bilden zusammen die Firma Rus Nickel, die 15 Prozent des russischen Nickels produziert.

    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht
    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht

    Iwan Iwanytsch Dimitrijew, Betriebsleiter von Resh Nickel:

     „Dass der Preis für Koks sich verdoppelt hat und gleichzeitig der Nickelpreis gesunken ist, das haben wir nicht verkraftet, das muss man so sagen. Aber das heißt ja nicht, dass man den Betrieb so Knall auf Fall dichtmachen musste, einfach hinschmeißen und dem Unkraut überlassen. Stillstandsphasen hatten wir auch früher schon, aber wir haben jedes Mal wieder neu angesetzt, haben Teile modernisiert, uns irgendwas überlegt …“

     „Und der Betrieb florierte?“

     „Na sicher doch. Hier war schließlich die wissenschaftliche Plattform der UPI [Uralski Gossudarstwenny Technitscheski Universitet, dt.: Staatliche Technische Universität des Uralgebiets – dek], hier pulsierte das wissenschaftliche Leben, der Erfindergeist, hier war es so interessant! Das ist es ja, was mich fertigmacht: Generationen haben das alles hier aufgebaut, und wofür? Es tut einem in der Seele weh. Gusseisen und Stahl können wir hier produzieren, wir haben eine extrem vorteilhafte geografische Lage, beste Infrastruktur. Wir müssen umstrukturieren, aber doch nicht das Werk stilllegen – ich könnte wirklich schreien! 2013/14 haben wir nämlich mit Gewinn gearbeitet, kleinem zwar, aber immerhin. Dann hat der Staat die Transportkosten erhöht – und das war´s dann. Man könnte meinen, er arbeite selbst auf die Liquidation hin, ist doch wahr, oder? Ich meine, schauen Sie mal – auf dem Wappen der Oblast Swerdlowsk da heißt es ,Stützregion der Staatsmacht‘, also vielleicht sollte man die nicht mal eben so weghauen, diese Stütze!“

    Vom Betriebsleiter bis zu den Besitzern von Resh – das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran

    Ach, Iwan Iwanytsch! Der ist so ein echtes Arbeitstier, zuerst war er Schmelzergehilfe in Werchni Ufalei, dann hat er eine Lehre gemacht, ist Werkmeister geworden und jetzt eben Betriebsleiter. Arbeiten will der Mann, Feuer und Flamme ist Iwan Iwanytsch für seinen leitenden Posten, und gerade mal 40 ist er heute. Aber Iwan Iwanytsch ist bloß der Betriebsleiter, von ihm bis zu den Besitzern von Resh Nickel, deren Namen im Betrieb kaum einer kennt, das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran. 

    Die Besitzer sind Leute von ganz anderem Schlag, die haben weder mit der Staatsmacht, noch mit dem Nickel oder den entlassenen Arbeitern irgendwas am Hut. Denn so ist es nun mal bei uns im Land: je größer das Geschäft, desto kleiner das Gewissen und das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen.

    Heute gehört zum Beispiel das gesamte Gesellschaftsvermögen des Betriebs seinem Gläubiger, der B & N Bank; wie es aussieht, entschwindet die ganze Leidenschaft für den Nickel in unbekannte Höhen – bis über die Wolken – und landet bei dem Schlagerdichter Michail Guzerijew und seinem Neffen Michail Schischchanow.

    Wie gesagt – von Iwan Iwanytsch bis zu denen, das ist wie von hier bis zum Aldebaran. 

    Die ganze Abwicklung begann wie üblich damit, dass den Leuten Lügenmärchen aufgetischt wurden. In der letzten Januardekade, als der Liquidierungsfahrplan für den Betrieb längst stand (solche Pläne werden auf Grundlage einer Produktionsanalyse gemacht und nicht an einem Tag erstellt), kam der Generaldirektor in den Betrieb und erklärte wörtlich, es gehe „zum jetzigen Zeitpunkt nicht um Personalabbau“.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen?

    Und schon ging es los mit dem Entlassen. Sicher, formal lief alles korrekt ab, Dinge wie die Zahlung des Monatslohns wurden eingehalten, da gibt es gar nichts groß auszusetzen. Wenngleich hartnäckige Gerüchte, es werde bald kein Geld mehr da sein, die Leute zu einer Kündigung im beiderseitigen Einvernehmen bewegten, was für die Fabrikbesitzer von Vor- und für die Arbeiter von Nachteil ist. 

    Aber bei aller formalen Korrektheit weiß doch jeder, dass es unmöglich ist, in Resh Arbeit zu finden; es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Das Einzige, was wie Pilze aus dem Boden schießt, sind irgendwelche Geschäfte. Und selbst auf der Homepage der örtlichen Behörde für Soziales heißt es, die Arbeitslosenquote liege über dem Durchschnitt der Oblast.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen? Eilte vielleicht die allmächtige Partei Einiges Russland den Arbeitern zu Hilfe, so wie diese ihr stets am Wahltag zu Hilfe geeilt waren? Oder packten wenigstens die Kommunisten, die sich jetzt schon das zweite Jahrhundert um die Sache der Arbeiterklasse bemühen, die Gelegenheit beim Schopfe?

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein

    Natürlich passierte nichts von alledem. Kein Mensch ließ sich sehen. Auf die Arbeiter pfeift man hier dermaßen, dass der B & N-Bankautomat neben dem Werk manchmal einfach kein Geld ausspuckt. Eine Filiale der B & N Bank gibt es in Resh erst recht nicht.

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein. Das ist nicht leicht für Menschen, die der Staat gelehrt hat, sich aus allem rauszuhalten, bang am Ofen zu sitzen und auf ein Wunder zu warten.

    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“
    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“


    Die Entstehung von Metall ist viele tausend Mal beschrieben worden, und innerlich ist man gleichsam darauf vorbereitet: Jetzt gleich geht der Ofen auf, daraus ergießt sich ein feuerspeiender Strom und glühende Goldteilchen stieben nach allen Seiten. Aber wenn die Ofentür dann wirklich aufgeht und der Strom sich ergießt und eine weiße Rauchsäule aufsteigt und Fontänen von Funken die Augen blenden und der Feuerbrei die Rinnen füllt und Gestalten in seltsamen Anzügen, die wie Außerirdische aussehen und sich zu beiden Seiten des Stroms postiert haben, der glühenden Masse mit geschicktem Schwung ein wenig nachhelfen – dann verschlägt es einem angesichts dieser enormen Kraft dennoch den Atem, und es treten einem die Tränen in die Augen.

    Das war Resh Nickel noch vor wenigen Monaten.  

    Die Fabrik, die ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden

    Heute schaue ich vom Dach der Schmelzhalle aus auf das Werk – sein Atem ist beinahe versiegt, auf dem riesigen Gelände ist kein Leben mehr. So weit das Auge blickt – kein einziger Mensch, kein einziger rollender Förderwagen, nicht das kleinste Geräusch, kein Ton ist zu hören.
    In der Sonne glänzt, silbrig schillernd, der nagelneue Kühlturm, der Ende letzten Jahres aus unbekannten Gründen errichtet wurde. Der Turm hat zehn Millionen Rubel gekostet [etwa 144.000 Euro – dek], war nicht einen einzigen Tag in Betrieb, und jetzt wird er im besten Fall eingemottet, im schlimmsten in seine Einzelteile zerlegt. Die Fabrik, die wie jede andere Fabrik ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden.

    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“
    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“


    Wir wandern von Halle zu Halle mit Irina Schewtschenko – der einzigen Resh Nickel-Mitarbeiterin, die beschlossen hatte, wenigstens irgendwie, behutsam und vorsichtig, um den Betrieb zu kämpfen. Sie schlug damals vor, Putin und dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk einen Brief zu schreiben, aber das Gewerkschaftskomitee hatte Angst, fragte bei der Metallarbeiter-Gewerkschaft um Erlaubnis, der war es auch nicht geheuer, man fand eine Ausrede – angeblich liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb unter 50 Prozent, ja was soll man da schreiben? Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr.

    Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr

    Schewtschenko ließ nicht locker; sie liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert, war stolz auf ihn gewesen und konnte nicht glauben, dass von heute auf morgen plötzlich alles in sich zusammenfallen sollte. Die Briefe wurden geschrieben, von knapp der Hälfte der Kollegen unterzeichnet und an die Empfänger geschickt.

    „Und wieso haben nicht alle unterzeichnet?“, frage ich Irina. 

    „Manche waren schon gekündigt und sagten, der Betrieb gehe sie nichts mehr an, andere meinten, das würde nichts bringen, und wieder andere hatten Angst.“

    „Sie hatten Angst, den Brief zu unterzeichnen?“

    „Na klar.“ 

    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert
    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert

    Mir fällt Pikaljowo ein, eine kleine sogenannte Monostadt in der Leningrader Oblast, deren Bewohner aus Protest gegen die Schließung wesentlicher Betriebe eine wichtige Verkehrsader blockiert und damit erreicht hatten, dass der Präsident vor Ort erschien und eine relative Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Sieben Jahre ist das gerade mal her.

    „Ha“, lacht Iwan Iwanytsch, „von wegen Pikaljowo, hier hat kein Mensch von Pikaljowo gehört, und wer davon gehört hat, der hat es längst vergessen. Den Leuten wird ja das Hirn derart vollgemüllt.“ 

    „Womit denn?“, frage ich – vielleicht wird den Menschen im Ural das Hirn ja mit anderem Zeug vollgemüllt als in Moskau.

    „Ich sag nur Mara Bagdassarjan“, knurrt Iwan Iwanytsch unvermittelt, und ich weiß im ersten Moment gar nicht, wen er meint, so abwegig ist hier, in der erlöschenden Fabrik, der Gedanke an diese verwöhnte Moskauer Bonzengöre.  

    Jeden Freitag zwischen acht und zehn Uhr morgens versammeln sich in der Eingangshalle des Resh Nickel-Werks die Mitarbeiter zur Registrierung: Um drei Monate lang den durchschnittlichen Monatslohn zu bekommen, muss man hier erscheinen und nachweisen, dass man noch keine Arbeit gefunden hat und dass man noch am Leben ist. Und es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt. Die Abteilungsleiter notieren den Namen auf der Liste – man kann wieder gehen.

    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt
    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt

    Die Leute gehen aber nicht gleich nach Hause, sie stehen noch zusammen und reden. Diskutieren, was man jetzt machen soll. Wirken aber irgendwie verloren. Am Nebentisch schlägt eine adrett gekleidete und apart frisierte Dame mit Namensschild vom Arbeitsamt Resh mir vor, die Stellenanzeigen durchzuschauen; sie hält mich für jemanden vom Betrieb. Ich schaue sie mir an – insgesamt etwas über 100 Jobs, in erster Linie für Menschen mit Hochschulabschluss. Für einfache Leute ohne Ausbildung gibt es auch etwas: Reinigungskräfte für Produktionsräume werden gesucht, für 8000 Rubel [etwa 115 Euro – dek] und ein paar Zerquetschte. 

    Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie. Nun wird es damit auch nichts mehr werden

    „Ach herrje, also da hat mein Mann mal gearbeitet, da hauen sie alle wieder ab, das ist nur furchtbar da“, sagt eine Frau neben mir. „Das sind sowieso fast alles nur so windige Jobs, die da angeboten werden“, fügt eine andere hinzu. „Zu Privatunternehmern darf man nicht gehen, die hauen einen nur übers Ohr. Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof, die scheißen doch alle auf uns, unser lieber Präsident inbegriffen, vom großen Glockenturm runter.“

    Ich bin zu Besuch bei zwei der entlassenen Resh Nickel-Mitarbeiter, bei Irina und ihrem Mann, dem Gabelstaplerfahrer Sergej. Sergej schlägt sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs durch – mal was ausfahren oder austragen, irgendwo mit anpacken. Sie wohnen in einem klitzekleinen eigenen Häuschen, das Sergejs Großmutter seinerzeit gebaut hat. Fließend Wasser haben sie keins. Und einen öffentlichen Hydranten gibt es in der ganzen Straße nicht. Sergej karrt das Wasser mit dem Auto von irgendwo an. Eine Gasleitung verläuft wenige Meter von ihrem Haus entfernt, aber das Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie, und nun wird es damit auch nichts mehr werden. 

    Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen


    So etwas ist mir an vielen Orten in Russland begegnet – das Gasrohr vor der Haustür und die Leute kochen ihr Essen auf dem Holzofen. Irina kocht mit Flaschengas. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, misst 300 Quadratmeter, dort wird das Gemüse angebaut, das die Familie ernährt, alles von Kartoffeln bis Tomaten. Vieh halten Serjosha und Ira nicht mehr, das alles lohnt sich nicht mehr, dafür gibt es einen Hahn.

    „Der ist bloß zum Krähen!“, erklärt Serjosha.

    Das Haus hatte Sergej angefangen umzubauen, sie wollten eine zweite Etage draufsetzen, und die Sache zog sich eh schon hin wie bei Cipollinos Freund Gevatter Kürbis. Jetzt ist das ganze Bauprojekt natürlich auf unbestimmte Zeit vertagt.

    „Was mir nicht in den Kopf will“, sagt Sergej, „wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren? Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen.“

    „Haben Sie damit gerechnet, dass das Werk dichtgemacht wird?“

    „Wir dachten, es würde einen Betriebsstillstand geben, das hatten wir ja früher auch schon, davon geht die Welt nicht unter. Wir haben den Nickelpreis an der Londoner Börse im Fernsehen verfolgt, von dem hängen wir ab, hieß es. Bisher haben wir noch keine Kündigung unterschrieben, weder Irina noch ich, wir wollen warten bis zum Schluss – vielleicht machen sie ja plötzlich doch noch wieder auf.“

    „Ich habe meine Arbeit sehr geliebt, ich hänge sehr an ihr und dem ganzen Betrieb, Prüferin war ich nämlich, in der Buntmetallproduktion“, ergänzt Irina. 

    Wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen

    „Es fällt einem schwer zu glauben, dass wir nicht mehr gebraucht werden, wir haben ja nun auch nicht zwei linke Hände oder so, wir können unsern Teil beitragen für unser Land, wir bitten nicht um Geld, wir wollen keine Almosen, sondern die Chance, uns unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, in unserer Stadt, da wo wir hingehören. Aber wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen. Eine Art Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“, sagt wiederum Sergej. 

    „Gab es mal eine Zeit, in der Sie nicht aufs Geld schauen mussten?“, wechsle ich das Thema. 

    „Ach, na woher denn!“ Irina winkt ab. „Dicke hatten wir es noch nie. Dass man sich einfach das kaufen kann, was einem gefällt – das gab es bei uns nicht. Ich nehme immer nur das Billigste, egal ob Lebensmittel oder Kleidung. Wir haben alles Geld in das Haus gesteckt, vor drei Jahren haben wir einen Kredit über 150.000 [etwa 2186 Euro – dek] aufgenommen, jetzt zahlen wir 5000 [etwa 73 Euro – dek] im Monat ab. Wie das jetzt werden soll, wissen wir auch nicht, unsere Tochter geht ja auch noch zur Schule, dieses Jahr wird sie fertig, sie will Architektin werden.“

    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“
    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“

    In dem winzigen Kämmerchen, das ihre Tochter Nastja bewohnt, hängt ein von ihr selbstgemaltes Plakat an der Wand. Darauf steht: „Du und nur du allein hast dein Leben in der Hand.“ 

    Bloß – in der Hand haben Sergej und Irina nicht allzu viel. 

    Nach dem Besuch bei den beiden ist einem bitter zumute, schreien möchte man, so laut, dass es bis zum Aldebaran zu hören ist, und sagen: Du Gutsherr, oder wie soll man ihn sonst nennen, diesen Patron in weißem Anzug und teurem Hut, da hast du hier ganz wunderbare, einfache Arbeiter vor dir, wieso fährst du denn nicht zu ihnen hin, rufst sie alle zusammen und redest mit ihnen, aber nicht in der Saldo-Popaldo-Sprache und auch nicht von oben herab runtergepöbelt, sondern ganz normal und geradeaus, von Mensch zu Mensch, falls du dich noch erinnerst, wie das geht – sich ganz normal-menschlich, nicht überheblich, mit den Leuten unterhalten, erklären, was passiert ist. Und dann: Die eigene Gier im Zaum halten und etwas für die tun, die dir und deinesgleichen so fleißig dabei behilflich waren, Geld zu scheffeln, und dabei selber weniger verdient haben als einer von den Tabakkrümeln in deiner Hosentasche gekostet hat …

    Aber so laut, dass man es bis zum Aldebaran hört, kann man nicht schreien.

    Wir erinnern uns, wie in Tschechows Kirschgarten der greise Firs, der seiner Herrschaft das ganze Leben voller Ergebenheit gedient hat, in der Eile [von seinen eigenen Leuten im Haus – dek] vergessen wird. Hier sollen jetzt 1000 Menschen vergessen werden, und bald womöglich auch Resh selbst. 

    Und der Ton, nicht einmal nur der einer gerissenen Saite – vielmehr einer ganzen Stadt! – wird niemanden erschaudern lassen.

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  • „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.

    Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.

    Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:

    Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.

    KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?

    Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …

    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)
    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)

    Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.

    Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.

    Kaputtgelacht?

    Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.

    Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen

    Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.

    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)
    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)

    Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrusteten Sichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.

    Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.

    Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt

    Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?

    Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …

    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)
    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)

    Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.

    Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet

    Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.

    Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?

    Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.

    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)
    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)

    Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.

    Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen

    Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?

    Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabei sind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.

    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)

    Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.

    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)
    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)

    Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?

    Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.

     

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)
    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)

    Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?

    Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun

    Ist das ein Privileg?

    Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.

    Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.

    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)
    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.

    Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon

    Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?

    Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.

    Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine? Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.

    Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.

    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)
    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?

    Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld

    Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?

     

    Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.

    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)
    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)

    Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.

    Wie alt ist ihr Sohn jetzt?

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.

    Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.

    Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen

    Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?

    Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.

    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)
    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)

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