Herdenimmunität schon im August? Glaubt man russischen Politikern, dann werden bis dahin 70 Prozent der Menschen in Russland geimpft und die Einschränkungen aufgehoben sein. Dabei liegt die Impfquote derzeit bei nur rund fünf Prozent, die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich laut Umfragen nicht gegen Covid-19 impfen lassen.
Wie kommt dann ein solcher offizieller Optimismus zustande? Die für den Gesundheitsschutz zuständige Behörde Rospotrebnadsor glaubt etwa, dass es in Russland keine dritte Welle geben wird: Die Immunitätsrate steige, sowohl durch die Geimpften als auch durch diejenigen, die schon infiziert waren. Die Anzahl der Letzteren beziffert der unabhängige Demograf Alexej Rakscha auf rund 35 Prozent. Was jedoch mit einer so hohen Durchseuchung einhergeht: Von April 2020 bis April 2021 beträgt die Übersterblichkeit laut Rakscha rund eine halbe Million Menschen, fast alle Todesfälle stehen im Zusammenhang mit Covid-19. Auch andere Forscher, wie der Tübinger Datenwissenschaftler Dmitry Kobak, kommen auf ähnliche Zahlen.
Die Übersterblichkeit ist damit in Russland so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt. Halbherzig beschlossene und kaum durchgesetzte Corona-Einschränkungen werden oft als Grund dafür genannt, aber auch das marode Gesundheitssystem: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben in Russland vier bis fünf Prozent, in Deutschland liegt er bei etwa zwölf Prozent.
Auch das Onlinemedium Projekthat sich auf die Suche nach den Gründen für die hohe Übersterblichkeit gemacht – und eine erschreckende Bilanz des Corona-Jahres 2020 gezogen. dekoder bringt die Analyse mit den Daten der Übersterblichkeit von Dmitry Kobak.
„Man ging davon aus, dass wir zu nichts taugen, niemand sind und nichts können. Aber wir konnten. Und zwar besser als andere Länder.“ Mit diesen Worten zog Wladimir Putin eine in seinen Augen erfolgreiche Bilanz aus einem Jahr Kampf gegen Corona.
Mitte Februar 2021, als er das sagte, lagen die Sterberaten für das Jahr 2020 in Russland und anderen Ländern bereits vor. Den Zahlen nach war Russland weltweit einer der Außenseiter in diesem Kampf: Im vergangenen Jahr starben in Russland 2.124.000 Menschen. Das sind 20 Prozent beziehungsweise 321.000 Menschen mehr, als es ohne Coronavirus gewesen wären. Es starben doppelt so viele wie nach offiziellen Angaben an dem Virus gestorben sind.
Rosstat hat mit dem Ausbruch der Epidemie im April 2020 aufgehört, die Zahlen zu den Todesursachen zu veröffentlichen, obwohl die früher monatlich herausgegeben wurden. Wir können uns also nur auf offizielle Aussagen verlassen. Laut Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa hängt die Übersterblichkeit zu 81 Prozent mit dem Coronavirus zusammen – demzufolge hätte das Virus also mindestens 260.000 Opfer gefordert.
Wo sind die meisten Menschen gestorben?
Anfang 2020 schränkte Ramsan Kadyrow als einer der ersten regionalen Regierungschefs die Einreise in die Tschetschenische Republik ein und verhängte eine strikte Quarantäne. Doch die kaukasischen Traditionen waren stärker.
Bereits im Mai waren traditionelle Hochzeitsfeiern wieder erlaubt, obwohl Großveranstaltungen offiziell verboten blieben. Und im September, als die Zahlen in Russland erneut stiegen und sich die zweite Coronawelle anbahnte, vergnügte sich Kadyrow persönlich auf der Hochzeit seines Neffen. Die zahlreichen Gäste trugen, wie Kadyrow selbst, keine Schutzmasken. Drei Wochen später besuchte das tschetschenische Oberhaupt im Kreise seiner Vertrauten und des tschetschenischen Mufti die Beisetzung des an Covid verstorbenen Dumaabgeordneten Wachi Agajew – wieder ohne Masken oder Einhaltung der Abstandsregeln.
Ganz ähnlich sah es in Dagestan aus. Im Juli, kurz nachdem die Einschränkungen gelockert worden waren, hielt man in der Republik eine Flottenparade ab. „Gerade erst hat man im städtischen Krankenhaus von Machatschkala eine Abteilung mit 750 Betten geschlossen. Gleich morgen früh wird sie wieder aufgemacht“, schrieb Israfil Israfilow, Assistent des Chefarztes, nach der Parade auf seinem Telegram-Kanal.
Tschetschenien war 2020 bei der relativen Übersterblichkeit der (traurige) Spitzenreiter unter den russischen Regionen. Zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten gehören außerdem andere nordkaukasische Regionen, aber auch einige dichtbevölkerte Regionen im europäischen Teil Russlands und Sibirien. Auf den hinteren Plätzen rangieren abgelegene und dünn besiedelte Gebiete: Burjatien und Magadan oder die Halbinsel Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands.
Relative Übersterblichkeit: Sterbedaten in Russland 2020 verglichen mit prognostizierten Werten auf Grundlage von Sterbedaten der Vorjahre (Angaben in Prozent), Quelle: Dmitry Kobak (Berens Lab, Universität Tübingen). Mehr zur Methodik auch in den Russland-Analysen.
Warum haben ausgerechnet diese Regionen so viele Verluste zu beklagen?
Auf dem Höhepunkt der Pandemie fehlte es vor allem an Einsatzkräften und Betten: „Wir haben genug Krankenwagen, aber niemanden, der sie fahren kann“, konstatierte Dimitri Asarow, Gouverneur der Oblast Samara, im November 2020 ratlos.
Im Oktober waren in Samara drei Mal so viele Notrufe eingegangen wie im September; die Menschen beklagten, dass sie über 24 Stunden auf einen Krankenwagen warten müssen.
Die Regionen waren unterschiedlich gut für eine Pandemie gewappnet: Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ging teilweise um das Zwei- oder Mehrfache auseinander. So standen Anfang 2020 in Inguschetien und Tschetschenien [in Tschetschenien lag die relative Übersterblichkeit nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 47 Prozent, in Inguschetien bei rund 32 Prozent, s. Grafik oben – dek] 44 bis 55 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner zur Verfügung, während es auf der Halbinsel Sachalin und in Magadan [wo die relative Übersterblichkeit äußerst gering ist, s. Grafik – dek] über 100 waren.
Am Ende waren genau die Regionen, die am Anfang der Epidemie am schlechtesten mit medizinischem Personal und Krankenhausbetten ausgestattet waren, die mit den meisten Opfern.
So hatte zum Beispiel die Oblast Samara Anfang 2020 bei der Verfügbarkeit von examiniertem Krankenpflegepersonal auf Platz 63 von 85 russischen Regionen gelegen, bei der Anzahl der Betten pro Einwohner auf Platz 72. [Die relative Übersterblichkeit der Oblast Samara liegt nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 27 Prozent, s. Grafik – dek]. Tatarstan [eine Region mit einer hohen relativen Übersterblichkeit von rund 28 Prozent, entsprechend der Daten von Dmitry Kobak, s. Grafik – dek], rangierte vor der Epidemie auf Platz 81 bei der Anzahl der Betten. Und der Spitzenreiter Tschetschenien hatte sowohl bei der personellen Ausstattung der Notdienste als auch bei den Krankenhausbetten pro Einwohner Platz 83 von 85 eingenommen.
Der Abbau von stationären Kapazitäten wurde in Russland in den 2000er und 2010er Jahren durchgeführt und war gewollt: Das Gesundheitsministerium war der Meinung, dass „moderne Behandlungsmethoden es heute ermöglichen, dem Patienten ambulant die gleiche Hilfe zukommen zu lassen, die früher eine langwierige stationäre Behandlung erfordert hatte“. Dabei waren in abgelegenen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte die Normen für die Anzahl der Krankenhausbetten höher als in zentralen Regionen. In der Folge standen dichtbevölkerte Gebiete in Zentral- und Südrussland, der Wolga-Region und im Nordkaukasus zu Beginn der Corona-Epidemie schlechter da als die Randgebiete des Landes. Die Regierung musste handeln.
Warum halfen die zusätzlichen Mittel nicht?
Die Zentralregierung versuchte die Regionen bei der Vorbereitung auf die Epidemie zu unterstützen. Eine der ersten Maßnahmen im Frühjahr 2020 war die Bereitstellung von Geldern für die Ausstattung der Krankenhäuser: insgesamt 65 Milliarden Rubel [damals rund 800 Millionen Euro – dek] für Instandsetzung, medizinische Geräte, Umrüstung von Abteilungen zu Corona-Zentren und die Einrichtung von „Coronabetten“. Später wurden noch einmal 9 Milliarden Rubel [damals rund 110 Millionen Euro – dek] allein für die Ausstattung mit Betten bereitgestellt.
Das Problem war, dass das meiste Geld längst nicht diejenigen Regionen bekamen, die am schlechtesten dastanden. Die Höhe der Subventionen richtete sich nach der Einwohnerzahl – und so landeten die größten Summen in den Regionen Moskau, Sankt Petersburg und Krasnodar.
Dabei hätten die föderalen und regionalen Behörden ausreichend Zeit gehabt, den Problemregionen gezielt zusätzliche Mittel für Extrabetten zur Verfügung zu stellen. Im Frühjahr und Frühsommer traf die Epidemie nur eine Handvoll meist zentraler Regionen. Aber die Entscheidungsträger auf allen Ebenen orientierten sich bei der Ressourcenverteilung an den damals geltenden Normen – ein Bett pro eintausend Einwohner in den Millionenstädten und 0,5 Betten in Städten mit geringerer Einwohnerzahl. Es wurde schnell klar, dass das ein Fehler war – die Betten reichten nicht aus.
In der sibirischen Oblast Omsk wurden im verhältnismäßig ruhigen Juli zum Teil nicht einmal Intensivpatienten stationär behandelt. So verweigerte man einer älteren Frau aus Omsk innerhalb von vier Tagen drei Mal die Aufnahme ins Krankenhaus. Erst nach weiteren zwei Tagen brachte man sie in die Klinik, wo sie schließlich verstarb. In jenem Monat überstieg die Sterblichkeit das Mittel der letzten Jahre um 28 Prozent, genau so ein Zuwachs hielt sich auch in den Monaten August und September.
All das brachte allerdings weder die Behörden der Oblast Omsk noch das Gesundheitsministerium dazu, die Anzahl der Betten aufzustocken; das geschah erst im Oktober. In der Folge gehörte Omsk zu den am schwersten vom Coronavirus betroffenen Regionen.
Obwohl die allgemeine Sterblichkeit im Juli in jeder dritten Region die offiziellen Werte der vorhergehenden Jahre um zehn Prozent überstieg, sahen sich die Behörden durch den langsamen Anstieg der Patientenzahlen dazu veranlasst, die Betten, die während der ersten Welle eingerichtet oder umgerüstet worden waren, massenweise wieder umzufunktionieren. Das führte dazu, dass die Ausstattung mit Coronabetten auf dem niedrigsten Stand im ganzen Zeitraum der Pandemie war, als die zweite Welle das Land traf.
Die Patientenzahlen stiegen so rasant, dass man mit den Betten nicht mehr hinterherkam. So wuchs zwischen dem 14. September und dem 24. Dezember die Zahl der Neuerkrankten um das 6-fache an, während sich die Anzahl der Betten lediglich um das 2,2-fache erhöhte.
Wie die Regierung die Bekämpfung der Pandemie den Regionen überließ
Seit Mitte September stieg die Zahl der Neuinfizierten in Russland täglich an. Anfang Oktober kamen aus den Regionen massenhaft Klagen über mangelnde medizinische Hilfe – keine Krankenwagen, stundenlange Wartezeiten vor den Polikliniken, keine stationären Aufnahmen. Die Angehörigen eines 48-jährigen Mannes aus Nowosibirsk erzählten, dass sie eine Woche lang auf eine Blutuntersuchung oder einen Arzt gewartet hätten und dann zwei Tage lang vergeblich versuchten, einen Krankenwagen zu rufen. Der Mann starb im Krankenhaus, einen Tag nach seiner Einweisung.
Einer der Gründe für die Probleme im Herbst war vermutlich, dass die Regierung die Gouverneure Anfang November dazu verpflichtete, nicht etwa über die Anzahl der Hospitalisierungen oder Todesfälle wöchentlich Bericht zu erstatten, sondern über die Anzahl der freien stationären Betten. Das Niveau durfte 20 Prozent nicht unterschreiten. Wie man diese Vorgaben erreicht – ob man mehr Betten schafft oder weniger Patienten aufnimmt –, blieb den Regionen selbst überlassen. Bald häuften sich Klagen, dass man in den Regionen sogar Schwerkranke abweisen würde, zum Beispiel weil noch CT-Untersuchungsergebnisse fehlen würden.
In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen
Auch in die Polikliniken, die nach dem Willen der Regierung alle Nicht-Intensivpatienten aufnehmen sollten, war kein Reinkommen. In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen. Warten musste man draußen. Genau so sah es in Kasan, Nishni Nowgorod, Samara und in anderen Großstädten aus.
Am 26. Oktober entschied das Gesundheitsministerium, dass mittelschwer erkrankte Patienten zu Hause behandelt werden dürfen. Aber auch das brachte nicht viel: Die Ressourcen in den Krankenhäusern waren schnell erschöpft, und bei der Regierungsversammlung am 16. November konstatierte Gesundheitsminister Michail Muraschko, dass in mehr als der Hälfte der Regionen die Stationen zu 90 Prozent ausgelastet seien. Nach wie vor reichte der Platz nicht einmal für die Intensivpatienten.
Was war mit der Quarantäne?
Es wäre logisch anzunehmen, dass man der zweiten großen Corona-Welle im Herbst aktiv mit Quarantänemaßnahmen begegnet wäre. Aber während sich die Lage stetig verschlechterte (im November und Dezember gab es täglich dreimal mehr Neuinfizierte als im Mai, auf Krankenwagen wartete man teilweise mehrere Tage), wurden weder landesweit noch in den einzelnen Regionen Beschränkungen ähnlich dem Lockdown im Frühjahr eingeführt.
In vielen Regionen waren die Maßnahmen eher halbherzig: Die Gastronomie durfte tagsüber öffnen, in Vergnügungszentren wurden Kinderspielzimmer geschlossen, älteren Menschen wurde empfohlen, zu Hause zu bleiben. Aber da es kaum Kontrollen gab, hielt sich auch kaum jemand an die Empfehlungen.
Paradoxerweise waren die Einschränkungen in den Ballungszentren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten. So wurde beispielsweise in Kysyl im südlichen Sibirien, einer Stadt mit 119.000 Einwohnern, im Sommer der öffentliche Nahverkehr eingestellt, während man in den Großstädten auf solch drastische Maßnahmen verzichtete. In Omsk [die achtgrößte Stadt Russlands mit rund 1,2 Millionen Einwohnern – dek] wurde das Tragen von Mund- und Nasenschutz erst zum 1. November verpflichtend, und selbst diese Maßnahme bezeichnete Gouverneur Alexander Burkow noch als „durchaus harte, ja sogar harsche Entscheidung“.
Einschränkungen in den Ballungszentren waren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten
Ähnlich sah es im Bildungssektor aus. Während in Tschita in Südostsibirien die Schulen in den Distanzunterricht wechselten, gingen in Sankt Petersburg, Pensa [rund 550 Kilometer Luftlinie entfernt von Moskau – dek], Tschetschenien, Tatarstan und Dagestan die Kinder weiter zur Schule, nur vereinzelt gab es kurzzeitige Quarantänemaßnahmen.
Die Entscheidung der Gouverneure gegen den Lockdown wurde von der Landesregierung und Präsident Putin gestützt. Ende Oktober rief Putin beim Forum Rossija Sowjot die Regionen dazu auf, „gerechtfertigte, punktuelle Lösungen“ zu finden, die es erlauben „die größtmögliche Sicherheit der Menschen sowie einen kontinuierlichen Arbeitsbetrieb von Unternehmen und Organisationen zu gewährleisten“.
Abgesehen von dem Ressourcendefizit und der hohen Bevölkerungsdichte haben die Regionen mit der höchsten Übersterblichkeit aber noch etwas anderes gemeinsam: eine extrem niedrige offizielle Zahl von Corona-Toten. Demzufolge hat das Coronavirus in Tatarstan, Mordowien, der Oblast Pensa und Tschetschenien praktisch keine Opfer gefordert – offiziell war das Virus dort lediglich für fünf bis sieben Prozent der gesamten Übersterblichkeit verantwortlich. Liegt dieser Wert in den Regionen unter zehn Prozent, dann, so sagt Gesundheitsexpertin Gusel Ulumbekowa, sei dies ein Zeichen dafür, dass diese offiziellen Daten „statistische Fehler“ enthalten.
Es regnet Auszeichnungen, noch mehr als zu Zeiten der Sowjetunion: Eine Recherche von Projektdarüber, wer in Russland heute eigentlich alles wofür ausgezeichnet wird. Warum das oft keiner weiß. Und was das mit Land und Gesellschaft eigentlich macht.
Am 21. Mai 2015 wurden im Katharinensaal des Kreml staatliche Auszeichnungen verliehen. Als erster trat der verdiente Physiker Jewgeni Welichow vor, der Präsident des Kurtschatow-Instituts; er wurde mit dem Orden Für Verdienste am Vaterland 1. Klasse ausgezeichnet. Danach erhielten aus den Händen Putins der hundertjährige Volkskünstler Wladimir Seldin und Außenminister Sergej Lawrow den gleichen Orden. In dem Beschluss über die Auszeichnungen fanden sich noch über 200 weitere Namen. Allerdings wurden nicht alle öffentlich verliehen, die meisten erhielten ihre Auszeichnung ohne großes Aufsehen. Darunter war der 25-jährige Iwan Setschin, der stellvertretende Leiter der Abteilung Offshore-Projekte von Rosneft und Sohn von Igor Setschin, dem Chef desselben Unternehmens. Setschin der Jüngere erhielt den Orden Für Verdienste am Vaterland 2. Klasse.
Hochdekorierte Kinder hochrangiger Staatsbeamter
Setschin ist keineswegs das einzige Kind eines hochrangigen Staatsbeamten oder staatlichen Managers, das hoch dekoriert wurde und nicht einmal das jüngste. Übertroffen wurde er von Aischat Kadyrowa, der 21-jährigen Tochter Ramsan Kadyrows: Die erhielt am 7. März 2020 aus den Händen ihres Vaters die Medaille Für Verdienste vor der Tschetschenischen Republik – für ihre Teilnahme an der Paris Fashion Week.
Die Auszeichnung von Verwandten ist übrigens nicht die wichtigste Besonderheit der heutigen, überaus verwickelten Auszeichnungspolitik in Russland.
Nach dem Zerfall der UdSSR hatte das sowjetische Ehrungssystem seine Wirkung eingebüßt: Das neue Land brauchte neue Helden. 1994 erging ein Erlass, der die Grundlage für das jetzige System von Auszeichnungen schuf. Darin waren 29 Orden, Medaillen und Ehrenabzeichen sowie eine Reihe beruflicher Ehrentitel aufgeführt. Die höchste Auszeichnung war der Helden-Stern Russlands. Ein Merkmal der Epoche des „freien Marktes“ bestand darin, dass in dem neuen System keinerlei sowjetische Orden und Medaillen für berufliche Erfolge auftauchten. Mehrmals gab es Abänderungen in dem Erlass für Ehrentitel. 2013 hat Putin eine zweite höchste Auszeichnung eingeführt: den Held der Arbeit. Insgesamt übertrifft Russland mit seinen unterdessen 102 staatlichen Auszeichnungen sogar die späte UdSSR (95 Auszeichnungen).
Überaus verwickelte Auszeichnungspolitik
Von 1948 bis 1991 sind 660 Personen zu Helden der UdSSR geworden. Das heutige Russland hat in nur 30 Jahren rund 1100 Helden hervorgebracht.
Putin selbst trägt nicht sonderlich viele Orden. Von den hochrangigen hat er nur den Orden der Ehre erhalten. Daneben hat er drei präsidentielle Belobigungen von Jelzin, einen Ehren-Pallasch [eine Säbelart – dek] der Marine und einen Verdienstorden der Republik Dagestan. Sehr viel zahlreicher sind hingegen seine ausländischen, religiösen und gesellschaftlichen Auszeichnungen, unter anderem aus Europa. Die hat Putin vor 2009 erhalten. Nachdem sich die Beziehungen zum Westen abgekühlt haben, überwiegen in der Liste der Staaten, die Putin Auszeichnungen verliehen, ehemalige Sowjetrepubliken sowie asiatische und afrikanische Länder.
Großes Geheimnis
Heute ist es oft unmöglich zu erfahren, wer wofür ausgezeichnet wurde. Die Erlasse sind unter Verschluss und Angaben zu den Helden werden nirgends veröffentlicht. Geheime Auszeichnungen wurden zur Norm, seit Russland in eine Anzahl militärischer Konflikte eingriff und die heftige Konfrontation mit dem Westen begann. Mit Hilfe geheimer Erlasse werden oft Auszeichnungen für nicht erklärte Kriege gestiftet, für Militärs, Vertreter der Bürokratie und Journalisten, die im Sinne des Staates arbeiten. Im Mai 2014 hatten über 300 Journalisten der staatlichen Fernsehsender Orden und Medaillen verliehen bekommen „für ihre Professionalität und die objektive Berichterstattung über die Ereignisse auf der Krim“. Doch ein Erlass über die Auszeichnungen ist nicht auffindbar.
Auf dem Höhepunkt des Krim-Frühlings tauchte auch eine spezielle behördliche Auszeichnung des Verteidigungsministeriums auf, die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Auf der Webseite der Firma, die mit dem Entwurf der Medaille befasst war, erschien eine Mitteilung über einen Eilauftrag für die Medaille und deren Beschreibung. Bald schon hatten ukrainische User sozialer Netzwerke auf der Rückseite der Medaille ein Datum für den Beginn der Krim-Operation entdeckt, nämlich den 20. Februar, und zwar noch lange vor dem Referendum über die Rückholung der Krim. Nach vielzähligen Berichten zu diesem Thema wurden die Anordnung des Ministeriums und die Webseite mit der Beschreibung der Medaille entfernt.
Als erste erhielten Militärs und das ernannte Oberhaupt der Republik [Krim] Sergej Aksjonow die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Später kam die Medaille in den freien Verkauf, sie kann jetzt zusammen mit einer Urkunde für rund 500 Rubel erstanden werden.
Per Geheimerlass zum Helden erklärt
Putin verleiht zudem Auszeichnungen für Kriege, an denen Russland, seinen eigenen Worten zufolge, gar nicht beteiligt ist. In dieser Atmosphäre äußerster Geheimhaltung erweisen sich Sammler als diejenigen, die am besten informiert sind. Es ist zwar verboten, staatliche Auszeichnungen zu verkaufen, doch es geschieht trotzdem. Und anhand der Ordnungsnummern lassen sich Rückschlüsse ziehen. So belegen 60.000 Kampfauszeichnungen, die innerhalb kurzer Zeit verliehen wurden, dass Krieg geführt wird – selbst wenn im Fernsehen kein Wort darüber verloren wird. Die Sammler verzeichnen eine Reihe solcher Momente: Anfang der 2000er Jahre (Tschetschenienkrieg), 2014 (die Ereignisse in der Ukraine) und seit 2016 der Einsatz in Syrien.
Geradezu ausgeschüttet wurden Auszeichnungen an Kämpfer privater militärischer Einheiten anlässlich des Krieges in Syrien. Am 9. Dezember 2016 fand zu Ehren des Tages der Helden des Vaterlandes im Kreml ein Empfang statt. Auf einer der Fotografien erkannten Journalisten Dimitri Utkin (den Kommandeur einer Einheit, die als TschWK Wagner bekannt wurde) – anhand seiner Rekrutierungsnummer. Seit 2015 sind Wagnerianer an militärischen Einsätzen in Syrien und sogar in Libyen und anderen afrikanischen Staaten beteiligt. Utkin hatte vier Tapferkeitsorden an der Brust. Auf dem gleichen Foto wurde Andrej Troschew identifiziert, mit einem frischen Stern als Held Russlands am Revers. Troschew ist Direktor eines privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens. Zum Helden wurde er durch die Eroberung von Palmyra 2016, per Geheimerlass.
Den derzeitigen Ansatz bei Auszeichnungen beschreibt Andrej Chasin, Mitglied von Einiges Russland und Berater des Chefs der Präsidialadministration, in einer öffentlichen Vorlesung: „Kein Auszeichnungssystem ist objektiv. Es wird nie wirklich alle auszeichnen, die es verdient haben – und auch nicht ausschließlich diejenigen, die es verdient haben. Das System muss so geartet sein, dass die Menschen angesichts eines äußeren Symbols der Tapferkeit oder der Verdienste verstehen, dass derjenige, der es trägt, mit riesiger Wahrscheinlichkeit etwas Wichtiges und Notwendiges getan hat.“ In den meisten Fällen ist dieses Wichtige und Notwendige schlicht die Loyalität gegenüber dem Regime.
Auszeichnung als Dankeschön
Die Erlasse über eine Auszeichnung enthalten verschwommene Formulierungen: „für mehrjährige Gesetzgebungstätigkeit“, „für Verdienste um Staat und Volk durch heldenhafte Taten“. In Wirklichkeit aber wissen die Ausgezeichneten selbst, dass es sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Dankeschön handelt. Oft werden die Auszeichnungen sofort nach Ereignissen verliehen, die für das Regime wichtig sind. Peinlich wurde es, als der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko den Heldenstern Russlands erhielt – unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2018 und womöglich dafür, dass dabei für Putin ein sehr gutes Ergebnis gewährleistet worden war. Die Regierung hatte auf eine offizielle Bekanntmachung dieser Auszeichnung verzichtet. Allerdings erfuhr die Zeitung Kommersant davon. Bald nach der Veröffentlichung verlor Sergej Jakowlew, Chefredakteur des Kommersant, seinen Posten.
Überhaupt sind erfolgreiche Wahlen ein hervorragender Anlass, loyale Weggefährten auszuzeichnen. Der Anfang war 2008 gemacht, als Putin einigen Männern aus der Politikwissenschaft, Anführern kremlfreundlicher Jugendorganisationen und den Leitern dreier landesweiter Fernsehkanäle Auszeichnungen verlieh. Nach Angaben des Kommersant geschah das aus Dankbarkeit für deren Beitrag im Wahlkampf von Einiges Russland und des von Putin nominierten Präsidentschaftskandidaten Dimitri Medwedew.
Vorsitzende von Wahlkommissionen erhielten von jetzt an regelmäßig Orden und Medaillen. 2012 wurde Wladimir Tschurow, dem damaligen Leiter der Zentralen Wahlkommission, der Alexander-Newski-Orden verliehen, per Geheimerlass. Einige Monate zuvor war Tschurow zu jener Person geworden, die im Internet am heftigsten diskutiert wurde: Nach den massiven Wahlfälschungen hatten sämtliche Vertreter der Opposition seinen Rücktritt gefordert.
Auch die neue Zentrale Wahlkommission wurde vielfach ausgezeichnet Nach der Wahl von 2018, bei denen die Nichtzulassung von Alexej Nawalny für einen Skandal gesorgt hatte, verlieh der frisch wiedergewählte Präsident Putin der Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, den Orden Für Verdienste um das Vaterland 3. Klasse.
Neue Stagnation
Betrachtet man die Gesamtzahl der Auszeichnungen – und hierzu gehören neben den staatlichen auch regionale und behördliche Auszeichnungen –, so hat Russland die Sowjetunion bei weitem überholt. Und zusammen mit den religiösen und gesellschaftlichen Ehrenzeichen geht die Zahl in die Hunderte.
Der Historiker Alexander Spiwak bezeichnet das heutige System der Auszeichnungen als Chimäre. Das sowjetische System hatte sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet und war gegen Ende der UdSSR recht vernünftig organisiert. Im heutigen Russland hingegen hängen die Kriterien, nach denen die Helden bestimmt werden, nicht selten einfach vom Willen der Chefetage ab.
Das wichtigste Prinzip, durch das das System in Russland dem sowjetischen ähnelt, sind die unerlässlichen Auszeichnungen für jene, die dem ersten Mann im Staate Dienste erweisen.
Im Naturschutzgebiet von Sawidowo, wo die sowjetische Nomenklatura gern Erholung suchte, arbeiteten unter Breshnew zwei bemerkenswerte Menschen, der Generalleutnant Iwan Kolodjaschny und der Jäger Wassili Schtscherbakow. Neben ihrem Arbeitsort verband die beiden, dass sie vollwertige Träger des Ordens waren, der in der Sowjetunion am seltensten verliehen wurde, nämlich des Ordens Für den Dienst am Vaterland in den Streitkräften der UdSSR. Das ließ sich einfach erklären: Kolodjaschny und Schtscherbakow kümmerten sich darum, dass die sowjetische Führungsspitze und ausländische Delegationen in Sawidowo jagen konnten. „Sie haben einfach die Wildschweine und Elche getrieben, und schon hatten sie die Brust voller Orden“, scherzt Historiker Spiwak.
Eine derart zweckgebundene Haltung zu Auszeichnungen erfährt jetzt auch in den Regionen eine Blüte. Die Gouverneure können die Auszeichnungen nach eigenem Gutdünken verleihen, ohne sich mit der Zentralregierung abzusprechen.
Gold mit Rubinbesatz
Die Region mit dem größten Reichtum an Auszeichnungen – im direkten wie im übertragenen Sinne – ist die Republik Tschetschenien. Die höchsten Auszeichnungen in Tschetschenien – die Achmat Kadyrow-Orden und -Medaillen – sind aus Gold gefertigt und mit Brillanten, Smaragden und Rubinen verziert.
Der größte Ordensträger in Tschetschenien ist das Republikoberhaupt selbst. Seine erste staatliche Auszeichnung hat Kadyrow mit 28 Jahren erhalten – gleich den höchsten Ehrentitel des Landes: Putin heftete ihm den Heldenstern an die Brust. Auch sein Vater Achmat Kadyrow wurde zum Helden erklärt – posthum.
Darüber hinaus ist Kadyrow der Jüngere Träger zahlreicher tschetschenischer Orden und Medaillen. Nach vorsichtigsten Schätzungen trägt er mindestens 39 Auszeichnungen.
In Tschetschenien gibt es zudem eine paradox anmutende Auszeichnung, nämlich die Medaille Für die Verteidigung der Menschenrechte. Sie wurde 2007 gestiftet und als erstes Ibragim Dsubairajew verliehen, dem stellvertretenden Apparatsleiter des Menschenrechtsbeauftragten in der Republik Tschetschenien. Dsubairajew hat Memorial und ähnlich ausgerichtete Organisationen 2009 beschuldigt, sie würden sich „zu Menschenrechts- und Informationsterroristen wandeln“. Er hat der von Unbekannten ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vorgeworfen, sie wolle die positiven Veränderungen in der Republik nicht wahrnehmen und lasse sich bei ihrer Tätigkeit ausschließlich von PR-Überlegungen leiten. Unter denjenigen, die mit dieser Medaille ausgezeichnet wurden, heißen mindestens drei Personen Kadyrow mit Nachnamen. Es sind Ramsan Kadyrow selbst, dessen Frau Medni und Islam Kadyrow, Bürgermeister von Grosny und ein Neffe dritten Grades von Ramsan Kadyrow. Er hat die Medaille 2013 erhalten; 2019 veröffentlichte die staatliche Rundfunkanstalt Grosny ein Video, das Islam Kadyrow zeigt, wie er Menschen mit einem Elektroschocker malträtiert, um von ihnen Geständnisse zu erzwingen.
Ministerium verleiht Einmal-Medaillen
Bei der Verleihung behördlicher Auszeichnungen hat es eine vollständige Rückkehr zur sowjetischen Praxis gegeben. Es gibt sehr viele dieser Auszeichnungen und viele von ihnen existieren allein zu dem Zweck, sie an einem Gedenktag an Staatsbeamte zu verleihen.
Dabei nimmt das Verteidigungsministerium traditionell den Spitzenplatz ein. Das geht so weit, dass sogar „Einmal“-Medaillen des Verteidigungsministeriums geschaffen wurden, etwa für den Panzerbiathlon 2014 oder die Teilnahme an einer Siegesparade.
Die Behörden zeichnen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter aus, sondern es ergeben sich mitunter erstaunliche Konstellationen: Die Weltraumbehörde Roskosmos etwa zeichnete einen Mönch des Dreifaltigkeits-Klosters von Sergijew Possad, der in der Sternenstadt die Raumschiffbesatzungen segnet, mit dem Gagarin-Ehrenzeichen aus („für den aktiven Beitrag zur Umsetzung des Föderalen Weltraumprogramms“). Und der Kosmonautik-Verband verlieh Priestern, die in Baikonur arbeiten den Titel eines Verdienten Erforschers.
* * *
Heute kann jeder Bürger Russlands eine Medaille erhalten. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde ein Werbeclip mit dem Slogan „75 Jahre Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für jeden Russen eine kostenlose Gedenkmedaille“ geschaltet. In dem Video ist eine Medaille mit Staatssymbolen zu sehen, dem äußeren Anschein nach aus billigen Legierungen. Die Behauptung, dass die Medaille jedem Bürger kostenlos übergeben wird, ist zumindest ungenau. Die Lieferanten berechnen mindesten 299 Rubel [rund 3,80 Euro – dek] „für Zusatzoptionen“ sowie „für Verpackung und Lieferung“. Auch eine Firma mit dem schönen Namen Kaiserliche Münzstätte macht Geschäfte mit dem Kriegsgedenken. Nutznießer dieser Geschäfte ist letztendlich Dimitri Sobnin, der König des russischen „Sofashoppings“, der über seine Sendungen alles Mögliche verkauft, von der Ikone bis zur Ausstattung für die Datscha.
Am 28. Mai 2020 ist Sergej Mochnatkin in Moskau verstorben. Der Aktivist wurde bekannt als unbeugsamer und unbeirrter Streiter für Menschenrechte und gegen das russische Straf- und Gefängnissystem. Die langjährige Auseinandersetzung mit den Behörden begann für Mochnatkin nach einer Demonstration am 31. Dezember 2009: Er war für eine Teilnehmerin eingetreten, die von einem Polizisten gewaltsam in den Gefängnistransporter gezerrt wurde. Traurige Berühmtheit erlangte er, als ihm später im Gefängnis die Wirbelsäule gebrochen wurde.
In den Nachrufen Oppositioneller und Liberaler wird entsprechend an Mochnatkins starke Haltung erinnert. Mediazona schreibt von Mochnatkin als einem Mann, „der wegen seiner Unbeugsamkeit sechs Jahre in Kolonien und Gefängnissen verbrachte, dem im Streit mit Wärtern die Wirbelsäule gebrochen und der schließlich zu einem der berühmtesten Gefangenen des heutigen Russlands wurde“. Der Historiker Sergej Medwedew erinnert an Mochnatkin auf Facebook: „Aus solchen Menschen wie Juri Dmitrijew und Sergej Mochnatkin besteht das eigentliche, ursprüngliche Russland. Aus irgendeinem Grund hatte man es im 20. Jahrhundert nicht vergessen, aber jetzt zerstören sie es, treten es nieder mit dem Polizeistiefel.“
Eine so hohe Bekanntheit wie in Russland hat Sergej Mochnatkin im Westen nie erlangt. Aus Anlass seines Todes veröffentlicht dekoder eine ausführliche Recherche aus dem Jahr 2019, die das unabhängige Medium Projekt zu seinem Fall veröffentlicht hatte.
Im März 2016 wollte der inhaftierte, graubärtige Einzelgänger Sergej Mochnatkin seinen 62. Geburtstag in der Strafkolonie in Archangelsk feiern. Dort saß er bereits seine zweite Haftstrafe ab. Zwei Tage vor dem feierlichen Anlass teilte man Mochnatkin mit, dass man ihn jetzt in die Stadt bringen würde, er solle wegen eines neuen Strafverfahrens vor Gericht erscheinen. Mochnatkin weigerte sich mitzufahren, weil er keinen Beschluss über seine Überstellung erhalten habe. Als er rausgeführt wurde, legte er sich schließlich auf den Boden und weigerte sich weiterzugehen. Man riss ihn hoch: Mochnatkin wehrte sich instinktiv mit einer Armbewegung und traf dabei einen der Wachmänner im Gesicht. Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste.
Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste
Der verletzte Häftling wurde in einen Gefangenentransporter geworfen und ins Gericht gefahren. Aussteigen konnte er schon nicht mehr. Also brachte man Mochnatkin in ein Gefängnis, wo zwei Krankenschwestern gerufen wurden und ihm ein Mittel gegen Bluthochdruck gaben. Nach zwölf Tagen kam Mochnatkin endlich in ein Krankenhaus, wo man ihn röntgte, dann kam er zurück in die Kolonie.
Mochnatkin reichte Beschwerde gegen das Vorgehen der Vollzugsbeamten ein: Zur Überprüfung seiner Aussage ordnete der Ermittlungsbeamte eine ärztliche Untersuchung an. Am 17. März [2016 – dek] attestierte man Mochnatkin eine Fraktur des ersten und zweiten Lendenwirbels, allerdings sei der Bruch „konsolidiert“, das heißt alt und zusammengewachsen – er könne also nicht vom 4. März stammen.
Mochnatkin und seine Freundin Tatjana Paschkewitsch sagen, Sergej habe noch nie etwas an der Wirbelsäule gehabt. In einem Auszug aus seiner Krankenakte im Gefängnis vom 4. Februar, einen Monat vor dem Vorfall, steht nichts von Brüchen oder Rückenschmerzen.
Eineinhalb Monate später, im April 2016, führte die gebrochene Wirbelsäule doch noch zur Einleitung eines Strafverfahrens. Allerdings gegen Mochnatkin selbst: Ihm wurde vorgeworfen, bei der Überstellung Widerstand geleistet und damit die Arbeit in der Kolonie gestört zu haben – ein Verstoß gegen Artikel 321 des russischen StGB.
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person
Mochnatkin zählt zu den „erfahrensten“ politischen Gefangenen in Russland. Das Strafverfahren, das nach dem Wirbelsäulenbruch gegen ihn eröffnet wurde, war bereits das fünfte. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person.
Für Menschen wie Mochnatkin ist es im heutigen Russland nur eine Frage der Zeit, wann sie eine Gefängnisstrafe bekommen. Für Politik interessierte er sich schon seit seiner Studienzeit, die in die Jahre der Stagnation unter Breshnew und in die Zeit des Kalten Krieges fiel.
An den Kundgebungen der Opposition zur Unterstützung von YUKOS nahm Mochnatkin teil, seit er Anfang der 2000er von Ishewsk nach Moskau umgezogen war. Danach war er aktives Mitglied bei Strategija 31 – einer Bewegung, die sich für das in Artikel 31 der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Versammlungsfreiheit einsetzte. Zwischen 2009 und 2011 hielt sie an jedem 31. im Monat Kundgebungen auf dem Triumfalnaja-Platz in Moskau ab.
„Das war wichtig. Damals wurden dort Menschen geschlagen, ich konnte so etwas noch nie ertragen – das darf nicht sein“, erinnert sich Mochnatkin, wieder in Freiheit [Stand: November 2019 – dek]. Wir unterhalten uns im Halbdunkel – im Moskauer Büro der Organisation Sa prawa tscheloweka wurde wegen Zahlungsrückstands der Strom abgestellt. Kurz nach unserem Treffen hat der Oberste Gerichtshof die Organisation liquidiert.
Die erste Haftstrafe 2009: Mochnatkin hatte eine Frau verteidigt
Seine erste Haftstrafe bekam Mochnatkin nach einer Kundgebung am 31. Dezember 2009, wo er festgenommen worden war, weil er einen Polizeibeamten beschimpft hatte; laut Mochnatkin hatte der Ordnungshüter eine Demonstrationsteilnehmerin geschlagen.
„Ich wollte ihn zurechtweisen, da packten mich zwei andere. Ich war überrumpelt – sie haben mich zusammengefaltet und weggezerrt. ‚Wirf wenigstens die Kippe weg‘, sagt der zu mir. Ich dreh mich um und spuckе sie ihm ins Gesicht. Dafür landet seine Faust in meinem. Dann haben sie mich in den Transporter gezerrt.“
Wegen Anwendung von Gewalt gegen einen Staatsvertreter – Artikel 318 – wurde Mochnatkin zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Das ist der Artikel, der den meisten [verurteilten] Teilnehmern der Moskauer Protesten im Sommer 2019 angehängt wurde.
Die erste Haftstrafe verlief für Mochnatkin verhältnismäßig ruhig: Ein paar Mal musste er in Isolationshaft, aber im Großen und Ganzen, erinnert er sich heute, habe er versucht, die Zeit möglichst unauffällig hinter sich zu bringen, nicht gegen Regeln zu verstoßen und Konflikte zu vermeiden. Mochnatkin wurde nach knapp zwei Jahren aus der Kolonie entlassen: Wenige Monate vor Ende seiner Amtszeit hatte Dimitri Medwedew seine Begnadigung unterzeichnet – das Gesuch hatte ihm Boris Nemzow persönlich übergeben.
Doch die Freiheit währte nicht lange. Etwa eineinhalb Jahre später, am 31. Dezember 2013, wurde er wieder verhaftet, wieder Artikel 318: Er setzte sich zur Wehr, als man ihn in den Gefangenentransporter zerrte. Fast ein Jahr später verurteilte ihn das Gericht zu viereinhalb Jahren Strafkolonie unter strengen Haftbedingungen.
Die Freiheit währte nicht lange
Die zweite Haftstrafe war schlimmer: Mochnatkin und die Verwaltung der Kolonie IK-4 in Archangelsk kamen nicht miteinander zurecht. Er bekam mehrere Verweise: weil er für einen Mitinsassen mit amputiertem Bein Essen aus der Kantine mitgenommen, am falschen Ort geraucht hatte und auf dem Weg zum Frühstück hinter der Kolonne zurückgeblieben war.
Mit dieser Anzahl von Verweisen gibt es kaum Hoffnung, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden. Trotzdem entschloss sich Mochnatkin 2015 dazu, einen Antrag auf Überstellung in den offenen Vollzug zu schreiben – in der Siedlung nahe der Strafkolonie sind die Haftbedingungen weniger streng. Der Leiter seiner Einheit lehnte ab mit der Begründung, dass Mochnatkin zu viele Verweise habe. Daraufhin nannte Mochnatkin ihn Arschloch, Wichser und Hurensohn. Die Szene ereignete sich vor den Augen des Leiters der Kolonie – dafür gab es Einzelhaft. Als der Kolonieleiter in Mochnatkins Zelle kam, wiederholte sich die Geschichte: Mochnatkin nannte ihn Arschloch und bekam fünf Tage Bunker obendrauf.
Kurz nach seiner Entlassung aus der Einzelhaft wurde ein neues Strafverfahren gegen Mochnatkin eingeleitet: Artikel 319 – Beleidigung eines Staatsbeamten.
Das war erst der Anfang von Mochnatkins Krieg mit dem russischen Gefängnissystem.
Paragraphen für die Widerspenstigen
Im russischen Strafgesetz gibt es mehrere Artikel, die es erlauben, die Haftzeit eines Gefangenen zu verlängern – fast bis ins Unendliche. Menschenrechtler sagen, dass diese Paragraphen in unterschiedlicher Häufigkeit dazu verwendet werden, Häftlinge zu bestrafen, die der Gefängnisleitung Probleme bereiten, – und politische Insassen. Auf Mochnatkin trifft beides zu.
Artikel 318 und 319
Der durch die Moskauer Proteste berühmt gewordene Artikel 318 (Gewalt gegen Staatsvertreter) ist eine der gängigen Rechtsnormen, um die Haftstrafen nach oben zu schrauben. Jedes Jahr werden aufgrund dieses Artikels mindestens 6000 Verfahren eingeleitet, aber wie viele Angeklagte tatsächlich auf seiner Grundlage einsitzen, ist schwer zu sagen – keine der von Projekt angefragten Behörden gibt entsprechende Zahlen heraus. Auch Artikel 319 kann dazu dienen, die ursprüngliche Haftzeit zu verlängern, zu der ein Gefangener zunächst verurteilt wurde.
Artikel 321
Doch die gerissenste Erfindung des russischen Strafsystems ist Artikel 321: Störung der Arbeit von Anstalten, die die Isolation von der Gesellschaft gewährleisten. Er wird ausschließlich in Strafkolonien angewendet. Meistens werden die Insassen nach Absatz 2 verurteilt: Anwendung von Gewalt gegen einen Mitarbeiter der Haft- oder Isolationsanstalt. Die Höchststrafe wird mit fünf Jahren angesetzt. In den öffentlichen Urteilen aufgrund von Artikel 321 sind Strafen zwischen einem und drei Jahren die Regel.
Artikel 321 und der Fall Mochnatkin
Mochnatkin wurde zwei Mal wegen Störung der Arbeit der Kolonie angeklagt: Beim ersten Mal – nach dem Vorfall mit der Wirbelsäule – verlängerte sich seine Haftstrafe um zweieinhalb Jahre.
Das zweite Verfahren auf Grundlage von Artikel 321 wurde im November 2018 eingeleitet: Er hatte sich gegen Mitarbeiter der Kolonie zur Wehr gesetzt, die ihn aus dem Gefängniskrankenhaus ins Gericht bringen wollten. Von diesem zweiten Verfahren erfuhr er knapp einen Monat vor seiner Entlassung aus der vorherigen Haftstrafe: Sie wäre am 30. November abgelaufen, aber das Gericht ordnete aufgrund des neuen Verfahrens eine zweimonatige Vorbeugehaft an und ließ ihn im Gefängnis.
Menschenrechtsaktivisten setzten sich für Mochnatkin ein. Der Pressedienst des russischen Strafvollzugs FSIN reagierte auf den öffentlichen Aufschrei mit der Erklärung, Mochnatkin habe die Überstellung „selbst sabotiert“, indem er „bestimmte Anforderungen durch Panik, Geschrei und Kraftausdrücke verletzt“ habe.
Am 14. Dezember 2018 hob das Gericht den Arrest unerwartet auf. Mochnatkin kam frei. Nach der Entlassung verschlechterte sich sein Zustand zusehends – innerhalb eines Jahres lag er drei Mal im Krankenhaus, war auf Schmerzmittel angewiesen und konnte aufgrund der Schmerzen kaum schlafen.
Wenn er sich besser fühlte, nahm er an Protestaktionen teil: Im Juli 2019spazierte er über den Boulevard-Ring, um die oppositionellen Kandidaten bei den Wahlen in Moskau zu unterstützen. Am 10. August 2019 war er bei der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt.
Strafkodex des Schweigens
Nicht alle Gefangenen haben zumindest diese Art der öffentlichen Unterstützung. Ein gewöhnlicher Häftling, der in Konflikt mit der Lagerverwaltung steht, hat nur eine rechtliche Möglichkeit: Er kann eine Beschwerde gegen die Handlungen der Vollzugsbeamten schreiben (sie kann entweder über einen Anwalt oder nahestehende Personen übermittelt werden – was als der sicherste Weg gilt –, oder über das Strafvollzugs-System des FSIN selbst). Wenn der Häftling über Misshandlung oder Folter klagt, leitet das Ermittlungskomitee eine Untersuchung ein. Wenn die Untersuchung den Verdacht nicht bestätigt, kann das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen den Häftling selbst eröffnen – nach Paragraph 306, wegen Falschaussage. Das kann zwei bis drei Jahre Haft bedeuten – eine weitere Möglichkeit, einen widerspenstigen Häftling zu bestrafen.
Freisprüche gibt es in solchen Fällen praktisch keine, aber manchmal wird die Anklage wegen Verjährung fallengelassen. Für die ersten zwei Absätze beträgt die Frist zwei Jahre.
Aufgrund des zweiten Verfahrens wegen Artikel 321 – als er sich geweigert hatte, aus dem Krankenhaus ins Gericht zu fahren – drohten Mochnatkin weitere fünf Jahre Haft. Unser Treffen fand 2019, nur wenige Tage vor der nächsten Gerichtssitzung in Archangelsk statt. Mochnatkin ist nicht hingefahren: Die Rückenschmerzen sind zu stark, er kann kaum laufen.
„Eine neue Haftstrafe kann ich nicht ausschließen“, antwortet Mochnatkin müde auf meine Frage nach der Zukunft. Zum Ende des Gesprächs hin spricht er immer leiser, macht lange Pausen. „Am Anfang hatte ich viel Kraft, aber die habe ich wohl aufgebraucht. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Aber ich muss weitermachen – ich verteidige ja nicht irgendjemanden, sondern mich selbst, ich muss Druck auf diese [FSIN-Mitarbeiter] ausüben, Gegenerklärungen zu den Straftaten schreiben. Wenn sich der Angeklagte nicht selbst rausholt, dann tut es niemand.“
Anmerkung von dekoder: Das letzte offene Verfahren gegen Mochnatkin wurde schließlich wegen seines schlechten Gesundheitszustands und wegen „Formfehlern“ eingestellt. Nachdem er im Dezember 2019 noch zwei Mal operiert worden war, starb Sergej Mochnatkin am 28. Mai 2020 in Moskau.