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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • NATO-Russland Beziehungen

    NATO-Russland Beziehungen

    Die Beziehungen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte die Aufgabe der transatlantischen Militärallianz in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa schien es zunächst, die NATO habe ihre Existenzberechtigung verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass nach 1989 vor allem Polen und die baltischen Länder unter den Schutzschirm der NATO drängten. Zeitweise stand sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen innerhalb der NATO geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete.

    Immer mehr nahmen beide Seiten in den folgenden Jahren einander als Bedrohung wahr. Wie ein Refrain zog sich die Klage über die NATO-Osterweiterung durch die Reden führender russischer Politiker. Der Kreml hatte die NATO-Osterweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt.

    Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das Verhältnis sei „auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg“. Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, wobei es um einen Stopp der NATO-Osterweiterung, um den Rückzug der USA aus Osteuropa und den Abzug von amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa ging. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Bündnis beantragt.

    Die Frage der NATO-Osterweiterung stellte sich zunächst im Kontext der deutschen Einheit. Am 26. Januar 1990 fiel im Kreml in einem Geheimtreffen die Entscheidung für die Ermöglichung der Wiedervereinigung. Zunächst ging der Westen davon aus, dass weder die neuen Bundesländer noch andere osteuropäische Staaten Teil der NATO sein würden. 

    „Not one inch eastward“ – die Frage der NATO-Osterweiterung

    Auf einer Pressekonferenz am 2. Februar 1990 bekräftigten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein US-Amtskollege James Baker diese Absicht. Allerdings revidierte James Baker schon eine Woche später seine Position und fragte Gorbatschow, ob er sich ein Gesamtdeutschland innerhalb der NATO vorstellen könne, wenn die NATO sich darüber hinaus „not one inch eastward“ bewegen würde. Hier stellte sich ein erstes Missverständnis ein: Bakers Aussage wurde von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst.1 

    Die Forschung ist sich einig, dass es bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit nie schriftliche Zusagen gegenüber der sowjetischen Führung gegeben habe, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen werde. Helmut Kohl musste zwischen dem amerikanischen Insistieren auf der NATO und der sowjetischen Vision einer europäischen Friedensordnung vermitteln. Der Bundeskanzler wusste auch ganz genau, dass die deutsche Wiedervereinigung weder in Frankreich noch in Großbritannien Begeisterungsstürme auslösen würde. Die amerikanische Regierung befürchtete zudem, dass Bonn einen separaten Deal mit Moskau abschließen und dabei die eigene NATO-Mitgliedschaft in die Verhandlungsmasse einbringen könnte. Deshalb bekräftigte James Baker bei einem Gespräch am 18. Mai 1990 in Moskau die amerikanische Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Gorbatschow erwiderte darauf ironisch, in einem solchen Fall würde auch die Sowjetunion ein NATO-Beitrittsgesuch stellen. Im endgültigen 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit ist die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschland verbrieft. Letztlich wurde das Einverständnis des Kreml schlicht gekauft: Bonn und Moskau verständigten sich kurz vor der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags auf eine deutsche Zahlung von 15 Milliarden D-Mark für den Abzug der Roten Armee.2  Der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Robert Gates brachte die Methode später unverfroren auf den Punkt: „to bribe the Soviets out“.3 

    Jelzin: Russischer NATO-Beitritt als Ziel

    Auch Gorbatschows Rivale Boris Jelzin versuchte das NATO-Dossier aktiv zu gestalten. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, am 20. Dezember 1991, weckte er hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Diese Vision hielt sich erstaunlich lange: Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Bezeichnend ist die Rede, die der tschechoslowakische Präsident Václav Havel im März 1991 im NATO-Hauptquartier in Brüssel hielt. Er wies darauf hin, dass er mit der offiziellen Botschaft aufgewachsen sei, die NATO stelle eine „Bastion des Imperialismus“ und die „Inkarnation des Teufels“ dar. Heute wisse er, dass die NATO auf demokratische Weise die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation verteidige.4 

    „Partnership for Peace“

    Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine NATO-Osterweiterung, das Weiße Haus dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Am 22. Oktober 1993 löste US-Außenminister Christopher Warren bei Jelzin eine enthusiastische Reaktion aus, als er das „Partnership for Peace“-Programm vorstellte. Allerdings hatte Jelzin den NATO-Vorschlag so verstanden, dass „Partnership for Peace“ nicht eine Vorbereitung, sondern ein Ersatz für eine NATO-Osterweiterung sei.5 Präsident Clinton präzisierte bereits im Januar 1994, dass der Beitritt der osteuropäischen NATO-Kandidaten nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte. Man wusste um Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein separatistischer Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall.  

    Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern

    In der Frage der NATO-Osterweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse.6 

    Die sicherheitspolitischen Vorstellungen des Kremls gingen in eine andere Richtung. Schon im Oktober 1993 machte der russische Präsident Jelzin seinem Unmut Luft und wies Präsident Clinton in einem Brief darauf hin, dass der „Geist“ des 2+4-Vertrags, der explizit eine Stationierung fremder NATO-Truppen in den neuen Bundesländern verbiete, gleichzeitig eine NATO-Osterweiterung ausschließe. 

    NATO-Russland-Grundakte

    Im Januar 1994 schlug Jelzin seinem Amtskollegen Clinton „eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland“ vor, das die Weltsicherheit garantieren würde. Als eine mögliche Strategie schwebte ihm dabei eine Aufwertung der KSZE vor. Der Kreml fühlte sogar vor, ob für die Europäer ein Sicherheitssystem denkbar wäre, in dem die USA „nicht notwendigerweise“ vertreten sind. Russland kündigte an, in diesem Fall seine Streitkräfte zu reduzieren. Am Ende fiel die Entscheidung in einem kurzen Zeitfenster: Die NATO-Osterweiterung wurde nicht vor der russischen Präsidentschaftswahl im Juli 1996 publik gemacht, um Jelzins Bestätigung im Amt nicht zu gefährden. Umgekehrt wollte Clinton mit genau diesem Punkt seine eigene Wiederwahl im November 1996 stützen. Um Russland zu beschwichtigen, gab die NATO im Dezember 1996 ein Statement ab, dass die Allianz „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ habe, Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. 1997 unterzeichneten die NATO und Russland eine Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.7 Federführend war dabei der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der sich eng mit dem NATO-Generalsekretär Javier Solana abstimmte. Allerdings gerieten dabei die europäischen Alliierten ins Hintertreffen. Solana versuchte die Situation zu entschärfen, indem er den amerikanischen Formulierungsvorschlag für die Grundakte als seinen eigenen ausgab. Allerdings merkte ein britischer Vertreter maliziös an, dass Solana wenigstens die Rechtschreibung anpassen müsse, wenn er seine transatlantischen Ghostwriter verbergen wolle.8

    1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. In der jüngsten Vergangenheit wurden noch Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) in die NATO aufgenommen. Georgien und der Ukraine wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zwar ein Beitritt versprochen, allerdings ohne jeglichen Zeitplan. Wegen der Kriege in Georgien (2008) und in der Ukraine (2014) ist die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder allerdings in weite Ferne gerückt. 

    Der NATO-Russland-Rat

    Wie in der NATO-Russland Grundakte angekündigt, wurde 2002 ein NATO-Russland Rat eingerichtet, der aber zu wenig substanziellen Erfolgen führte. Im Gegenteil: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Präsident Putin in harschen Worten seine Enttäuschung über das angebliche Nichteinhalten westlicher Sicherheitsgarantien. Er verwies dabei auf ein Votum des NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner, der am 17. Mai 1990 bestätigt hatte, dass keine NATO-Truppen östlich der Grenzen Deutschlands eingesetzt würden.9 

    Nach der Annexion der Krim und dem verdeckten russischen Angriffskrieg in der Ostukraine trug die NATO im Jahr 2016 den Sicherheitsbedenken Polens und der baltischen Länder Rechnung, indem sie im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“ je etwa 1000 Soldaten aus verschiedenen NATO-Mitgliedsländern auf Rotationsbasis in diesen vier Ländern einsetzte. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Bestimmungen der NATO-Russland Grundakte nicht verletzt werden. In diesem Abkommen wurde bekräftigt, es solle keine permanente Stationierung von ausländischen NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten geben. 

    Moskau schloss 2021 seine NATO-Vertretung in Brüssel. Das Militärbündnis betonte dennoch, offen für einen Austausch zu bleiben. Allerdings bleibt das Verhältnis höchst angespannt, auch weil die USA als NATO-Führungsmacht zuoberst auf der offiziellen russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten standen.10

    Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, in denen es nicht nur einen Stopp der NATO-Osterweiterung forderte, sondern auch den militärischen Rückzug aus osteuropäischen Bündnisstaaten. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis beantragt. Dem voran ging nicht nur die russische Invasion in die Ukraine, sondern auch eine noch vor dem Angriffskrieg begonnene russische Politik der Nadelstiche mit gezielten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen der NATO-Staaten.

    Aktualisiert am 19.05.2022


    1. National Security Archive: NATO Expansion: What Gorbachev Heard ↩︎
    2. Lozo, Ignaz (2021): Gorbatschow: Der Weltveränderer, Darmstadt, S. 293-305 ↩︎
    3. Sarotte, Mary Elise (2010): Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In, in: International Security 35/ 2010, S. 110–137 ↩︎
    4. Schimmelfennig, Frank (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge, S. 232 ↩︎
    5. National Security Archive: NATO Expansion: What Yeltsin Heard ↩︎
    6. Liviu Horovitz, Liviu (2021): A “Great Prize,” But Not the Main Prize: British Internal Deliberations on Not-Losing Russia, 1993–1995, in Schmies, Oxana (Hrsg..): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 85-112, hier S. 92 ↩︎
    7. nato.int: Founding Act ↩︎
    8. Pifer, Steven (2021): The Clinton Administration and Reshaping Europe, in: Oxana Schmies (Hrsg.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 113-142, hier S. 131 ↩︎
    9. kremlin.ru: Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy und nato.int: The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s ↩︎
    10. publication.pravo.gov.ru: Rasporjaženie Pravitel’stva Rossijskoj Federazii ot 13.05.2021 № 1230-r ↩︎

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  • 1. Advent: Sorokin, aber nicht Vladimir

    1. Advent: Sorokin, aber nicht Vladimir

    Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosisten und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenke-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, … ihr wisst schon!

    Pitirim Sorokin hat von 1889 bis 1968 gelebt und ist nicht zu verwechseln mit dem Gegenwartsautor Vladimir Sorokin. Pitirim Sorokin fasziniert mich seit langer Zeit. Ich war auf ihn gestoßen, weil er sich als Soziologe nicht mit den Ursachen, sondern mit den Folgen der Russischen Revolution befasst hatte. 1922 erschien sein Bericht Der aktuelle Zustand Russlands auf Russisch in Prag. Sorokin untersucht darin verschiedene Faktoren vom durchschnittlichen Gewicht der Neugeborenen bis hin zu Sterblichkeitsraten, um den Niedergang des gesellschaftlichen Lebens im bolschewistischen Russland zu dokumentieren. Seine Forschungsmethoden waren sehr innovativ, sein Buch erschien in der Folge auch in den USA und in Deutschland. Allerdings blieb Sorokin in seinen Erklärungen seiner Zeit verhaftet: Die Oktoberrevolution deutete er in einer organischen Metaphorik als Krankheit des gesellschaftlichen Körpers.

    Foto © Wikimedia
    Foto © Wikimedia

    Und doch ist Pitirim Sorokin heute spannend und sehr aktuell – vor allem wegen seiner Deutungsansätze in anderen Schriften: So schrieb er über Wahrheitssysteme und medial vermittelte Informationen (The Crisis of Our Age, 1941), er forderte eine neue gesellschaftliche Solidarität nach der globalen Krise (The Reconstruction of Humanity, 1948) und unterstrich die Wichtigkeit von altruistischer Liebe (Altruistic Love: A Study of American Good Neighbors and Christian Saints, 1950).

    Außerdem durchlebte Sorokin eine ebenso abenteuerliche wie erfolgreiche Biographie. Er wurde im äußersten Norden Russlands als Sohn eines russischen Vaters und einer Komi-Mutter geboren. Nach einer Gymnasialausbildung in einem orthodoxen Lehrerseminar studierte er an der Petersburger Universität eine Reihe von Fächern von Recht über Psychologie bis zu Geschichte. Besonders interessierte ihn die Soziologie, also eine damals noch sehr junge Disziplin, die erst 1908 mit persönlicher Zustimmung von Zar Nikolaus II. in den akademischen Fächerkanon aufgenommen wurde. Auch politisch engagierte er sich und geriet dabei zwischen alle Fronten: Er stand den Sozialrevolutionären nahe und wurde dreimal vor und dreimal nach der Oktoberrevolution verhaftet. Er entging 1918 sogar einer Verurteilung zum Tode. 1922 musste er Russland verlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt im „russischen Oxford“, wie Prag damals genannt wurde, bekam er eine Einladung in die USA. Dort war er zunächst Professor in Minnesota, ehe er 1930 nach Harvard berufen wurde, um dort das soziologische Institut zu gründen.

    Trotz seines umfassenden Werks, das in der dreibändigen Untersuchung Social and Cultural Dynamics (1937) gipfelt, ist Sorokin heute weitgehend vergessen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass die italienische Soziologin Emiliana Mangone ein kurzes Buch mit dem Titel Social and Cultural Dynamics. Revisiting the Work of Pitirim A. Sorokin veröffentlicht hat. Ich empfehle es allen LeserInnen und Lesern zur (Wieder-)Entdeckung des Schaffens von Pitirim Sorokin.


    Mangone, Emiliana (2018): Social and Cultural Dynamics. Revisiting the Work of Pitirim A. Sorokin, Cham: Springer

     

     

     


    Ulrich Schmid ist dekoder-Klub-Mitglied, Gnosenautor und Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen (Schweiz). Der Fokus seiner Forschung liegt auf Politik und Medien in Russland und Nationalismus in Osteuropa.

     

     

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  • Iwan Iljin

    Iwan Iljin

    „Ich lebe nur für Russland“, so fasste der konservative Religionsphilosoph Iwan Iljin (1883–1954) den Sinn seiner entbehrungsreichen und abenteuerlichen Biographie zusammen. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie hatte er 1909 den Titel eines Privatdozenten der Rechtsphilosophie an der Moskauer Universität erlangt. Wie im zaristischen Universitätssystem üblich, begab sich Iljin anschließend auf eine ausgedehnte Reise nach Deutschland und debattierte mit den akademischen Größen seiner Zeit. Dazu gehörten Georg Jellinek in Heidelberg, Heinrich Rickert in Freiburg, Edmund Husserl in Göttingen und Georg Simmel in Berlin. In den Revolutionswirren verteidigte Iljin seine Dissertation über Die Philosophie Hegels als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen. Bereits der Titel signalisiert den Vektor von Iljins philosophischem Schaffen: Er versuchte, die westliche Wissenschaftsphilosophie mit der spekulativen Theologie zu verbinden. 

    Iwan Iljin, gemalt von Nesterow im Jahr 1921 © Gemeinfrei
    Iwan Iljin, gemalt von Nesterow im Jahr 1921 © Gemeinfrei

    Als eingeschworener Gegner der Bolschewiki engagierte sich Iljin im Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen. Er wurde sechs Mal verhaftet und schließlich zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt. 1922 musste er Sowjetrussland auf einem der Philosophenschiffe verlassen (gemeinsam mit Nikolaj Berdjajew, Sergej Trubezkoj und Simon Frank). Im Berlin der Weimarer Republik arbeitete er als Professor am Russischen Wissenschaftlichen Institut. Zum Hitlerregime hatte Iljin ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits begrüßte er den Widerstand gegen den Bolschewismus, andererseits lehnte er das totalitäre und antichristliche Gewaltregime der Nazis ab. Umgekehrt blickten auch die neuen Machthaber immer misstrauischer auf den russischen Patrioten. Nachdem Iljin sich geweigert hatte, antisemitische Propaganda zu betreiben, wurde er zweimal von der Gestapo verhört. Nach 1934 konnte er in Deutschland nicht mehr öffentlich auftreten und publizieren.1

    Eingeschworener Gegner der Bolschewiki

    Iljin löste mit seinem Buch Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse aus dem Jahr 1925 eine intensive Debatte über das Verhältnis von Politik und Gewalt aus. Er setzte sich in diesem umfangreichen philosophischen Werk polemisch mit Lew Tolstois berühmtem moralischen Grundsatz „Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt“ auseinander. Tolstoi hatte argumentiert, dass gewaltsamer Widerstand gegen das Böse nur neues Unrecht hervorbringe. Iljin verfasste sein Buch unter dem unmittelbaren Eindruck der bolschewistischen Machtergreifung und des russischen Bürgerkriegs. Er rief auf zum Mut „zu verhaften, zu verurteilen und zu erschießen“. In einer Reihe von Vorträgen vor russischen Exilanten in ganz Europa verwies Iljin auf das Vorbild des Erzengels Michael und des Drachentöters Georg und hielt fest: „Wir werden dann siegen, wenn unser Schwert wie Liebe und Gebet sein wird, unser Gebet und unsere Liebe aber das Schwert!“ Die gewaltsame Bekämpfung des Bösen stellt aus Iljins Sicht ein notwendiges Übel dar, durch das der Verteidiger des Guten aber Schuld auf sich lädt. Nur eine anschließende religiöse Askese könne den Gotteskämpfer wieder sittlich läutern. 

    Diese prononcierte Position spaltete die Intellektuellen in der Emigration. In Sorrento regte sich Maxim Gorki über Iljins „Evangelium der Rache“ auf, das die Tötung von Kommunisten erlaube. In Paris kritisierte Nikolaj Berdjajew, dass Iljin die bolschewistischen Tscheka des Teufels mit einer Tscheka Gottes bekämpfen wolle. In Berlin ergriff der liberale Publizist Pjotr Struve jedoch Partei für Iljin und erklärte seinen Gegnern, dass die russischen Seelen keine doppelte Buchhaltung vertrügen: Religiöser Eifer müsse sich unbedingt mit Patriotismus verbinden.2

    „Erzieherische Diktatur“ für Russland

    Durch die Vermittlung des Komponisten Sergej Rachmaninow gelang es Iljin und seiner Frau 1938 in die Schweiz überzusiedeln und sich in Zollikon bei Zürich niederzulassen. Die Schweizer Aufenthaltsbewilligung verbot ihm aber jegliche politische Tätigkeit. Diese Beschränkung hinderte ihn jedoch nicht, im Stillen eine Verfassung für das postkommunistische Russland auszuarbeiten. 1938 gründete er in Locarno Monti die Geheimgesellschaft Weißer Kongress. Im Januar 1939 stellte er in dieser geschlossenen Organisation in Genf sein Projekt eines Grundgesetzes für das Russische Imperium vor.3 
    Dabei mochte sich Iljin jedoch nicht am Vorbild der jungen europäischen Republiken orientieren, die er als Zerfallsprodukte der untergegangenen Imperien selbst dem Untergang geweiht sah. Iljin hielt eine Demokratie in Russland vorerst für schädlich. Nach dem Niedergang der russischen Kultur unter dem Bolschewismus müsse zunächst eine „erzieherische und wiedergebärende Diktatur“ eingerichtet werden.4 Sein Heimatland brauche eine autoritäre Staatsform, deren Legitimation sich aus der Religion und Geschichte speise. 
    Ihm schwebte als Leitprinzip des erneuerten Russland ein „monarchisches Rechtsbewusstsein“ vor. Den Staat definierte er als positiv-rechtliche Erscheinungsform der Heimat. Er forderte, dass die Macht von einer geistigen Aristokratie ausgeübt werden muss. Nicht das westliche Misstrauensprinzip der „checks and balances“ soll dabei das Funktionieren des Staates gewährleisten, sondern das Vertrauen der Bürger in die politische Führung. 
    Allerdings ist der Monarch in Iljins Deutung selbst an das höchste Naturrecht gebunden und muss die Fähigkeit seines Volkes zur Selbstverwaltung und zur Kreativität fördern. Die Monarchie wird in Iljins Konzeption zu wahrer, „innerer“ Freiheit führen. Die „äußere“ Freiheit betrifft die westliche Garantie der individuellen Handlungsoptionen und der politischen Partizipation, die „innere“ Freiheit hingegen gewährt dem Menschen in der nationalen Gemeinschaft die Möglichkeit des Schaffens. Der kreative Ausdruck war jedoch auf traditionelle Formen beschränkt – Iljin lehnte modernistische Kunst ab und nannte Picasso als abschreckendes Beispiel.5 Er forderte eine „nationale Erziehung“, in der die Sprache, Lieder, Gebete, Märchen, Heiligenlegenden, Dichtung, die Geschichte, die Armee, das Territorium und die Wirtschaft zum Gegenstand der Bewusstseinsbildung der jungen Generation werden müssten.6

    Integration von Denken, Glauben und Leben

    Iljin hatte seine Verfassungsarbeit bewusst für die Nachwelt geleistet. Er rechnete nicht damit, den Untergang des Sowjetkommunismus selbst noch zu erleben. Deshalb konzentrierte er sich auf eine philosophische Fundierung der menschlichen Lebenskunst.
    Kurz vor seinem Tod konnte er seine Axiome der religiösen Erfahrung in Paris veröffentlichen. In diesem Hauptwerk vereinigte er Texte und Gedanken aus den Jahren 1919 bis 1951. Dabei griff er auf zentrale Gedanken der philosophischen Tradition von der griechischen Antike bis zum deutschen Idealismus zurück. Sokrates war für Iljin ein „Christ, der für Christus zu früh war“. Hegels Religionsphilosophie hingegen erschien ihm als zu rationalistisch, weil Hegels Gott durch Leiden erst zu dem werden müsse, was er sein soll. Allerdings könne sich nur ein unvollkommener Un-Gott einer solchen Dialektik unterwerfen. Iljin erhob die Evidenz des göttlichen Geistes zum höchsten Lebensprinzip. Dadurch geriet er auch in Konflikt mit der russisch-orthodoxen Kirche.
    Denn Iljins Insistieren auf dem göttlichen „Logos“ in seiner Schrift Weg der geistigen Erneuerung erschien den Kirchenoberen in den 1930er Jahren als zu „johanneisch“. Gemeint war mit diesem Vorwurf das Abweichen vom orthodoxen Dogma des Gottmenschentums zugunsten des „göttlichen Wortes“, das am Beginn des Johannesevangeliums steht.
    Allerdings ließ sich Iljin von solch dogmatischen Bedenken nicht beirren und verfolgte konsequent sein eigenes Projekt einer Integration von Denken, Glauben und Leben. Damit etablierte er eine Vernunftreligion, die sich klar gegen die loyalistische Position der orthodoxen Kirche abgrenzte und bis heute ein emanzipatorisches Potenzial aufweist. 

    Neue Aktualität in der Ära Putin

    Während der gesamten Sowjetzeit war Iljin in Russland eine Unperson. In keiner der drei Auflagen der Großen Sowjetischen Enzyklopädie taucht sein Name auf. Erst in den 1990er Jahren wurden seine Schriften wieder neu aufgelegt. Allerdings beschränkte sich die Rezeption zunächst auf einen engen Kreis von interessierten Philosophen.
    Iljins religiös-philosophisch fundiertes Staatskonzept erhielt erst im neokonservativen Denken der Ära Putin eine neue Aktualität. Im Oktober 2005 wurden – auf Initiative des konservativen Regisseurs Nikita Michalkow – Iljins sterbliche Überreste aus der Schweiz nach Moskau überführt und im Donskoi-Kloster erneut beigesetzt. Präsident Putin war bei dieser Zeremonie persönlich zugegen. Iljins Nachlass wurde mit Mitteln des Oligarchen Viktor Wexelberg aufgekauft und der Moskauer Universität übergeben. Putin selbst berief sich publikumswirksam in den föderalen Ansprachen der Jahre 2005, 2006 und 2014 auf Iljin und zitierte ihn als Gewährsmann für eine genuin russische Gesellschaftsordnung, die auf religiösen Werten beruht.
    Mittlerweile gehört Iljin zu den kanonischen Autoren der russischen Geistesgeschichte, deren Texte beim zentralen russischen Abitur eingesetzt werden.


    1. Robinson, Paul (2019): Russian Conservatism, Ithaca, S. 135 ↩︎
    2. Il’in, Ivan (2018): Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse, Wachtendonk ↩︎
    3. Lisica, Jurij (1999, Hrsg.): Ivan Il’in i Rossija: Neopublikovannye fotografii i archivnye materialy, Moskva, S. 129 ↩︎
    4. Il’in, Ivan: O gosudarstvennoj forme ↩︎
    5. Loukianov, Mikhail/Mjør, Kåre Johan/Rabow-Edling,Susanna/Suslov, Mikhail (2020): A History of Russian Conservatism, from the 18th Century to the End of the 20th Century, in: Suslov, Mikhail/Uzlaner, Dmitry (Hrsg.): Contemporary Russian Conservatism: Problems, Paradoxes, and Perspectives, Leiden/Boston, S. 36-76, hier S. 55 ↩︎
    6. Il’in,I.A (2001).: O vospitanii nacional’noj ėlity, Moskva, S. 420-426 ↩︎

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  • Russland und Europa

    Russland und Europa

    Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

    Fenster nach Europa

    Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

    Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

    Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

    Abklatsch westlicher Vorbilder

    Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
    Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

    Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

    Russland als neuer Kulturtyp

    Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

    Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

    Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

    Gemeinsames europäisches Haus

    Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

    Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

    Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

    Gayropa

    In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

    Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

    Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
    Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

    Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
    Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

     

    Aktualisiert am 21.12.2021


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Maxim Gorki

    Maxim Gorki

    Im Sommer 1929 reiste Maxim Gorki auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer. Dort befand sich das Solowezki-Lager für besondere Angelegenheiten – ein Lagerkomplex des Gulag, dessen Insassen Zwangsarbeit verrichteten. Laut Gerüchten waren die Lebensbedingungen der Gefangenen miserabel: Folter, Misshandlungen und Morde gehörten zum Alltag. Die Staatsmacht hatte den Besuch des berühmten Schriftstellers Gorki organisiert, um den prekären Ruf des sowjetischen Strafsystems aufzubessern.  

    Das Lager hatte sich gut vorbereitet. Die Kerker auf der Sekirnaja Gora wurden hergerichtet: Tische wurden aufgestellt, die Gefangenen erhielten Zeitungen und sollten so tun, als würden sie lesen. Um Gorki zu signalisieren, dass es sich um eine Inszenierung handelt, hielten die Häftlinge die Zeitungen aber verkehrt in den Händen. „Gorki hat es gesehen. Einem von ihnen drehte er die Zeitung um und ging weg. Er zeigte damit, dass er alles verstanden hatte“ – erinnerte sich später der berühmte Philologe Dimitri Lichatschow, der als junger Mann auf den Inseln inhaftiert war. 
    Jahrzehnte später sagte der russische Schriftsteller Boris Akunin, Gorki habe sich mit dieser Reise seinen „Nachruf verdorben“. Der Schriftsteller, der als Symbol für Gerechtigkeit galt, schrieb eine Eloge auf Solowki, lobte die hübschen Baracken der Häftlinge, rühmte das NKWD und besang den sozialistischen Aufbau.

    Gorkis Paradox bestand darin, dass er sich zeit seines Lebens für die Unterprivilegierten der Gesellschaft engagierte und gleichzeitig in seinen letzten Lebensjahren zum willfährigen Komplizen des repressiven stalinistischen Systems wurde. Dabei war romantisch eingefärbter Protest der Grundgestus seines Schreibens. Sein vielschichtiges Werk wurde jedoch durch die Kanonisierung im sowjetischen Literaturbetrieb auf eine eingängige politische Botschaft reduziert und muss daher neu entdeckt werden.

    Maxim Gorki wurde unter dem Namen Alexej Maximowitsch Peschkow 1868 in Nishni Nowgorod geboren. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen und eignete sich seine literarischen Fähigkeiten weitgehend autodidaktisch an. Seine schwierige Jugend brachte ihn mit vielen Milieus in Kontakt. Er reiste durch den Süden des Zarenreichs und ließ sich schließlich als Journalist in Samara nieder. Als 19-Jähriger schoss er sich mit einer Pistole in die Brust. Dieser Selbstmordversuch schwächte seine Lungentätigkeit zeitlebens. 

    Um die Jahrhundertwende wurde Gorki als Verfasser romantischer Barfüsser-Erzählungen schnell berühmt. Er konnte dabei auf seine eigene Erfahrung als Wanderarbeiter und Tagelöhner zurückgreifen. In den frühen Texten gelang es Gorki, ethnographische Beobachtungen mit romantischen Sujets zu verknüpfen. Einige davon sind später zu Allegorien des revolutionären Kampfes verklärt worden. So reißt sich etwa ein junger Mann in der Erzählung Die alte Isergil (1894) sein loderndes Herz aus der Brust, um dem eigenen Volk den richtigen Weg zu weisen. 

    Bald feierte Gorki mit seinen sozialkritischen Dramen auch Erfolge auf den Bühnen. Im Gegensatz zu den Erzählungen herrscht in den Theaterstücken ein streng naturalistischer Gestus vor. Verstärkt wurde der Eindruck durch die hyperrealistischen Inszenierungen des Starregisseurs Konstantin Stanislawski am Moskauer Künstlertheater. Allerdings kommt auch in Gorkis berühmtestem Drama Nachtasyl (1902) sein romantisches Pathos zum Tragen. In einem Monolog fällt der Satz „Ein Mensch – wie stolz das klingt!“. Dieser Ausdruck ist im Russischen zu einem geflügelten Wort geworden. 

    Die politische Brisanz von Gorkis Erzählungen fiel auch den zaristischen Behörden auf. Als Zar Nikolaus II. dem jungen Erfolgsautor die Ehrenmitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften vorenthielt, traten Anton Tschechow und Wladimir Korolenko unter Protest aus. Nach einer kurzen Verhaftung reiste Gorki in die USA und lebte von 1907 bis 1913 im Exil auf Capri. Die ersten literarischen Veröffentlichungen erschienen unter dem Pseudonym Maxim Gorki (dt. „der Bittere“) – diesem Nom de Plume blieb der Autor sein ganzes Leben lang treu. 

    Konfliktreiche Beziehung mit Lenin

    Stalin vereinnahmte Gorki für seine politischen Ziele
    Stalin vereinnahmte Gorki für seine politischen Ziele

    Noch vor dem Exil auf Capri lernte er 1905 Lenin kennen, mit dem ihn später eine konfliktreiche Beziehung verband. Ein besonderer Streitpunkt betraf die Religion, die für Gorki immer einen zentralen Stellenwert einnahm. Mit seiner Beichte (1908), die unter veränderten Vorzeichen Tolstois Vorbild folgte, erreichte Gorki den Höhepunkt seines Gotterbauertums. Der Philosoph und Biologe Alexander Bogdanow (1873–1928), dem Gorki auch seine rudimentäre marxistische Bildung verdankte, hatte dieses Programm entworfen: Gott sei kein metaphysisches Wesen, sondern ein menschliches Konstrukt, das aber zum Gegenstand religiöser Verehrung werden müsse. Der streng atheistische Lenin reagierte gehässig auf Bogdanows Ideen: Der erbaute Gott unterscheide sich vom christlichen Gott wie ein gelber von einem blauem Teufel.1 Gorki gab das Gotterbauertum zwar bald auf, blieb aber bis zu seinem Lebensende ein Anhänger von Bogdanows Idee, dass die neue kommunistische Zivilisation auch die geistige Energie aller Verstorbenen akkumuliere und durch den Geist einzelner Genies wieder zurück in die neue Gesellschaft fließe.2 

    An Lenins moralischer Rücksichtslosigkeit rieb sich Gorki noch lange. Nach der Oktoberrevolution kritisierte der Schriftsteller in harschen Worten die Grausamkeit der bolschewistischen Herrschaft und machte Lenin persönlich für die Gewaltexzesse verantwortlich.3 Gorkis Artikelserie, die zu Beginn des Jahres 1918 unter dem Titel Unzeitgemäße Gedanken in der Zeitung Nowaja Shisn (dt. „Neues Leben“) erschien, wurde in der Sowjetunion streng unter Verschluss gehalten. Lenin schickte den unbequemen Gorki 1921 „zur Erholung“ ein zweites Mal ins Exil, zuerst nach Deutschland, dann nach Italien. Viel später erst wandelte sich Gorkis Blick auf den Revolutionsführer: Aus dem unbarmherzigen Tyrannen wurde in der späten Erinnerung des Schriftstellers ein fürsorglicher Lehrer. 

    Im goldenen Käfig

    Erst 1928 kehrte Gorki in einem Triumphzug  in den Sowjetstaat zurück. Stalin, der eben seine Macht als Lenins Nachfolger konsolidiert hatte, bereitete dem berühmten Schriftsteller einen überschwänglichen Empfang. Stalin wollte seine eigene Herrschaft mit Gorkis moralischer Autorität legitimieren. Der gefeierte Autor residierte in einer Moskauer Villa wie in einem goldenen Käfig und wurde mit manipulierten Informationen beliefert. Er stürzte sich in umfangreiche Editionsprojekte, gründete den Verlag Weltliteratur und initiierte eine Serie mit Biographien berühmter Menschen, die bis heute weitergeführt wird. Er wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Sogar seine Geburtsstadt Nishni Nowgorod wurde ihm zu Ehren 1932 in Gorki umbenannt. 

    Stalin vereinnahmte Gorki für seine eigenen politischen Ziele, und Gorki ließ sich bereitwillig instrumentalisieren. Er unterstützte die Diktatur mit Zeitungsartikeln mit martialischen Titeln wie etwa Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet (1930). 1934 erreichte Gorki einen Tiefpunkt seiner literarischen Karriere, als er das Eröffnungsreferat auf dem Ersten Schriftstellerkongress hielt. Zuvor waren alle literarischen Vereinigungen aufgelöst und gleichgeschaltet worden. Als Stilideal wurde nur noch der sozialistische Realismus akzeptiert, der die „Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“ darstellen sollte. Als Modell avant la lettre galt Gorkis Roman Die Mutter (1906), in dem ein revolutionärer Zirkel aus der naiven Sicht der ungebildeten Mutter des Helden geschildert wird. In einem prekären Sinn nimmt dieser Roman die Problematik des sowjetischen Literaturbetriebs vorweg: In der neuen Gesellschaft müssen ideologische Inhalte gar nicht verstanden werden, es genügt, dass die Sympathiesteuerung des Autors die richtigen Menschen zu positiven Helden erhebt. 

    Ebenfalls 1934 entstand der Propaganda-Sammelband Der Weißmeer-Ostsee-Kanal. Auf der Großbaustelle dieser künstlichen Wasserstraße, die durch Zwangsarbeit entstanden ist, waren über 100.000 Menschen umgekommen, weil sie den Strapazen des Lagers nicht gewachsen waren. Gorki pries im Vorwort Stalins „hervorragend organisierten Willen“, den „hochtheoretischen Verstand“ und das „gnadenlose, kämpferische Vorgehen“ gegen seine Gegner. Allerdings sollte man Gorkis eingeschränkten Blick nicht vorschnell als Folge politischer Naivität deuten. Viel wahrscheinlicher unternahm er einen Kraftakt des Willens, um den gewaltsamen Aufbau des Sozialismus um jeden Preis zu unterstützen. Dabei war er sogar bereit, die Augen vor der prekären Sowjetrealität zu verschließen. Er stand immer noch im Kontakt mit Vertretern der liberalen Exilgemeinde in Westeuropa. Dazu gehörte Jekaterina Kuskowa, die sich in Prag für eine demokratische Wiedergeburt Russlands einsetzte. Gorki warnte Kuskowa in einem Brief aus dem Jahr 1929, „das Volk mit dem giftigen, tödlichen Staub platter alltäglicher Wahrheiten zu verwirren und zu verblenden. […] Du magst mich einen Optimisten, Idealisten, Romantiker nennen … Das ist deine Angelegenheit. Meine ist zu erklären, warum ich jetzt einseitig geworden bin.“4

    Dieser selbstgewählte blinde Pragmatismus bestimmte auch Gorkis Verhältnis zu Stalin. Immerhin verweigerte sich der Schriftsteller dem Diktator bei der geplanten Abfassung einer geschönten Biographie.5 Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass Gorki auf Anordnung Stalins 1936 ermordet wurde. Auffällig ist allein der Zeitpunkt des Todes: Gorki starb ein Jahr vor Beginn des Großen Terrors – Stalin hätte von Gorki einen ähnlichen Protest wie nach Lenins Machtergreifung fürchten können.6 Allerdings war Gorki, der früher seine eigene Rührseligkeit und Sentimentalität publikumswirksam inszeniert hatte, schon längst durch seine vorbehaltlose Unterstützung des Kremlherrschers kompromittiert. 

    Staub der sowjetischen Kanonisierung

    Gorkis Ruhm beruht vor allem auf seinen frühen romantischen Erzählungen und seinen sozialkritischen Theaterstücken. Sein opus magnum, das biographische Epos Das Leben des Klim Samgin (1927-1937) wurde bis heute weder in Russland noch im Westen groß zur Kenntnis genommen. Anagrammatisch klingt im Namen der Titelfigur Gorkis eigener Vorname an. Allerdings entwirft Gorki keine fiktive Autobiographie, wie dies etwa der erste russische Nobelpreisträger Iwan Bunin in Das Leben Arsenjews (1933) getan hatte, sondern eine alternative Autobiographie in der Gestalt eines bürgerlichen Intellektuellen, der unter der Last möglicher Gesellschaftsmodelle zusammenbricht. In der offiziellen Sowjetkritik wurde das Buch als Bankrotterklärung des bürgerlichen Denkens gedeutet. Allerdings weist der Text viel mehr Sinnebenen auf, die vom subtilen Psychogramm bis zur Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft reichen.

    Dass Gorki und sein Werk noch nicht ganz vom Staub der sowjetischen Kanonisierung zugeschüttet sind, zeigt ein neues, sehr anspruchsvolles Literaturportal, das sich ausgerechnet den Namen Gorki zugelegt hat.


    1. Fülöp-Miller, René (1926): Geist und Gesicht des Bolschewismus, S. 102 ↩︎
    2. Petrov, Petre (2018): Gorky’s return and the energetics of Soviet socialism, in: Studies in East European Thought 70/2018, S. 41-60 ↩︎
    3. Knigge, Armin (2011): „Ich liebte ihn im Zorn“ – Gorki über Lenin ↩︎
    4. Wolfe, Bertram D. (1970): Brücke und Abgrund: Maxim Gorki und Lenin, S. 95 ↩︎
    5. Gor’kij, Maksim (1998): Neizdannaja perepiska s Bogdanovym, Leninym, Stalinym, Zinov’evym, Kamenevym, Korolenko, Bloomington, S. 280 ↩︎
    6. Knigge, Armin (2006): Eine schwere Schuld – Gorki und Stalin ↩︎

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  • Russki Mir

    Russki Mir

    Russki Mir (dt. „Russische Welt“) ist ursprünglich ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität.
    Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der jeweils am 9. Mai in großen Paraden und darüber hinaus in zahlreichen Produkten der Populärkultur inszeniert wird. Die Russische Welt umfasst ihrem Anspruch nach alle Gebiete, in denen die russische Kultur präsent ist.1

    Die Anfänge der Russischen Welt gehen mindestens zehn Jahre zurück. Präsident Putin definierte das Konzept programmatisch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im Jahr 2006: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen Ausdruck so oft wie möglich – Russische Welt.“2 Putin erklärte das Jahr 2007 offiziell zum „Jahr der russischen Sprache“ und verwies dabei auf die Wichtigkeit des Russischen als eines verbindenden Elements zwischen den Bürgern der Russischen Föderation und den „Landsleuten“ im nahen Ausland.
    Neben der Sprache wurden aber auch eklektisch einzelne Elemente aus den Werken von Philosophen wie Wladimir Solowjow, Nikolaj Berdjajew oder Iwan Iljin zur Begründung der Ideologie der Russischen Welt herangezogen.
    Inhaltlich ist die Ideologie der Russischen Welt weitgehend konturlos und unbestimmt. Immer wieder werden eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich angeblich grundlegend von den Idealen eines als feindlich wahrgenommenen Westens unterscheiden.3

    Vom kulturellen Projekt zur Ideologie

    Aus einem zunächst nur kulturellen Projekt wurde aber bald eine politische Ideologie, die zur Rechtfertigung der russischen Intervention in Georgien (2008) und der Angliederung der Krim (2014) eingesetzt wurde. Die Militäraktion in Südossetien wurde vom damaligen Präsidenten Medwedew mit dem Schutz der „Landsleute“ begründet (die meisten Südosseten verfügen über russische Pässe).
    Wladimir Putin verkündete bereits am Nationalfeiertag 2013, dass „die Russische Welt nicht auf dem Prinzip ethnischer Exklusivität“ beruhe, sondern offen für alle sei, die „sich selbst als Teil Russlands und Russland als ihre Heimat“ betrachteten.4 Ein Jahr später hob der Präsident hervor, Russland habe auf der Krim bewiesen, dass es seine „Landsleute“ beschützen und „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verteidigen könne.5

    Auch in den ostukrainischen Kriegsgebieten zeigt der Begriff der Russischen Welt seine Wirkmächtigkeit: In der Präambel der Verfassung der Donezker Volksrepublik wird er gleich vier Mal erwähnt.6

    In der nationalen Sicherheitsstrategie, die am 31. Dezember 2015 in Kraft trat, taucht das Konzept der Russischen Welt zwar nicht explizit auf, es gibt aber ein ganzes Kapitel, das sich der Kultur widmet.
    Artikel 81 hält explizit fest, dass die russische Sprache folgende Aufgaben erfülle: Sicherung der staatlichen Einheit des Landes, Kommunikation zwischen den einzelnen Nationen der Russischen Föderation, Integration im postsowjetischen Raum sowie Kulturleben der Landsleute im Ausland.7

    Die Stiftung Russki Mir

    Parallel zur politischen Instrumentalisierung des Kulturprojekts erfolgte eine Institutionalisierung der Russischen Welt. Seit 2007 existiert eine staatliche Stiftung mit dem Namen Russki Mir, die im Jahr 2015 aufgrund der Wirtschaftskrise allerdings nur etwa 60 Prozent der vorgesehenen 750 Millionen Rubel [etwa 10,5 Millionen Euro] erhielt.8 Auf ihrer Website legt die Stiftung offen, dass ihr Ziel in der „Förderung der Verbreitung objektiver Information über Russland, über die russischen Landsleute und Schaffung einer Russland wohlgesonnenen öffentlichen Meinung“ bestehe.9

    Die Stiftung Russki Mir ist hauptsächlich im kulturpolitischen Bereich tätig. An ausgewählten ausländischen Universitäten werden Russische Zentren eingerichtet, die Sprachunterricht und Bibliotheksdienste anbieten.10
    Bereits die hochkarätige Zusammensetzung des Stiftungsbeirats zeigt, welche Wichtigkeit dieser Organisation beigemessen wird: Aus dem Kabinett sind der Bildungsminister, der Kulturminister und der Außenminister vertreten.

    Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, befindet sich ganz auf der Linie der patriotischen Staatsideologie. Die Ukraine hält er für einen „failed state“, der über „keine Regierung, keine Armee, keine Wirtschaft, keine innere Einheit, keine Demokratie und keine Ideologie“ verfüge.11 Russland sei demgegenüber eine starke Nation, die auf bedeutende historische Errungenschaften zurückblicken könne.

    Nikonow beschreibt die russische Geschichte als fortwährende Expansion – von der sibirischen Landnahme über die Kolonisierung Amerikas bis zur Eroberung des Kosmos.12 In solchen Verlautbarungen zeigt sich auch der Unterschied zu ähnlichen Institutionen anderer Länder wie etwa der Goethe-Institute.

    Die Reichweite des ideologischen Konzepts der Russischen Welt ist allerdings beschränkt. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Dezember 2014 in Russland stellte sich heraus, dass 71 Prozent der Befragten noch nie von Russki Mir gehört hatten.13


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  • Alexander Dugin

    Alexander Dugin

    Alexander Dugin (geb. 1962) gehört zu den bekanntesten und schillerndsten geostrategischen Intellektuellen in Russland. Nach einem kurzen Flirt mit Eduard Limonows Nationalbolschewismus etablierte sich Dugin zu Beginn der 2000er Jahre als Vordenker eines russisch dominierten Neo-Eurasismus. Obwohl Dugin immer wieder seine Nähe zum Kreml unterstreicht und wiederholt als Berater von Parlamentariern tätig war, ist das Ausmaß seines politischen Einflusses umstritten. Dugin ist aber mit einer Vielzahl von Websites, Büchern, Broschüren und Zeitschriftenartikeln im öffentlichen Diskurs Russlands präsent.

    Dugins philosophische Anfänge in den 1980er Jahren liegen im Mystizismus. Er war Mitglied in einem ultrakonservativen Zirkel von Fans des okkulten Autors Juri Mamlejew, der selbst 1974 emigriert war.1 Die mystische Komponente wirkt auch in Dugins spätere politische Theorien hinein. So ist Dugin ein Anhänger der sogenannten hyperboräischen Theorie, nach der die Menschheit im arktischen Norden entstanden sei. Deshalb seien die Russen ein „arisches Volk“, das allerdings nicht durch die Rasse, sondern durch eine metaphysische Geschichtsmission definiert werde.

    Die „neuen Magier“

    Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus näherte sich Dugin dem sowjetnostalgischen Schriftsteller Alexander Prochanow an, in dessen patriotischer Zeitung er auch publizierte. 1995 veröffentlichte Dugin gemeinsam mit dem Rockmusiker Sergej Kurjochin ein Manifest der „neuen Magier“. Darin forderten die beiden Aktivisten eine ästhetisierende „Verzauberung“ von Politik und Kunst, um eine neue Gemeinschaft der Massen hervorzubringen.

    1993 gründete Dugin mit dem Skandalautor Eduard Limonow die Nationalbolschewistische Partei. Beide träumten von einem russischen Imperium, das nicht nur alle ehemaligen Sowjetrepubliken, sondern auch ganz Westeuropa umfassen sollte. Bereits 1998 trennten sich Dugins und Limonows Wege jedoch wieder. Limonow setzte auf politische Provokation und radikale Opposition zum Herrschaftssystem. Dugin dagegen wandte sich einem Neo-Eurasismus zu, der sich als eklektischer Mix aus antidemokratischem Gedankengut von Theoretikern wie René Guénon, Julius Evola oder Carl Schmitt präsentiert. Generell verortet sich Dugin in der Denktradition einer konservativen Revolution, die er in Russland in den verschiedensten Quellen von den Freimaurern über die Slawophilen bis hin zu Lew Gumiljow angelegt sieht.

    Der eurasische Großraum

    Dugin knüpft in seinem politischen Programm an den Eurasismus aus den 1920er Jahren an. Damals versuchten russische Emigranten wie Nikolaj Trubezkoi oder Pjotr Sawizki, die bolschewistische Revolution nicht als Einbruch der asiatischen Barbarei in die europäische Zivilisation zu deuten, sondern umgekehrt das 300 Jahre währende Mongolenjoch als positive Kulturerscheinung zu verstehen. In dieser Tradition beschreibt Dugin Russland als im Raum verwurzelte Trockenkultur, die einen starken Staat, gesellschaftliche Solidarität und geistige Ideale hervorgebracht hat. Er verbindet damit ein hegemoniales Denken: Für den eurasischen Großraum beansprucht Dugin neben dem Territorium der Russländischen Föderation auch Belarus, die Ukraine, den gesamten Kaukasus, Zentralasien und die Mongolei. Dieser Raum wird vom Westen scharf getrennt, der als Wasserkultur auf dem Austausch von Waren und Ideen basiere und Egoismus und Materialismus hervorgebracht habe. Jede politische Macht ist nach Dugins Vorstellungen ihrem eigenen Raum zugeordnet und muss „raumfremde Mächte“ fernhalten.

    In der Logik des Eurasismus ist Russland zur Größe nachgerade verpflichtet. Der Verzicht auf weitere Expansion würde die Existenz des russischen Volkes in Frage stellen. Dugin fordert, Russland müsse gegen die Globalisierung kämpfen. Dieser alles nivellierende Prozess gehe von den USA aus, die der ganzen Welt ihre kulturellen Normen aufzuzwingen versuchten. Es sei daher notwendig, dass die Völker Eurasiens sich unter der Führung der Russen vereinen.

    In den 2010er Jahren hat Dugin eine „Vierte Politische Theorie“ entworfen, die er als neue leistungsfähige Ideologie nach dem Ende von Liberalismus, Sozialismus und Faschismus anpreist. Dugin will die traditionellen Systeme in einer neuen Synthese überwinden. Das historische Subjekt sei im Liberalismus das „Individuum“, im Sozialismus die „Klasse“ und im Faschismus die „Rasse“. Neu schlägt Dugin für seine Theorie das Heideggersche „Dasein“ als zentrale Kategorie vor. Damit will Dugin den Staat von seiner abstrakten Rolle als reines Vertragsgebilde erlösen und ihm eine eigene Ontologie verleihen: Der Staat soll eine eigene Zivilisation und Lebenswelt begründen. Der Nationalstaat stellt aus Dugins Optik die Institutionalisierung des Liberalismus dar. Deswegen lehnt er auch die nationalen Projekte im postsowjetischen Raum radikal ab.

    Bereits während seiner ersten Auslandsreisen zu Beginn der 1990er Jahre hatte Dugin Kontakte zu rechtsextremen Kreisen in Frankreich, Italien und Spanien aufgebaut. Später dehnte er sein Netzwerk auch nach Ungarn, Griechenland und in die Türkei aus.2 Seit kurzem umwirbt Dugin auch die westeuropäische Linke, die er vor allem durch seinen rabiaten Antiamerikanismus in den Bann ziehen  kann. Damit geht  Dugin praktisch an, was er bei Vorträgen regelmäßig in  seiner „Vierten Politischen Theorie“ verkündet, mit der er die Zeit für eine  neue Synthese von Nationalismus und Sozialismus gekommen sieht. 

    „Man muss töten, töten und töten“

    Bereits im Georgienkrieg 2008 hatte Dugin sich als Scharfmacher hervorgetan und ultimativ gefordert, „Panzer nach Tbilissi“ zu schicken.3 Nach den dramatischen Ereignissen in Odessa im Mai 2014 rief er zum Mord an der Kiewer Regierung auf: „Ich glaube, man muss töten, töten und töten. Ich sage das als Professor.“4 Über 10.000 Unterzeichner forderten darauf in einer Petition erfolgreich die Entlassung Dugins als Professor der Staatlichen Moskauer Universität.

    Dugin unterstützte nicht nur die Angliederung der Krim an Russland, sondern auch den großflächigen Krieg in der Ukraine, den er als einen weiteren Schritt in einer historisch bereits stufenweise erfolgten Ausdehnung des russischen Imperiums und der UdSSR Richtung Westen deutet. Die Ukraine als eigener Staat kommt in dieser Weltvorstellung nicht vor. Vielmehr besteht für die Ukraine in Dugins Augen eine Art historisches Schicksal, eine Grenzzone zwischen eurasischen und westeuropäischen Zivilisationen zu bilden, was einschließt, ihren verschiedenen ausgehandelten Einflusssphären unterworfen zu sein. Für Dugin erscheint es daher auch selbstverständlich, auf dem Reißbrett eine Teilung der Ukraine herbeizufantasieren: „Das Territorium zwischen Odessa und Charkiw werden wir befreien und so oder anders [an Russland] anschließen. Das steht nicht zur Diskussion. Die Westukraine als Teil von Polen ist auf den ersten Blick akzeptabel … Ein wahrer Sieg beginnt mit der Befreiung von Noworossija und weiter, wie es Gott will“.5

    Am Abend des 20. August 2022 ist in der Oblast Moskau ein Sprengsatz an einem Auto explodiert, in dem Daria Dugina – Dugins Tochter und Mitstreiterin – saß. Sie starb noch am Tatort. In den Medien verbreiteten sich Mutmaßungen, wonach  das Attentat Dugin selbst gegolten habe, der sich jedoch kurzfristig entschieden haben soll, mit einem anderen Auto zu fahren.6 

    aktualisiert am 22.08.2022


    1. Diese Darstellung folgt Schmid, Ulrich (2015): Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin, S. 136f., 212ff. ↩︎
    2. Laruelle, Marlene (2015): Eurasianism and the European Far Right: Reshaping the Europe–Russia Relationship, Lexington, S. 11 ↩︎
    3. Shekhovtsov, Anton (2009): Aleksandr Dugin’s Neo-Eurasianism: The New Right à la Russe, S. 698, in: Religion Compass 3-4, S. 697-716 ↩︎
    4. Die Welt: Putins Vordenker, ein rechtsradikaler Guru ↩︎
    5. izborsk-club.ru: Aleksandr Dugin: Polʹskij vopros. Razdel Ukrainy? ↩︎
    6. meduza.io: V Podmoskovʹe pogibla Darʹja Dugina. Ee džip vzorvali vo vremja dviženija ↩︎

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  • Woina

    Woina

    Die Gruppe Woina führte in Russland in den Jahren 2007 bis 2010 spektakuläre Aktionen durch, die auch auf Internetforen rege diskutiert wurden. Woina griff aktuelle Themen der russischen Gesellschaft auf (zunehmend autoritäre Regierung, Fremdenhass, Homophobie)  und inszenierte sie als politische Konzeptkunst.

    Die Künstlergruppe Woina (dt. Krieg) formierte sich im Atelier des Künstlers Oleg Kulik, der während der neunziger Jahre in Performances als nackter bellender Hund Aufsehen erregt hatte.1 Später äußertе sich Kulik jedoch sehr skeptisch über die Gruppe Woina und beschuldigtе sie, durch ihre provozierenden Aktionen dem repressiven Regime Putins in die Hände zu spielen.2 In der Tat wurden die Stunts von Woina von den meist regierungskritischen Internet-Usern als mutige Ersatzhandlungen für die eigene politische Passivität begrüßt, in der breiten Öffentlichkeit hingegen überwog Unverständnis und Ablehnung.

    Neben Kulik  war der Moskauer Konzeptualist Dimitri Prigow eine weitere wichtige Inspirationsquelle für Woina. Nachdem er am 16. Juli 2007 gestorben war, fand zu seinen Ehren am 25. August 2007 die Aktion „Das Leichenmahl“ statt: In einem Metrowaggon, der auf der Moskauer Ringlinie verkehrte, wurden Tische und Speisen aufgestellt. Zu Ehren des Verstorbenen rezitierten die Aktionskünstler inmitten der regulären Passagiere Gedichte, aßen und tranken. Damit sollte die Wertschätzung für Prigows revolutionäre Kunst direkt in die Mitte der Gesellschaft getragen werden.

    Bald übernahm Oleg Worotnikow die Führungsrolle in der Gruppe Woina. Als Hauptziel der Aktionen nannte er die „Desakralisierung des Regimes“: Die quasi-religiöse Selbstinszenierung der Staatsmacht sollte durch karnevalistische Aktionen der Lächerlichkeit preisgegeben werden.  Allerdings wurde Worotnikows Autorität von den übrigen Mitgliedern immer wieder in Frage gestellt, weil Woina ja gerade einen Gegenentwurf zur hierarchischen russischen Gesellschaft präsentieren wollte.

    Breite Aufmerksamkeit erhielt die Künstlergruppe mit der Aktion „Fick für einen Nachfolger des Bärchens“, die am 28. Februar 2008 in einem Moskauer Biologie-Museum stattfand. Nackte Paare vollzogen den Geschlechtsakt, während der Titel der Aktion auf einem Poster präsentiert wurde. Die Aktion spielte auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen an, die mit Dimitri Medwedew einen willfährigen Putin-Vertrauten an die Macht brachte („Bärchen“ ist ein Spitzname für Medwedew). Die Aktion, die in der russischen Öffentlichkeit schnell als pornographisch gebrandmarkt wurde, parodierte einerseits das nationale Programm zur Anhebung der niedrigen Geburtenzahl und kritisierte andererseits die bereits absehbare Ablösung Medwedews durch Putin in den Präsidentschaftswahlen 2012. Mit der umfassenden Dokumentation der Aktion auf seinem Blog etablierte sich Alexej Pluzer-Sarno als PR-Manager der Gruppe Woina.

    In aller Deutlichkeit zeigte sich der politische Anspruch von Woina in den Aktionen „Sturm auf das Weiße Haus“ (2008) und „Der FSB hat den Schwanz eingesperrt“ (2010).3 In der ersten Aktion wurde mit einem Beamer eine gigantische Piratenflagge auf das Weiße Haus, den Sitz der russischen Regierung in Moskau, projiziert. Die zweite Aktion fand in Sankt Petersburg statt. Auf eine der Zugbrücken wurde ein 65 Meter großer Penis gezeichnet, der erst beim Hochziehen der Brücke sichtbar wurde. Die Brücke befand sich direkt vor der Petersburger Zentrale des Geheimdienstes FSB. Mit dieser Aktion realisierte Woina eine derbe Metapher, die als Redewendung jedem Russen geläufig ist. In beiden Fällen schritt die Polizei schnell ein: Die Projektion auf dem Weißen Haus war für 22 Sekunden sichtbar, der Phallus immerhin für zwei Stunden.4 Mit beiden Aktionen führte Woina vor, wie man mit subversiven Zeichen das Monopol der Regierung auf die Inszenierung der eigenen Macht stören kann.

    Sankt Petersburger fotografieren sich vor der Zugbrücke nach der Aktion „Der FSB hat den Schwanz eingesperrt“. Quelle – bigpicture

    Die Konflikte mit der Justiz nahmen nach der Verhaftung der beiden Aktivisten Oleg Worotnikow und Leonid Nikolajew im November 2010 rasant zu. Nikolajew tauchte nach Verbüßung einer mehrmonatigen Haftstrafe unter und starb 2015 in Moskau nach einem Arbeitsunfall. Die beiden Woina-Mitglieder Nadeschda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch engagierten sich in der Gruppe Pussy Riot und wurden nach einer aufsehenerregenden Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale zu einer zweijährigen Lagerstrafe verurteilt. Sie kamen erst nach einer Amnestie im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Sotschi wieder frei. Oleg Worotnikow setzte sich mit seiner Familie nach Westeuropa ab. Heute existiert die Gruppe Woina nur noch im virtuellen Raum und betreibt einen eigenen Twitter-Account.

    Die Aktionskünstler während der Aktion „Das Leichenmahl“ zu Ehren Dimitri Prigows in der Moskauer Metro. Quelle – bigpicture

    1. Dieser Text beruht auf einem Kapitel meines Buchs: Schmid, Ulrich (2015): Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin, S. 258 ff. ↩︎
    2. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die russische Kunst-Guerilla ↩︎
    3. bigpicture.ru: Lučšie akcii skandalʼnoj moskovskoj art-gruppy „Vojna“ ↩︎
    4. Ėpštejn, Alek (2012): Total’naja vojna: Art-aktivizm ėpochi tandemokratii, Jerusalem/Moskau/Riga, S. 62-192 ↩︎

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