Nach wie vor beeindrucken die Bilder, die vom Sommer 2020 erzählen, als in Minsk Zehntausende auf die Straßen gegangen sind. Die weiß-rot-weißen Proteste spielten sich an einem Ort ab, der nach 1945 mit seinen überdimensionierten Plätzen und ausladenden Alleen als Musterstadt des Sozialismus inszeniert worden ist. In demographischer Hinsicht hatte Minsk als Millionenstadt den von den sowjetischen Planern vorgesehenen Rahmen allerdings bereits in den 1970er Jahren gesprengt. Lange lag Minsk im Schatten seiner Vergangenheit als sowjetische Heldenstadt. Dabei hat die Stadt im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte bereits ungeahnte Metamorphosen von der altrussischen Burgsiedlung und litauischen Marktgemeinde über die zarische Gouvernementsstadt und das jüdische Schtetl vollzogen. Obgleich unter dem Lukaschenko-Regime Anklänge an die Sowjetzeit und der Kult um den Zweiten Weltkrieg heute wieder starke Relevanz erfahren, hat sich mittlerweile eine belarusische Metropole entwickelt, die zwischen sozialistischen Traditionen, europäischen Kulturmustern und den Insignien des herrschenden Autoritarismus changiert.
Die erste Erwähnung der Stadt „Menesk“ findet sich im Jahr 1067 ganz beiläufig am Rande der Schilderung einer Schlacht zwischen den Fürsten der Kiewer Rus. Die Rede war von einem Handelsumschlagplatz, der an das Flusssystem zwischen Ostsee und Schwarzem Meer angeschlossen war. Wechselnde Herrschaftssysteme prägten fortan die Gestalt der Stadt und die Struktur der Bevölkerung. Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geriet sie in den Einflussbereich des Großfürstentums Litauen. Über den Katholizismus, dessen Spuren sich im Stadtbild noch heute an den Kirchengebäuden widerspiegeln, und über die Verleihung des Magdeburger Rechts im Jahre 1499 wurden der Stadt Traditionen der damaligen lateinischen Welt zuteil, und es konstituierte sich seither eine Marktgemeinde. In der ostslawischen Kanzleisprache des Großfürstentums lautete ihr Name noch „Mensk“1.
Russifizierung und sowjetisches Jerusalem
Erst nach den Teilungen Polen-Litauens wurde die Stadt 1793 unter ihrer russischen Bezeichnung „Minsk“ ins Zarenreich eingegliedert. Sie geriet ins Zentrum des Ansiedlungsrayons für die jüdische Bevölkerung, die im Russländischen Imperium keine Freizügigkeit genoss. Damit bekam Minsk den Charakter eines jüdischen Schtetls. Hatte der Handel vor dem Ersten Weltkrieg lediglich regionale Bedeutung, führte die sowjetische Industrialisierung dazu, dass Minsk für die ländliche Bevölkerung immer anziehender wurde: Waren bei der Volkszählung von 1897 noch 90.900 Einwohner registriert, zeigte die Statistik 1939 rund 230.000 Einwohner. Weil die Belarusen überwiegend als Bauern in den Dörfern lebten, stellte die Titularnation am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal acht Prozent der Minsker Bevölkerung. Juden machten zu dieser Zeit noch über die Hälfte der Einwohnerschaft aus. Jüdische Unterschichten wanderten nach der Oktoberrevolution in die russischen Industriestädte ab, die belarusischen Bauern aber zogen nach Minsk, um sich der Zwangskollektivierung ihrer Höfe zu entziehen.
Von Relevanz für die belarusische Hauptstadt erwies sich die sowjetische Kulturpolitik der Indigenisierung (korenisazija), die die Einbindung der nationalen Minderheiten in das Projekt der Bolschewiki durch die Gewährung von Freiräumen im Bildungssektor zum Ziel hatte. Daher profitierten die säkularisierten Minsker Eliten in den 1920er Jahren noch von einem mehrsprachigen kulturellen Milieu aus Belarusisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch. Der in den 1930er Jahren propagierte Sowjetpatriotismus stand dann aber wieder im Zeichen der Russifizierung. Das Stadtwachstum führte in Minsk dazu, dass die Bevölkerungsmehrheit bis zum Zweiten Weltkrieg von den Belarusen übernommen wurde. Das jüdische Leben erlosch erst durch den Holocaust, nachdem die Nationalsozialisten die Stadt ab 1941 besetzten. Letzte Spuren verwischte der Antisemitismus im späten Stalinismus mit der Schließung der Synagoge und des jüdischen Theaters.
Der Plan für die sozialistische Musterstadt
Mit Stalins Programm der forcierten Industrialisierung begann für Minsk in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine Phase der radikalen Stadtsanierung. In bewusster Abkehr von der historisch gewachsenen kapitalistischen Stadt, deren Urbanität sich auf die Verdichtung von Gebäuden, Straßen und Plätzen gründete, hieß die Devise nunmehr aufgelockerte Bebauung und Verbesserung der Infrastruktur. Die Hauptstadt der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sollte die Rolle eines Verwaltungs-, Industrie- und Kulturzentrums übernehmen und zudem einen sozialistischen Vorposten gegenüber dem kapitalistischen Westen bilden. Dass die Minsker Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zu mehr als 70 Prozent zerstört worden war, bot den aus Moskau und Leningrad angereisten Planern die Chance, eine sozialistische Musterstadt zu errichten. Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne wurde nicht angestrebt. Der Generalbebauungsplan von 1946 sah neben monumentalen Gebäuden im Zentrum ein System von radial-ringförmigen Hauptstraßen vor. Die Architektur sollte sowohl das Erbe der klassischen Antike als auch die volkstümliche belarusische Kunst widerspiegeln. In der Folge traten im Meinungsstreit der Architekten zwei Richtungen auf: Die eine setzte auf die Einfachheit der Formen und blieb dem Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet. Die andere orientierte sich an der dekorativen Pracht der Zarenzeit und gab dem Neoklassizismus Vorrang. Letztere gewann die Oberhand, weil ihre Auffassung dem Sozialistischen Realismus der Stalinzeit entsprach.
Zwischen alter Bauernmetropole, Wohnpalästen und Plattenbauten
Allerdings leitete Chruschtschow bereits auf dem Baukongress von 1954 eine Wende ein. Seine Kampagne gegen den dekorativen Luxus der Stalin-Ära setzte auf Typenprojekte. Seitdem stand nicht mehr das gesamtstädtische Ensemble im Vordergrund, sondern der Mikrorayon – der fünfstöckige Mietshäuser mit Versorgungseinrichtungen zu einer Nachbarschaft kombinierte. Auf diese Weise ergänzte der typisierte Plattenbau am Stadtrand die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums. Zugleich lebte ein Großteil der Bevölkerung bis in die sechziger Jahre noch in den hölzernen Gehöften der innerstädtischen Areale, die der Hauptstadt noch lange den Charakter einer Bauernmetropole verliehen.
Das Scheitern des schönen Plans von der sozialistischen Stadt symbolisiert in Minsk kein anderer Ort so sehr wie der Zentrale Platz: Nicht einer der in zahlreichen Architekturwettbewerben vorgelegten Entwürfe ist je realisiert worden. Die Gründe dafür sind im Bereich der Interessengegensätze von Planungsbürokratie und Stadtökonomie zu suchen. Einerseits bestand zwischen dem belarusischen Architektenverband und der staatlichen Architekturverwaltung ein latentes Spannungsverhältnis. Andererseits zeigte sich, dass Infrastrukturprobleme wie etwa die Wasserversorgung viel drängender waren und gelöst werden mussten. Heute wird der Zentrale Platz, der seit der Öffnung einer U-Bahn-Station im Jahre 1984 in Oktoberplatz umbenannt wurde, von einem postmodernen Kulturpalast ausgefüllt – der noch zu Sowjetzeiten geplant, aber erst in den 1990er Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko fertig gebaut worden war. Er ließ mit dem Palast der Unabhängigkeit gleich noch ein weiteres pompöses Gebäude in Minsk errichten, einen orientalisch anmutenden Bau an der Siegerallee, in dem er seit 2013 seinen Amtssitz hat.
In der BSSR hatte die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verstädterungsprozess ausgelöst, der in der Hauptstadt zu einem explosiven Bevölkerungswachstum führte und den Begriff „Minsker Phänomen“ prägte. Für Zuzug sorgten besonders das Lastkraftwagenwerk (MAZ) und das Traktorenwerk (MTZ), die zu den sowjetischen Industriegiganten gehörten. Obgleich die Produktionspalette der Werke bereits 1956 begrenzt wurde, stieg die Einwohnerzahl zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1989 immer noch um das Dreifache, von 509.500 auf 1.612.900. Die in den sechziger Jahren erzielte jährliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent ist von keiner anderen sowjetischen Großstadt je erreicht worden. Trotz der Einführung eines rigiden Meldesystems, demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung in der Stadt nur beim Nachweis von neun Quadratmetern Wohnfläche pro Person erteilt wurde, konnte der massenhafte, teils illegale, teils über einen Arbeitgeber oder eine Hochschule legitimierte Zuzug vom Land in die Stadt nicht verhindert werden. Weder der Wohnungsbau noch die Versorgung mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben kamen den gestiegenen Bedürfnissen nach. Dennoch waren die den Angeboten der sowjetischen Moderne folgenden Übersiedler bereit, ihre lokale Identität preiszugeben und sich an das russischsprachige Milieu der Hauptstadt zu akkulturieren. So gab es seit den siebziger Jahren in Minsk keine Schulen mit belarusischer Unterrichtssprache mehr.
Sowjetische Heldenstadt und Breshnews Widerwillen
Als sich in der Breshnew-Ära abzeichnete, dass die Utopie der sozialistischen Stadt an der Lebensrealität zerbrach, wurde der Versuch unternommen, einen neuen Mythos für Minsk zu kreieren. Seit Mitte der sechziger Jahre vertrat die belarusische Parteiführung dem Moskauer Kreml gegenüber den selbstbewussten Anspruch, eine „Partisanenrepublik“ zu repräsentieren. In diesem Sinne wurde Minsk trotz der erlittenen nationalsozialistischen Besatzung als zehnte Stadt der Sowjetunion der Ehrentitel „Heldenstadt“ zugesprochen. Allerdings nahm Breshnew bestehende Unstimmigkeiten mit der belarusischen Führung zum Anlass, der Stadt die ihr gebührende Anerkennung erst 1978 offiziell zuteilwerden zu lassen: mit der Verleihung des Leninordens und der Goldener-Stern-Medaille. Neben der Stelle, an der 1985 der Obelisk der Heldenstadt errichtet wurde, ließ das Lukaschenko-Regime im Jahr 2014 das neue Museum für die Geschichte des Vaterländischen Krieges bauen. Insgesamt gesehen ist die Erinnerungskultur im Stadtbild immer noch sowjetisch geprägt. Bis heute blieben die Denkmäler des Staatsgründers Lenin und des Tscheka-Chefs Dsershinski vor den Gebäuden von Regierung und Staatssicherheit unangetastet. Auch von Urbanität war Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig zu spüren. In der Dekade, die in Russland als „wilde Neunziger“ beschrieben wird, blieb Minsk als Millionenstadt noch post-sowjetische Provinz.
Ein Fünftel aller Belarusen lebt in Minsk
Von einer Transformation des Stadtbildes kann aber seit der Jahrtausendwende gesprochen werden. Im Sinne einer postsowjetischen Nationalstaatsbildung wurde eine Altstadt rekonstruiert, allen voran das zur Zarenzeit abgerissene Rathaus, das noch auf das Großfürstentum Litauen zurückging. Auch wurde der repräsentative Schwerpunkt der beiden zentralen Verkehrsachsen von der stalinistischen Magistrale im Zentrum zum postmodernen Boulevard am Swislatsch verlagert. Am äußeren Stadtring schießen in den Wohngebieten prächtige russisch-orthodoxe Kirchen aus dem Boden. Als Ausdruck einer verhaltenen Europäisierung sind in der Innenstadt Cafés und Bistros und in den Grünzonen Fahrradwege entstanden. Die zunehmende Automobilisierung und die zahlreichen Shopping-Malls am Stadtrand lassen sich als Sinnbilder einer Amerikanisierung deuten. Auf den ersten Blick wirkt Minsk noch wie ein Museum der Sowjetunion: In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Durchschlagskraft des Sozialistischen Realismus bis heute. Kaum ein Stadtzentrum weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie dasjenige von Minsk. Doch auf den zweiten Blick kristallisiert sich entlang des Swislatsch eine neue Stadtsilhouette heraus, die von einer postmodernen Architektur und von Insignien eines Heldenkults konturiert wird, welcher sich in Denkmälern und Inschriften widerspiegelt.
In den letzten 30 Jahren hat sich auch die Einwohnerschaft der belarusischen Hauptstadt gewandelt: Ende 2019 wurde die Zahl von zwei Millionen überschritten, sodass Minsk in der Reihe der europäischen Großstädte nach Rom und vor Wien den zehnten Rang einnimmt. Sage und schreibe ein Fünftel aller belarusischen Staatsbürger lebt in der Hauptstadt. Die neue Generation entstammt einer postindustriellen Gesellschaft, die als urban bezeichnet werden darf, zumal die Republik Belarus den Verstädterungsgrad von 70 Prozent bereits im Jahr 2001 überschritt. Dabei unterliegt die Nutzung der gebauten Umwelt nicht nur der Erfindung nationaler Traditionen, sondern auch der Kreativität der Menschen. In der brutal niedergeschlagenen Protestbewegung von 2020 hatte Letzteres durch die Bevölkerung von Plätzen und Höfen einen beredten Ausdruck gefunden.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Es handelte sich um eine Schreibweise, die bei der Kodifizierung der belarusischen Sprache am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder populär werden sollte. Die auf die Emanzipation des Bürgertums zielenden Elemente wurden mit der Eingliederung von „Minsk“ in das Russländische Reich 1793 aber wieder unterdrückt. ↩︎
In der europäischen Geschichte vollzog sich der Prozess der Nationalstaatsbildung primär im Zeitraum zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ersten Weltkrieg 1914. Das nationale Projekt der Belarus trat hingegen mit gehöriger Verspätung auf die politische Bühne: Es begann mit der Ausrufung einer kurzlebigen Belarusischen Volksrepublik (BNR) im Jahre 1918 und kam mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus im Jahre 1991 zum Abschluss. Dazwischen lagen rund 70 Jahre der Zugehörigkeit zur Sowjetunion, welche die belarusische Gesellschaft nachhaltig prägten. Im Hinblick auf die gegenläufigen Prozesse der Belarusifizierung in der Zwischenkriegszeit und der Russifierung in der Nachkriegszeit lässt sich von einer Zweiteilung der sowjetisch-belarusischen Epoche sprechen, vielleicht sogar von einer Unterscheidung in eine „Belarusische“ und eine „Belorussische“ Sowjetrepublik. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Metamorphosen aufzuzeigen, welche die Belarus im Laufe des 20. Jahrhunderts im Eiltempo vollzog.
Die Gründung einer kommunistischen Republik auf dem Gebiet der Belarus erfolgte unter turbulenten Bedingungen. Nachdem die deutschen Truppen infolge der Novemberrevolution die westlichen Gebiete der Belarus verlassen hatten, rückte die Rote Armee vor und zwang die Rada (dt. Rat), das Leitungsorgan der Belarusischen Volksrepublik (BNR), Anfang 1919 ins Exil. Inmitten des anschließenden Polnisch-Sowjetischen Krieges und des andauernden russischen Bürgerkrieges kam es in der Folge zweimal, zunächst am 1. Januar 1919 in Smolensk und dann am 31. Juli 1920 in Minsk, zur Ausrufung einer Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus (SSRB). In der Zwischenzeit existierte von Ende Februar bis Mitte Juli 1919 außerdem eine Belarusisch-Litauische Sowjetrepublik (LitBel). Im Frieden von Riga musste Sowjetrussland 1921 schließlich mit dem Wilnagebiet, dem westlichen Polesien, mit Wolhynien sowie Galizien und den beiden Städten Grodno (belarusisch: Hrodna) und Brest die westlichen Landesteile des ehemaligen Zarenreichs abtreten. Sie bildeten von nun an die „östlichen Gebiete“ der Zweiten Polnischen Republik, deren Grenze bis 30 Kilometer an die belarusische Hauptstadt Minsk heranreichte. Bei der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 bestand die Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) daher zunächst nur aus einem unscheinbar kleinen Gebiet um die Hauptstadt Minsk.
Dies änderte sich in den Jahren 1924 bis 1926, als sich die Fläche der BSSR auf Kosten der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) mit der Angliederung der Gebiete um Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow) verdoppelte. Damit kristallisierte sich aber auch der künstliche Charakter der belarusischen Staatsbildung heraus. Normalerweise stiften Nationalbewegungen ein Gemeinschaftsgefühl, das auf ethnischen oder sprachlichen Kriterien beruht. Erst danach beginnen sie, die geografischen und politischen Grenzen abzustecken. Im belarusischen Fall war es genau umgekehrt. Für die belarusischen Bauern, die als „Hiesige“ (tuteischyja) nicht daran gewöhnt waren, über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszublicken, wurde erst ein Gebiet definiert und dann eine Identität imaginiert. Zum Abschluss gelangte der Prozess der Territorialisierung durch die im Hitler-Stalin-Pakt festgelegte Vereinigung der BSSR mit den „polnischen Ostgebieten“, die eine abermalige Verdoppelung der Fläche bedeutete.
Die Konsolidierung der BSSR verlief bis zum Zweiten Weltkrieg ganz im Zeichen einer zunehmenden Sowjetisierung. Dabei bildeten die 1920er Jahre zunächst eine Phase der sprachlichen Belarusifzierung und des kulturellen Pluralismus. So entsprach etwa die Gründung des Instituts für Belarusische Kultur 1921 der sowjetischen Politik der Indigenisierung (korenisazija), die auf die Einbindung der Eliten in das System von Staat und Partei abzielte. Dazu zählte auch die Kodifizierung der belarusischen Sprache, die 1918 mit der Grammatik Branislau Taraschkewitschs, der sogenannten Taraschkewiza, einsetzte.1 Jenseits der Religion öffneten sich auch Freiräume für die jüdische Kultur. Ein Ausdruck der belarusisch-russisch-polnisch-jiddischen Mehrsprachigkeit war die Inschrift „Minsk“, die in vier Sprachen und drei Alphabeten am Bahnhof der Hauptstadt prangte.2
Allerdings führte der Stalinismus an der Schwelle von den 1920er zu den 1930er Jahren zu einer Trendwende, aus der ‚belarusischen‘ wurde in en folgenden Jahren zunehmend eine ‚belorussische‘ Sowjetrepublik. So folgte auf die Belarusifizierung eine Phase des Sowjetpatriotismus, in der die Taraschkewiza von der Narkamaukaabgelöst wurde. Auch in der BSSR wurden sogenannte Kulaken verfolgt und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Maßnahmen wurden allerdings langsamer und moderater durchgeführt als andernorts, da die Belarus nicht zu den fruchtbaren Schwarzerderegionen gehörte.3 Dem Großen Terror fielen schließlich zahlreiche Angehörige der Intelligenzija zum Opfer, die als nationale Trägerschicht verfolgt wurde. Zu den Zeugnissen jener Jahre zählt die Erschießungsstelle Kuropaty am östlichen Stadtrand von Minsk.
Als Folge der deutschen Besatzung der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945 waren auf dem Territorium der BSSR rund zwei Millionen zivile Opfer zu beklagen – insgesamt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Dabei waren etwa 600.000 der Ermordeten Juden, womit die BSSR zu einem der wichtigsten Schauplätze des Holocaust geriet. Doch ungeachtet der enormen Bevölkerungsverluste ging die Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg als eine Siegermacht hervor, die ihre territoriale Verschiebung nach Westen im Protokoll von Jalta und im Potsdamer Abkommen im Februar und August 1945 legitimieren konnte. Im gleichen Monat wurde in einem separaten sowjetisch-polnischen Abkommen auch die endgültige Westgrenze der BSSR festgelegt. Die ehemaligen polnischen Ostgebiete wurden in der Folge sowjetisiert, wozu auch ein 1944 mit der Volksrepublik Polen aufgenommener Bevölkerungsaustausch beitrug.4
Abgesehen von diesem außenpolitischen Akzent stand die Entwicklung der BSSR in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts. Phasenverschoben zur Gesamtentwicklung der Sowjetunion setzte die Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten BSSR erst nach 1945 ein.5 Fortan wurden alle Ressourcen auf die Hauptstadt Minsk konzentriert, die somit eine Sogwirkung entfaltete. 1947/48 wurden dort ein Traktorenwerk und ein Lastkraftwagenwerk errichtet, die jeweils unionsweite Bedeutung hatten.
Jedoch wirkte sich der Fortschrittsoptimismus der belarusischen Parteiführung im Hinblick auf die Beherrschung der Natur in mancherlei Hinsicht kontraproduktiv aus. In der am Prypjat-Fluss gelegenen Landschaft Polesien wurde – als Pendant zu der in den 1960er Jahren auf ukrainischer Seite errichteten Atomindustrie – eine Trockenlegung der Sümpfe betrieben. Diese führte jedoch zu einer Versandung von weiten Arealen und trug damit zum Aussterben der Dörfer bei. Sowjetischerseits wurde dafür bezeichnenderweise der Ausdruck „Auswaschen“ (wymywanije) geprägt. Gemeint war die Landflucht junger Fachkräfte, die über Bildungsanstalten und Arbeitsstätten einen dauerhaften Verbleib in den Städten anstrebten.
Die demografische Konsolidierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich bis in die 1970er Jahre hin. 1970 wurde mit einer Bevölkerungszahl von 9,1 Millionen der Stand der Gesamtbevölkerung der östlichen und der westlichen Landeshälften vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht, wobei die Einbußen durch die Arbeitsmigration nach Sibirien und Zentralasien auch in Betracht gezogen werden müssen.
Unter dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der belarusischen Kommunistischen Partei, Pjotr Mascherow, entwickelte sich die BSSR ab 1965 nicht nur zu einer Musterrepublik, die wirtschaftlich schwarze Zahlen schrieb. Sie trat mit Blick auf den historischen Sieg über den Nationalsozialismus unter dem Slogan der Partisanenrepublik auch selbstbewusst gegenüber dem Kreml auf – womit sie in Konflikt mit einigen Angehörigen der Moskauer Nomenklatura geriet. Diese fürchteten einerseits das Emanzipationsstreben der belarusischen Partisanenfraktion in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und damit einen eigenen Machtverlust, andererseits warfen sie der BSSR den Umstand der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg vor.6 Dass Minsk erst 1974 mit dem prestigeträchtigen Ehrentitel einer „Heldenstadt“ ausgezeichnet wurde, war Ausdruck dieser Spannungen. Widerstände im Kreml trugen dazu bei, dass sich Leonid Breshnew nur verspätet 1978 bereit erklärte, den entsprechenden offiziellen Festakt in Minsk zu vollziehen.
Im gleichen Jahr wurde in der BSSR auch der Verstädterungsgrad von 50 Prozent überschritten, was den Wandel vom Agrarland zum Industriestaat dokumentierte. Kehrseite dieses Sprungs nach vorn war die Preisgabe der Landessprache. Zwar wurde bildungspolitisch auf Zweisprachigkeit gesetzt, doch bevorzugten die von der sowjetischen Moderne profitierenden Eltern das Russische als Unterrichtssprache für ihre Kinder. In den 1970er Jahren verschwanden die belarusischsprachigen Schulen aus den Städten. Gleichzeitig hatten die Landflucht und die Anpassung bäuerlicher Schichten an urbane Milieus das Phänomen der „gemischten Sprache“ hervorgebracht, ein Mischmasch aus Heu und Stroh oder eben aus Belarusisch und Russisch.7
Im Unterschied zur übrigen Sowjetunion konnte in der BSSR nicht von einem gesellschaftlichen Stillstand während der Breshnew-Ära die Rede sein. Die Republik befand sich weiterhin in einem Prozess der nachholenden Modernisierung. Gerade deswegen wurde sie von der wirtschaftlichen Rezession, die die Perestroika der 1980er Jahre mit sich brachte, umso härter getroffen. Außerdem zog der radioaktive Niederschlag des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April 1986 ein Viertel des Territoriums der BSSR in Mitleidenschaft. Zwei Jahre später wurden in der Zeitschrift Literatura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) schließlich die stalinistischen Massenerschießungen im Wald Kuropaty am Stadtrand von Minsk bekannt gemacht, was breite Debatten auslöste. Einer der Verfasser des Textes war der Archäologe Sjanon Pasnjak, ein führender Akteur der sich neu formierenden belarusischen Nationalbewegung. Als Konsequenz dieser Enthüllungen erfolgte im Juni 1988 die Gründung der Belarusischen Volksfront (BNF), die sich hinter die weiß-rot-weiße Flagge der Belarusischen Volksrepublik von 1918 stellte. Bereits im Dezember 1986 und Juni 1987 hatten erst 28 und dann noch einmal 134 prominente belarusische Intellektuelle in einem offenen Brief an Gorbatschow den Verlust der belarusischen Sprache im Zuge der kulturellen Russifizierung beklagt. Im Hinblick auf Kuropaty und Tschernobyl sprachen radikalere Stimmen sogar von einem sowjetischen Genozid am belarusischen Volk.8
Ungeachtet dessen erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus am 25. August 1991 im Nachgang zu entsprechenden Verlautbarungen anderer Sowjetrepubliken eher beiläufig. Von einer weit um sich greifenden belarusischen Identität konnte zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht die Rede sein. Für die Belarusen war das 20. Jahrhundert sowohl ein Zeitalter der Staatsbildung und Territorialisierung als auch ein Zeitalter der demografischen Katastrophen, der nachholenden Industrialisierung und der Urbanisierung. Diese Entwicklungen, die durch den Katalysator des Zweiten Weltkriegs noch beschleunigt wurden, hatten für eine Metarmorphose gesorgt: Aus den in ihren dörflichen Welten verhafteten Hiesigen waren urbane Sowjetmenschen geworden, die sich vom Lebensstil der sozialistischen Moderne überzeugen ließen. Die rapiden Transformationen der belarusisch-sowjetischen Epoche waren also keinesfalls von einem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft begleitet. Im Gegenteil: Der sowjetische Fortschrittsglaube und die sowjetische Parteiöffentlichkeit hatten nicht nur dafür gesorgt, dass die Belarusinnen und Belarusen ihre Nationalsprache aufgaben. Neben der Marginalisierung des jüdischen Erbes ist bis in die Gegenwart auch ein Defizit an Arbeiterbewegung und bürgerlicher Kultur als historische Hypothek zu beklagen.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen:
Bohn, Thomas M. (2008): Minsk – Musterstadt des Sozialismus: Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln
Brakel, Alexander (2009): Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn
Einax, Rayk (2014): Entstalinisierung auf Weißrussisch: Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953–1965, Wiesbaden
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg
Kouida, Artem (2019): Melioration im Belarussischen Polesien: Die Modernisierung der sowjetischen Peripherie (1965–1991), Wiesbaden
Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906–1931, Pittsburgh ↩︎
Bemporad, Elissa (2013): Becoming Soviet Jews: The Bolshevik Experiment in Minsk, Bloomington ↩︎
Siebert, Diana (1998): Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921–1941), Stuttgart ↩︎
Ruchniewicz, Małgorzata (2015): Das Ende der Bauernwelt: Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953, Göttingen ↩︎
Kashtalian, Iryna (2016): The Repressive Factors of the USSR’s Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944–1953), Wiesbaden ↩︎
Urban, Michael E. (1989): An Algebra of Soviet Power: Elite Circulation in the Belorussian Republic 1966–1986. Cambridge/New York ↩︎
Hentschel, Gerd (2014, Hrsg.): Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede: Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Frankfurt am Main ↩︎
Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus (1968–1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden ↩︎
Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs und vor der Gründung der zur Sowjetunion gehörenden Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik existierte für kurze Zeit die Belarusische Volksrepublik (BNR), das erste Projekt eines modernen Staates auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus. Bis heute feiert die belarusische Opposition dessen Unabhängigkeitserklärung am 25. März 1918 als Tag der Freiheit (belarusisch: Dsen Woli), die weiß-rot-weiße Fahne der Republik ist ihr Protestsymbol. Doch abseits nebulöser Vorstellungen ist wenig über die Belarusische Volksrepublik bekannt1, die nie über den Zustand eines Rumpf-Staates ohne realen politischen Einfluss hinauskam. Geblieben ist ein Mythos, der zwischen deutscher Marionettenregierung und revolutionärer Volksvertretung schwankt. Aufklärung tut not.
Den historischen Hintergrund für die Entstehung der BNR bildeten drei Faktoren: die im September 1915 erfolgte Besetzung belarusischer Gebiete durch das Deutsche Reich, die Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 und die Friedensverhandlungen beider Parteien in Brest-Litowsk, die sich von Dezember 1917 bis März 1918 erstreckten. Angetrieben vom Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung beriefen die Große Belarusische Rada, die Zentrale Belarusische Militär-Rada und das belarusische Exekutivkomitee der Westfront in der ersten Novemberhälfte einen Ersten Belarusischen Kongress nach Minsk ein. Dieser trat am 18. Dezember (nach julianischem Kalender am 5. Dezember) zusammen, um über die zukünftige Staatsform und das Verhältnis zu Russland zu beraten. Eingeladen waren 1872 Delegierte aus allen Teilen des Landes, die die unterschiedlichsten politischen Interessengruppen vertraten. Um einem potentiellen Separatismus einen Riegel vorzuschieben, lösten Truppen der Bolschewiki die Versammlung am 31. Dezember (nach julianischem Kalender am 18. Dezember) in dem Moment auf, als eine demokratische Republik ausgerufen werden sollte. Aktiv blieb indes deren neu geschaffenes Leitungsorgan, die Rada (dt. Rat).
Vertreter der belarusischen Nation waren in Brest-Litowsk nicht zugegen. Im Gegenteil: Das Territorium der historischen Landschaft Belarus wurde bei den Verhandlungen nicht einmal als eigenständige Größe erachtet. Zu einem Abschluss kamen die Verhandlungen erst, nachdem deutsche Truppen Mitte Februar 1918 die bis dato westlich von Minsk gelegene Frontlinie überschritten hatten und bis zum Dnjepr vorgedrungen waren. In der Folge wurde am 3. März in Ergänzung zu dem sogenannten Brotfrieden mit der Ukrainischen Volksrepublik ein Abkommen mit Sowjetrussland erzielt, das die neu eroberten Gebiete einer vorübergehenden deutschen Okkupation unterstellte. Dadurch stand die belarusische Rada vor einem Problem: Das Land, für das sie sich zuständig fühlte, war nun entlang der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie von Daugavpils (damals Dünaburg) bis Brest (zeitgenössisch Brest-Litowsk) in einen deutsch kontrollierten unabhängigen Hoheitsbereich im Westen und in ein deutsch besetztes, aber sowjetrussisches Gebiet im Osten geteilt. Zudem blieb der östliche Teil der sich am Fluss Prypjat erstreckenden Landschaft Polesien inklusive der Stadt Brest-Litowsk der Ukrainischen Volksrepublik überlassen.2
Am Vorabend der deutschen Einnahme von Minsk verabschiedete das Exekutivkomitee der Rada des Allbelarusischen Kongresses am 21. Februar 1918 das erste von drei Basismanifesten (belaruss. Ustaunaja hramata: wörtl. Statuten-Urkunde) der Völker der Belarus. Bereits der Titel implizierte eine multikulturelle Perspektive auf ein gemeinsames Hoheitsgebiet. Das Exekutivkomitee berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht des belarusischen Volkes und respektierte die Autonomieansprüche anderer, namentlich nicht genannter Völker oder nationaler Minderheiten. Infrage kamen hierbei vor allem Polen, Russen und Juden. Entscheidend war die eigenmächtige Übertragung der Regierung an ein Volkssekretariat der Belarus. Dieses sollte die demokratischen Ziele fixieren, die nach dem Sturz der zaristischen Herrschaft möglich geworden waren, und eine Allbelarusische Konstituierende Versammlung einberufen.4 Allerdings untersagten die deutschen Besatzer bereits am 25. Februar das Gebaren des Volkssekretariats als Regierungsbehörde, welches in der Inbeschlagnahme des ehemaligen Gouvernementsgebäudes und dem Hissen der weiß-rot-weißen Fahne seinen Ausdruck gefunden hatte.5 Später zeigten sich die Deutschen aus pragmatischen Gründen gewillt, eine Vertretung des Volkes in sozialen und kulturellen Belangen zu tolerieren. Ausgeschlossen blieb eine eigenständige militärische Organisation für das neue Staatsgebilde. Unter diesen Voraussetzungen etablierte sich das Volkssekretariat gegen den anfänglichen Widerstand der deutschen Militärs als eine Art provisorische Regierung.
Am 9. März 1918 wurde schließlich in einem zweiten Basismanifest der Völker der Belarus die Belarusische Volksrepublik ausgerufen. Dem Exekutivkomitee der Rada kam es diesmal darauf an, die staatliche Wiedergeburt der Belarus zu verkünden, die über drei Jahrhunderte zuvor angeblich ein Goldenes Zeitalter erlebt hatte. Nicht von ungefähr wählte die BNR neben der weiß-rot-weißen Fahne auch den Wappenreiter des Großfürstentums Litauen (Pahonja) als staatliches Symbol. Gleichzeitig wurde in Anlehnung an die ersten Dekrete der Sowjetmacht im Interesse einer Massenbasis unter Punkt 7 der Großgrundbesitz aufgehoben („Das Land wird ohne Kauf denjenigen übergeben, die es bearbeiten.“) und unter Punkt 8 der achtstündige Arbeitstag versprochen. Eine Provokation an die deutsche Besatzungsmacht wie an die Regierungsvertreter der benachbarten Länder stellte die Tatsache dar, dass neben der Unabhängigkeit auch das gesamte Siedlungsgebiet des belarusischen Volkes als Territorium beansprucht wurde.
Die entscheidende Passage des wegen seiner Unabhängigkeitserklärung berühmt gewordenen dritten Basismanifests vom 25. März 1918 lautet:
Zusammen mit den Völkern Russlands haben die Völker der Belarus vor einem Jahr das Joch des russischen Zarismus abgeschüttelt, der die Belarus am stärksten unterdrückte und der, ohne das Volk zu fragen, unser Land in das Feuer eines Krieges gestürzt hat, welcher unsere Städte und Dörfer völlig zerstörte. […]
Von dieser Stunde an erklärt sich die Belarusische Volksrepublik zu einem unabhängigen und freien Staat. Die Völker der Belarus selbst werden durch ihre Konstituierende Versammlung über die künftigen nationalen Bindungen der Belarus entscheiden.
Damit widersetzte sich die Rada der in Brest-Litowsk beschlossenen Teilung ihres Landes. Stattdessen vertrat die Rada den Standpunkt des Ethnographen Efim Karski, der in seiner 1917 wiederveröffentlichten Karte aus dem Jahr 1903 ein über die damaligen Verwaltungsgrenzen hinausreichendes Territorium markiert hatte. Es umfasste nicht nur die Gebiete von Minsk, Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow), sondern auch Hrodna (russ. Grodno) mit Belastok (poln. Białystok), Wilnja (lit. Vilnius), Smalensk (russ. Smolensk) und Tscharnihau (ukr. Tschernihiw). Abstriche wurden lediglich in der vermeintlich mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Region bei Brest gemacht.
Einig waren sich die selbsternannte belarusische Regierung und die politischen Interessenvertreter des Landes aber keinesfalls. Nach dem 25. März verließen mehrere Rada-Mitglieder die Regierung wegen ihres eigenmächtigen Schritts. Die 1917 gewählte, mehrheitlich von sozialistischen Parteien jenseits der Bolschewiki besetzte Stadtduma (d. h. Stadtrat) von Minsk distanzierte sich sogar ganz von der BNR. Ihrer Ansicht nach sollte die Sache eines belarusischen Nationalstaats einer Konstituierenden Versammlung vorbehalten bleiben. Dadurch sah sich die belarusische Regierung vor das Dilemma gestellt, weder bei den politisch aktiven Belarusen, noch bei den sogenannten nationalen Minderheiten über einen uneingeschränkten Rückhalt zu verfügen.
Handlungsspielräume
Deutsche Diplomaten und Militärs vertraten die Auffassung, dass die BNR nur durch den Segen der Sowjetregierung Legitimität erlangen könne,7 nach Erich Ludendorff war „die ganze Angelegenheit eine innere Frage des großrussischen Staates“8. Die deutsche Seite setzte auf Vertragstreue gegenüber Sowjetrussland, um eine Gefährdung des Brester Friedens zu vermeiden, in dem von einer Annexion belarusischer Gebiete nicht die Rede war. Damit war das Scheitern der BNR vorprogrammiert. Sie bemühte sich zwar, den Radius ihres Einflusses abzustecken, verfügte als Projekt einer elitären Minderheit aber weder über ein Territorium, noch über eine Massenbasis. In Betracht zu ziehen ist dabei aber auch die Flucht von über zwei Millionen Menschen beim Vorrücken der Deutschen im Kriegsjahr 1915. Angeheizt durch die russische Propaganda über Gräueltaten verlief diese in Richtung Osten, wobei die größtenteils orthodoxen Flüchtenden in Russland alles andere als einen Feind erblickten und sich dann auch von Lenins Versprechen von Frieden, Land und Brot angesprochen fühlten. Letzten Endes nahm im Laufe des Jahres 1918 nur die Ukrainische Volksrepublik eine de facto Anerkennung der BNR vor.
Um eine belarusische Identität zu kreieren hatte sich die BNR neben der Propagierung eines geographischen Bewusstseins auch um die Kodifizierung der „einfachen Sprache“ (prosta mova) des Volkes bemüht. Stützen konnte sie sich dabei auf eine von Branislau Taraschkewitsch in kyrillischer und lateinischer Schrift herausgegebene Belarusische Grammatik für die Schulen.9 Außerdem verfasste der Literat Wazlau Lastouski unter dem Titel Was jeder Belaruse wissen muss eine Art nationalen Katechismus. Dieser beinhaltet in rhetorisch-didaktischer Absicht ein Frage-Antwort-Spiel, das die Bauern motivieren sollte, in ihrem Selbstverständnis als „Hiesige“ (tuteischyja) über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszuschauen.
Wer sind wir? Wir sind Belarusen. Wer sind die Belarusen? Belarusen sind ein Volk des slawischen Stammes. Warum werden wir Belarusen genannt? Weil wir als Belarusen geboren worden, weil uns das belarusische Land ernährt, weil wir in der Belarus aufgezogen wurden und in ihr leben. Was ist ein Belaruse? Ein Belaruse ist derjenige, in dessen Adern belarusisches Blut fließt, und dessen Urgroßväter, Großväter und Vater Belarusen waren.10
Neben dem Aufbau einer Lokalverwaltung und der Reevakuierung der beim Vormarsch der Deutschen 1915 geflohenen Menschen, gehörten der Import von Lebensmitteln aus der Ukraine und die Einrichtung von Schulen zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben des Volkssekretariats der BNR. Im Spätsommer 1918 rückte zudem die Frage der Aufstellung militärischer Verbände auf die Tagesordnung. Denn die Deutschen zeigten sich am 27. August 1918 in einem Ergänzungsvertrag zum Brester Frieden im Interesse einer Verlegung ihrer Truppen an die Westfront gewillt, den Sowjets einen Teil der okkupierten Gebiete zu überlassen.
Exil und Nachwirkung
In der Tat begann sich das deutsche Heer nach der Novemberrevolution in Deutschland gänzlich aus dem Osten zurückzuziehen. Am 1. Januar 1919 riefen die Bolschewiki eine belarusische Sowjetrepublik aus. Neun Tage später traf die Rote Armee in Minsk ein. Die Rada floh zunächst nach Litauen, wo sie noch 1919 von Estland und Finnland und 1920 von Litauen als legitime Regierung anerkannt wurde, und ging dann dauerhaft ins Ausland, wo sie bis heute als älteste Exilregierung der Welt existiert. Unter diesen Voraussetzungen kann die BNR als ein im Ansatz steckengebliebenes Projekt der belarusischen Nationalbewegung betrachtet werden. Es handelte sich um einen illegitimen Staat ohne festumrissenes Territorium und ohne Verfassung.
Doch die Symbole der BNR blieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden sie im Lande selbst noch zweimal wieder aufgegriffen. Als die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges im Dezember 1943 zu Propagandazwecken einen Weißruthenischen Zentralrat in Dienst stellten, wurde die weiß-rot-weiße Fahne missbraucht. Einem logischen Schluss hingegen entsprach es, dass sich die 1988 entstandene Belarusische Volksfront (BNF) auf die BNR von 1918 bezog. Auch die 1991 gegründete Republik Belarus bediente sich der Symbole der BNR selbstverständlich als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit. Nach Lukaschenkos Machtantritt wurden sie 1995 jedoch durch ein umstrittenes Referendum abgeschafft. Nachdem ab den späten 1980er Jahren zuerst die Nationaldemokraten den 25. März nach dem Vorbild der Patrioten in der Diaspora als Tag der Freiheit (Dsen Woli) begingen, ist das Datum heute ein Bezugspunkt der gesamten belarusischen Opposition.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen:
Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas
Michaluk, Dorota/Rudling, Per Anders (2014): From the Grand Duchy of Lithuania to Belarusian Democratic Republic: the Idea of Belarusian Statehood, 1915-1919, in: The Journal of Belarusian Studies 7 (2014) Nr. 2, S. 3-36
Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906-1931, Pittsburgh, PA
Dieser Befund gilt für Deutschland wie für die Belarus gleichermaßen. Im deutschen „Handbuch der Geschichte Weißrusslands“ von 2001 findet die BNR nur am Rande Erwähnung. Ein Standardwerk aus polnischer Feder erschien erst 2010. Es bedurfte des Jubiläumsjahres von 2018, um der Republik Belarus selbst nennenswerte Publikationen hervorzubringen, vgl. Beyrau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hrsg., 2001): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen und Michaluk, Dorota (2010): Białoruska Respublika Ludowa 1918–1920: U podstaw białoruskiej państwowości, Toruń sowie die Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften und einer Gruppe unabhängiger Historikerinnen und Historiker: Belaruskaja Narodnaja Rėspublika – krok da nezaležnasci: Da 100-hoddzju abvjašėnnja: Histaryčny narys, Minsk 2018; Šljachami BNR: da 100-hoddzja abvjaščėnnja Belaruskaj Narodnaj Rėspubliki, Hrodna 2018 ↩︎