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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russisch-kasachisches Win-win

    Russisch-kasachisches Win-win

    Es waren die schwersten Ausschreitungen in der jüngsten Geschichte Kasachstans: Anfang Januar wurde das zentralasiatische Land von tagelangen Protesten erschüttert. Präsident Tokajew setzte seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrats ab und rief die OVKS, ein Militärbündnis unter Führung Russlands, zur Hilfe, um gegen die „ausländischen Terroristen“ einzuschreiten. Dieses Vorgehen hatte für viel Unruhe gesorgt, Befürchtungen wurden laut, dass Kasachstan damit seine „multivektorale Außenpolitik“ – gute Beziehungen zu Russland, China und den USA – aufgebe und sich zur Geisel Russlands mache.
    Die Proteste waren binnen weniger Tage niedergeschlagen, am 13. Januar begannen die OVKS-Truppen ihren Abzug, es gab 225 Todesopfer und mehr als 7000 Festnahmen – das zumindest sind die offiziellen Zahlen, Menschenrechts­organisationen gehen von deutlich mehr Opfern aus.
    Auslöser für die Demonstrationen waren die hohen Gaspreise gewesen, vor allem in der Kultur- und Wirtschafts­metropole Almaty politisierten und radikalisierten sich die Proteste schließlich, Demonstranten forderten den völligen Rückzug von Ex-Präsident Nasarbajew. 

    Zentralasien­expertin Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiter am ZOiS, vermutet im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass die Proteste in Kasachstan durch „Kräfte aus dem riesigen Clan des Altpräsidenten Nursultan Nasarbajew“ zusätzlich angeheizt worden waren, „die ihre Felle davonschwimmen sahen“. Derzeit beobachte sie einen Ämtertausch, zahlreiche Personen mit Verbindungen zu Nasarbajew würden ausgewechselt. Zudem nehme Tokajew wirtschaftliche Reformen in Angriff. Ein Ende von Kasachstans multivektoraler Außenpolitik sieht sie nicht.

    Auf Carnegie.ru analysiert Temur Umarow, welche Interessen die kasachische und russische Führung mit dem OVKS-Einsatz jeweils verfolgten – und warum er eben nicht das Ende der kasachischen Multivektor-Politik bedeutete.

    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0
    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0

    „Kasachstans Außenpolitik wird sich grundlegend ändern“ – solche Stimmen wurden sofort laut, nachdem im Januar die OVKS mit Russland an der Spitze bei den Unruhen in Kasachstan interveniert und dem Präsidenten Kassym-Shomart Tokajew dabei geholfen hat, seine Macht nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu festigen. Es hieß, die Landesregierung werde den Kreml für seine Unterstützung entlohnen müssen. Die Spekulationen über das Wie variierten von der Anerkennung der Krim über die Ablehnung der lateinischen Schrift bis hin zur Schließung „antirussischer“ NGOs.

    Nahezu einig war man sich allerdings, dass der Abschied von Kasachstans berühmter multivektoraler Außenpolitik nun unvermeidliche Konsequenz sei. Aber sind diese Annahmen berechtigt? 
    Auf den ersten Blick scheint die Frage nach einer „Gegenleistung“ naheliegend – immerhin hat der OVKS-Einsatz Geld gekostet, und Russland ist ein ernsthaftes Risiko eingegangen, indem es seine Soldaten in das von Unruhen erschütterte Kasachstan schickte. Hätte sich das russische Militär aktiv an der gewaltsamen Zerschlagung der Proteste beteiligen müssen, wäre das ein enormer Imageschaden für Moskau – nicht nur gegenüber den Kasachen, sondern auch der Weltgemeinschaft.

    Doch auch innenpolitisch hat Russland einiges riskiert: Wie bewertet die russische Gesellschaft den Militäreinsatz? Wie hätte es sich auf die Zustimmungswerte des Kreml ausgewirkt, wenn sich der Einsatz in die Länge gezogen oder russische Soldaten in Kasachstan umgekommen wären? Gründe genug also, um eine Gegenleistung zu fordern.

    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung

    Doch diese Logik vernachlässigt einen wichtigen Umstand. Das Hauptmotiv für Moskaus Entscheidung, sich in das Geschehen in Kasachstan einzumischen, war nicht der Wunsch, seinen Einfluss in Zentralasien zu vergrößern, sondern die Sorge um die eigene Sicherheit, sollte die Situation im Nachbarland endgültig außer Kontrolle geraten.  
    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung. In diesen Tagen sorgte man sich weniger um das Schicksal der kasachischen Regierung als um die möglichen Konsequenzen für Russland. Die russisch-kasachische Grenze ist die zweitlängste Landesgrenze der Welt, sie ist sehr schwach gesichert und stellenweise nicht einmal markiert. 
    Außerdem war es für Moskau wichtig, Kasachstan als das zu erhalten, was es immer gewesen ist – Russlands wichtiger Verbündeter, der sich zahlreichen Initiativen des Kreml anschließt, sowohl in der Verteidigungs- als auch in der Wirtschaftspolitik, die auf eine Integration des postsowjetischen Raums ausgerichtet ist. Man durfte also nicht zulassen, dass dieses freundschaftlich gesinnte Regime fällt und der Präsident seine Macht verliert.

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht

    Der Preis für die Aktion war nicht sehr hoch. Die aktive Phase der Friedensmission dauerte nur wenige Tage: Tokajew hatte sich am 5. Januar an die OVKS gewandt und bereits am 10. Januar den baldigen Abschluss der Aktion verkündet. Die OVKS hatte gerade mal 2500 Soldaten und 250 Militärgeräte bereitgestellt. Offiziell sicherten die Einsatzkräfte der OVKS strategisch wichtige Objekte, doch eigentlich war ihr Einsatz vor allem symbolischer Natur.

    Durchaus möglich, dass Tokajew auch allein mit der Situation fertig geworden wäre: Die kasachischen Sicherheitskräfte sind bei weitem nicht die schwächsten auf der Welt. Aber einige von ihnen hatten es (zumindest in Almaty) nicht eilig, die Befehle der Zentralregierung auszuführen, deswegen hätte sich die Krise in die Länge ziehen können. Der kasachische Präsident musste dringend beweisen, dass er neben der institutionellen Legitimität auch über reale Macht verfügt. Hilfe von Moskau anzufordern war die niedrigschwelligste Entscheidung. 

    Russland versteht besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht. Trotz aller Gespräche über die multivektorale Politik und den wachsenden Einfluss Chinas bleibt Russland das einzige Land, das die Regierungen in der Region militärisch unterstützen kann. Zum einen, weil es eine legale Grundlage dafür hat – laut Satzung der OVKS können bei Bedrohung in einem Mitgliedstaat die anderen Länder militärische Maßnahmen ergreifen. Zum anderen, weil die kasachische Gesellschaft Russland gegenüber relativ wohlgesonnen ist. Laut einer Umfrage des Zentralasiatischen Barometers halten 81 Prozent Russland für einen befreundeten und zuverlässigen Partner. Weder die USA noch China genießen ein so großes Vertrauen. 

    Und nicht zuletzt versteht Russland besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht. Man kennt viele ihrer Vertreter persönlich, pflegt mit einigen freundschaftliche Beziehungen, spricht mit allen in der eigenen Muttersprache und teilt Werte und Überzeugungen, die noch auf das Sowjetsystem zurückgehen. Das ermöglicht Russland, innenpolitisch Einfluss zu nehmen und in Krisensituationen schnell und effektiv zu reagieren. 

    Schon jetzt hat Moskau viel gewonnen

    Moskau hat schon jetzt – ohne neue Zugeständnisse von Tokajew – durch den kurzen Kasachstan-Einsatz der OVKS viel gewonnen. Vor allem ist es Russland gelungen, ein befreundetes politisches Regime im großen Nachbarland an der Macht zu erhalten. Außerdem konnte es der ganzen Welt beweisen, dass die OVKS nicht bloß irgendein Klub ist, sondern eine wirkmächtige Organisation. Gleichzeitig wurde den anderen Regierungen in Zentralasien signalisiert, dass nur Russland die Mittel und den Willen hat, sie im Fall einer Krise vor dem Zusammenbruch zu bewahren. 

    Der letzte Punkt ist in Anbetracht der wachsenden Aktivität Chinas in der Region besonders relevant. Russland wirkt im Vergleich zu China blass. Manche glauben schon so sehr an die Übermacht Chinas, die Russland aus Zentralasien zu verdrängen vermag, dass sie die kurze Verweildauer der OVKS mit einem Einwand Chinas erklären. 

    Allerdings genießt die chinesische Regierung nicht annähernd so viel Vertrauen bei der kasachischen Elite wie der Kreml, deswegen ist es schwer vorstellbar, dass Peking solche Forderungen stellen würde. Nach Einschätzung des Sinologen Igor Denissow halten die diplomatischen, nachrichtendienstlichen und analytischen Mittel Chinas nicht Schritt mit seiner immer größer werdenden wirtschaftlichen Präsenz in Zentralasien. Darum blieb China während der jüngsten Krise in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters.
    Natürlich wird der wirtschaftliche Einfluss Chinas auch nach den jüngsten Ereignissen weiter wachsen und allmählich auf andere Bereiche übergehen. Aber wie die Ereignisse im Januar gezeigt haben, wird Peking Moskau nicht so bald einholen, was das Verständnis der Vorgänge im Land und die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die herrschenden Eliten betrifft. 

    Tollkühne Rhetorik der Türkei

    Die Krise hat auch Kasachstans Schwächen in den Beziehungen zu anderen Partnern offengelegt, beispielsweise der Türkei. Wie Peking beobachtete auch Ankara das Geschehen aufmerksam – Erdogan, der 2016 selbst einen Umsturzversuch erlebte, bot Tokajew telefonisch Hilfe an. Der Berater des türkischen Präsidenten Ihsan Sener ging sogar so weit von einer „Okkupation“ Kasachstans durch die Einsatzkräfte der OVKS zu sprechen. 

    Doch die tollkühne Rhetorik zeugt nur von den türkischen Ambitionen in Zentralasien, die bislang weder durch eine Expertise in der Region noch durch ausreichende Verbindungen zu den lokalen Eliten oder ein Vertrauen im Volk untermauert sind. 

    Verhalten war auch die Reaktion der USA, obwohl Kasachstan als ihr wichtigster Partner in der Region gilt. Im Großen und Ganzen blieb es bei öffentlichen Erklärungen: Zunächst gab es einen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Menschenrechte zu achten, später folgte eine Solidarisierung mit den „verfassungsrechtlichen Institutionen Kasachstans“. Die USA interessieren sich mit jedem Jahr weniger für Zentralasien – ihr passives Verhalten während der Krise in Kasachstan ist dafür nur ein weiterer Beweis. 
    Und schließlich gibt es bei der Erwartung einer prorussischen Wende in der kasachischen Außenpolitik einen wesentlichen Haken: nämlich die Frage, welche neuen Druckmittel Russland durch seine kurze Truppenpräsenz unter dem Deckmantel der OVKS gewonnen hätte. Die Antwort lautet: gar keine.

    Es wäre nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren

    Aus juristischer Sicht verlief alles entsprechend der Satzung der OVKS: Der Beschluss Kasachstan im Kampf gegen die „terroristische Bedrohung“ beizustehen wurde nicht vom Kreml, sondern vom Rat für kollektive Sicherheit des Bündnisses getroffen. Es sind in dieser Zeit keine überstaatlichen Einrichtungen gegründet, zwischenstaatliche Übereinkünfte getroffen oder auch nur öffentliche Versprechungen gemacht worden, die Moskau dazu berechtigt hätten, irgendetwas zu fordern. Und selbst wenn es so etwas gegeben hätte, wäre es nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren.

    Im Gegensatz zu beispielsweise Belarus hat Kasachstan nie versucht, die Widersprüche zwischen Moskau und dem Westen gegeneinander auszuspielen, sondern sich tatsächlich bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit beiden Seiten zu pflegen – mit Erfolg. Das Land verbindet schon seit vielen Jahren eine Partnerschaft mit Russland und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen: Fast 40 Prozent der kasachischen Exporte gehen nach Europa, während bei der Ölförderung amerikanische Firmen dominieren. 

    Mit anderen Worten: Kasachstans multivektorale Politik ist nicht bloße Rhetorik, sondern fußt auf diversifizierten Wirtschaftsbeziehungen. Von der Aufrechterhaltung dieser Politik hängt der materielle Wohlstand des Landes in vielerlei Hinsicht ab. Nähme man also an, Moskau wollte dieses Gleichgewicht zu seinen Gunsten stören, müsste es mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines solchen Schrittes rechnen.

    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben

    Warum sollte Russland eigenhändig die durch die jüngsten Ereignisse ohnehin angeschlagene wirtschaftliche Lage in einem Land verschlimmern wollen, in dem gerade erst Massenproteste wegen Preisanstiegen und sozialer Ungerechtigkeit stattgefunden haben? Die politische Krise und die ausländischen Truppen haben die Investoren auch so schon verunsichert, was nicht folgenlos bleiben wird. In dieser Situation eine Distanzierung vom Westen zu fordern, würde nur weitere Probleme für alle Beteiligten nach sich ziehen. Zudem würde eine hypothetische Verdrängung des Westens aus Kasachstan nicht zwingend dazu führen, dass Russland diese Leerstelle füllt. Vermutlich würde Moskau sogar nur China dazu verhelfen, zu einer noch einflussreicheren Macht in Zentralasien zu werden.

    Viel wahrscheinlicher ist es also, dass Russland sich nicht zu solchen Manövern hinreißen lässt, um neue Zugeständnisse von Kasachstan zu bekommen. Auch wenn die beiden Länder wie schon zuvor nicht ohne kleinere Streitigkeiten auskommen werden – beispielsweise über den Stellenwert der russischen Sprache.
    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Viele haben die Signale bereits bemerkt, die Tokajew durch die Besetzung der Ämter sendet: Minister für Information und gesellschaftliche Entwicklung wurde Askar Umarow, der für seine russophoben Statements bekannt ist. Gleichzeitig wurde mit Roman Skljar nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder ein ethnischer Russe für den Posten des stellvertretenden Premiers ernannt. Ein solches Gleichgewicht soll zeigen, dass der außenpolitische Kurs des Landes unverändert bleibt – das Bündnis mit Russland ist stärker als je zuvor, aber es stellt die Souveränität Kasachstans nicht infrage. 

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  • Oktoberumsturz in Kirgistan

    Oktoberumsturz in Kirgistan

    Schall- und Blendgranaten flogen, die Polizei setzte auch Tränengas ein: Nach der Parlamentswahl in Kirgistan ist es in der Nacht von Montag auf Dienstag zu heftigen Protesten in der Hauptstadt Bischkek gekommen. Demonstranten, die der Regierung Wahlbetrug vorwerfen, waren sogar in den Amtssitz des Präsidenten eingedrungen. Das 6-Millionen-Einwohner-Land galt lange als demokratisches Vorbild in Zentralasien. OSZE-Beobachter sprachen von einem fairen Wahlkampf, aber auch von glaubwürdigen Berichten über Stimmenkauf bei der Wahl. 
    So scheint Kirgistan nach 2005 und 2010 nun den dritten Umsturz zu erleben: Aber wie viel Neues wird er bringen? 
    Auf Carnegie.ru analysieren Alexander Gabujew und Temur Umarow die politische Situation und die Auslöser für die Proteste im Land.

    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    In Kirgistan gab es die größten Proteste seit 10 Jahren – sie könnten das Vorspiel für eine dritte Revolution innerhalb der letzten 15 Jahren werden. Binnen einer Nacht hat Präsident Sooronbai Dscheenbekow einen Großteil seiner Macht eingebüßt, wobei er seinen Posten formal bislang nicht verloren hat. Und sein ärgster Gegner, Expräsident Almasbek Atambajew, ist mittlerweile in Freiheit – und wieder mit von der Partie.

    Hinter dem Chaos der aktuellen Ereignisse, wo sich die Situation alle paar Stunden ändert und ganz unterschiedliche Menschen der Reihe nach versuchen, Chefsessel einzunehmen, zeichnet sich ab, wo der Hauptnerv des politischen Lebens in Kirgistan liegt: Im Machtkampf zwischen regionalen Gruppierungen, die sich als politische Parteien ausgeben. 

    Wie auch in vielen anderen Ecken des Planeten, wurde die Krise in Kirgistan von der Covid-19-Pandemie und der daraus entstandenen Rezession hervorgerufen. 

    Die Nacht, die alles veränderte

    Tausende Menschen, die am 5. Oktober in Bischkek auf die Straße gegangen sind, waren unzufrieden mit den Ergebnissen der Parlamentswahl am Vortag.

    Sie hatten sich auf dem Ala-Too Platz versammelt, der Wiege der Revolutionen von 2005 und 2010, und forderten die Annullierung der Wahlergebnisse und Neuwahlen.

    Bis zum Abend blieb die Demonstration friedlich, die Miliz rief die Menschen nur dazu auf auseinanderzugehen. Bei Einbruch der Dunkelheit bekamen die Demonstranten Verstärkung durch kräftige junge Männer vom Stadtrand und aus nahegelegenen Dörfern. Nachts überwand die neu formierte Menge die Absperrungen und gelangte ins Machtzentrum des Landes: Im Weißen Haus in Bischkek sitzt sowohl das kirgisische Parlament als auch die Präsidialadministration.

    Dann drang die Menge ins Untersuchungsgefängnis des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit vor, aus dem kurz darauf Expräsident Almasbek Atambajew und weitere prominente Gefangene befreit wurden. Die Wachleute leisteten nicht nur keinen Widerstand – einige von ihnen erklärten, dass auch sie jetzt auf Seiten des Volkes sind.

    Selfies aus dem Präsidentensessel

    Das Büro des amtierenden Präsidenten Sooronbai Dscheenbekow, der Kirgistan seit 2017 regiert, wurde von Menschen besetzt, die Gesichtsmasken trugen und Selfies schossen, während sie im Sessel des Staatsoberhauptes saßen und sich Einrichtungsgegenstände als Souvenirs mitnahmen. Der Präsident war unterdessen verschwunden. Den einen Angaben zufolge ist er in der Hauptstadt geblieben und steht unter dem Schutz loyaler Einheiten. Andere Quellen sprechen davon, dass er noch in der Nacht in seine Heimatstadt Osch, der größten Stadt im Süden des Landes, geflogen war.

    Dscheenbekow hat offiziell den obersten Posten weiter inne, doch tatsächlich befinden sich derzeit weder die Hauptstadt noch die Sicherheitsbehörden unter seiner Kontrolle, die jeder auf seine Seite bringen will.

    Beispielsweise kam sofort um 8 Uhr, am Morgen nach dem Umsturz, Almambet Schykmamatow, Kandidat der Partei Bir Bol, mit Anhängern zum Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft und erklärte sich zum kommissarischen Generalstaatsanwalt. Vier Stunden später kam eine weitere 500 Menschen starke Menge dorthin und bestimmte jemand anderen für diesen Posten. 

    Infolgedessen hat die Zentrale Wahlkommission der Republik am Tag nach dem Umsturz die Ergebnisse der Wahl annulliert, auf den Plätzen vieler Städte finden spontane Kundgebungen statt zu unterschiedlichsten Problemen – von gestohlenen Wahlen bis hin zu Korruption auf lokaler Ebene.
    Politiker, derzeitige und ehemalige Beamte, Sicherheitskräfte, Geschäftsleute und Anführer krimineller Strukturen sammeln in der Zwischenzeit Unterstützer und verhandeln kreuz und quer über zukünftige Allianzen. Man kann nicht einmal von einer doppelten Regierung sprechen – die Staatsmacht in Kirgistan ist vorerst in tausend Scherben zersprungen.

    Norden gegen Süden

    Auf die Wahl, die die Situation hat hochgehen lassen, hatte man in Kirgistan gewartet. Das Vertrauen der Gesellschaft in das vorherige, das sechste Parlament war sehr gering. Seine Mitglieder, so die Meinung, standen unter Kontrolle von Präsident Dscheenbekow und seinen Mitstreitern. In Bezug auf das Abstimmungsverhalten gab es zwischen der Regierungsmehrheit und der nominalen Opposition fast keine Unterschiede.

    An der Wahl nahmen 16 Parteien teil, von denen laut dem Zentralen Wahlkomitee jedoch nur vier ins Parlament kamen. Alle diese Parteien kann man als Einflussgruppen aus dem Süden des Landes bezeichnen. In Verbindung mit vielen Berichten über Betrug und Einsatz von administrativen Ressourcen hatte der Sieg der Südler den Norden des Landes heftig aufgebracht – und zwar nicht nur eine gesichtslose Masse, sondern sehr konkrete und gut organisierte Gruppen aus den nördlichen Regionen. So kam es auch zu der schnellen Mobilisierung der Demonstranten in Bischkek, das im Norden des Landes liegt.

    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov
    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov

    Der Oktoberumsturz hat zum wiederholten mal gezeigt, wie Kirgistan im Kern strukturiert ist. Von außen sieht es politisch so aus, als gäbe es im Land eine Regierung und eine Opposition, politische Parteien mit unterschiedlichen Programmen und eine echte Konkurrenz bei den Wahlen. In Wirklichkeit ist aber jede Partei nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist. Grob lassen sich diese Gruppen in Menschen aus dem Norden und Menschen aus dem Süden Kirgistans unterteilen. Bei aller Bedingtheit dieser Aufteilung wird auch in Kirgistan sehr häufig genau auf dieses Schema zurückgegriffen, um die Prozesse im Land zu erklären.

    Jede Partei ist nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist

    Der Kampf zwischen den Eliten aus dem Norden wie aus dem Süden dauert schon Jahrzehnte, doch ist er in den letzten 15 Jahren zum Hauptkonflikt in der kirgisischen Politik geworden.

    Unter Kurmanbek Bakijew waren die wichtigsten Posten und Geldströme bei seinen Leuten akkumuliert, die vornehmlich aus dem Süden waren. Nachdem dann 2011 der aus der nördlichen Oblast Tschui stammende Almasbek Atambajew an die Macht kam, schwang das Pendel in die andere Richtung.

    Dabei hatte sich Atambajew bemüht – sofern das in der kirgisischen politischen Kultur überhaupt möglich ist –, eine Balance zwischen den regionalen Machtgruppen zu schaffen und die Südler nicht gegen sich zu stimmen, indem er sie ganz aus einflussreichen und lukrativen Posten verdrängt. Zu seinem Nachfolger machte er den Südler Dscheenbekow.

    Doch die beiden zerstritten sich später: Atambajew dachte, dass Dscheenbekow gefügig sein wird, doch der Streit resultierte in der filmreifen Festnahme des Expräsidenten in dessen Heimatdorf im August 2019 – mit Schießerei und einer elfjährigen Gefängnisstrafe. Neben Atambajew wanderten auch seine wichtigsten Mitstreiter hinter Gitter.

    Die derart brutale und demonstrative Zerschlagung von Atambajews Gruppe hat viele empört. Dazu kamen dann die Wahlergebnisse, bei denen über die Hälfte der Mandate an die Parteien Birimdik (die der Bruder des Präsidenten leitet) und Mekenim Kyrgyzstan gingen. Das weckte den Eindruck, dass Sooronbai Dscheenbekow dabei ist, alle Steuerhebel der Macht und Finanzströme in den Händen seines Clans und befreundeter Südler zu konzentrieren.

    Pandemie und Wirtschaftskrise

    Einen ungünstigeren Moment für die Wahlfälschung zugunsten genehmer Parteien hätte man sich nicht ausdenken können. Die Gesellschaft ist schon seit Monaten aufgebracht – wegen der Pandemie und der von ihr hervorgerufenen Wirtschaftskrise.

    Die Menschen hat es stark verärgert, wie Dscheenbekow sich im Kampf gegen das Virus verhalten hat. Wie auch in anderen Ländern Zentralasiens war Kirgistans Regierung nicht auf eine Pandemie vorbereitet und hat sie nur schlecht in den Griff bekommen. Doch im Unterschied zu anderen Ländern in der Region gibt es in Kirgistan Medienfreiheit. Meldungen über lange Schlangen, verschlossene Türen in Krankenhäusern und erstickende Infizierte auf den Straßen gab es überall, sowohl in den von den älteren Wählern gelesenen und geschauten Medien als auch in den Sozialen Netzwerken. Als aufgedeckt wurde, dass internationale Hilfsgelder zum Kampf gegen Covid-19 gestohlen wurden und Regierungsangehörige in einen außerplanmäßigen Urlaub verschwanden, da war die Gesellschaft bereits kurz vorm Explodieren.

    Eine nicht unbeachtliche Rolle spielte auch die scharfe Wirtschaftskrise, die Kirgistan durchlebt. Die Weltbank prognostiziert für Kirgistan ein Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um vier Prozent. Die Rezession trifft auch die Länder, die kirgisische Arbeitskraft benötigen, vor allem Russland und Kasachstan.

    Infolgedessen sind rund 200.000 junge Männer, die im Ausland ihre Arbeit verloren haben, heimgekehrt. Das hat die Situation im Inland verschärft. Auch die Unternehmen haben gelitten, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat Kirgistan keine vorübergehenden Steuerbefreiungen oder andere substantielle Hilfsmaßnahmen verkündet.

    Das Ausland hält sich raus

    Der nahezu blutfreie Umsturz und die Annullierung der Wahl werden allerdings kaum die Probleme Kirgistans lösen können. Wie auch nach den vergangenen beiden Revolutionen sind die Hüter der öffentlichen Ordnung demoralisiert und lehnen sich nicht sonderlich aus dem Fenster, während Politiker umringt von bewaffneten Anhängern Koalitionen schmieden und Ämter ergreifen. In einer solchen Situation wird das organisierte Verbrechen zu einer echten Macht und kriminelle Autoritäten verwandeln sich vorübergehend in nächtliche Gouverneure ganzer Städte und Dörfer. 

    Die heutige Situation ähnelt in Vielem den vorherigen beiden Revolutionen, doch es gibt auch Unterschiede. Einer der wichtigsten ist der Unwille globaler und regionaler Staaten sich in die kirgisischen Ereignisse einzumischen. Russlands Regierung, die über die effektivsten Mittel der Einflussnahme auf die Situation verfügt, wurde allem Anschein nach überrumpelt vom Umsturz bei ihrem zentralasiatischen Verbündeten.

    Vor dem Hintergrund einer neuen Corona-Infektionswelle, der Krise in Belarus, des Krieges in Bergkarabach, dem Streit mit führenden EU-Politikern und der quälenden Erwartung des Wahlausgangs in den USA wird der Kreml Kirgistan wohl kaum viel Zeit widmen. Moskau wird bei einer beliebigen Entwicklung bereit sein, mit dem zu arbeiten, der den inneren Machtkampf gewinnt. 

    Nicht weniger bezeichnend und demonstrativ ist die Zurückhaltung Chinas. Trotz der wachsenden wirtschaftlichen Präsenz in der Region und besonders in Kirgistan vemag es Peking bislang nicht, diese in politische Hebel zu wandeln. 

    Mit Blick auf das Vorwahldrama in den USA ist Washington unter Trump derzeit definitiv nicht nach einem fernen Kirgistan – wie im Übrigen auch Europa. Kasachstan und Usbekistan, die eine regionale Führungsrolle in Zentralasien anstreben, halten sich ebenfalls raus. 

    Selbst wenn sich die Seiten im kirgisischen Konflikt auf einen friedlichen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise einigen können sollten (etwa auf Neuwahlen), so bedeutet das keineswegs ein Ende der Konfrontation. Mit Blick auf die schrumpfende Wirtschaft und die vermutlich weiterhin bestehenden Probleme im Zusammenhang mit dem Virus könnte der Zorn in der Bevölkerung und zwischen den verfeindeten Gruppen der regionalen Elite weiter zunehmen. Und das ist höchst gefährlich. 

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