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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wassili Aksjonow

    Wassili Aksjonow

    Wassili Aksjonows (1932–2009) literarische Karriere begann Ende der 1950er Jahre in Leningrad. Er erlebte in der Metropole ein Klima intellektueller Liberalisierung, das nach Stalins Tod für ein gutes Jahrzehnt als Zeit des sowjetischen Tauwetters in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Aksjonow orientierte sich hier an westlichen Lebensentwürfen: Jazz, Pop, die legendäre stiljagi-Kultur, Amerika und ein Hauch von aufbegehrender Jugendbewegung bildeten in dieser Zeit seine kulturellen Referenzen.

    Der frühe Roman Swjosdny Bilet (Fahrkarte zu den Sternen) von 1961 setzte dieser Atmosphäre, wie wohl kaum ein Text der Chruschtschow-Zeit, ein Denkmal und machte Aksjonow rasch zur Ikone einer neuen Welle von Sowjetliteratur und zu einem der meistgelesenen Autoren. Die sogenannte Junge Prosa, zu der auch Autoren wie Andrej Bitow oder Wladimir Woinowitsch zählten, zeichnete sich aus durch stilistische und thematische Frische, Authentizität ihrer zumeist jugendlichen Helden und einen neuartig aufrichtigen Tonfall.

    Aksjonow erlebte die Tauwetterphase als eine radikale Wende in seinem Leben, das zuvor von biographischen Tragödien gekennzeichnet war. Er stammte ursprünglich aus dem tatarischen Kasan, wo seine Eltern als überzeugte Kommunisten gehobene Posten in der Partei innehatten. Wassilis anfangs harmonische Kindheit endete abrupt im Jahr des Großen Terrors 1937, als die Eltern aufgrund von sogenanntem Trotzkismus verhaftet und in Arbeitslager deportiert wurden.

    Jewgenija Ginsburg, die Mutter, deren bestürzende Biographie Krutoi Marschrut (Marschroute eines Lebens) später von dieser Zeit des Terrors Zeugnis ablegte, wurde für zehn Jahre verurteilt, sein Vater Pawel sogar für 15. Das Kind wuchs bei Verwandten auf und übersiedelte schließlich nach der Haftentlassung der Mutter 1947 zu dieser nach Magadan. Nach Leningrad kam er 1953 zunächst für ein Medizinstudium.

    Entfremdung von der offiziellen Kulturpolitik

    Gelang Aksjonow in seinen frühen Romanen noch der bemerkenswerte Spagat zwischen den Normen des Sozialistischen Realismus und einer Rebellenliteratur, deren Figuren oft voller Zweifel am gesellschaftlichen System waren, so verschlechterte sich ab 1963 sein Verhältnis zur Staatsmacht merklich. Er sah sich einer immer offeneren Kritik durch die Behörden und sogar durch Staatschef Nikita Chruschtschow ausgesetzt. Die Entfremdung Aksjonows von der offiziellen Kulturpolitik fand ihren literarischen Niederschlag in bissigen Satiren.

    Foto © liveinternet.ru
    Foto © liveinternet.ru

    Mit Beginn der Breshnew-Ära wurde es so für Aksjonow immer schwieriger, seine Werke zu veröffentlichen. Im restaurativen Klima der 1970er Jahre waren viele Autoren wie etwa Alexander Solschenizyn oder Joseph Brodsky offener Repression ausgesetzt. Auch Aksjonow, den die sowjetischen Behörden zunächst noch versuchten einzubinden, verfasste nun diverse Texte nur noch für die Schublade, so etwa den Roman Oshog (Gebrannt), der erst in den 1980er Jahren veröffentlicht werden konnte.

    Alternative Geschichte Russlands mit prophetischer Dimension

    Auch sein im Westen heutzutage vielleicht berühmtester und zugleich letzter noch in der Sowjetunion verfasster Text konnte erst Jahre später erscheinen. Im Roman Ostrow Krim (Die Insel Krim) schreibt Aksjonow eine alternative Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert.

    Der Roman ist die literarische Vision eines von der Sowjetunion unabhängigen Freistaates Krim, in dem sich demokratische Institutionen und ein prosperierendes kapitalistisches Wirtschaftssystem entwickelt haben. Im Zentrum steht der einflussreiche Herausgeber Lutschnikow, der von der Idee der Wiedervereinigung der Krim mit der Sowjetunion besessen ist. Seine Pläne führen allerdings zum Debakel am Ende des Romans. Es kommt schließlich zu einer apokalyptischen Invasion der Insel durch das sowjetische Militär und zum gewaltsamen Anschluss an die Sowjetunion.

    Wenngleich der Roman als Parabel über den Kalten Krieg zu verstehen ist, besitzt er doch im Hinblick auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 eine geradezu prophetische Dimension.

    Aksjonows Konflikt mit dem Staat eskalierte schließlich im Jahr 1979 in der Affäre um den gemeinsam mit Viktor Jerofejew und anderen zusammengestellten Almanach Metropol. Als Aksjonow 1979 aus Protest aus der Schriftstellerunion austrat und kurz darauf aus dem Schriftstellerverband geworfen wurde, war seine materielle Grundlage in der Sowjetunion zerstört.

    Während einer Auslandsreise 1980 in die USA entzogen ihm die sowjetischen Behörden schließlich die Staatsbürgerschaft. Seitdem lebte er gemeinsam mit seiner Frau in der Emigration. Er hatte in den USA verschiedene Literaturdozenturen inne und siedelte schließlich 2004 nach Biarritz in Frankreich um.

    Die Postmoderne vorweggenommen

    So aufsehenerregend Aksjonows Biographie ist, so unschätzbar hoch ist sein Wert für die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aksjonow experimentierte in seinem Schaffen fortwährend intensiv mit stilistischen Innovationen und hatte zugleich ein hervorragendes Gespür für literarische Trends und breitere kulturelle Dynamiken. Er arbeitete bereits in den 1960er Jahren – etwa im Roman Satowarennaja Botschkotara (Defizitposten Fassleergut, 1968) –  mit konzeptuellen Zitationsverfahren und anderen intertextuellen Sprach- und Formspielen und nahm hier die erst Jahre später zum Mainstream werdende ironisch postmoderne Dekonstruktion sowjetscher Narrative und Mythen ästhetisch vorweg. Obwohl seine Werke in Russland erst während der Perestroika wieder publiziert werden durften, war sein Einfluss auf russische Autoren der Postmoderne wie Sorokin oder Pelewin gewaltig.

     

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  • Nikolaj Leskow

    Nikolaj Leskow

    Maxim Gorki hielt seine Bücher für geschriebene Ikonen, Tolstoi sah in ihm den russischsten aller Autoren. Seine Geschichten hörte er dem Volk ab und verarbeitete sie in kühnen, mitunter schwer verständlichen Sprachexperimenten. Von vielen Zeitgenossen angefeindet, ist Nikolaj Leskow (1831–95) der vielleicht eigentümlichste Schriftsteller unter den großen russischen Realisten. Seine Biographie erschütterten literarische Skandale.

    Serow-Portrait von 1894 © Gemeinfrei
    Serow-Portrait von 1894 © Gemeinfrei

    Leskows Ahnentafel war bunt gemischt: die Mutter aus verarmtem Adel, der Vater Untersuchungsbeamter zu Gericht und der Großvater ein Priester. Nikolaj ging in Orjol zur Schule, 1849 folgte der Umzug nach Kiew. Jahre später nahm er einen Reisejob in der Handelsfirma seines Onkels an, der ihn in viele Regionen des Reiches führte. Leskows Biographen betonen, dass die Eindrücke dieser Fahrten auf ihn wie ethnographische Studien wirkten und er dort mit den Sitten des Volkes und den sozialen Realitäten vertraut wurde: Eine Erfahrung, die sein literarisches Werk entscheidend stimulieren sollte.

    Leskow schrieb im verfänglichen intellektuellen Milieu der zweiten Jahrhunderthälfte, als erbitterte politische Konflikte mithilfe von Literatur ausgetragen wurden. Autoren und Kritik waren hier zu politischen Positionierungen gezwungen, und Leskow, der sich weder auf die Seite der radikalen Demokraten noch auf die der Konservativen schlagen mochte, fand sich in diesem radikalisierten Klima schnell isoliert.

    Er begann 1860 als Journalist und veröffentlichte nach dem Umzug nach St. Petersburg auch literarische Texte. Im März 1862 kam es zu einem ersten Konflikt mit der politischen Linken: Nachdem auf zwei Märkten Feuer ausgebrochen waren, entstanden Gerüchte, dass radikale Studenten dafür verantwortlich seien. In einem Artikel wollte Leskow die Studenten gegen diesen Vorwurf verteidigen und forderte eine Aufklärung der Vorkommnisse. Die Linke interpretierte dies jedoch als Angriff gegen sich und brandmarkte ihn als Reaktionär. Leskow verarbeitete diese Anschuldigungen 1864 in seinem ersten Roman Nekuda (dt. Ohne Ausweg), einer Polemik auf die radikale Bewegung der 60er Jahre, doch galt er nun als Persona non grata unter den Radikalen.

    Waren die frühen Erzähltexte stärker sozialkritisch, so rückten mit dem Roman Soborjane (dt. Die Klerisei) zu Beginn der 1870er Jahre religiöse und moralische Themen ins Zentrum. Leskow war jedoch kein Anhänger der orthodoxen Kirche, sondern vertrat ein moralisches Christentum und warb besonders in seinen späten Werken für religiöse Toleranz. Er verfasste Satiren auf die offizielle Kirche und nutzte religiöse Motive, um Themen der nationalen Identität und des Russischseins zu entfalten. Davon zeugt etwa die Erzählung um die Ikonen einer Gruppe Altgläubiger Zapetschatljonny angel (dt. Der versiegelte Engel) von 1873.

    Eine wichtige Quelle war die Volksdichtung: Die legendenhafte Erzählung Otscharowanny strannik (dt. Der verzauberte Pilger) oder etwa Lewscha (dt. Der Linkshänder, 1881) imitieren mündliche Erzähltraditionen und wurden als folkloristische Loblieder auf die Stärke Russlands und die moralischen Tugenden des einfachen Volkes patriotisch interpretiert.

    Leskows stilistische Experimente bestanden oft in virtuosen Imitationen von mündlichen Redestilen einzelner Sprechertypen, nicht selten Figuren aus dem einfachen Volk wie Bauern, Soldaten oder Geistliche: Er schuf in diesem skaz genannten Verfahren eine radikale Vielstimmigkeit, die er mitunter bis zur Künstlichkeit übersteigerte.

    Im Spätwerk rückte der Aspekt der moralischen Erziehung durch Kunst in den Blick Leskows. Er näherte sich hier – wie auch in der Ablehnung von Staat und orthodoxer Kirche – den Positionen Lew Tolstois an, dem er 1887 begegnete und den er als Persönlichkeit verehrte. Zermürbt von Zensur und enttäuscht vom autoritären zaristischen Staatsregime am Jahrhundertende waren seine letzten Texte von Pessimismus und Verbitterung gekennzeichnet. Er starb vereinsamt in Moskau an den Folgen einer jahrelangen Herzerkrankung.

    Wenngleich Leskow ein Opfer der politischen Grabenkämpfe seiner Zeit war, galt er doch bereits zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Prosaautoren des 19. Jahrhunderts, der insbesondere auf moderne Autoren wie Tschechow oder Remissow großen Einfluss ausübte. In der Sowjetunion wegen der Vielzahl an religiösen Themen suspekt beäugt, erschienen dort seine Werkausgaben nur unvollständig und gekürzt. Erst seit Mitte der 1990er Jahre wird in Russland an einer vollständigen Gesamtausgabe gearbeitet.

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  • Wissarion Belinski

    Wissarion Belinski

    Wissarion Belinski lag im Dauerclinch mit dem zaristischen Regime und war der geistige Vater der Radikalen der 1860er Jahre. Literatur sah er als ein Vehikel politischer Agitation, er kämpfte für soziale Veränderungen und schrieb mit unbändiger Leidenschaft über Literatur. In der Sowjetunion als Vordenker eines utopischen Sozialismus beispiellos glorifiziert, sind noch heute Hunderte von Plätzen und Straßen nach ihm benannt. Belinski war trotz kurzer Karriere der Erfinder der modernen Literaturkritik in Russland.

    Belinski wurde 1811 in Sveaborg (im heutigen Finnland) geboren und verbrachte seine Kindheit im Gouvernement Pensa an der Wolga. Da es der Familie nicht möglich war, Wissarion ein teures Studium zu finanzieren, lebte dieser, nachdem er sich 1829 in Moskau an der philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität immatrikuliert hatte, in bitterer Armut. Bereits zur Studienzeit hatte Belinski mit dem repressiven System zu kämpfen, das Zar Nikolaj I. nach der Niederschlagung des Dekabristenaufstands 1825 eingeführt hatte und in welchem eine Atmosphäre der Überwachung des intellektuellen Lebens vorherrschte.

    Als Sohn eines Flottenarztes gehörte Belinski zu den sogenannten Rasnotschinzy, einer Gruppe nichtadeliger, aber hoch gebildeter junger Männer, die sich fortan politisch radikalisieren und zur ideologischen Opposition werden sollten. Zeit seines Lebens hatte er daher mit Zensurmaßnahmen zu kämpfen. Nachdem er ein Drama verfasst hatte, in dem Kritik an der Leibeigenschaft geübt wurde, warf man ihn 1832 aufgrund von politischen Aktivitäten aus der Universität. Er arbeitete fortan als Kritiker in verschiedenen Journalen und avancierte zu einer der einflussreichsten Figuren in den intellektuellen Kreisen des Zarenreiches.

    Belinski publizierte seine ersten literaturkritischen Texte 1834. Er trat bereits hier für eine radikale Erneuerung der russischen Literatur ein.

    Portrait von Maler Gorbunov 1843 © Gemeinfrei
    Portrait von Maler Gorbunov 1843 © Gemeinfrei

    Bildeten zunächst noch die idealistische Philosophie und insbesondere Schellings Metaphysik Grundlagen seiner Position, so wandelte sich sein Weltbild ab den 40er Jahren, als Belinski nach Petersburg umsiedelte. Er postulierte nun eine sozialkritische und politisch engagierte Literatur und begann, die Romantik abzulehnen. Er war in dieser Zeit maßgeblich an der Entstehung der sogenannten Natürlichen Schule beteiligt, einer literarischen Strömung der 40er Jahre, die die Kunst an Kriterien der außersprachlichen Wirklichkeit maß, den sozialen Aspekt von Ästhetik herausstellte und damit eine moderne Vorform des russischen Realismus (1840–80) darstellte. Eines seiner Hauptanliegen war die Entwicklung einer modernen russischen Nationalliteratur. Diese hatte sich auf aktuelle Aspekte der Gesellschaft und auf Themen aus dem russischen Alltag, also auf realistische Motive, zu konzentrieren.

    Gleichzeitig gab Belinski trotz einer recht kurzen Karriere wichtige Impulse zur Neuerfindung der Literaturkritik als Format des sozialen Engagements. Die rhetorische und gedankliche Verflechtung von Literatur und Politik ermöglichte ihm, politische Polemiken in literarische Urteile zu kleiden. Er trug dabei nicht nur wirksam zur Kanonisierung von Autoren wie Puschkin oder Gogol bei, sondern besaß auch eine wichtige öffentliche Funktion, indem er diverse philosophische Texte und Konzepte überhaupt erst bei einem breiteren Publikum etablierte.

    Politisch gehörte Belinski zu den sogenannten Sapadniki, der westlich orientierten Intelligenzija, die Russland aufgrund seiner Kultur und geographischen Lage als einen Teil Europas ansahen, dessen Geschichte im Grunde erst mit den Reformen Peters I. begonnen hatte. Da das Reich im Vergleich zu den westlichen Nationen in der Entwicklung zurücklag, sollte es soziale, wirtschaftliche und industrielle Reformen aus dem Westen importieren. Weitere wichtige Themen waren die Kritik an der Vorzugsstellung des Adel, der Kampf gegen die Leibeigenschaft, außerdem beschäftigte er sich eingehend mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft.

    Belinski gilt auch heute noch als eine zentrale Figur der russischen Kulturgeschichte, wenngleich er auch nicht mehr die überhöhte Ikone ist, zu der er zu Sowjetzeiten gemacht wurde. Dort galt er als Initiator einer „progressiven“ Kulturkritik und eines utopischen Sozialismus im 19. Jahrhundert. Seine Schriften bildeten eine wichtige Einflussquelle für die Ästhetik des sozialistischen Realismus.

    Belinski litt bereits früh unter einer schwachen Gesundheit und starb mit nur 37 Jahren. Zum Zeitpunkt seines Todes lag gerade ein Haftbefehl gegen ihn vor.

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  • Tauwetter

    Tauwetter

    Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erlebten eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

    Der Begriff des Tauwetters  (russ. ottepel) wird oft mit der Regierungszeit Nikita Chruschtschows (1953–64) gleichgesetzt. Doch entstand das griffige Bild zunächst aus einem literarischen Schlüsselwerk: Ilja Erenburgs Roman Tauwetter von 1954 schilderte die individuellen Zweifel der jüngeren sowjetischen Generation an den herrschenden Normen und verstand den Protest gegen die alte politische Ordnung als Prozess der Erwärmung, als ein symbolisches Aufschmelzen des stalinistischen Systems. Der Romantitel wurde bald zum Namensgeber einer ganzen Epoche.

    Zentrales Moment der Tauwetter-Ära war die Ent-Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Deren Anfang lässt sich mit der sogenannten Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 assoziieren, in der dieser den Personenkult um Stalin anpragerte und – bis zu einem gewissen Maße – mit dem stalinistischen Terror abrechnete. Dieser Kurs wurde einige Jahre später mit der Entfernung des Leichnams Stalins aus dem Mausoleum sowie der Verbannung seines Namens aus der Öffentlichkeit fortgeführt. Entscheidend waren in diesem Prozess ebenso die Freilassung von Millionen politischer Häftlinge aus den Lagern und erste Ansätze ihrer Rehabilitation.

    Insgesamt veränderte sich im Tauwetter unverkennbar die Beziehung der Bevölkerung zum Regime, sodass nun eine Revitalisierung des öffentlichen Lebens und der Kultur einsetzte. Deutliche Lockerungen im Umgang mit Rede- und Publikationsfreiheit erweiterten nicht nur die künstlerischen Möglichkeiten und führten zu einem neuen, aufrichtigen Ton in der Literatur, sondern erlaubten auch die literarische Enttabuisierung des Gulag und des stalinistischen Terrorregimes. Neben den Texten von Alexander Solschenizyn, dessen Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1962 zum ersten Mal erscheinen konnte, waren es besonders Lyriker wie Jewgeni Jewtuschenko oder Bella Achmadulina, in deren Gedichten soziales Engagement artikuliert und transportiert wurde. Öffentliche Literaturlesungen wie etwa beim 1958 errichteten Majakowski-Denkmal zogen oftmals Tausende von zumeist jungen Besuchern an und schufen ein Forum für die aufkommende Gegenöffentlichkeit.

    Die Entstehung einer unangepassten, urban geprägten Jugendkultur zu dieser Zeit hatte zudem mit der zarten Tendenz einer „Verwestlichung“ der sowjetischen Kultur der 50er und 60er Jahre zu tun. Sie äußerte sich in einem neuartigen Interesse für Mode, Jazz oder westlich geprägte Identitätsentwürfe – wie der aufkommenden Hooligan-Kultur oder den sogenannten Stiljagi. War die Sowjetunion unter Stalin streng von der westlichen Hemisphäre isoliert, so  ergaben sich nun neue Kontaktmöglichkeiten mit dem Ausland: So gelangten, etwa durch heimkehrende Soldaten oder über das Baltikum, westliche Konsumgüter in die Sowjetunion. Aber vor allem waren es Ausstellungen und Festivals, die in Moskau organisiert wurden und dem kulturellen Austausch dienten. Dazu gehörten z. B. die Weltjugendspiele 1957, zu denen weit über 30.000 Menschen aus aller Welt strömten, oder die amerikanische Nationalausstellung 1959.

    Allerdings wäre es irreführend, die Tauwetterzeit historisch einseitig als Phase einheitlicher und umfassender Liberalisierung zu romantisieren. Restriktive und liberale Tendenzen wechselten sich – auch aufgrund von Chruschtschows oft sprunghaften Entscheidungen – ständig miteinander ab, sodass es sich vielmehr um eine Reformationsphase des sozialistischen Experiments handelte. Zudem kannten und nutzten den Begriff Tauwetter nur die besser gebildeten, urbanen Schichten. Die Verhaftung des Dichters Joseph Brodsky und der Prozess gegen die Autoren Daniel und Sinjawski bildeten ab Mitte der 60er Jahre den Auftakt für eine Phase der Restauration unter Breshnew, die später als Epoche der Stagnation bis in die 80er Jahre dauerte.

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    Auflösung der Sowjetunion

  • Nikolaj Nekrassow

    Nikolaj Nekrassow

    Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow war ein Autor, Kritiker und einflussreicher Publizist, der insbesondere in politisch-revolutionär gesinnten Kreisen eine breite Anhängerschaft fand. Im westlichen Ausland kaum bekannt, gilt Nekrassow in Russland als Nationalheld der Literatur des 19. Jahrhunderts und als moralische Instanz der Kulturgeschichte. Nekrassow begriff Literatur in erster Linie als Medium zum Ausdruck sozialer und politischer Belange.

    Nekrassow (1821–1878), der einer adligen Familie entstammte und gegen den Willen seines Vaters  1838 zum Philologiestudium nach Sankt Petersburg ging, musste sich zunächst durch Privatstunden und kleinere literarische und publizistische Tätigkeiten über Wasser halten. Erst die Bekanntschaft mit Wissarion Belinski im Jahr 1843, dem Nestor der russischen Literatur und Förderer junger Autoren, verhalf ihm zu ersten Erfolgen. Mitte der 40er Jahre gab Nekrassow „physiologische Skizzen“ heraus, Sozialreportagen, die sich teils kritisch, teils sentimentalistisch und nicht selten unfreiwillig komisch mit den Petersburger Armenvierteln und den vielfältigen Nöten ihrer Bewohner auseinandersetzen. Sie versammelten jene klassischen Autoren, die später als Vertreter der Natürlichen Schule in die russische Literaturgeschichte Eingang fanden.

    Nekrassow erwarb durch seine vielfältigen redaktionellen Tätigkeiten eine vorzügliche publizistische Reputation und konnte so 1846 die renommierte Zeitschrift Der Zeitgenosse kaufen, die er schrittweise zu einem der wichtigsten Publikationsorgane für politische und ästhetische Debatten umbaute und profitabel machte. Ab Mitte der 50er Jahre driftete der Zeitgenosse unter dem Einfluss radikaler Kräfte wie Nikolaj Tschernyschewski immer stärker in Richtung eines politisch-revolutionären Extremismus , so dass die Zeitschrift in Konflikt mit den zaristischen Behörden geriet und 1866 schließen musste. Nekrassow übernahm daraufhin mit den Vaterländischen Annalen eine andere zentrale literaturkritische Zeitschrift, die er bis zu seinem Tod herausgab.

    Den literarischen Druchbruch brachte 1856 sein erster großer Gedichtband, in dem das lyrische Ich als moralische Instanz angelegt ist und zu gesellschaftlichem Engagement gegen soziale Missstände aufruft. Zuvor waren die Zensurbestimmungen in Russland deutlich gelockert worden. In Der Dichter und der Bürger, einem Manifest politisch ambitionierter Literatur, schreibt Nekrassow: „Es wird Zeit aufzustehen, du weißt selbst / welche Zeit begonnen hat.“ Das monumentale Epos Wer lebt in Russland glücklich? (1863–1877), ein Panorama der verschiedenen sozialen Typen der russischen Gesellschaft, kann als Opus magnum Nekrassows gesehen werden. Nekrassow starb vor der endgültigen Fertigstellung des Buchs, nachdem er bereits über Jahre an verschiedenen schweren Erkrankungen gelitten hatte. Seine Popularität war zu dieser Zeit so groß, dass zu seiner Beerdigung Tausende von Anhängern auf dem Nowodewitsche-Friedhof in Moskau zusammenströmten.

    Der Vorzeigedichter auf sowjetischen Briefmarken
    Der Vorzeigedichter auf sowjetischen Briefmarken

    Nekrassows Geltung in der Literaturgeschichte sichert besonders die innovative Übertragung diverser sprachlicher Mittel aus Folklore und mündlicher Volksdichtung in den lyrischen Mainstream. Das Verwischen von Gattungsgrenzen und die Einarbeitung erzählerischer Elemente in die Lyrik lassen sich deutlich in den Versepen seines Spätwerkes erkennen. Die sowjetische Rezeption hat Nekrassow später zum „demokratischen“ Vorzeigedichter erhoben und verklärte die Texte zu progressiven Vorboten der Revolution von 1917. Diese stereotype Mystifizierung der gesellschaftlichen Tätigkeiten Nekrassows in der Sowjetunion verhinderte lange Zeit eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk. Jüngere Untersuchungen heben ambivalente Merkmale in der Biographie Nekrassows hervor und zeichnen eher das Bild eines zerrissenen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts. Diese Deutungen verstehen den tugendhaften und teils asketischen Impetus in Nekrassows Werken als Teil einer politischen Selbststilisierung, ein bewusstes Spiel mit verschiedenen Identitätsentwürfen. Nekrassows Moralisieren erscheint in grellem Kontrast zu seiner eigenen zügellosen Genusssucht, die bereits unter Zeitgenossen Anlass zu allerlei spekulativer Legendenbildung gab.

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