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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

    Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

    Am 24. Juni hat der Kreml die wohl schwersten 24 Stunden seiner jüngsten Geschichte erlebt. Plötzlich schien ein großes Blutbad vor Moskau oder gar ein Bürgerkrieg im Land möglich. Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin hatte am frühen Morgen des 24. Juni das Militärhauptquartier in Rostow am Don unter Kontrolle gebracht, seine Miltärkolonne konnte im Laufe des Tages nahezu ungehindert mehrere hundert Kilometer Richtung Hauptstadt vorrücken. Putin sprach von Verrat und kündigte „unausweichliche Strafen“ für die Organisatoren und Beteiligten des bewaffneten Aufstandes an.

    Dem vorausgegangen war ein Konflikt zwischen der Wagner-Truppe und dem russischen Verteidigungsministerium, der sich seit Monaten zuspitzte. Während der Kämpfe um die ostukrainische Stadt Bachmut beschuldigte Prigoshin mehrfach öffentlichkeitswirksam Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow und beklagte, dass sie den Wagner-Truppen absichtlich Munition vorenthalten würden. Am 10. Juni ordnete Schoigu an, dass alle „Freiwilligenverbände“ bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen müssen, was Prigoshin – wohl um seine Söldner-Firma fürchtend – entschieden ablehnte. Am Abend des 23. Juni behauptete Prigoshin schließlich, die russische Armee habe Wagner-Camps im Hinterland beschossen. Dabei seien zahlreiche Kämpfer ums Leben gekommen. Für diese (unbestätigten) Vorfälle kündigt Prigoshin eine Antwort an.

    Der von ihm als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnete Marsch auf Moskau endet keine 24 Stunden später damit, dass Prigoshin seine Militärkolonne zurückzieht und in Rostow unter dem Jubel der Schaulustigen in einen SUV steigt, der ihn nach Belarus bringen soll. Er hat offiziell unter Vermittlung von Alexander Lukaschenko eine Einigung mit dem Kreml erzielen können, die ihm Straffreiheit und eine Ausreise gewährt.

    Nach diesen turbulenten Ereignissen fragen viele: Was war das eigentlich? Ein versuchter Putsch? Alles eine große Inszenierung (mit mehreren abgeschossenen Helikoptern, mindestens zehn Toten und einem massiven Imageschaden für Putins Machtvertikale)? Tatjana Stanowaja sieht darin eher einen Akt der Verzweiflung Prigoshins, dessen Flucht nach vorne womöglich eine Spur zu groß geraten ist. Die Politikwissenschaftlerin ist Senior Fellow beim Carnegie Russia Eurasia Center und hat 2018 das Analysezentrum R.Politik gegründet. dekoder hat ihre Einschätzung auf Twitter aus dem Englischen übersetzt.

    Unten nun eine kurze Beschreibung von Prigoshins Meuterei und den Faktoren, die ihren Ausgang mitbestimmten. Wir Beobachter haben zunächst wichtige Details verpasst – aufgrund einer mageren Informationslage und Zeitmangels für eine tiefgehende Analyse. Hier nun die Sichtweise, die derzeit am plausibelsten erscheint.

    Prigoshins Aufstand war kein Greifen nach Macht und kein Versuch, den Kreml zu übernehmen. Es war ein Akt der Verzweiflung – Prigoshin wurde aus der Ukraine gedrängt und war somit unfähig, Wagner so aufrechtzuerhalten wie vorher, während der Staatsapparat sich gleichzeitig gegen ihn stellte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ignorierte Putin ihn und unterstützte öffentlich seine gefährlichsten Widersacher. 

    Prigoshins Ziel war es, Putins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und eine Diskussion über die Bedingungen zu erzwingen, wie seine Aktivitäten aufrechterhalten werden könnten: eine klar definierte Rolle, Sicherheitsgarantien und Finanzierung. Das waren keine Forderungen, die auf einen Staatsstreich abzielten, es war Prigoshins verzweifelte Offerte, um sein Unternehmen zu retten, in der Hoffnung, dass seine Verdienste bei der Eroberung Bachmuts (dafür brauchte er sie!) berücksichtigt würden und seine Anliegen bei Putin ernsthafte Aufmerksamkeit erregen würden. Jetzt sieht es so aus, dass diese Verdienste Prigoshin halfen, mit dem Leben davonzukommen, aber ohne eine politische Zukunft in Russland (zumindest solange Putin an der Macht ist).

    Prigoshin wurde von Putins Reaktion überrascht und war nicht vorbereitet auf seine plötzliche Rolle als Revolutionär. Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass Wagner Moskau erreichen würde; dort hätte seine einzige Option darin bestanden, den Kreml zu stürmen – eine Aktion, die zweifelsohne ihn und seine Kämpfer ausgelöscht hätte.

    Die Teile der [politischen] Elite, die dazu fähig waren, wandten sich an Prigoshin, doch zu kapitulieren. Das verstärkte wohl bei ihm das Gefühl des drohenden Untergangs. Ich denke jedoch nicht, dass es Verhandlungen auf oberster Ebene gab. Lukaschenko unterbreitete Prigoshin ein von Putin gebilligtes Rückzugsangebot unter der Bedingung, dass Prigoshin Russland verlässt und Wagner aufgelöst wird.

    Meines Erachtens war Prigoshin nicht in der Position, um Forderungen zu stellen (wie den Rücktritt von Shoigu oder Gerassimow – den viele Beobachter heute erwarten. Wenn das geschieht, ist der Grund dafür ein anderer.) Nach Putins Ansprache am Morgen des 24. Juni war Prigoshins vorrangiges Ziel, eine Möglichkeit zum Ausstieg zu finden. Die Situation hätte unausweichlich in den folgenden Stunden zu Toten geführt. Möglich ist, dass Putin Prigoshin Sicherheit versprach, unter der Bedingung, dass er ruhig in Belarus verweilt.

    Ich bleibe bei meiner Aussage, dass Putin und dem Staat ein schwerer Schlag versetzt wurde (der erhebliche Nachwirkungen auf das Regime haben wird). Doch ich möchte betonen, dass das Image für Putin immer zweitrangig war. Abgesehen von Äußerlichkeiten hat Putin das Wagner- und Prigoshin-Problem tatsächlich gelöst, indem er Ersteres aufgelöst und Letzteren verjagt hat. Die Situation wäre viel schlimmer gewesen, wenn sie in einem Blutbad an Moskaus Stadtrand geendet hätte. 

    Und: Nein, Putin braucht weder Wagner noch Prigoshin. Er kann es mit eigenen Kräften schaffen. Davon ist er nun mit Sicherheit überzeugt. Viele weitere Details werde ich morgen Abend [Montag] in meinem Bulletin veröffentlichen.

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  • Alles auf Autopilot

    Alles auf Autopilot

    Autoritär und dennoch stabil? In Teilen der Autoritarismusforschung gab es lange eine Art Grundsatz, dass die Stabilität einer politischen Herrschaft ihre demokratische Legitimität voraussetzt. Tatsächlich muss Legitimität allerdings nicht immer demokratisch begründet sein: Schon der Soziologe Max Weber schrieb, dass die politische Herrschaft auch vom Legitimitätsglauben abhängt, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. 

    Bei der Frage, wie man Menschen zu einem solchen Glauben bringen kann, nennt die Autoritarismusforschung viele Beispiele: Etablierung von Feindbildern etwa, Betreiben von Personenkult, oder generell Propaganda. Auch die gezielte Steuerung von Diskursen, das Stiften von Symbolen, Sinnangeboten oder Ideologien gehört demnach zum Arsenal autoritärer Technologien zur Herstellung von Legitimitätsglauben. 

    Was aber, wenn all das weitgehend wegfällt und nur noch Repressionen bleiben? Diese Frage – und Diagnose – stellt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja kurz vor der Dumawahl im September auf Republic.

    Putin beim Besuch des Internationalen Luft- und Raumfahrtsalons MAKS-2021 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    2015, als das Land auf die anstehende Dumawahl vorbereitet wurde, hatte Wjatscheslaw Wolodin, der damalige innenpolitische Chefstratege, drei Prioritäten für den Wahlkampf genannt: Legitimität, Transparenz und Wettbewerbscharakter. Der Kreml hatte dazu aufgerufen, die Konkurrenz nicht „in den Würgegriff zu nehmen“, und zu Deals der Partei der Macht [Einiges Russland – dek] mit der Systemopposition ermuntert. Von all so etwas kann heute keine Rede sein: Die Vorbereitung auf die Wahlen läuft mechanisch. Niemand befasst sich mit der Suche nach Sinnangeboten. Legitimität scheint voreingestellt, selbstverständlich, ja automatisch gegeben. Intransparenz ist niemandem peinlich, und der gesteuerte Wettbewerb mit der Systemopposition steht unter dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

    Es sind die ersten Wahlen, bei denen sich die Frage der Legitimität für die Präsidialadministration eigentlich nicht stellt. Man ist dort vielmehr überzeugt, das gewünschte Resultat ohne sonderliches Aufsehen und Kampagnengetöse erzielen zu können.

    Legitimität der neuen Art

    Im Grunde ist die Krim an allem schuld. Just nach dem Angliederung der Halbinsel hat die russische Staatsmacht – und in vielerlei Hinsicht auch Putin persönlich – ein neues Verständnis für ihre Legitimität entwickelt. 

    Hier sei – etwas vereinfacht – an die Typologie legitimer Herrschaft bei Max Weber erinnert: die traditionelle Herrschaft basiert auf Vertrauen in die Monarchie, die rational-legale Herrschaft auf Vertrauen in demokratische Prozesse und Gesetze und die charismatische Herrschaft auf Vertrauen in einen autoritären Führer. 

    Während der ersten beiden Amtszeiten Putins basierte die Legitimität des Regimes auf einer Mischung aus rational-legalem und charismatischem Herrschaftstyp. Damals gründete das neue System mit seiner machtvollen Vertikale auf der charismatischen Legitimität Wladimir Putins. Dieses neue System bestand darin, die reale Opposition vorsichtig (nach heutigen Maßstäben sanft) hinauszudrängen in den außersystemischen Bereich, die Gouverneure ihrer Autonomie zu berauben und die Oligarchen politisch zu kastrieren. Der Präsident erlaubte sich zudem ein begleitendes juristisches „Tuning“ der gesamten Parteien- und Wahlgesetzgebung, der Beziehungen zwischen den verschiedenen Haushaltsbereichen sowie der Regeln für öffentliches, politisches Engagement.

    Generalüberholung des Regimes

    Bis 2020 waren die Möglichkeiten dieses Tunings dann allerdings ausgeschöpft: Anstelle des ständigen Nachbesserns erfolgte nun eine Generalüberholung. Das „Putinsche Regime“ wurde „verfassungsmäßig“ verankert. Und zwar sowohl im Gesetzestext (der dem Präsidenten große Machtbefugnisse verleiht, der die Gewaltenteilung verschwimmen lässt und der traditionelle Werte gesetzlich festschreibt) als auch im Geiste: Nawalny wurde vergiftet und dann ins Gefängnis geworfen, die außersystemische Opposition ist zerschlagen und die unabhängigen Medien werden mundtot gemacht.

    Meritokratische Legitimität

    2020 wurde zum Jahr der verfassungsrechtlichen Neuaufstellung des Post-Krim-Russland, in dem sich Legitimität nicht mehr aus dem Vertrauen der Gesellschaft speist, sondern aus dem, was Putin persönlich als seine historischen Verdienste erachtet. Das könnte man als neuen Typus von Legitimität bezeichnen, als meritokratische Legitimität: Das Vertrauen der Menschen in die Staatsmacht verliert dabei seinen objektiven Wert, es wird zu etwas rein Subjektivem, zu einem Spiegelbild dessen, wie sich das Volk in der Vorstellung der Staatsmacht selbstverständlich zu verhalten hat. Es erfolgt eine Art „Selbstheroisierung“ des Leaders, für den das Vertrauen in ihn nurmehr ein Begleiteffekt seiner exklusiven Verdienste ist – und die Krim war da nur der Anfang. Nach der Krim folgten weitere für Putin bedeutende Verdienste wie der Feldzug in Syrien (und überhaupt die Außenpolitik im Nahen Osten), die Modernisierung der Armee und neue Waffensysteme, die geänderte Verfassung und sogar der Impfstoff Sputnik V.

    Durch die Selbstheroisierung ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte

    Durch die Selbstheroisierung und das Messiastum ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte. Und durch seine Verdienste sieht der Präsident die Möglichkeit, jedwede unpopuläre Entscheidung zu rechtfertigen und gesellschaftliche Stimmungen als politisch unreif und kurzsichtig zu missachten. Ist es etwa Zufall, dass Putin praktisch aufgehört hat, strategische, für das Land wichtige Entscheidungen öffentlich zu erörtern (nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich)? Das, was ihm wichtig erscheint, wird von ihm im Spezialeinsatz erledigt. Alles andere wird der entpolitisierten Regierung überlassen. Putin kommuniziert mit der Bevölkerung und mit Journalisten nicht mal wie mit Jugendlichen, sondern eher auf Kindergarten-Niveau („Was man sagt, das ist man selber“ beziehungsweise die Vergleiche mit Shir Khan und dem Schakal Tabaqui aus dem Dschungelbuch).

    Die Krim-Euphorie als psychologische Falle

    Das Problem ist, dass die Putinsche meritokratische Legitimität ab einem bestimmten Punkt ein Eigenleben entwickelte und die legale beziehungsweise charismatische Legitimität, die mit ihr vereinbar ist und sie ergänzte, begann zusammen mit dem schwindenden Post-Krim-Konsolidierungseffekt dahinzuwelken. Kurz gesagt: Das Volk hat von der Krim-Euphorie wieder auf seine gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Probleme umgeschaltet (und wünschte sich dasselbe auch von den Machthabern), während Putin in der psychologischen Falle der Jahre 2014 bis 2016 feststeckt, verhaftet in der Krim-Euphorie und berauscht vom Konzert in Palmyra. 

    Der erste heftige Störfall war die Rentenreform [2018], die die Zustimmungswerte für das Regime um 15 Prozentpunkte abstürzen ließ. Eine Erhöhung des Rentenalters ist in jedem Land der Welt eine unpopuläre Maßnahme, doch hier ging es darum, wie sie umgesetzt wurde. Sie kam aus heiterem Himmel, noch dazu kurz nach der Präsidentschaftswahl, so dass sich die Menschen doppelt betrogen fühlen mussten – eine direkte Folge des Widerspruchs zwischen den beiden Legitimitäten. In diesem Zusammenhang frappierend war Putins Auftritt im August 2018, als er sich in Verteidigung der Rentenreform persönlich an die Bevölkerung wandte und es so klang, als ginge es darum, die Schulden für die Krim, für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität einzutreiben. 

    Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert Schritt für Schritt an Bedeutung

    Putin scherte sich dabei nicht im Geringsten um den Schaden für seine Zustimmungswerte – schließlich hängen Verdienste nicht von Zustimmungswerten ab! – und sprach damals zur Bevölkerung wie zu lebenslangen Schuldnern, die es in ihrem Leben nicht schaffen würden, ihre Schuld für die großartigen historischen Errungenschaften Putins zu begleichen. Es wurde erwartet, dass die Rentenreform als alternativlos akzeptiert würde. Hier sammelte das Regime erste Erfahrungen damit, seine Entscheidungen einfach durchzudrücken, da es das eigene Vorgehen als „selbstverständlich legitim“ auffasste. Überhaupt wurde Legitimität nun als etwas verstanden, das automatisch funktioniert, das systemimmanent ist, als ein stabiler und integraler Bestandteil. Als eine Art politische Konstante und natürliche Komponente des Putinschen Regimes nach der Annexion der Krim.

    „Wählbarkeit“, Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert für das Wahlprogramm der Machthaber Schritt für Schritt an Bedeutung. Jüngstes Beispiel sind die Spitzenkandidaten auf der Parteiliste von Einiges Russland bei der Dumawahl: Lawrow und Schoigu – Außenpolitik beziehungsweise Verteidigung sind Symbole für die persönlichen Errungenschaften Putins. Für die Gesellschaft jedoch rangieren geopolitische Themen auf der Prioritätenliste derzeit ganz unten (ganz oben stehen Inflation und Armut).

    Das System erblindet

    So erodiert die legal-rationale und charismatische Legitimität in schnellen Schritten, während die meritokratische Legitimität Putins einen immer dominanteren Ausdruck findet. Die Bevölkerung ist niedergeschlagen und versinkt in politischer Depression. Im öffentlichen Raum verdrängen hurrapatriotische Huldigungen an das Regime und die Logik einer „belagerten Festung“ die negative sozialökonomische Realität, wobei das Gefühl eines drohenden Krieges permanent genährt wird. Die Verärgerung gegenüber der Partei der Macht wächst. In Reaktion darauf muss der Kreml immer neue Stützen und Mechanismen finden, um die jetzige „selbstverständliche“ Legitimität in den Autopilot-Modus zu überführen.

    Im Laufe eines Jahres wurde in dieser Richtung viel getan: Die echte Opposition wurde vollständig vernichtet (das Instrumentarium ist dabei unglaublich breit gefächert: „ausländische Agenten“, Extremisten, unerwünschte Organisationen oder einfach Verbrecher); es gibt strenge Hürden für „falsche“ Kandidaten bei der Wahl; denn für den politischen Raum gilt das Prinzip: „Was nicht von der Präsidialadministration genehmigt wurde, ist verboten“; und die Medien wurden gesäubert.

    An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten

    Praktisch die gesamte Systemopposition, außer der Kommunistischen Partei, steht unter dem Einfluss und der Kontrolle durch die „Kuratoren“ der Innenpolitik. Ideen für eine gemäßigte Modernisierung von Einiges Russland wurden wieder verworfen. Ernsthafte Spielereien mit neuen Parteiprojekten sind beendet. Putin gefällt alles so, wie es ist: Es gibt eine starke Machtpartei [Einiges Russland – dek] und eine konstruktive parlamentarische Opposition. Selbst handgesteuerte neue, synthetische Parteiprojekte wie die Neuen Menschen erscheinen dem Präsidenten da nur als überflüssige Ansammlungen mit trüber Perspektive. An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten, so dass das lebende Sterbliche zum ewig Toten wird.

    Die selbstverständliche Legitimität geht über in den Autopilot-Modus: Das Regime reproduziert sich automatisch selbst, ohne Beteiligung der Gesellschaft oder komplizierte Sinnkonstruktionen. Eine Stimmabgabe für die Systemopposition ist gleichbedeutend mit einer Stimme für Putins Regime. Und jeder Versuch, das Vorgehen des Regimes in Zweifel zu ziehen, bringt „das Boot ins Wanken“ und wird zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“. 

    Im Autopilot-Modus

    Die gesamte Innenpolitik besteht aus zwei großen Bereichen: Der erste – eine Art Personalabteilung – ist der Wettbewerb Russlands Führungskräfte von der Organisation Russland – Land der Möglichkeiten, über den die „richtigen“, „technokratischen“ Kandidaten rekrutiert, die Spielregeln für alles Systemrelevante festgelegt sowie Wort und Tat penibel und bis ins Detail reglementiert werden. 

    Der zweite Bereich sind die politischen Sicherheitsorgane, die nicht nur das außersystemische Feld vollständig beherrschen, sondern auch jedwede gegen das Regime gerichtete Aktivität unterbinden sollen: sei es eine Beteiligung an Protestaktionen oder das Reposten politisch inkorrekter Inhalte in den sozialen Medien.

    In dieser Situation der immer stärkeren Kontrolle spielen weder Zustimmungswerte noch der gesellschaftliche Unmut irgendeine Rolle, weder Parteipräferenzen noch die Wahlbeteiligung oder die Proteststimmung – sondern Putin braucht schlicht einen lautlosen Urnengang, ein überzeugendes Ergebnis, ein sauberes Prozedere. Live-Übertragungen aus den Wahllokalen wird es diesmal nicht geben, und zwar nicht, weil dort geschummelt wird (die größten Wahlfälschungen erfolgen schließlich jenseits des überwachbaren Bereichs), sondern um einen Aufschrei zu verhindern. Das größte Problem dieser selbstverständlichen Legitimität im Autopilot-Modus besteht darin, dass sie das System absolut blind und gefühlstaub dafür macht, wie sehr ihm die Gesellschaft tatsächlich überhaupt noch vertraut. Und das ist nicht mehr bloß ein Autopilot, sondern ein unbemannter Hochgeschwindigkeitstrip in eine ungewisse Richtung.

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  • Wer nicht Freund ist, ist Feind

    Wer nicht Freund ist, ist Feind

    Das politische System in Russland wird schnell auf Putin reduziert. Dabei sollte man eher von einem System Putin ausgehen. Dieses System hat seine Besonderheiten gerade auch, was die Opposition betrifft. Im Grunde gibt es ein „hierarchisches Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten“. Die kommunistische KPRF, die rechtspopulistische LDPR und die Partei Gerechtes Russland werden deswegen als „Systemopposition“ bezeichnet. 

    Als Nicht-System-Opposition gelten dagegen politische Parteien und Bewegungen, die meist nicht an Wahlen teilnehmen dürfen und damit de facto aus dem politischen System ausgeschlossen bleiben. Dazu gehört etwa auch das Team Alexej Nawalnys.

    Ein Moskauer Gericht hat am gestrigen Mittwoch, 9. Juni, die Organisationen Nawalnys für „extremistisch“ erklärt. Dies bedeutet auch, dass sich jeder strafbar macht, der für sie arbeitet und sie unterstützt. Nawalnys Wahlkampf-Chef Leonid Wolkow erklärte bereits zuvor, dass die Struktur der Organisation damit zerstört sei, und dass man nun andere Maßnahmen überlegen müsse.

    Der FBK ist nicht das einzige Beispiel: Seit den Protesten im Januar/Februar und im Vorfeld der Dumawahl im September haben die Repressionen gegen kritische Stimmen deutlich zugenommen: Es trifft die Nicht-System-Opposition, die Zivilgesellschaft genauso wie Medien. Unlängst wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, was ihre Arbeit in Russland unmöglich macht. Schon zuvor wurden mehrere russische Organisationen ebenfalls als „unerwünscht” eingestuft, etwa Otkrytaja Rossija, die Organisation von Michail Chodorkowski. 
    Parallel dazu verstärkt der Gesetzgeber die Internetzensur. Es wurden Geldstrafen gegen Soziale Medien wie Facebook, Twitter und TikTok verhängt – wegen Verbreitung von „Aufrufen zu illegalen Massendemonstrationen“ – und Twitter wurde gedrosselt. Auch unabhängige Online-Medien geraten zunehmend unter Druck: Meduza und VTimes gelten als „ausländische Agenten“, gegen einzelne Journalisten und Medien wurden Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redaktionsmitglieder des Magazins Doxa. 

    Da immer mehr Organisationen so die Grundlagen ihrer Arbeit entzogen wurden, fragt Politologin Tatjana Stanowaja auf Projekt, ob man unter solchen Bedingungen überhaupt noch von einer Nicht-System-Opposition sprechen kann, inwiefern sich diese Art von Opposition derzeit ändert und welche Instrumente ihr bleiben.

    Noch nie in den 21 Jahren unter Putins Herrschaft stellte sich die Frage nach der „Belarussifizierung“ der russischen Politik so akut wie heute – etwas, das noch vor ein paar Jahren undenkbar schien.

    Heute scheint es, als liege im politischen Kampf gegen die Opposition der Vorteil ausschließlich auf Seiten der Machthaber. Der Kreml (als Sammelbegriff für die oberste Führung des Landes) hat der Nicht-System-Opposition nicht nur unüberwindbare Hürden in den Weg gestellt, er hat sich auch rundum abgesichert: Es wurden inzwischen derart viele Verbotsgesetze erlassen, dass jeder beliebige Oppositionelle und jede oppositionelle Organisation – ganz nach Lust und Laune der Silowiki – als „ausländischer Agent“, „unerwünschte Organisationen“, als „extremistisch“, als „NGO, die in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreift“ gehandelt werden kann. Wenn alle Stricke reißen, dann können sie auch einfach zu einer kriminellen oder betrügerischen Vereinigung erklärt werden. 

    Die „Belarussifizierung“ der russischen Politik

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen und Protestaktionen zu verbieten ist ebenfalls ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen. Das Gesetz ist kein Wert mehr an sich, sondern das Privileg einiger Weniger. 

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration. Zahlreiche Aktivisten aus Nawalnys Team waren unter Androhung von Strafverfolgung gezwungen, Russland zu verlassen [so etwa auch der Wahlkampfchef Leonid Wolkow – dek]. 

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen ist ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen

    Die gesamte inländische Infrastruktur, von den Regionalteams (wenn es um den FBK geht) bis hin zu einzelnen Abteilungen (im Fall von Otkrytaja Rossija), ist faktisch aufgelöst, die Mitarbeiter ins Nichts entlassen. 
    Michail Chodorkowski, der Gründer von Otkrytaja Rossija, hat das Problem kürzlich klar benannt: „Ich sehe momentan keinen Sinn darin, sich unter einen Panzer zu legen.“ 
    All das erzeugt ein tiefes Gefühl von einem Ende, von der endgültigen Niederschlagung der Nicht-System-Opposition, die nach ihrer „Kriminalisierung“ (Ende 2020/Anfang 2021) jetzt schlicht als Klasse liquidiert wurde. Was nun?

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration

    Wenn wir von der Opposition in einem breiteren Sinn sprechen, gibt es mindestens drei Haupttrends, mit denen wir es in nächster Zeit zu tun haben werden. 

    Der erste Trend: Opposition wird zu „Anti-Regime“ gemacht

    Der erste Trend: Mit Beginn des Jahres 2021 hat der Begriff „Nicht-System-Opposition“ ausgedient und wird abgelöst von einem „Anti-Regime-Verhalten“. 

    Die ehemalige Nicht-System-Opposition hat keine vollwertigen (das heißt sich noch in Freiheit und im Land befindenden) Organisationen, Leader, Strategien, Finanzressourcen oder Mitarbeiter mehr. Ebenso rasant verliert sie ihre Informationskanäle, den Zugang zu einer breiten Leser- und Zuschauerschaft. Die Regierung ist gerade dabei, die Regulierung des Internets insgesamt und der sozialen Medien insbesondere radikal zu überdenken. In allernächster Zukunft wird die Kontrolle der „illegalen“, sprich: politisch unliebsamen Informationsinhalte im Internet massiv verschärft werden. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor überprüft das gesamte System der Beziehungen zu ausländischen IT-Konzernen (z. B. Drosselung von Twitter, Drohungen gegenüber Google, Druck auf YouTube usw.), indem sie fordert, „falsche“ Inhalte und Videos zu entfernen und „richtige“ voranzubringen. 
    Das Überwachungsorgan verfügt außerdem über alle Instrumente, um Internetseiten zu sperren, das Löschen von Publikationen zu erzwingen und diejenigen, die sich widersetzen, zu verfolgen. Hierzu können wir auch die jüngsten Änderungen zum Gesetz über die „aufklärerische Tätigkeit“ zählen, die ein klarer Angriff sowohl auf die russische Wissenschaft und Bildung als auch auf jede öffentliche oppositionelle Aktivität sind.

    Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet

    Viele meinen, die aktuelle Kampagne der Regierung zur Zerschlagung der Nicht-System-Opposition würde sich nur gegen den FBK und Chodorkowskis Otkrytaja Rossija richten, aber die Absichten der Machthaber gehen weit darüber hinaus. Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell. 

    Das Anti-Regime-Verhalten

    Ein solches Verhalten hat keine Organisationen, keine Leader, keine vollwertige Koordination, doch es lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Die erste ist die öffentliche Kritik: Posts, Likes, Retweets und kritische Äußerungen – das betrifft sowohl Privatpersonen als auch einzelne Medien, Journalisten, Experten, Kulturschaffende sowie natürlich Politiker und Menschenrechtler. 

    Die zweite ist die Teilnahme an politischem Protest, seien es Kundgebungen oder beliebige Veranstaltung eines Anti-Regime-Oppositionellen. 
    Die dritte – und vermutlich schwerwiegendste – ist die Ablehnung bestimmter „politischer Werte“: die „Beleidigung“ von Kriegsveteranen, „Respektlosigkeit gegenüber der Macht“ (die sich selbst zu einer „geistigen Klammer“ gemacht hat), Vergleiche der UdSSR mit Nazideutschland. 
    Die gesamte Politik des russischen Staates zur Unterdrückung der Nicht-System-Opposition wird auf diese Weise in eine großangelegte, allumfassende, in der Regel entpersonifizierte Kampagne gegen alle Formen von Anti-Regime-Stimmungen transformiert.

    Politisch motivierter Absicherungswahn

    Man könnte meinen, das, was geschieht, sei eine sorgfältig durchdachte Strategie des kollektiven Kreml, fünf Schritte im Voraus geplant und mit allen abgestimmt. Aber das ist längst nicht der Fall: Die Linie der Unterdrückung ist chaotisch, oft undurchschaubar, sie wird realisiert von Akteuren, die sich gegenseitig bekriegen und weder einen einheitlichen Plan noch eine Schaltzentrale haben. Der Trend zur Unterdrückung erwächst aus einem bestimmten Milieu, aus der allgemeinen Stimmung gegen alles Unkontrollierte, aus einem politisch motivierten Absicherungswahn, der zu einer Vielzahl voneinander unabhängiger Rachefeldzüge führt. Der Kampf gegen Anti-Regimler kann in diesem Fall sowohl Ursache, Selbstzweck oder auch ein Mittel sein, Unternehmensinteressen durchzusetzen.

    Zweiter Trend: Neue Formen des Anti-Putin-Protests

    Der zweite Trend ist, dass der Anti-Putin-Protest andere Formen annehmen wird. Aktuell stehen den ehemaligen Aktivisten der Nicht-System-Opposition drei Hauptstrategien zur Verfügung: in den Untergrund gehen, wo sie harte Gefängnisstrafen riskieren und praktisch keinen Zugang zum Informationsraum haben; in die System-Opposition wechseln; ihre politischen Ziele regionalisieren. 

    In den Untergrund

    Das Verschwinden im Untergrund wird vermutlich nur eine marginale und periphere Bewegung sein – einfach aus der Unmöglichkeit heraus, gefahrlos zu agieren. Aber auch die beiden anderen Optionen scheinen nur begrenzt möglich. 

    Wechsel in die System-Opposition

    Zwar sind die regionalen Abteilungen der Systemparteien zum Teil nicht weniger radikal als Nawalnys Teams und könnten versuchen, ihren Platz in den legalen Parteistrukturen zu finden. Doch das Gesetz zur Einschränkung des passiven Wahlrechts für alle, die in der Vergangenheit irgendwie mit dem „extremistischen“ FBK zu tun hatten, könnte den Wechsel in die Systemopposition erschweren. Sergej Iwanenko, stellvertretender Vorsitzender von Jabloko, hat zwar angekündigt, seine Partei sei bereit, ehemalige Mitarbeiter und Koordinatoren der Nawalny-Teams in ihren Reihen aufzunehmen. Doch selbst diejenigen, die bereit sind, in die Systemopposition zu wechseln, riskieren eine Absage: zu toxisch sind alle Nawalny-Aktivisten geworden, zu große Schwierigkeiten könnte ihre Aufnahme für die Systempartei bedeuten.

    Das Problem ist nicht einmal die Zulassung oder Nichtzulassung bei den Wahlen (definitiv nicht), sondern das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Dabei ist klar, dass der FBK zwar zerschlagen, aber die Leute noch da sind – und dass viele von ihnen, wenn sie den politischen Kampf fortsetzen wollen, ganz neu werden anfangen müssen, mit individuellen Projekten und einem Fokus auf regionalen statt föderalen Themen. 

    Zunehmende Bedeutung des regionalen Protests

    Das könnte wiederum bedeuten, dass die regionale Protestaktivität, die Anzahl der lokalen Aktionen und Proteste [die sich nicht explizit gegen Putin, sondern gegen einzelne Regionalchefs richten – dek] zunehmen wird. Diese Regionalisierung des Protests ist tatsächlich kein geringes Problem für die Machthaber im Kreml – die Untergrabung der Legitimität des Gouverneurs-Korps ist eine der effektivsten Formen im Kampf gegen das Regime insgesamt.

    Dritter Trend: Radikalisierung und Mini-Nawalnys

    Der dritte Trend ist schließlich das Zusammenschrumpfen des Systemfeldes und die Radikalisierung der Peripherie der Systemopposition. Im Grunde ist dieser Prozess bereits im Gange, man muss sich nur anschauen, wie bereitwillig manche Kandidaten der Systemopposition die Vorteile des „Smart-Votings“ 2019 in Moskau oder bei den Kommunalwahlen im September 2020 für sich genutzt haben. Nawalnys Sympathisanten sowie die oppositionellen und putinkritisch eingestellten Aktivisten der Systemopposition (allen voran bei Jabloko und in der KPRF) – bereiten ihren Parteispitzen mittlerweile ernsthaft Kopfzerbrechen. Jabloko sah sich gezwungen, eine umfassende Parteireform durchzuführen und alle auszusieben, die zu stark in Richtung der Nicht-System-Opposition „abweichen“. Die KPRF hat bei ihrem letzten Parteitag die Kompetenzen aller „Unzuverlässigen“ begrenzt, die vom Regime als Nawalny-Anhänger eingestuft werden. Der Kreml hatte [die KPRF] in aller Schärfe vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie würde sich von dem politisch gefährlichen Ballast befreien oder sie bekommt Probleme bei den Wahlen (und nicht nur bei den Wahlen).

    Auf diese Weise zwingt das Regime die Parteien der Systemopposition, sich noch stärker zum System und zu Putin zu bekennen, die „gemeinsamen Werte“ noch eifriger zu verfechten – das Feld der Systemparteien wird enger und loyaler. Das provoziert eine Zunahme von oppositionellen Stimmungen, inneren Zwist und Konflikte: Bei weitem nicht alle – zumal in den Regionen – sind bereit, diesen Kurs des Kompromisslertums mitzutragen, selbst wenn das die einzige Überlebenschance ist.

    Einer der interessantesten Prozesse ist derzeit das Entstehen einer neuen Generation von vielversprechenden und talentierten charismatischen Politikern, die auf föderaler Ebene noch wenig bekannt sind, die aber sowohl ihren Systemparteien als auch dem Kreml die Stirn bieten. Eines der schillerndsten Beispiele ist der bereits in Ungnade gefallene Saratower Abgeordnete Nikolaj Bondarenko, dem auf YouTube über anderthalb Millionen Menschen folgen.

    Was tun mit der innersystemischen Anti-Regime-Opposition? Das ist kein geringes Problem für den Kreml. Sie aus dem systemischen Feld zu verbannen, wäre nur eine halbherzige Maßnahme, sie alle einbuchten können die „Kuratoren“ auch nicht (noch lässt der FSB die Systemopposition in Ruhe). Man wird punktuell und individuell vorgehen müssen, aber eine einheitliche Strategie gibt es nicht und kann es in dieser Situation nicht geben, in der es im ganzen Land vor individuellen FBKs und Mini-Nawalnys nur so wimmelt.

    Auch Medien werden als „Opposition“ aufgefasst

    Das Besondere an der gegenwärtigen Situation, in der die Regierung die putinkritische Opposition de facto zerschlagen hat, ist, dass der Begriff der Opposition extrem breit aufgefasst wird. In den Augen der Machthaber übernehmen auch die Medien eine indirekt oppositionelle Rolle: unabhängige Online-Portale, Echo Moskwy, Doshd – Medien, die sich besonders für die Hardliner der Silowiki in Nichts von Nawalny und seinem FBK unterscheiden. Das bedeutet, dass die unabhängigen Medien, aber auch Massenmedien mit einer unabhängigen Informationspolitik, zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden, die die Überreste der Anti-Regime-Aktivität dem Erdoden gleichmacht.

    Unabhängige Medien bekommen zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben

    Nichtsdestoweniger, allem Druck, Repressionen und Niederschlagungen zum Trotz, bleiben der oppositionellen politischen Aktivität noch einige Instrumente: 

    Informationskampagnen

    Zum einen sind das Informationskampagnen, die trotz aller Versuche der Machthaber, die Kontrolle über das Internet zu verschärfen, aus dem Ausland und unter Umgehung der Sperren durchgeführt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass das massenhaft vorkommen wird; aber dieser Kanal bleibt bestehen, zumal sich die Frage nach einer totalen und undurchdringlichen Zensur des Internets nach chinesischem Vorbild momentan nicht stellt. 

    Radikalisierung

    Zweitens ist da die Radikalisierung der Systempolitiker – hauptsächlich auf regionaler Ebene, aber mit Aussicht auf Ausweitung auf die landesweite Ebene. Wir werden vermutlich Zeuge des Entstehens einer ganzen Reihe von neuen lokalen politischen Projekten, deren Erfolg begrenzt sein wird. Die Menschen werden überall nach Einsatzmöglichkeiten für ihre bereits erworbenen politischen Kompetenzen suchen und der Kreml wird dann regelmäßig lokale politische Brände löschen müssen.

    Protestaktionen

    Drittens bleiben schließlich die Protestaktionen. Die Möglichkeiten von Nawalnys Team sind heute radikal eingeschränkt, wenn sie nicht sogar bei Null liegen; und andere Leader auf föderaler Ebene gibt es nicht. Doch der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein – ihre Fehler waren es in der Regel, die als Trigger für vieltausendköpfige Aktionen gewirkt haben, so zum Beispiel 2019 in Moskau, 2020 in Chabarowsk und noch im Januar und Februar 2021 rund um die Verhaftung Nawalnys
    Ja, es gibt das Problem der fehlenden Koordination auf föderaler Ebene, aber wie das Beispiel Belarus zeigt, braucht eine Massenprotestbewegung nicht zwingend Anführer.

    Der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein

    In diesem Sinne könnten die Wahlen im September zu einer ernsten Herausforderung für die Machthaber werden. Um sie schmerzlos zu überstehen, wird es nicht ausreichen, Nawalny einzusperren, den FBK zu vernichten und Otkrytaja Rossija zu schließen. 

    Nach der Zerschlagung der Opposition ist die Hauptgefahr für die Macht die Macht, die in Ermangelung einer Opposition unausweichlich noch gröbere und gefährlichere Fehler machen wird, als wenn es eine Opposition gäbe.

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  • Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Der Fall Nawalny und das hohe russische Truppenaufkommen an der Grenze zur Ukraine belasten einmal mehr die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation ging Putin allerdings weder auf das eine noch das andere ein. Er versprach ein umfangreiches Sozialprogramm und warnte den Westen davor, rote Linien zu überschreiten.

    Am selben Tag sind russlandweit tausende Menschen einem Protestaufruf von Nawalnys Team gefolgt. Die Sicherheitsbehörden waren dabei massiv gegen die Demonstranten vorgegangen, Elektroschocker wurden eingesetzt, die Organisation OWD-Info zählt mehr als 1700 Festnahmen, über 800 davon allein in Sankt Petersburg.

    Die Politologin Tatjana Stanowaja analysiert Putins Rede auf Carnegie.ru und wirft einen Blick vor allem auf das, was er nicht sagte. Die Sprachlosigkeit zwischen politischem System und Gesellschaft, die sie konstatiert, spüren auch andere: Etwa Regisseur Andrej Swjaginzew.

    Am 21. April wandte sich Wladimir Putin nach einer längeren Pause mit seiner jährlichen Ansprache an die Föderationsversammlung. Sie war diesmal begleitet von zahlreichen Gerüchten und erwarteten Sensationen wie die offizielle Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepubliken oder die Angliederung von Belarus.  

    Doch die aktuelle Rede war klar auf die Vorbereitungen zur Dumawahl im Herbst zugeschnitten. Sie sollte vor allem Anreize für die russische Gesellschaft schaffen, im Herbst für die Regierung zu stimmen oder, wenn möglich, von den Forderungen nach Wandel Abstand zu nehmen. Während alle gewartet haben auf umfangreiche Antworten zu den brennenden Themen – Ukraine, Belarus, Proteste, Wahlen, sinkende Einkommen –, hat Putin all das verdeckt mit seinen langen und ausführlichen Aufzählungen der Sozialmaßnahmen, die den größten Teil der Rede ausgemacht haben. So konnte man in diesem Jahr besonders gut spüren, dass die Reden des Präsidenten die tatsächliche Agenda inzwischen eher kaschieren als transportieren. 

    Soziale Situation verbessert sich nicht wirklich

    Wie schon vor einem Jahr bei der Verfassungsreform gehen die sozialen Hilfen vor allem an Familien mit Kindern – auch das ist eine politische Investition in konservative Werte, der Versuch, das ideologische Bündnis des Präsidenten mit den Traditionalisten finanziell zu untermauern. 

    Doch trotz der langen Aufzählung verschiedener Sozialleistungen, sollte man ihr Ausmaß nicht überschätzen. Die versprochenen Schritte im Sozialbereich sind eine konjunkturbedingte und technologische Entscheidung, die eher auf einen vorübergehenden subjektiven Effekt abzielt als auf eine reale Verbesserung der sozialen Situation. Diese Maßnahmen können nur sehr begrenzt die soziale Verärgerung und die Entfremdung von Regierung und Gesellschaft abmildern. Putin scheint die Schärfe der sozialen Probleme in Russland zu unterschätzen und glaubt, dass die Situation im Land im Großen und Ganzen völlig zufriedenstellend sei und es demnach auch keine legitimen Gründe für Proteste gebe. 

    Beruhigungspillen fürs Volk

    Dafür verändert sich der Führungsstil grundlegend: Putin wird von einer Figur, die einst die Spielregeln für die Entwicklung der Gesellschaft vorgab, zu einem Therapeuten, der die Gesellschaft davon überzeugen will, sich mit der Unabänderlichkeit der Spielregeln abzufinden. Bei seiner Rede präsentierte er sich nicht mehr als politischer Macher, sondern als Doktor, der seinen Patienten Meditationen, Impfungen und soziale Beruhigungspillen verschreibt, damit diese sich leichter mit der beunruhigenden Realität abfinden können.  

    Bei der Rede kam auch Putins Ekel vor rein politischen Themen zum Ausdruck. Den schmutzigen und zerstörerischen Kampf um die Macht möchte er ersetzen durch ein System „gesunder“ Beziehungen mit „konstruktiven“ Kräften, die sich in die Pyramide der Unterordnung und Konsolidierung einfügen. In der Praxis heißt das: Abbau aller politischen Konkurrenz, Alternativlosigkeit. Alles, was jenseits der Pyramide liegt – die Nicht-System-Opposition –, ist gänzlich aus dem Vortrag und dem zulässigen Themenbereich des Präsidenten gestrichen.  

    Der geopolitische Teil ist für Putin wohl der interessanteste, doch er war der kürzeste von allen. Und das liegt weniger daran, dass die russische Gesellschaft allen Umfragen zufolge müde ist von außenpolitischen Themen. Vielmehr ist der Präsident immer weniger gewillt, seine außenpolitischen Pläne und Entscheidungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Alles, was tatsächlich wichtig ist für Putin, wird zu einem dichten Schwall geheimer Spezoperazii. 

    Anstatt die tatsächliche Agenda offenzulegen, präsentiert man der Öffentlichkeit bequeme Attrappen, die die gewünschten Vorstellungen hervorrufen. Eine Provokation der Geheimdienste gegen oppositionelle belarussische Politologen wird in der Beschreibung des Präsidenten zu einer gefährlichen Verschwörung, die auch noch vom Westen organisiert worden sei. Dafür bleiben die tatsächlichen Ereignisse bezüglich Belarus außen vor: Die Erwartungen hinsichtlich des [bevorstehenden] Treffens mit Lukaschenko sind enorm, doch dazu hat Putin keine Details offengelegt.

    Auch die Konfrontation mit dem Westen vereinfacht er zu einer geopolitischen Interpretation des Dschungelbuch. Der böse, gefährliche Tiger Shir Khan ist Washington, „all die kleinen Tabaquis“ – das sind Russlands Kritiker in Europa und dem postsowjetischen Raum, und der großmütige, gerechte Leitwolf Akela ist, wie man leicht erraten kann, Putin. Das ist das Niveau, auf dem der Präsident bereit ist, die tatsächliche Agenda mit seinen Wählern zu diskutieren.  

    Noch weniger ist Putin bereit, über die Nicht-System-Opposition zu sprechen, egal wie bedeutsam die mit ihr verbundenen Ereignisse sind. Alexej Nawalnys Gesundheit, über die auch der Westen diskutiert, die offenen Briefe zur Unterstützung Nawalnys von allen möglichen Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu Nobelpreisträgern, die kompromisslose Niederschlagung von Protesten und die geplante Einstufung der Nicht-System-Opposition als „extremistisch“ – all das blieb in der Rede außen vor.

    Im Endeffekt werden die Kommunikationskanäle zwischen dem Präsidenten und der Gesellschaft immer enger. Einige Ereignisse sind dem Präsidenten zu wichtig, um sie ernsthaft mit den Bürgern zu debattieren. Deswegen werden Diskussionen durch vereinfachende Bilder ersetzt. Bei anderen Themen das genaue Gegenteil: Der Präsident hält sie für uninteressant oder unangenehm und deswegen werden auch sie nicht besprochen, völlig unabhängig von ihrer Dringlichkeit. All das zusammen lässt Putin immer weniger Möglichkeiten, eine den Geschehnissen angemessene Figur abzugeben. Er wird hinausgedrängt aus der Wirklichkeit, in der zunehmend Akteure außerhalb des Systems den Ton angeben.

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  • Rhetorische Wende

    Rhetorische Wende

    Vergangenen Mittwoch hat Präsident Putin die sogenannte Rede zur Lage der Nation, die Botschaft an die Föderationsversammlung, gehalten. Über den plötzlich anberaumten Termin der Rede – die Vorsitzende der Föderationsversammlung hatte ihre Südostasien-Reise abbrechen müssen – war viel spekuliert worden. Putin habe schnell auf sinkende Zustimmungswerte reagieren wollen, lautet einer der Erklärungsversuche. 
    Auf Carnegie.ru schreibt Tatjana Stanowaja, die Tatsache, dass die Rede nicht erst Mitte März, am Jahrestag der Angliederung der Krim gehalten worden sei, zeige „dass man im Kreml verstanden hat, dass die Bevölkerung der hurra-patriotischen Rhetorik müde geworden ist – angesichts stetig sinkender Löhne“. 
    Diese Erkenntnis werde in der Rede vor allem auch an anderer Stelle deutlich, kommentiert sie:

    Die wichtigste politische Schlussfolgerung aus der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] ist die, dass es der Präsidialverwaltung gelungen ist, den Präsidenten von einer Korrektur der Rhetorik zu überzeugen. Sonst könnte angesichts der sinkenden Zustimmungswerte die Kluft zwischen der Regierungs-Agenda und den Belangen der Gesellschaft zum Verlust der politischen Kontrolle führen.
    Als der Präsident sich im vergangenen Jahr sowohl in seiner Rede als auch im Wahlkampf auf die geopolitische Agenda konzentrierte, hatte das Unverständnis und Missmut in der Gesellschaft hervorgerufen. Das Fehlen einer Zukunftsvision, die übermäßige Militarisierung und die aggressive Rhetorik – später multipliziert mit der Rentenreform – ließen die Zustimmungswerte um rund zwanzig Prozent einbrechen. Die darauffolgenden Verluste bei den Regionalwahlen bestätigten den Ernst der Lage.
    Die Präsidialverwaltung musste Putin davon überzeugen, sich der innenpolitischen Agenda und den sozialen und wirtschaftlichen Problemen zuzuwenden. Der Rede nach zu urteilen ist ihr das auch gelungen.

    Der Wendepunkt

    Der Wendepunkt war vermutlich Andrej Tarassenkos Niederlage im zweiten Wahlgang der Gouverneurswahlen in der Region Primorje, nur wenige Tage nachdem der Präsident dessen Kandidatur öffentlich unterstützt hatte. Das Problem waren nicht nur die Polittechnologie oder regionale Besonderheiten. Es war eine persönliche Niederlage für Putin, und der Präsident bekam durchaus zu spüren, dass sich etwas verändert hatte. Die Präsidialverwaltung machte sich also an die Entwicklung einer positiven Agenda – und eines der Ergebnisse ist die Rede.

    Der Auftritt ist die Antwort des Kreml auf die sinkenden Zustimmungswerte. Es ist der Versuch, den sinkenden Löhnen mit dem einfachsten Mittel zu begegnen: dem Verteilen von Geld. Eine solche  Botschaft wird wohl bei niemandem für Missmut sorgen, und selbst wenn sie die Ratings nicht in die Höhe treibt, könnte sie zumindest deren Sinkflug verlangsamen.

    Allerdings zeichnet sie weder eine Zukunftsvision noch mildert sie die Folgen der Rentenreform oder berührt die Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Dabei wächst in der russischen Gesellschaft die Nachfrage nach einer entschieden anti-oligarchischen und anti-bürokratischen Politik. 

    Die Ansprache hat auch nicht das für Putin traditionelle Image des starken Leaders wiederhergestellt, der fähig ist, alle Widerstände zu überwinden. Der Präsident versucht, vom bösen Buchhalter, der die Notwendigkeit der Rentenreform dargelegt hat, zum guten zu werden, der bereit ist, sein Geld mit dem unzufriedenen Kollektiv zu teilen. Doch er kann vor der Öffentlichkeit seine wachsende Abhängigkeit vom System und seiner Umgebung nicht verbergen. In den Augen der Bevölkerung wird er immer mehr zu einem schwachen Führer, der sich nicht traut, wichtige personelle Entscheidungen zu treffen oder seine außer Rand und Band geratenen Freunde zu bremsen.

    Oberflächliche Antwort

    In diesem Sinne war die Ansprache nur eine oberflächliche Antwort auf die Forderungen der Gesellschaft nach einer Erhöhung des Lebensstandards. Die angekündigten Maßnahmen bedeuten weder eine Rückkehr zum Sozialismus noch einen Übergang zu einem neuen sozialwirtschaftlichen Modell. Es handelt sich um einen Versuch, die soziale Unzufriedenheit mit Haushaltsüberschüssen zu löschen, was jedoch kein Ersatz sein kann für eine komplexe Adaption der Sozialpolitik an die Bedürfnisse der Bevölkerung.

    Die Botschaft war die entpolitisierteste der vergangenen Jahre. Ging es in den letzten Ansprachen noch übermäßig um die Außenpolitik, die Putin leidenschaftlich und in allen Details thematisierte, so kam in der heutigen Rede so gut wie gar keine Politik vor, weder Außen- noch Innenpolitik.

    Die Innenpolitik ist schon lange kein beliebtes Thema für die Ansprachen mehr, was im Grunde verständlich ist: Aus Sicht des Präsidenten ist alles gut eingerichtet und funktioniert prima. Es gibt eine Partei der Macht, es gibt eine systemische Opposition, die die „gemeinsamen Werte“ teilt, es gibt politischen Wettbewerb und manchmal gewinnt sogar ein Opponent der Kreml-Schützlinge – es ist klüger, daran nicht zu rütteln.

    Was eine heranreifende Parteien- oder Verfassungsreform angeht, so hält man die Frage nach einem Wechsel im Kreml offensichtlich für verfrüht. Insgesamt hatte Putin demnach zur Innenpolitik nichts zu sagen, trotz der unerwarteten Verluste bei den Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr.

    Pazifistische Rhetorik

    Dafür tauschte der Präsident den aggressiven Ton und das Säbelrasseln der Außenpolitik gegen eine pazifistische Rhetorik ein und minimierte gleichzeitig den Umfang des außenpolitischen Themenblocks. Damit reagierte er auf die wachsende Unzufriedenheit der Gesellschaft über die unverhältnismäßige Begeisterung der Regierung für Geopolitik und ihre Fixierung auf die USA, die Ukraine, Syrien und das „verfaulende Europa“. Das Volk will Putin zu Hause – und Putin hat das anscheinend verstanden, indem er ungewöhnliche Rechtfertigungen für seine Kommentare zum Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag lieferte.

    Korrigierte Positionen hatte die Rede nicht zu bieten. Putin wiederholte längst bekannte Leitsätze, schlug dabei jedoch friedlichere Töne an, womit er auf die Militärverdrossenheit der Gesellschaft reagierte. Das ist eine wichtige Neuerung, die dem Präsidenten, der zu Härte im Dialog mit dem Westen neigt, als sozialpolitische Leitplanke dienen könnte.

    Ohne jeden Realitätssinn

    Während die Ansprache im vergangenen Jahr unangenehm aufstieß, weil sie die soziale Agenda fast vollständig ignorierte, entbehrte die diesjährige jeglichen Realitätssinn, was den Druck der Machtorgane auf die Wirtschaft betrifft.

    Die diesbezügliche Hauptnachricht im Vorfeld der Ansprache war die Festnahme [des US-Investors – dek] Michael Calveys sowie weiterer Top-Manager der Investmentgesellschaft Baring Vostok wegen eines unternehmensinternen Konflikts um die Wostotschny-Bank. Wäre es Putin an Realitätsnähe gelegen gewesen, hätte er entweder den Wirtschaftsteil komplett streichen oder etwas zum Fall Baring Vostok sagen müssen. Aber er zog es vor, so zu tun, als sei nichts geschehen.

    Man kann nicht überzeugend sein, wenn man versucht einem Querschnittsgelähmten Fitnessgeräte zu verkaufen. Genauso wenig kann man von Investitionsklima und dem Schutz von Unternehmern reden und gleichzeitig Festnahmen beim größten ausländischen Investmentfonds ignorieren, die offensichtlich im Interesse einer der beiden Seiten im Unternehmensstreit erfolgten. Diese Diskrepanz wurde zum wunden Punkt der Ansprache, die bei aller Ausrichtung auf soziale Fragen, jegliches Niveau eingebüßt hat, was die Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Wirtschaft angeht. 

    Die überstürzte Rede, das Setzen auf einfache Lösungen und das Verteilen von Geld, die Weigerung, die aufsehenerregende Verhaftung Michael Calveys zu kommentieren – das alles zeigt deutlich, dass es um einen Wechsel der Rhetorik und nicht um einen Kurswechsel geht. 

    Die Staatsgewalt hat den Versuch unternommen, Putins Agenda der Agenda der russischen Gesellschaft anzunähern, doch das ist ein rein taktischer Zug, der kaum Einfluss auf die tatsächlichen Inhalte der Tagespolitik haben dürfte. Die einzige Ausnahme könnte die angekündigte Reform der Rechtsgrundlagen für die staatliche Aufsichtstätigkeit sein, aber das ist in der heutigen Situation wohl kaum genug. 

    Geld ist da – das war Putins frohe Botschaft. Ob das die Pille für die Gesellschaft weniger bitter gemacht hat, werden wir in den nächsten Monaten an den neuen Umfragewerten zur Unterstützung des Präsidenten sehen.
     

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  • Zitat #4: „Prozess der Deputinisierung“

    Zitat #4: „Prozess der Deputinisierung“

    Gegen die Rentenreform protestierten am Wochenende russlandweit mehrere zehntausend Menschen. Aufgerufen dazu haben sowohl oppositionelle als auch systemoppositionelle Kräfte wie die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Diese hatte am 19. Juli bei der ersten Lesung in der Duma gegen die Rentenreform gestimmt, genauso wie die LDPR und Gerechtes Russland. Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland konnten die Systemopposition jedoch überstimmen. 

    In der Gesellschaft ist die Rentenreform sehr unpopulär. Auch Wladimir Putin distanzierte sich nach der Abstimmung von den Plänen. Er machte deutlich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. 
    Laut Beobachtern sind die Proteste im ersten Reformentwurf mit einkalkuliert: Die Regierung sei zu Zugeständnissen bereit, um den Protest schrittweise zu neutralisieren. 

    Für die Politologin Tatjana Stanowaja bedeutet dies, dass der Kreml die Regierungspartei bloßstellt, die in den letzten Wochen für die Reform eingetreten ist. Aber auch für Putin selbst könnte das Ganze Folgen haben: 

    [bilingbox]Der einzige Legitimitätsquell des derzeitigen Regimes ist Wladimir Putin.

    Doch jetzt gerade wird er zum ersten Mal gleichzeitig zum Quell der Delegitimierung: Der Regierungspartei, den föderalen und gesetzgebenden Parlamenten und den regionalen Eliten gegenüber ist das Verhalten beim Durchdrücken der Rentenreform, mit der Putin offiziell angeblich nichts zu tun hat, inkorrekt. Das ist ein höchst risikoreiches Spiel, und es hat das Potenzial, dem System als Ganzem einen heftigen Schlag zu versetzen.

    Bestimmt kann man wieder etwas zurechtrücken (den Gesetzesentwurf abmildern) (und das wird im Herbst auch geschehen). Viel schwieriger wird jedoch sein, der Gesellschaft zu erklären, dass das Putin-Regime weiterbesteht, trotz dieser merkwürdigen Verabschiedung einer nichtputinschen Entscheidung (des Gesetzentwurfs in erster Lesung).

    „Wo ist der Präsident?“ Diese Frage ertönt immer öfter in den Korridoren und führt zu einer Gegenfrage: „Kann denn ein Regime, in dem eine kritische, sehr bedeutende Reform ohne den Präsidenten gestartet wird, putinsch genannt werden?“

    Sollte der Prozess der Deputinisierung weitergehen, so wird es nicht mehr Putin sein, der zum Jahr 2024 den Machttransfer vorbereitet, sondern das System wird den Putin-Transfer übernehmen.~~~Единственный источник легитимности нынешнего режима – Владимир Путин. Но сейчас впервые он становится одновременно и источником делегитимации – неаккуратное отношение к партии власти, федеральному и законодательным парламентам, региональным элитам при продавливании пенсионной реформы, к которой Путин публично якобы не имеет никакого отношения, крайне рискованная игра, способная нанести удар по системе в целом. Отыграть назад (смягчить законопроект), безусловно, можно (и это будет сделано осенью). Однако гораздо сложнее будет убедить общество, что путинский режим продолжает существовать, несмотря на странное принятие непутинского решения (законопроекта в первом чтении). «Где президент?» – вопрос, который все чаще звучит в кулуарах, формулируя встречный: «Может ли режим, в котором критично значимая реформа стартует без президента, называться путинским?» Если тенденция депутинизации режима продолжится, то уже не Путин будет заниматься подготовкой транзита власти к 2024 г., а система займется транзитом Путина.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 29.07.2018 unter dem Titel Tschem pensionnaja Reforma opasna dlja Putina (dt. „Weswegen die Rentenreform gefährlich für Putin ist). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Grüne Turbinchen

    Grüne Turbinchen

    Als im Februar/März 2014 plötzlich erste Soldaten in Tarnuniform, aber ohne Hoheitsabzeichen, scheinbar aus dem Nichts auf der Krim aufgetaucht sind, sprach die Bevölkerung von Grünen Männchen. Erst im April 2014, nach der Angliederung der Halbinsel an Russland, erwähnte Wladimir Putin in einem Interview, was eh alle geahnt hatten: nämlich, dass es russische Soldaten gewesen waren.
    Als nun im Juli 2017 plötzlich deutsche Turbinen von Siemens auf der Krim auftauchten, und zwar trotz Embargo, behauptete der russische Industrie- und Handelsminister Denis Manturow, es seien keine deutschen, sondern russische Turbinen „aus Elementen ausländischer Produktion“. 
    Siemens gab in einer ersten Stellungnahme an, die Gasturbinen seien eigentlich für ein Projekt auf der südrussischen Halbinsel Taman hergestellt worden – und reichte Klage ein gegen den Abnehmer Technopromexport. Kritiker werfen dem deutschen Unternehmen jedoch vor, den Auftrag 2015 angenommen zu haben – zu einem Zeitpunkt, als bereits absehbar gewesen sei, dass die Turbinen für die Krim gedacht sind.
    Tatjana Stanowaja deckt auf Republic die rhetorischen Parallelen auf zwischen Grünen Männchen und Siemens-Turbinen. Und sie ist sich sicher: Mit der Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen.

    An Sanktionen hat sich Russland schon gewöhnt. Auch auf Siemens’ möglichen Rückzug vom russischen Markt reagiert man gelassen. „Wir kommen auch ohne euch zurecht“, verkünden fast einstimmig Arkadi Dworkowitsch, Alexander Nowak und Igor Artemjew.

    Genauso einstimmig behaupten Experten allerdings das Gegenteil: Russland ist noch nicht in der Lage Gasturbinen in entsprechender Qualität selbst herzustellen. 

    Interessant ist an der gesamten Situation aber etwas ganz Anderes: 
    Wie konnten privatwirtschaftliche Interessen wichtiger werden als Staatsinteressen? Und wie wird sich das Ganze auf Russlands Beziehungen zu ausländischen Investoren auswirken?

    Die Hauptrolle spielte in dieser Geschichte natürlich Sergej Tschemesow. Im August 2014 bat ihn Putin persönlich, ein Wärmekraftwerk auf der Krim zu bauen. Zu diesem Vorgang sagte der Generaldirektor der Staatsholding Rostec kein Wort.

    Betrachtet man die jüngsten Aussagen des Generaldirektors, stellen die behandelten Themen irgendwelche Turbinen vollkommen in den Schatten: Die Flugabwehrraketensysteme, die Flugzeuge und Hubschrauber, die Panzer und KAMAZ-Lkws, mit denen sich Tschemesow beschäftigt – das alles wird der Regierung als ein Superprojekt präsentiert, um Russland von den Knien zu heben.

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus. Im Zusammenhang mit der Krim hat Tschemesow Putin versprochen, ein Wärmekraftwerk zu bauen, das wird er auch tun. Über das, was dann kommt, sollen sich Medwedew und seine Regierung den Kopf zerbrechen.

    Nur vier Tage nach Veröffentlichung der Stellungnahme von Rostec, man habe die Turbinen auf dem Sekundärmarkt erworben, machte sich der Minister für Industrie und Handel Denis Manturow daran, die Lage zu retten: „Wir haben unseren westlichen Kollegen versichert, dass es sich um Turbinen russischer Produktion handelt. Zugegeben, unter Verwendung von Elementen aus ausländischer Produktion. Dennoch gibt es ein russisches Zertifikat, und es sind russische Turbinen.“

    Die Korrektur der Position ist offenkundig: Auf dem Sekundärmarkt gekaufte deutsche Turbinen und russische Turbinen mit Elementen aus ausländischer Produktion – ein gewisser Unterschied lässt sich nicht leugnen.

    Die Regierung ist enttäuscht

    Und das führt zu einer wichtigen Frage: Wie ist denn die Position der Regierung? 
    Während Siemens seine Anklage vorbereitete, die Europäische Kommission über eine Verschärfung der Sanktionen nachdachte und Deutschland mit einer Verschlechterung der Beziehungen drohte, kommentierte die russische Regierung das Geschehen als privatwirtschaftlich und nicht von staatlicher Relevanz. Stellungnahmen von Seiten der politischen Leader gab es keine – weder von Wladimir Putin noch von Dimitri Medwedew. Genauso wenig wie eine Aussage über russische Investitionsstrategien unter den Sanktionen.

    Für die russische Regierung scheint es bei der entstandenen Situation also gar keine imageschädigende oder strategische Dimension zu geben – man betrachtet das Problem als ein privates.


    Wenn nicht Siemens, dann Andere?!

    Wenn man allerdings die öffentliche Position von Vertretern der russischen Regierung verallgemeinert (besonders deutlich äußerte sich Igor Artemjew), dann wird Russland, erstens, jeden Augenblick eigene Turbinen produzieren, die nicht schlechter sein werden als die deutschen. Wenn es das nicht längst getan hat.

    Und zweitens: Sollte es noch keine Turbinen produziert haben, werden andere Konkurrenten an die Stelle von Siemens treten. „Ihren [Siemens’] Platz werden sehr bald andere einnehmen. Aus China, dem Nahen Osten oder aus Europa – was weiß ich“, äußerte sich Artemjew. Ihm zufolge werden es vermutlich „transnationale Firmen“ sein, „die dank der Globalisierung keine Angst vor irgendwelchen Regierungen haben“. 

    Das Wort Globalisierung bekommt in dieser schwierigen Lage plötzlich einen positiven Beiklang von Hoffnung. Dabei hat der antiglobalistisch eingestellte Kreml westliche transnationale Firmen bislang immer für ihren Egoismus und ihre doppelten Standards verflucht.

    Bleibt nur noch zu klären, ob die großen westlichen Unternehmen, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind, Teil des internationalen antirussischen Imperialismus sind oder unsere letzte Hoffnung.

    Die Donbass-Strategie

    Die russische Regierung ist offenbar sehr enttäuscht von Siemens – sie hatte ein anderes Verhalten erwartet. Sowohl Rostec als auch die Regierung und der Kreml gingen offenbar davon aus, dass sie und Siemens in einer Mannschaft spielen, als sie lauthals und einhellig behaupteten, die auf die Krim gelieferten Turbinen seien russisch. 
    Dasselbe erwarteten sie wohl auch von den Deutschen, die in so einer Situation gezwungen gewesen wären, sich auf die Seite der russischen Regierung zu stellen, und nicht der deutschen; also ungefähr so zu handeln wie der Kreml bei seinen Stellungnahmen zur Anwesenheit russischer Truppen im Donbass: Anerkennen, dass Truppen da sind, aber leugnen, dass sie russisch sind.

    Die schroffe und eindeutige Weigerung von Siemens, nach diesen Regeln zu spielen, löste in Russland eine Lawine der Empörung aus. Man warf dem Konzern Heuchelei vor (sie wollen schmutzig Geld machen, aber sauber aus der Sache hervorgehen!). 
    Mit der jetzigen Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und den westlichen globalen Unternehmen: Nun brauchen sie für den Zugang zum russischen Markt nicht nur „Pragmatismus“ und „Sachlichkeit“ (sprich die Anerkennung der westlichen Sanktionspolitik als ineffektiv und schädlich), sondern auch die Bereitschaft „schmutzig“ zu spielen, und zwar ohne Rücksicht auf die „Weltgemeinschaft“.

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  • Sofa oder Wahlurne?

    Sofa oder Wahlurne?

    Wählen oder Nicht-Wählen, das ist die Frage, die sich angesichts der bevorstehenden Dumawahl den oppositionell eingestellten Bürgern stellt: Hauptargument gegen den Gang an die Wahlurne ist, dass Wahlen in einem autokratischen System nichts weiter seien als eine Farce, eine Imitation von Demokratie, und das Ergebnis sowieso schon feststehe. Wer wählen geht, erkläre sich damit einverstanden – und solle deswegen besser zuhause auf dem Sofa bleiben.

    Die Opponenten dieser sogenannten „Sofapartei“ jedoch appellieren, dass jedes Nicht-Handeln apolitisch sei und es durchaus gute Gründe für den Wahlgang gebe. Schließlich gehe es auch darum, die „demokratischen Muskeln zu trainieren“ und Weichen für die nächsten Wahlen zu stellen.

    Sofa oder Wahlurne? Slon.ru bat sieben renommierte Politik-Experten um ihren Ratschlag.

    Wählt, auf wen die Flasche zeigt

    In einem britischen Kinderbuch mit dem Titel Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum pflegt die Hauptperson und der Antiheld, also jener Mr. Gum, einen sehr unhygienischen Lebenswandel. Daraufhin siedeln sich in seinem Haus Insekten an, aber keine gewöhnlichen, sondern, wie der Autor schreibt, riesenhafte: mit Gesichtern, Namen und Dienstposten. So ein Gefühl bekomme ich bei dem Angebot an Parteien und Kandidaten. Wählt bitte, wen ihr lustiger findet, oder auf wen die Flasche zeigt, es spielt keine Rolle.

    Foto © cogita.ru
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    Grigori Golossow (geb. 1963) ist Politikwissenschaftler. Der Experte für Parteiensysteme forschte an renommierten internationalen Universitäten. Seit 2011 lehrt er an der Europäischen Universität Sankt Petersburg am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft.

     

     

     

     

     


    Die wären nur froh, wenn ihr nicht hingeht

    Unter einer Vielzahl an Äußerungen zu den bevorstehenden Wahlen findet sich oft folgende: „Sie wollen, dass wir wählen gehen, also gehen wir nicht – und wer hingeht, der kooperiert mit ihnen und ist also ein Kollaborateur.“ Darauf basieren alle Ideen von Boykott und Delegitimierung des Regimes.

    Doch  im ersten Teil des Satzes ist ein Fehler: Sie wollen ja eigentlich überhaupt keine Wahlen. Und haben alle Wahlen abgeschafft, die man abschaffen kann, und den Rest reglementiert. Die Wahlen generell abschaffen können sie aber nicht, das wäre ein zu radikaler Schritt  – vorerst jedenfalls.    

    Insofern sind Wahlen für sie ein unangenehmes Prozedere, zu dem sie leider verpflichtet sind, obwohl sie, hätten sie die Freiheit, sie am liebsten abschaffen würden. In dieser Lage – man muss Wahlen durchführen, die man fürchtet – wäre es am besten, wenn die Leute gar nicht hingingen. Deswegen muss der Satz, mit dem ich diesen Text begonnen habe, anders lauten: „Sie haben Angst vor den Wahlen, können sie aber nicht abschaffen. Deswegen wären sie nur froh, wenn ihr nicht hingeht.“

    Foto © polit.ru
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    Ivan Kurilla (geb. 1967) ist Historiker und Amerikanist. Der Experte für Geschichtspolitik lehrt seit 2015 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und leitet das Partnerprogramm der Universität.

     

     

     

     

     


    An der Türe rütteln!

    Bei diesen Wahlen spricht man nicht mehr von „Wählergruppen“ – die gibt es im herkömmlichen Sinne nicht – weder regierungstreue, noch liberale, noch linke. Die Wählergruppen der Zukunft schlummern innerhalb der Gruppe X – das sind die, die unschlüssig sind oder nicht einmal die Leute aus dem eigenen Lager wählen wollen. Je nach Quelle sind das 15 bis 30 Prozent.

    Die Abgeordneten der 7. Staatsduma werden in den kommenden zwei bis drei Jahren im Zentrum der Umbrüche stehen. Und dann werden wir alle wollen, dass es eine gute Duma ist. Umso wichtiger, dass auf dem Ochotny Rjad noch andere sein werden als die vier Kopfnicker-Parteien.

    Wen werden oppositionell gestimmte Bürger wählen? PARNAS, die Partei des Wachstums, Rodina oder Jabloko – egal. Aus der neuen Palette wird sich jeder was aussuchen. Wir wählen am 18. September nur für den Sand im Getriebe des Druckers. Sollten ein oder zwei neue Fraktionen in die Duma einziehen, knirscht es im Drucker, und dann kriegen sie ihn vielleicht nicht wieder in Gang.     

    Zur Wahl gehen in dem Wissen, dass man auf euch – genau auf euch – dort nicht wartet! Da haben wir ihn, den Einzelprotest, den man sich gefahrlos erlauben kann. Doch dieser seltene Einzelprotest birgt die Chance, ein schnelles Ergebnis zu bringen. Ohne den Versuch, die Wahlen zu politisieren, werden wir nie erfahren, wie weit die Gesellschaft politisiert ist. Einen Versuch ist es wert. Denn man kriegt die Tür nicht auf, wenn man nicht zumindest einmal dran gerüttelt hat.

    Foto © CC BY-SA 3.0
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    Gleb Pawlowski (geb. 1951) war Mitbegründer und Direktor der Stiftung für effektive Politik – eines Thinktanks, der sich 2011 auflöste. Für viele Beobachter galt Pawlowski als „Chef-Polittechnologe“ des Kreml, im Zuge der Schließung der Stiftung wandte sich Pawlowski weitgehend von Putin ab und gilt seitdem als ein Kritiker seines Regimes.

     

     

     

     


    Für die stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen

    Fehlt eine maßgebliche, geeinte Opposition, dann ist ein Umschwung bei den Wahlen unmöglich. Selbst wenn die Regierungspartei deutlich an Popularität einbüßt, gibt es einfach keinen Ersatz – ein Alternativvorschlag steht nicht auf dem Stimmzettel.

    Man kann aber ein Parlament anstreben, das weniger monopolisiert ist und untereinander konkurriert – also eines, in dem die Mitglieder ständig miteinander verhandeln müssen, genau wie die Exekutive es mit ihnen allen tun muss. Niemand hat dann ein Mehrheitspaket an Stimmen (und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne mit den anderen zu kooperieren).

    Ein solches Szenario ist zwar auch bei einer inneren Spaltung der Regierungspartei denkbar. Effektiver aber wäre es , wenn mehrere unterschiedliche Fraktionen und Gruppen in die Duma einzögen, egal welche ideologische Ausrichtung sie haben. Deswegen sollten Protestwähler ihre Stimme vielleicht einfach irgendeiner Partei geben, die nicht im Parlament sitzt. Denn die im Parlament brauchen ihre Stimme ja nicht.  

    Dann beginnt ein recht spitzfindiges Spiel: Wenn die von den oppositionellen Wählern gewählten Parteien es nicht ins Parlament schaffen, dann kommen ihre Stimmen dem Sieger zu Gute – also einer Partei, die durchgekommen ist. Daher hoffen womöglich viele, jene zu unterstützen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen.

    Foto © Niece/livejournal.com
    Foto © Niece/livejournal.com
    Ekaterina Schulmann (geb. 1978) ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti, Grani.ru und Colta und gilt als Expertin für das Herrschaftssystem Russlands.

     

     

     

     

     


    Schaut genau hin!

    Das Problem der aktuellen Wahlen für den oppositionellen Wähler ist: So gut wie jedes Votum konserviert das bestehende System. Möglichkeiten des Protestwählens fehlen praktisch völlig. Es gibt keine Option „gegen alle“ zu sein, die Abstimmung mit den Füßen mehrt die Stimmen für die regierende Partei. Die Unterstützung der systemischen Opposition, die sich dem Kreml immer weiter annähert, führt zu keiner Veränderung der Kräfteverhältnisse.

    Für den oppositionellen Wähler bleibt nur eine für ihn relativ wirksame Taktik: Beobachtung statt Teilnahme. Das Sammeln von Informationen über Verstöße, die Verbreitung dieser Daten über zugängliche, legale Wege, die Analyse, wie das System mit all seinen Nuancen funktioniert und genaue Kenntnis über das Wahlrecht – das alles ist eine Art Ressource, die sich positiv auf das oppositionelle Umfeld und seinen Reifungsprozess auswirkt.  

    Geht ins Wahllokal, seht euch an, wie alles funktioniert, schaut, welche Wahlbeobachter anwesend sind, notiert die persönlichen Angaben jener, die die Exit-Polls durchführen und vergleicht danach deren Daten mit den offiziellen Ergebnissen aus eurem Wahlbezirk. Den Stimmzettel kann man nach eigenem Gutdünken verwenden.

    Foto © obsfr.ru
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    Tatjana Stanowaja (geb. 1978) ist Leiterin der Analyse-Abteilung im Zentrum für Politische Technologien. Ihre Analysen werden oft von wissenschaftlichen und unabhängigen Massenmedien veröffentlicht

     

     

     

     

     

     


    Wählen als Widerstand

    Ich glaube, bei den bevorstehenden Wahlen wird den Leuten, die dem Land Wohlergehen und Fortschritt wünschen, im Großen und Ganzen dasselbe geboten wie vor vier Jahren. Das, was man uns anbietet, sind keine Wahlen, sondern ein sorgfältig inszenierter Betrug. Diesmal ist der Fake so einstudiert, dass er auch ohne Wahlbeteiligung auskommt. Er hat jetzt die Stufe der Selbstgenügsamkeit erreicht. Er ruft die Passivität der Bürger hervor, ja, er fördert sie sogar.

    Und deswegen wäre es meiner Ansicht nach für diejenigen, die sich diesem Betrug widersetzen wollen, am sinnvollsten, einfach wählen zu gehen. Aber nicht mit der Vorstellung, jemanden zu wählen oder für jemanden zu stimmen. Es gibt keine Wahlen. Es gibt eine rechtswidrige Aneignung von Wahlverfahren und es gibt Widerstand dagegen. Das Ausmaß des geleisteten Widerstands wird sich auf den weiteren Kurvenverlauf der Ereignisse auswirken.

    © V. Shaposhnikov/Kommersant
    © V. Shaposhnikov/Kommersant

    Kirill Rogow (geb. 1966) ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 Chefredakteur des Online-Mediums Polit.ru. Zwischen 2005 und 2007 war Rogow stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Kommersant. Er schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti und Novaya Gazeta.

     

     

     

     


    Es gibt weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren

    Bei diesen Wahlen gibt es für den oppositionellen Wähler keine gute Strategie – ihr werdet nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren, auch wenn ihr gar nicht hingeht.

    Diese Wahlen finden vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Niedergangs und einer tiefen Krise der liberalen Bewegung statt. Das Wahlergebnis – das Scheitern der alten liberalen Parteien – wird die Frage nach einer völlig neuen Etappe der Gesellschaft als ganzer aufwerfen. Der Kreml wird über die Einerwahlkreise eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der neuen Duma bilden.

    Als nächstes stellt sich die Frage der Präsidentenwahl 2018. Und hier wird dann das gebraucht, was vor der Dumawahl nicht zustande gekommen ist: eine neue demokratische Koalition, die eine Strategie des Widerstands anzubieten hat gegen das heraufziehende Regime lebenslänglicher Macht.  

    Foto © CC BY-SA3.0
    Foto © CC BY-SA3.0
    Alexander Morosow (geb. 1959) ist Journalist und war bis 2015 Chefredakteur des Russischen Journals – eines Onlinemediums, das seit 1997 existiert. Zwischen 2008 und 2013 schrieb Morosow regelmäßig für die unabhängigen Medien Slon, Colta, Vedomosti und Grani.ru.

     

     

     


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

  • Was bekommt der Wähler?

    Was bekommt der Wähler?

    Am 18. September 2016 sind Duma-Wahlen: sowohl für die Opposition als auch für die Regierungspartei Einiges Russland eine wichtige Wegmarke im aktuellen politischen Geschehen.

    Während die untereinander recht zerstrittene liberale Opposition eine Chance aufgreifen möchte, im Parlament vertreten zu sein, geht es für die Regierung darum, ihren Stand zu wahren. Zwar hat sie spätestens seit der Eingliederung der Krim einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch ist ihre Legitimität nach den umfassenden Wahlfälschungen 2011 und den massenhaften Protesten 2011/12 zumindest angekratzt. Dazu kommt die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die sich mittlerweile auch auf die Sozialleistungen und die Renten auswirkt.

    Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung am Zentrum für Politische Technologien, analysiert auf Slon.ru das politische Programm der Regierungspartei – und sieht vor allem einen großen Fehler.

     „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS
    „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS

    Bald sind Wahlen. Doch die Regierung lässt sich sichtlich Zeit damit, nach der Krim ein neues Programm auszuarbeiten – ein Programm mit einem zukunftsweisenden politischen Vorschlag.

    Der Kreml ist mit Außenpolitik beschäftigt, die Wirtschaft überlässt man Theoretikern, die offenbar unfähig sind, sich zu einigen, und in der Innenpolitik herrscht ein Kampf unter Gleichen: um die Rangordnung, nicht um Ideen.

    Die Wahlen scheinen zum planmäßigen Routineakt zu werden, und wer immer auch gewinnt, es wird jemand aus dem Putin-Lager sein. Sich in dieser Situation etwas Neues auszudenken, grandiose Pläne und Projekte zu ersinnen, dazu fehlt es an Geld genauso wie an Lust. Es ist nicht nur eine programmatische Krise, es ist ein programmatisches Vakuum.

    Man kann natürlich sagen, formal führe die Regierung ihr traditionelles Programm fort: Patriotismus, Souveränität, Erfüllung sozialer Verpflichtungen, Mai-Dekrete (an die man sich plötzlich erinnert), behutsamer Kampf gegen Korruption und sogar eine Entwicklungsstrategie für die nächsten 20 Jahre. Das ist es, was die politische Elite schon die ganzen vergangenen vier Jahre bei Wahlen vorgeschlagen hat. Packen wir noch – beide recht frisch – Krim nasch und die Importsubstitutionen dazu. Dem Volk gefällt’s. Und formal ist das natürlich ein Programm. Aber faktisch nicht.

    Die Ideologie der „belagerten Festung“, Isolationstendenzen, Abstriche in der Ukraine, die schwache Verhandlungsposition gegenüber dem Westen bei zunehmender hurra-patriotischer Rhetorik – all das ist eine Art Anpassung der Elite an die neue Wirklichkeit, in der für das einfache Volk praktisch kein Platz bleibt.  

    Buchstäblich das gesamte Programm von heute betrifft den staatlichen, nicht den privaten Bereich. Was hat die Regierung bei den Wahlen heute der Großmutter und dem Großvater, dem Arbeiter und Bauern, dem Angestellten und Unternehmer de-facto denn anzubieten?

    Das aktuelle politische Programm, mit dem die Staatsmacht zur Wahl antritt, ist diktiert von den Umständen und der objektiven Realität, in der zu leben die Regierungselite gezwungen ist. Die Schlüsselpunkte dieses Programms bedeuten, dass der Vertrag zwischen Gesellschaft und Staatsmacht neu geschrieben werden muss.

    Soziale Askese

    Punkt eins dieses Vertrags ist die soziale Askese. „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, so lautet eine absolut nicht zufällige rhetorische Entgleisung  Dimitri Medwedews, die umgehend Wladimir Putins Unterstützung fand. Die Rentenerhöhung erfolgt nach dem Prinzip „was übrig bleibt“, die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst kommt irgendwann später.

    Am Essen zu sparen ist gesund, echt russisch und richtig patriotisch. Der TV-Sender Erster Kanal berichtet dann, wie die westliche Konsumgesellschaft mit ihrer zu 70 % übergewichtigen Bevölkerung vor sich hin fault. „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn, wirst bald deinen letzten Seufzer tun“ – das ist im heutigen Russland durchaus aktuell.

    Geld haben wir keins, und das wird sich auch nicht ändern: Diese Botschaft sendet die Regierung dem Volk, ohne sich dafür zu genieren oder sie wenigstens schön zu verpacken. Und noch ist das Volk bereit mitzumachen.

    „Putinisierung” der Elite

    Punkt zwei ist die Putinisierung der Elite. Bis 2014 sah die Machtkonstruktion des Regimes so aus: Auf der einen Seite stand Putin als alleiniger Herrscher, der das gesamte System legitimierte, auf der anderen Seite das Volk, das damit einverstanden war. Nach 2014, als gegen Russland Sanktionen verhängt wurden, wandelte sich „Putin“ von einem Personen- zu einem System-Phänomen. Zum nationalen Leader gesellt sich die „politisch verantwortliche Elite“, Putins Patrioten.

    Immer bemüht, seine Mitstreiter vor Sanktionen zu bewahren, muss Putin seine Legitimität nun mit einer beachtlichen Anzahl von Personen in seinem Umfeld teilen: mit den Rotenbergs, den Kowaltschuks, mit Timtschenko und Roldugin. Gern und freimütig teilt Putin seine Legitimität mit Leuten, die sehr bald zu renommierten Plünderern der Erfolge seiner Ära werden könnten.

    Für den einfachen Menschen hat diese einseitige Abänderung des Gesellschaftsvertrags auch eine ganz praktische Bedeutung. Die zeigt sich  etwa am Phänomen des Systems Platon, das öffentlich und unmissverständlich vom Präsidenten unterstützt wird.             

    Der Krieg

    Punkt drei ist der Krieg: Ein nicht erklärter hybrider Krieg gegen Russland, angezettelt von den Ländern des Westens beziehungsweise von den USA und ihren willenlosen Bündnispartnern. Man könnte meinen, genau hier gehe es um staatliche Interessen. Aber nein, hier doch gerade nicht. Der Staat stellt sich da ganz fest hinter die Interessen des Durchschnittsrussen, um ihn vor dem zersetzenden Einfluss des Westens zu beschützen.

    Beschränkungen bei Auslandsreisen, Rechenschaft über ausländische Konten bei der Steuerbehörde, verschärftes Strafmaß bei Teilnahme an Protestaktionen, strafrechtliche Verfahren wegen Weiterverbreitung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, Kündigung von Arbeitsplätzen aufgrund politischer Meinungen, das Sperren von Websites der Nicht-System-Opposition, eine kritische Einschränkung von Qualitätsjournalismus zu Politik und Wirtschaft: Der Krieg aus dem Fernsehen greift langsam aber sicher auf das Privatleben zwar nicht aller, aber vieler über.

    Natürlich will heute keine Mehrheit gegen Putin protestieren. Auch vor fünf Jahren wollte sie das nicht – hätte aber protestieren können. Ja, heute verachtet die Mehrheit die Liberalen – aber vor fünf Jahren konnte man noch wählen zwischen hurra-patriotischen Medien und einer [unabhängigen – dek] Qualitätspresse. Wenn man sich heute in seiner Auswahl einschränkt, dann nicht mehr freiwillig, sondern gezwungenermaßen.

    Perfektionierung des Systems

    Der vierte Punkt ist, dass man das bestehende System perfektioniert, anstatt es zu verändern. Gleich wird’s mit der Wirtschaft bergauf gehen, das Schlimmste liegt hinter uns (und überhaupt war das nicht unsere Schuld), die Inflation sinkt. In der Politik läuft der demokratische Wettbewerb auf vollen Touren: zwischen der Gesamtrussischen Nationalen Front (ONF) und Einiges Russland (ER), innerhalb der Partei ER selbst, zwischen ONF und unabhängigen Kandidaten für Putin, zwischen unabhängigen Kandidaten für Putin und ER. Beinahe ein perfektes politisches System, beinahe eine effiziente Wirtschaft. „Bei uns ist alles gut“, das sagt Putin dem Volk seit drei Jahren.    

    So mancher könnte glauben, auf dem Programm stünden Reformen, doch das ist ein Irrtum: die Einbeziehung Kudrins in den Wirtschaftsrat ist nicht mehr als eine Suche nach politisch schönen Ideen. Sie zeugt aber nicht von irgendeinem Willen zur Veränderung.

    Objektiv gibt es kein einziges Signal, nicht den winzigsten Hinweis darauf, dass Putin zu einer tatsächlichen Transformation des Systems bereit wäre: zu Justizreformen, dem Schutz der Eigentumsrechte, zur Entwicklung von wirtschaftlichem Wettbewerb, zur Auflösung der Monopole  und realer Privatisierung (statt Minderheitsanteile an Freunde und Bündnispartner zu verkaufen).

    Nicht nur, dass der konservative Trend dem reformativen nicht weicht, er gewinnt vielmehr noch an Stärke dazu. Seine relative Vervollkommnung lässt sich für den gewöhnlichen Russen leicht in eine bodenständigere und einfachere Form bringen. Das bedeutet dann ungefähr Folgendes: Radikale Veränderungen wird es in eurem Leben keine  geben, auf den Staat könnt ihr nicht zählen. Sogar die Renten sollte man besser selber ansparen – es geht also um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Szenarien von Gegenreformen des Rentensystems.  

    Dummköpfe und Straßen

    Schließlich Punkt fünf – der einfachste und vertrauteste: Er betrifft Dummköpfe und Straßen. Die Dummköpfe – das sind Sündenböcke, die strafrechtlich und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie helfen dem Regime dabei, Ballast abzuwerfen: verfolgte Gouverneure, verhaftete Bürgermeister, mit Geldstrafen belegte Unternehmer, die Gehälter nicht auszahlen. Hinzu kommt als Drauf- und Dreingabe auf jeden Fall die Festnahme von Ganoven, wie die des Sohns vom Lukoil-Vizepräsidenten.

    Diese lokal begrenzten Einzelfälle werden künstlich hochstilisiert und dem Regime zu Gute gehalten. Doch so ist es nicht: Das Regime ist nicht nur nicht bereit, Korruption systematisch zu bekämpfen. Es hält das sogar für gefährlich.         

    Abschließend die Straßen. Doch in Kombination mit den Dummköpfen will einfach kein schönes Bild entstehen: Nicht nur die Demokratie westlicher Ausprägung kann sich in Russland nicht festsetzen, auch dem Asphalt gelingt das nicht. Das hindert aber niemanden daran, die Straßensanierung zur nationalen Idee 2016 zu erklären, auch wenn die Dimensionen kleiner werden (2007 gab es die „Nationalen Projekte“, 2012 die Mai-Dekrete).

    Und wenn es keine Proteste gegen Platon gegeben hätte, wäre man nicht einmal bis zu den Straßen gekommen: Erst die Reaktionen darauf erzeugten den Wirbel um die Straßen, der dann die Regionen erfasst hat. Nach dem Direkten Draht mit Putin, bei dem die Straßensanierung endgültig zur Idée fixe wurde, wurde demonstrativer Feuereifer auf diesem Gebiet zur Grundvoraussetzung für das politische Überleben regionaler und lokaler Obrigkeiten. Straßen wird es vielleicht nie geben, Baustellen dafür überall.

    Das Besondere an den Wahlen 2016 wird sein, dass die Staatsmacht mit einem Programm zum Schutz staatlicher Interessen antreten wird, wodurch die Interessen der Bürger praktisch vollständig verdrängt werden. Die Wähler sind weg und ihre Probleme ebenso – sogar sich zu beklagen wird gefährlich. Ein echtes Programm wurde durch ein notdürftiges Lunchpaket ersetzt, das nur minimale politische Notwendigkeiten erfüllt.

    Versprechen wird man aber wie immer viel, großzügig und vor allem abstrakt. 2016 wird das Jahr, in dem sich der Unterschied zwischen dem Fernsehrussland und dem echten Russland deutlich herausbilden wird; zwischen einem angekündigten Programm und einem, das objektiv zustande kommt. So beginnt der moralische Verschleiß des Regimes.

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